Kapitel 5

Als sie sich vom Staub der vormittäglichen Reise gereinigt und ihr Mittagsmahl eingenommen hatten, kehrten sie in die Festhalle zurück. Cron war davon benachrichtigt worden und erwartete sie dort. Sie saß in ihrem Amtssessel und hatte für sie Stühle unterhalb des Podiums ihr gegenüber aufstellen lassen.

Cron erhob sich widerstrebend, als Fidelma und Ea-dulf eintraten. Es war eine kleine, wenn auch widerwillige Achtungsbezeigung auf Grund der Tatsache, daß Fidelma die Schwester des Königs von Cashel war.

»Habt ihr euch nun erfrischt?« fragte Cron und wies auf die Stühle, die für sie bereitstanden.

»Ja«, antwortete Fidelma und setzte sich. Sie war ein wenig verärgert, denn es störte sie, daß sie zu Cron in ihrem Sessel aufsehen mußte. Fidelmas Rang als dalaigh und ihr juristischer Grad als anruth gestatteten es ihr, auf gleicher Ebene mit Königen zu sprechen, von kleinen Fürsten ganz zu schweigen; sogar in Gegenwart des Großkönigs in Tara konnte sie, wenn sie eingeladen war, auf der gleichen Ebene sitzen und sich frei unterhalten. Fidelma achtete genau auf die Einhaltung solcher Etikette, freilich nur, wenn andere ihre Stellung herauskehrten und ihren Rang mißachteten. Im Augenblick konnte sie allerdings ihren korrekten Platz nicht behaupten, ohne offene Feindseligkeit hervorzurufen, und sie zog es vor, genau zu erfahren, was hier vorgefallen war. Also sagte sie erst einmal nichts.

Eadulf folgte ihrem Beispiel, setzte sich neben sie und blickte interessiert zu der jungen Tanist auf.

»Nun können wir uns anhören, wie dein Vater Eber zu Tode gekommen ist, soweit du es weißt. Bitte die genauen Tatsachen«, sagte Fidelma und lehnte sich zurück.

Cron sammelte sich einen Augenblick, beugte sich leicht vor, faltete die Hände und richtete ihren Blick auf einen Punkt im Mittelgrund irgendwo zwischen Fidelma und Eadulf.

»Die Tatsachen sind einfach«, erklärte sie, als ob das Thema sie langweile. »Moen tötete meinen Vater.«

»Hast du das gesehen?« fragte Fidelma, als Cron keine Anstalten machte, ihre Feststellung zu begründen.

Cron runzelte ärgerlich die Stirn und sah auf sie herunter.

»Natürlich nicht. Du wolltest die Tatsachen wissen. Ich teile sie dir mit.«

Fidelma lächelte dünn.

»Ich glaube, es wäre am besten und läge im Interesse der Gerechtigkeit, wenn du mir berichtest, wie sich die Angelegenheit abspielte, doch nur aus deiner Sicht.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich dich richtig verstehe.«

Fidelma verbarg ihre Ungeduld.

»Zu welchem Zeitpunkt hast du erfahren, daß Eber ermordet worden war?«

»Ich wachte in der Nacht auf ...«

»Das war vor wie vielen Tagen?«

»Es war vor sechs Tagen. Kurz vor Sonnenaufgang, wenn du es genau wissen willst.«

Fidelma ignorierte den Spott in der Stimme der jungen Frau.

»Es liegt im Interesse aller Beteiligten in diesem Fall, so genau zu sein wie möglich«, erwiderte sie mit eisiger Höflichkeit. »Sprich weiter. Vor sechs Nächten wurdest du geweckt. Von wem?«

Cron blinzelte, als ihr die beißende Sanftheit des Tons bewußt wurde. Es war klar, daß sich Fidelma nicht von ihr einschüchtern ließ. Sie zögerte, dann zuckte sie die Achseln, als beuge sie sich ihrem Willen.

»Na schön. Vor sechs Nächten wurde ich kurz vor Sonnenaufgang geweckt. Es war Duban, der Kommandeur der Leibwache meines Vaters, der mich weckte. Er hatte .«

»Beschränke dich auf das, was er dir wirklich sagte«, unterbrach sie Fidelma warnend.

Cron sprach beinahe durch zusammengebissene Zähne. »Er berichtete mir, daß Eber etwas Schreckliches zugestoßen sei. Er sagte, Moen habe ihn getötet.«

»Waren genau das seine Worte?« Eadulf konnte es sich nicht versagen, die Frage zu stellen.

