Kapitel 21

Fidelma stand nach wie vor gelassen vor dem Podium und betrachtete die Anwesenden mit ernster Miene.

»Es gibt wenige Orte in diesen fünf Königreichen, an denen ich soviel Haß, soviel Betrug und soviel Trauriges angetroffen habe«, begann sie langsam. »Gorman und Menma haben sich schuldig gemacht, weil sie Menschen das Leben nahmen, doch was sie dazu getrieben hat, ist ein Übel, das in diesem Tal heimisch ist.

War Eber der Urheber all dieses Verderbens oder war auch er sein Opfer? Das werden wir nie erfahren. Tomnat war zweifellos ein Opfer. Sie hätte es nicht werden müssen, wenn sie auch nur einem Menschen in diesem Tal hätte vertrauen können außer ihrer ebenso leidenden Schwester; ein Mensch hätte sie retten können.«

Sie sah Duban mit unbewegter Miene an.

Der Krieger senkte den Blick.

»Teafa war ebenfalls ein Opfer, aber sie rettete ein Stück ihrer Selbstachtung und den Sohn ihrer Schwester. Moen ist das bemitleidenswerteste Opfer von allen.«

»Und bin ich nicht auch ein Opfer?« fragte Cranat barsch. »Ich war eine Prinzessin der Deisi und wurde dennoch gezwungen, mich zur Ehe mit diesem Verworfenen herabzuwürdigen.«

»Gezwungen? Du warst bereit, dich damit abzufinden. Selbst als Teafa dich vor Jahren warnte, daß dein Ehemann sein sittenloses Treiben fortsetzte und deine eigene Tochter in sein Bett gezerrt hatte, als sie erst zwölf oder dreizehn war!«

»Das ist nicht wahr!« fuhr Cron keuchend und mit bleichem Gesicht auf.

»Nein? Das hast du doch schon zugegeben«, ent-gegnete ihr Fidelma. »Es ist besser, wenn all diese dunklen Geheimnisse jetzt ans Licht gebracht werden. Teafa merkte, daß Ebers Lasterhaftigkeit mit dir wieder von vorn begann, Cron. Auch du wurdest ein Opfer. Teafa ging zu Cranat und forderte sie auf, fortzugehen, sich scheiden zu lassen und dich mitzunehmen. Doch Cranat begnügte sich damit, sich dem Bett ihres Ehemannes fernzuhalten, und lebte weiter im rath, weil sie hier Reichtum und Sicherheit genoß. Sie überließ es ihrer Tochter, allein mit allem fertig zu werden. Es war nicht Cranat, die sich weigerte, mit Teafa zu reden, sondern Teafa weigerte sich, mit Cranat zu reden.«

Totenstille herrschte in der Festhalle.

»Ja, Cron, du warst ein Opfer, aber du hast die Situation zu nutzen verstanden. Auf dem Weg über die wollüstigen Begierden deines Vaters bist du an die Macht gelangt. Muadnat war der Tanist deines Vaters.

Vor ein paar Wochen fühltest du dich stark genug, von deinem Vater zu verlangen, er solle dich als Tanist vorschlagen und seine Macht dazu benutzen, dir die Unterstützung der derbfhine zu verschaffen. Dank Ebers Bestechungen stimmten tatsächlich nur vier Personen gegen dich: Deine eigene Mutter und Teafa, die wußten, welchen Preis du dafür zahltest, Agdae als Muadnats Neffe und Menma, der nicht nur als Verwandter an Muadnat gebunden war, sondern auch durch Muadnats Gold. Du bist meines Erachtens nicht geeignet, Fürstin von Araglin zu werden, Cron.«

Fidelma wandte sich nun an Duban.

»Wenn Cron das Amt nicht mehr innehat, Duban, wie lange wirst du ihr dann noch deine Liebe beteuern? Tomnat erkannte deinen unbarmherzigen Ehrgeiz schon vor zwanzig Jahren und spürte, daß sie dir ihr schreckliches Geheimnis nicht anvertrauen konnte. Nun ist auch Crons Geheimnis, dasselbe Geheimnis, ans Licht gekommen - wirst du ihr da treu bleiben? Nein!« Sie hob die Hand, als er darauf antworten wollte. »Gib jetzt keine Beteuerungen ab. Warte mit deiner Antwort, bis die Zusammenkunft der derbfhine entschieden hat, ob Cron Fürstin von Ara-glin werden soll oder nicht.«

Fidelma streifte die Zuhörer in der Halle mit einem leidenschaftlichen Blick.