Cron sah ihn stirnrunzelnd an und wandte sich wieder an Fidelma, ohne sich zu einer Antwort herabzulassen.

»Ich fragte ihn, was geschehen sei, und er erklärte mir, daß Moen meinen Vater erstochen habe und auf frischer Tat ertappt worden sei.«

»Was tatest du da?« fragte Fidelma.

»Ich stand auf und fragte Duban, wie er mit Moen verfahren sei. Er sagte mir, Moen sei gefangengesetzt und in die Ställe gebracht worden, wo er seit jener Nacht geblieben ist.«

»Und dann?«

»Ich bat Duban, Teafa zu holen.«

»Teafa? Deine Tante? Warum gerade sie?« Fidelma wußte wohl, daß Cron wie Dignait ihr erzählt hatten, Teafa habe Moen von Kindheit an aufgezogen, aber sie wollte die Geschichte Punkt für Punkt verfolgen.

»Mir wurde gesagt, Moen tobe, und Teafa ist . war die einzige, die mit ihm umgehen konnte.« »Weil Teafa ihn erzogen hatte?« erkundigte sich Fidelma.

»Teafa hat Moen seit seiner Kindheit versorgt.«

»Wie alt ist Moen jetzt?« wollte Eadulf wissen.

Cron wollte ihn erneut ignorieren, doch Fidelma zog eine Braue hoch.

»Das ist eine berechtigte Frage«, betonte sie.

»Einundzwanzig Jahre.«

»Dann ist er also ein Erwachsener?« Fidelma war überrascht. Nach der Art, wie Cron und Dignait von ihm gesprochen hatten, klang es fast, als wäre Moen noch ein Kind. »Er ist ein schwieriger Mensch?« vermutete sie.

»Das mußt du selbst beurteilen«, erwiderte Cron mürrisch.

»Das stimmt. Du meintest also, Teafa würde Moen beruhigen können? Und was geschah dann?«

»Duban fand . « Cron hielt inne und formulierte den Satz betont anders. »Duban kam nach wenigen Minuten zurück und berichtete mir, er habe Teafas Leiche gefunden. Sie war ebenfalls erstochen worden. Offensichtlich hatte Moen sie zuerst getötet, bevor er .«

Fidelma hob die Hand und unterbrach sie.

»Ich habe zu beurteilen, was geschah. Dies ist deine Vermutung. Wir werden so verfahren, wie das Gesetz es vorschreibt.«

Cron schnaufte verärgert.

»Meine sogenannte Vermutung ist richtig.«

»Das wird sich später herausstellen. Was geschah, nachdem dir von Teafas Tod berichtet worden war?« »Ich ging zu meiner Mutter, weckte sie und sagte es ihr.«

»Deine Mutter?« Fidelma beugte sich interessiert vor. »Ebers Frau?«

»Natürlich.«

»Ich verstehe. Dann wußte sie zu diesem Zeitpunkt noch nichts vom Tode ihres Mannes?«

»Das habe ich doch schon gesagt.«

»Aber der Mord ereignete sich doch vor Sonnenaufgang. Wo fand man deinen Vater?«

»In seinem Schlafzimmer.«

Fidelma folgte aufmerksam dem Gang der Logik.

»Dann war deine Mutter nicht mit Eber zusammen?«

»Sie war in ihrem eigenen Schlafzimmer.«

»Ich verstehe«, sagte Fidelma leise. Sie beschloß, nicht weiter nachzufragen. »Und was geschah dann?«

Cron zuckte beinahe teilnahmslos die Achseln.

»Nur noch wenig, was damit zu tun hat. Wie ich schon sagte, wurde Moen sicher verwahrt. Ohne mein Wissen schickte meine Mutter einen jungen Krieger namens Critan nach Cashel, um den König über die Tragödie zu informieren. Sie meinte augenscheinlich, daß ein Brehon zur Untersuchung hergesandt werden sollte, statt ihre Tochter ihr Amt als Tanist ausüben zu lassen. Meine Mutter wollte nicht, daß ich Tanist werde.«

Fidelma spürte eine gewisse Bitterkeit in der Stimme des Mädchens.

»Critan kehrte vor zwei Tagen zurück und meldete, daß der König jemanden schicken werde. Daraufhin begruben wir meinen Vater der Sitte gemäß in unserem Grabhügel der Fürsten. Teafa auch. Entsprechend dem Gesetz habe ich als gewählte Erbin die Amtsführung übernommen. Ich hätte ebensogut Recht sprechen können, ohne all diese Komplikationen.«

»Das stimmt nicht, Tanist.« Fidelmas Ton war sanft, aber entschieden. »Du wirst erst Fürstin, wenn deine derbfhine zusammentreten und dich im Amt bestätigen, und das erfolgt frühestens siebenundzwanzig Tage nach dem Tode des Fürsten. Eine solche Untersuchung muß ein ausgebildeter Brehon führen.«

Die junge Tanist erwiderte nichts.

»Nun gut«, meinte Fidelma schließlich, »die Tatsachen scheinen klar, so wie du sie dargelegt hast. War es Duban selbst, der die Leiche deines Vaters entdeckt hat?«

Cron schüttelte den Kopf.

»Es war Menma, der seinen Todesschrei hörte und ins Schlafzimmer meines Vaters stürmte, wo er Moen auf frischer Tat ertappte.«

»Ach ja, Menma. Und wer ist Menma?« erkundigte sich Fidelma und überlegte, wo sie den Namen schon einmal gehört hatte.

»Er ist der oberste Wärter der Pferde meines Vaters«, Cron hielt inne und verbesserte sich, »meiner Pferde.«

Fidelma fiel ein, daß Dignait den Namen erwähnt hatte.

»Soweit es deine eigene Kenntnis anbelangt«, fuhr Fidelma nach kurzer Pause fort, »liegt der Fall ganz klar und einfach? Du findest nichts Zweifelhaftes oder Geheimnisvolles daran?«

»Es gibt kein Geheimnis. Die Tatsachen sind eindeutig.«

»Was meinst du, aus welchem Grund Moen sowohl Eber als auch Teafa töten sollte?«

Die Antwort kam ohne Zögern.

»Es gibt kein logisches Motiv. Aber Logik war nie ein Bestandteil von Moens Welt.« Ihre Stimme klang bitter.

Fidelma versuchte den Sinn ihrer Worte zu begreifen.

»Wie ich hörte, hat Teafa Moen von Kindheit an aufgezogen. Er hatte ihr viel zu verdanken. Willst du damit sagen, daß Logik bei dieser Tat keine Rolle gespielt hat? Was betrachtest du dann als das Motiv, denn ein Motiv muß es doch wohl geben?«

»Wer kann wissen, was in dem dunklen, stillen Gemüt eines solchen Geschöpfs wie Moen vor sich geht?« erwiderte die Tanist.

Einen Augenblick fragte sich Fidelma, ob sie eine Erklärung für ihre Wahl der Worte verlangen solle. Sie meinte aber, sie solle sich nicht beeinflussen lassen, bevor sie nicht mit Moen gesprochen hatte. Doch vorher mußte sie erst noch mit einem anderen sprechen, nämlich dem, der Moen bei dem Mord an Eber überrascht hatte.

»Nun werde ich mit Menma sprechen«, verkündete sie.

»Die Mühe kann ich dir ersparen«, erwiderte Cron scharf, »denn ich kenne alle Einzelheiten des Falls. Menma und Duban haben sie mir berichtet.«

Fidelma lächelte dünn.

»Das ist nicht die Arbeitsweise eines dalaigh. Es ist wichtig, daß ich die Tatsachen aus erster Hand erfahre.«

»Wichtig ist vor allem, daß du die gesetzliche Strafe über Moen verhängst. Und das bald.«

»Du hegst also keinerlei Zweifel daran, daß Moen die Tat begangen hat?«

»Wenn Menma sagt, daß er Moen auf frischer Tat ertappt hat, dann hat er sie auch begangen.«

»Das bezweifle ich nicht«, sagte Fidelma und stand auf. Eadulf folgte ihr, und sie gingen zur Tür.

»Was wirst du mit Moen machen?« fragte Cron verblüfft, denn sie war es nicht gewohnt, daß jemand in ihrer Gegenwart aufstand und fortging, ohne von ihr förmlich entlassen zu sein.

»Machen?« Fidelma blieb stehen und blickte einen Moment zu der Tanist zurück. »Vorerst nichts. Erst müssen wir mit allen Zeugen sprechen und dann eine gerichtliche Anhörung abhalten, bei der Moen seine Verteidigung vortragen kann.«

Cron überraschte sie damit, daß sie in schallendes Gelächter ausbrach. Es hörte sich etwas hysterisch an.

Fidelma wartete geduldig ab, bis es aufhörte, und fragte dann: »Vielleicht kannst du uns sagen, wo wir Menma finden?«

»Zu dieser Zeit findet ihr ihn in den Pferdeställen gleich hinter dem Gästehaus«, antwortete Cron unter erneutem Kichern.

Sie brachte ihre Belustigung unter Kontrolle und rief ihnen zu, sie sollten noch einen Moment bleiben. Sie wurde ernst.

»Es wäre klug, das Urteil in diesem Fall möglichst bald auszusprechen. Mein Vater war bei seinem Volk sehr beliebt. Er war freundlich und großzügig. Es gibt hier viele, die meinen, daß die alten Strafgesetze einem solchen Verbrechen nicht angemessen sind und daß die Worte des neuen Glaubens, die Worte der Vergeltung, geeigneter dafür sind. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Feuertod um Feuertod. Wenn du Moen nicht schnell aburteilst, könnten sich eifrige Hände finden, die selbst Gerechtigkeit üben.«

»Gerechtigkeit?« Fidelmas Ton war eisig. Sie fuhr herum und trat der jungen Tanist entgegen. »Du meinst wohl Rache des Pöbels? Nun, als gewählte Fürstin dieses Stammes - vorausgesetzt, du wirst durch die derbfhine im Amt bestätigt - kannst du dies von mir weitergeben: Wenn jemand Hand an Moen legt, bevor er vor Gericht gestellt und nach dem Gesetz verurteilt ist, dann wird ihn selbst das Urteil treffen. Das verspreche ich, ganz gleich welchen Ranges er sein mag.«

Cron schluckte schwer.

Fidelma begegnete dem Blick ihrer feindseligen blauen Augen mit gleicher Kälte.

»Eins möchte ich noch wissen«, setzte sie hinzu. »Wer hat die Worte der Vergeltung im Namen des neuen Glaubens gepredigt?«

Die Tanist hob das Kinn.

»Ich sagte dir schon, daß wir hier nur einen haben, der uns in Glaubensdingen betreut.«

»Pater Gorman?« vermutete Eadulf.

»Pater Gorman«, bestätigte Cron.

»Dieser Pater Gorman scheint den Geist der Gesetze der fünf Königreiche nicht begriffen zu haben«, bemerkte Fidelma trocken. »Und wo findet man diesen sanftmütigen Vertreter des Glaubens? In seiner Kirche?«

»Pater Gorman besucht gerade einige entfernte Bauernhöfe. Er wird morgen zurück sein.«

»Ich freue mich darauf, ihn kennenzulernen«, erwiderte Fidelma und verließ die Halle.

Menma erwies sich als ein untersetzter Mann mit einem häßlichen Gesicht und einem buschigen roten Bart. Er saß vor den Pferdeställen auf einem Baumstumpf und schärfte eine Hippe mit einem Wetzstein. Als sie sich ihm näherten, hörte er damit auf und sah sie an. Seine Miene verriet Verschlagenheit. Langsam stand er auf.

Eadulf hörte, wie Fidelma tief Luft holte, und blickte sie überrascht an. Sie betrachtete forschend das Fuchsgesicht Menmas. Eadulf gewahrte einen üblen ranzigen Geruch. Angewidert bemerkte er, wie schmutzig und verfilzt Haar und Bart des Mannes waren, und veränderte leicht seine Stellung, damit ihm der Wind nicht mehr den Gestank zutrug.

Menma zupfte ein paarmal an seinem roten Bart.

»Du weißt, daß ich eine Anwältin bei Gericht bin und im Auftrag des Königs von Cashel den Mord an Eber untersuche?« sagte Fidelma.

Menma nickte langsam.

»Das habe ich gehört, Schwester. Die Nachricht von deinem Kommen hat sich hier schnell verbreitet.«

»Wie man mir berichtet, hast du die Leiche Ebers entdeckt?«

Der Mann blinzelte.

»Das stimmt«, sagte er nach kurzer Überlegung.

»Was ist deine Aufgabe im rath von Araglin?«

»Ich bin oberster Stallwärter der Pferde des Fürsten.«

»Dienst du dem Fürsten schon lange?«

»Cron ist der vierte Fürst von Araglin, dem ich diene.«

»Vier? Das ist sicher eine lange Dienstzeit.«

»Ich war Stallbursche bei Eoghan, an den das hohe Steinkreuz erinnert, das die Grenze des Stammeslandes am Weg vom Gebirge da drüben kennzeichnet.«

»Das haben wir gesehen«, bestätigte Eadulf.

»Dann kam Eoghans Sohn Erc, der im Kampf gegen die Ui Fidgente fiel«, fuhr Menma fort, als habe er ihn nicht gehört. »Und nun ist Eber in die andere Welt eingegangen. Also diene ich jetzt seiner Tochter Cron.«

Fidelma wartete einen Moment, aber mehr kam nicht. Sie unterdrückte einen Seufzer.

»Erzähl mir, wie du Eber gefunden hast.«

Menma schaute sie mit seinen blaßblauen Augen etwas verwirrt an.

»Wie, Lady?«

Fidelma fragte sich, ob der Mann leicht schwachsinnig sei.

»Ja«, erwiderte sie und bemühte sich um Geduld. »Sag mir, wann und wie du die Leiche Ebers gefunden hast.«

»Wann?« Das breite Gesicht des Mannes verzog sich. »Das war in der Nacht, als Eber ermordet wurde.«

Bruder Eadulf wandte sich ab, um seine Belustigung zu verbergen.

Fidelma stöhnte innerlich, als ihr klar wurde, mit was für einem Menschen sie es zu tun hatte. Menma war schwer von Begriff. Nicht schwachsinnig, sondern einfach jemand, dessen Gedanken sich langsam und schwerfällig bewegten. Oder tat er nur so?

»Und wann war das, Menma?« lockte sie ihn.

»Ach, das war vor sechs Nächten.«

»Und die Zeit? Zu welchem Zeitpunkt fandest du die Leiche Ebers?«

»Es war vor Tagesanbruch.«

»Was tatest du in der Wohnung des Fürsten vor Tagesanbruch?«

Menma hob eine mächtige, knochige Hand und fuhr sich durchs Haar.

»Es ist meine Aufgabe, die Pferde auf die Weide zu treiben und das Melken der Kühe Ebers zu beaufsichtigen. Es ist auch meine Aufgabe, für die Küche des Fürsten zu schlachten. Ich stand auf und ging zu den Pferdeställen. Als ich an Ebers Wohnung vorbeikam ...«

Fidelma beugte sich rasch vor.

»Verstehe ich dich recht, daß der Weg von deiner Hütte zu den Pferdeställen an der Wohnung Ebers vorbeiführt?«

Menma starrte sie verblüfft an, als begreife er nicht, weshalb sie die Frage stellte.

»Das weiß doch jeder.«

Fidelma zwang sich zu einem leichten Lächeln.

»Du mußt Geduld mit mir haben, Menma, denn ich bin hier fremd und weiß so etwas nicht. Kannst du mir Ebers Wohnung von hier aus zeigen?«

»Von hier nicht, aber von da.«

Menma hob seine Hippe und wies mit der Klinge auf die Stelle.

»Zeig sie mir.«

Widerwillig führte Menma sie von den Ställen hinten um das Gästehaus herum und an der Granitmauer der Halle entlang zu einem ausgetretenen Pfad zwischen den Gebäuden. Ebers Wohnung lag offensichtlich auf der dem Gästehaus entgegengesetzten Seite der Festhalle. Und richtig, zwischen der Halle und der steinernen Kapelle standen ein paar Holzhäuser. Menma wies auf eins von ihnen.

»Das ist Ebers Wohnung. Dort ist die Tür, durch die ich reinging, aber es gibt noch eine andere, die seine Wohnung unmittelbar mit der Festhalle verbindet.«

»Und wo ist deine Hütte?«

Er deutete mit der Hippe darauf. Fidelma sah, daß ein Weg für Menma zu den Ställen an der steinernen Kapelle und an Ebers Wohnung vorbeiführte. Sie hatte nicht an der Richtigkeit von Menmas Beschreibung gezweifelt, doch sie wollte sich die Geographie des Ortes auf jeden Fall selbst einprägen.

»Wer besorgt hier das Melken?« fragte sie, während sie langsam zu den Ställen zurückgingen.

Sie wußte nicht, ob Eadulf verstand, wie ungewöhnlich es für einen Mann war, etwas mit dem Melken zu tun zu haben. In den meisten ländlichen Gemeinden standen die Leute bei Tagesanbruch auf, und zu den ersten Pflichten des Tages gehörte es, daß der oberste Stallwärter die Pferde auf die Weide trieb und die Frauen die Kühe melkten. Deshalb war es eigenartig, daß der Stallwärter des Fürsten nicht nur die Pferde hinausließ, sondern auch das Melken beaufsichtigte.

»Die Frauen besorgen immer das Melken«, antwortete Menma ungerührt.

»Warum mußtest du sie dann beaufsichtigen?«

»Das mache ich seit einigen Wochen«, meinte Menma. »Im Tal sind ein paar Rinder gestohlen worden, und Eber gab mir den Auftrag, seine Herde jeden Morgen zu kontrollieren.«

»Ist Rinderdiebstahl hier so ungewöhnlich? Hat man die Diebe erwischt?«

Menma erwog die Frage und kraulte sich dabei nachdenklich den Bart.

»Es war das erste Mal, daß jemand gewagt hat, den Clan Araglin zu berauben. Wir sind hier eine abgeschiedene Gemeinschaft. Duban hat tagelang gesucht, aber auf den hochgelegenen Weiden verlor sich die Spur der Diebe.«

»Wie kam das?«

»Da oben gab es zu viele Tierfährten.«

Fidelma seufzte. Aus Menma etwas herausholen war wie Zahnziehen. »Sprich weiter. Es war kurz vor Tagesanbruch. Du machtest dich auf, um das Melken zu beaufsichtigen, und kamst an Ebers Wohnung vorbei. Was dann?«

»Da hörte ich das Stöhnen.«

»Das Stöhnen?«

»Ich dachte, Eber müßte wohl krank sein, und rief, ob er Hilfe brauchte.«

»Was geschah dann?«

»Nichts. Es kam keine Antwort, und das Stöhnen ging weiter.«

»Was tatest du da?«

»Ich ging in seine Wohnung. Ich fand ihn in seinem Schlafraum.«

»War es Eber, der so stöhnte?«

»Nein, es war Moen, sein Mörder.«

»Hast du Ebers Leiche sofort entdeckt?«

»Nicht gleich. Ich sah, wie Moen am Bett kniete, mit einem Messer in der Hand.«

»Du sagtest, es war vor Tagesanbruch. Also mußte es noch dunkel sein. Wie konntest du das im Innern von Ebers Schlafraum sehen?«

»Eine Lampe brannte. In deren Licht sah ich Moen ganz deutlich. Er stand über das Bett gebeugt. Ich sah das Messer in seiner Hand.«

Menma hielt inne, und sein Gesicht verzog sich angeekelt, als er sich an den Anblick erinnerte.

»Beim Schein der Lampe sah ich Flecken auf dem Messer. Dann sah ich Flecken auf Moens Gesicht und Kleidung. Erst als ich Ebers Körper nackt auf dem Bett ausgestreckt liegen sah, begriff ich, daß es Blutflecke waren.«

»Hat Moen etwas zu dir gesagt?«

Menma schnaubte. »Sagen? Was hätte er denn sagen können?«

»Hast du ihn beschuldigt, Eber getötet zu haben?«

»Das lag doch wohl klar auf der Hand? Nein, ich ging sofort auf die Suche nach Duban.«

»Und wo fandest du Duban?«

»Ich traf ihn in der Festhalle. Er befahl mir, meine Arbeit zu machen, mich um die Pferde und Rinder zu kümmern, denn die Tiere können nicht warten, bis es den Menschen paßt.«

»Moen blieb in dieser Zeit allein?«

»Natürlich.«

»Du dachtest nicht, daß er weglaufen könnte?«

Menma schien verblüfft.

»Wo sollte er denn hin?«

Fidelma drängte ihn weiter.

»Was geschah dann?«

»Ich führte die Pferde hinaus, als Duban und Critan mit Moen zum Stall kamen.«

»Critan? Ist das der Krieger, der nach Cashel ritt?«

»Er ist einer von Dubans Kriegern«, bestätigte Menma.

»Was dann?«

»Sie brachten Moen in den Pferdestall, und Critan band ihn an. Der Pferdestall dient immer als Gefängnis, denn wir haben kein anderes Gebäude in Araglin, das dazu taugt.«

»Moen hatte keine Erklärung für den Mord und keine Verteidigung gegen die Vorwürfe vorzubringen? Hat er den Mord überhaupt gestanden?«

Menma sah verwirrt aus.

»Wie hätte er das tun können? Wie gesagt, jedem war klar, was geschehen war.«

Fidelma wechselte einen überraschten Blick mit Eadulf.

»Was tat Moen denn dann? Hat er sich gegen die Festnahme gewehrt?«

»Er wand sich und wimmerte, als Critan ihn festband. Duban ging dann zu Cron, weckte sie und brachte ihr die Nachricht.«

»Ich verstehe. Du hattest keinen Kontakt mehr mit Moen, nachdem er weggesperrt wurde?«

Menma zuckte die Achseln.

»Ich seh den Kerl, wenn ich in den Pferdestall gehe. Aber Critan versorgt ihn. Es sind Critan und Duban, die sich um ihn kümmern.«

Fidelma nickte nachdenklich.

»Danke, Menma. Vielleicht muß ich dir später noch weitere Fragen stellen. Aber jetzt spreche ich erst mit Duban.«

Menma wies auf den Eingang zum Stall, wo sie den Krieger im mittleren Alter, der sie bei ihrer Ankunft begrüßt hatte, im Gespräch mit einem jüngeren Mann erblickten.

»Da stehen Duban und Critan.«

Er wollte gehen, doch Fidelma hielt ihn zurück.

»Noch eins. Stehst du gewöhnlich vor Tagesanbruch auf, um nach den Pferden zu sehen?«

»Immer. Die meisten Leute hier sind schon bei Sonnenaufgang auf den Beinen.«

»Bist du heute morgen auch vor Tagesanbruch aufgestanden und hast nach den Pferden gesehen?«

Menma runzelte die Stirn.

»Heute morgen?«

Fidelma beherrschte mühsam ihren Ärger.

»Hast du dich heute morgen um die Pferde gekümmert?« wiederholte sie scharf.

»Ich hab dir doch gesagt, ich bringe sie jeden Morgen vor Tagesanbruch raus.«

»Und zu welcher Zeit bist du gestern abend zu Bett gegangen?«

Menma schüttelte den Kopf, als versuche er sich zu erinnern.

»Spät, glaube ich.«

»Glaubst du?«

»Ich hab spät noch getrunken.«

»War jemand bei dir?«

Der stämmige Mann schüttelte den Kopf.

Als er gegangen war, blickte Eadulf sie ratlos an.

»Was hat Menmas Verhalten heute morgen mit dem Mord in der vorigen Woche zu tun?« wollte er wissen.

»Hast du ihn wiedererkannt?« fragte Fidelma.

Eadulf runzelte die Stirn.

»Wen wiedererkannt? Menma?«

»Ja, natürlich!« Fidelma ärgerte sich über Eadulfs Begriffsstutzigkeit.

»Nein. Sollte ich das?«

»Ich bin mir sicher, daß er zu den Männern gehörte, die heute früh die Herberge überfielen.«

Eadulf blieb vor Staunen der Mund offenstehen. Ihm lag die Frage »Meinst du wirklich?« auf der Zunge, aber er wußte, daß sie ihm nur eine zornige Erwiderung einbringen würde. Fidelma würde nie sagen, sie sei sich sicher, wenn sie es nicht war.

»Dann hat er gelogen.«

»Genau. Ich schwöre, daß er dabei war. Du erinnerst dich, daß die Angreifer dicht an uns vorbeiritten. Mir fiel auf, daß einer von ihnen ein besonders häßliches Gesicht und einen buschigen roten Bart hatte. Ich glaube nicht, daß er mich so deutlich sah, daß er mich wiedererkennen würde. Aber es war Menma.«

»Das ist nicht das einzige Rätsel. Warum hält jeder hier Moen für schuldig, und keiner versucht festzustellen, aus welchem Grund er Eber und diese Teafa umgebracht hat?«

Fidelma nickte beifällig bei dieser treffenden Bemerkung.

»Jetzt wollen wir mal sehen, wie Menmas Aussage zu der Moens paßt.«

Sie gingen hinüber zu den beiden Kriegern, die an der Stalltür standen. Der jüngere Mann, eher noch ein Jüngling, hatte schmutziges blondes Haar und recht grobe Gesichtszüge. Er lümmelte am Türpfosten. Ein runder Schild hing locker an seiner Schulter, und er trug ein handwerklich gut gearbeitetes Schwert an der linken Seite. Beide Männer wandten sich um und beobachteten Fidelma und Eadulf, als diese sich ihnen näherten. Der jüngere Krieger veränderte seine nachlässige Haltung nicht und starrte Fidelma mit unverhohlener Neugier an. Beide schwiegen jetzt.

»Bist du wirklich ein Brehon?« Die Frage kam von dem Jüngling. Seine Stimme klang, als leide er an einer Halsentzündung. Fidelma gab ihm keine Antwort und zeigte ihr Mißfallen über seine Anrede, indem sie sich an den Krieger im mittleren Alter wandte.

»Wie ich höre, heißt du Duban und befehligst die Leibwache des Fürsten?«

Der stämmige Krieger wechselte verlegen seine Haltung.

»Das stimmt. Dies ist Critan, er gehört auch zur Wache. Critan ist ...«

»Der Meister von Araglin!« Der Ton des jungen Mannes war prahlerisch.

»Meister? Worin?« Nur Eadulf spürte, daß sich Fidelma über die Großspurigkeit des Jünglings ärgerte.

Critan ließ sich von ihrer Frage nicht beirren.

»Was du willst, Schwester. Schwert, Lanze oder Bogen. Ich war es, der nach Cashel geschickt wurde, um den König zu benachrichtigen. Ich glaube, er war von mir beeindruckt. Ich habe vor, in seine Leibwache einzutreten.«

»Weiß der König von Cashel schon von deiner Absicht?« fragte sie. Fidelma verzog keine Miene. Man merkte ihr nicht an, ob die Frechheit des Jünglings sie belustigte oder ärgerte. Eadulf folgerte, daß sie ihn verachtete.

Critan hörte den Spott nicht aus ihrer Stimme heraus.

»Ich hab es ihm noch nicht gesagt. Aber wenn ihm mein Ruhm bekannt wird, dann wird er mich in seinen Dienst nehmen.«

Fidelma merkte, daß Duban das Prahlen seines Untergebenen peinlich war.

»Duban, ich möchte mit dir sprechen.« Sie nahm ihn beiseite und ignorierte die gekränkte Miene des Jünglings.

»Du weißt, daß ich Anwältin bei Gericht bin?«

»Davon habe ich gehört«, bestätigte der Kommandeur der Leibwache. »Die Nachricht von deinem Kommen ist im rath allgemein bekannt.«

»Gut. Ich möchte Moen sehen.«

Der Krieger wies mit dem Daumen über die Schulter auf die geschlossene Stalltür.

»Er ist da drin.«

»Das hat man mir gesagt. Ich möchte dich noch darüber befragen, wie du die Leiche Teafas gefunden hast, aber im Augenblick möchte ich mich mit Moen befassen. Hat er irgend etwas gesagt, seit ihr ihn gefangengesetzt habt?«

Dubans verwirrte Miene verblüffte sie.

»Wie sollte er?«

Fidelma verkniff sich ihre Antwort und entschied, es sei besser, erst Moen zu sehen, ehe sie weitere Erkundigungen einzog.

»Macht die Tür auf«, ordnete sie an.

Duban winkte seinem angeberischen Untergebenen, ihren Befehl auszuführen.

Im Stall war es dunkel und feucht, und es stank.

»Ich hole eine Lampe«, sagte Duban entschuldigend. »Wir haben keinen anderen Platz für Gefangene, deshalb haben wir die Pferde, die Eber hier hielt, raus gebracht auf die Weide und den Stall zum Gefängnis gemacht.«

Fidelma schnüffelte mißbilligend und starrte in die Finsternis.

»Es muß doch wohl einen besseren Ort geben, wo man ihn einsperren kann? Der Gestank hier ist schon schlimm, auch ohne die zusätzliche Beleidigung durch die Dunkelheit. Warum hat man dem Gefangenen nicht ein Licht dagelassen?«

Der junge Krieger, Critan, kicherte laut hinter ihrem Rücken.

»Du hast Humor, Lady. Das ist gelungen!«

Duban knurrte ihn an, er solle auf seinen Posten vor der Tür zurückgehen, und schlurfte in die Dunkelheit. Als Fidelmas und Eadulfs Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, erkannten sie die unbestimmten Umrisse seiner Gestalt, wie er sich über etwas beugte, dann hörten sie, wie er Funken schlug und einen Öldocht entzündete, der zu glimmen begann. Mit der Lampe in der Hand wandte er sich um.

Er winkte sie tiefer in den höhlenartigen Stall hinein und zeigte in eine entfernte Ecke.

»Da ist er. Dort ist Moen, der Mörder Ebers.«

Fidelma ging weiter.

Duban hob die Lampe so hoch er konnte, um das übelriechende Innere zu erhellen. In der Ecke lag etwas, was auf den ersten Blick wie ein Bündel Lumpen aussah. Schmutzige, muffige Wollsachen. Das Bündel bewegte sich, und eine Kette klirrte. Fidelma schluckte schwer, als sie erkannte, daß das Bündel einen Menschen bedeckte, der mit dem linken Fuß an einem der Pfosten angekettet war, die das Dach trugen. Dann sah sie, wie sich ein wuscheliger Kopf ruckartig hob, mit dem Rücken zu ihr, und der Mensch mit leicht schräg gehaltenem Kopf zu lauschen schien. Er gab ein seltsames Wimmern von sich.

»Das ist die Kreatur, dieser Moen«, sagte Duban dumpf neben ihr.

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