»Morann von Tara sagte einmal, das Böse könne als winziges Samenkorn Eingang finden und, wenn man es nicht ausrotte, zu einem Eichbaum heranwachsen. Hier ist ein ganzer Wald entstanden. Die Hoffnung für Araglin liegt in der Unschuld junger Menschen wie Archü und Scoth.« Plötzlich lächelte sie Clidna an. »Und wenn die Moral noch eine Stätte an diesem Ort hat, dann in dieser Frau.«

Clidna errötete und senkte den Kopf.

Agdae erhob sich langsam.

»Du beurteilst Araglin sehr hart, Schwester«, sagte er ruhig. Mit einem verlegenen Blick auf die schweigende Cranat und ihre Tochter fügte er hinzu: »Aber du bist nicht ungerecht. Doch sag uns, wie hast du Pater Gorman als Täter ermittelt? Du hattest auch gute Gründe gegen Cranat angeführt.«

»Daß Cranat als Mörderin kaum in Frage kommen konnte, wußte ich aus einem einfachen Grund: Wäre sie es gewesen, hätte sie nicht von meinem Bruder in Cashel einen Brehon zur Untersuchung der Vorfälle angefordert.«

»Und warum tat sie es?« fragte Eadulf.

»In erster Linie fühlt sie sich, wie wir gehört haben, als eine Prinzessin der Deisi. Sie wollte nicht, daß auch nur der leiseste Verdacht auf ihr Haus fällt. Sie meinte, die Anwesenheit eines Brehon würde der Untersuchung moralisches Gewicht verleihen. Ich nehme an, sie glaubte wirklich, daß Moen der Schuldige sei, nachdem sie die Wahrheit über seine Geburt erfahren hatte.

Es gab außerdem einen Punkt, der den Verdacht gegen Cranat widerlegte, den ich absichtlich etwas undeutlich vortrug, damit Gorman nicht merken sollte, worauf ich hinauswollte. Niemand griff ihn auf.

Das war gut so, denn sonst wäre Gorman auf der Hut gewesen, aber es überrascht mich, daß keiner von euch ihn bemerkt hat.«

»Welcher Punkt war das?« fragte Agdae.

»Ihr habt nicht an die Worte summa sedes non capit duos gedacht: auf den höchsten Sitz passen nicht zwei. Noch vor der Ermordung ihres Vaters war Cron Ta-nist geworden. Muadnat war nicht mehr Tanist, also konnte Cranat nicht Eber getötet haben, in der Hoffnung, die Frau des neuen Fürsten zu werden.«

»Was lenkte dann deinen Verdacht auf Gorman?« fragte Gadra.

»Das ist leicht zu erklären«, meinte Fidelma. »Schon in Lios Mhor hörte ich, daß Gorman ein fanatischer Anhänger der römischen Kirche ist. Wie sich herausstellte, ist er einfach ein Fanatiker, ein unduldsamer Eiferer, an was er auch immer glauben mag. Ich erfuhr, er habe in Ard Mor eine Kapelle erbaut und großen Reichtum auf ihre Ausstattung verwendet. Seine Kapelle hier, Cill Uird, ist genauso üppig eingerichtet. Im Gegensatz zu den meisten Priestern verfügt er über ein Reitpferd.«

»Reichtum beweist noch keine Schuld«, murmelte Cranat.

»Das hängt davon ab, woher der Reichtum stammt. Gorman war Muadnats Partner bei dem geheimen Goldbergwerk geworden. Wie und warum es zu dieser Partnerschaft kam, werden wir wohl nie erfahren. Ich vermute, daß Muadnat die Mine ausbeuten wollte, ohne einen Anteil an Eber zu zahlen, und meinte, Gorman biete die Möglichkeit, die Herkunft des Goldes zu verschleiern. Gorman konnte vorgeben, er habe es als Spenden von seinen Anhängern erhalten. Das Gold wurde in den Reichtum verwandelt, der sich in den Kapellen von Ard Mor und Cill Uird befindet. Was Muadnat übersah, war die angeborene Gier des Menschen. Daß Gorman Priester ist, bedeutet nicht, daß er nicht auch ein Mensch ist.«

»Aber warum hat er Eber und Teafa umgebracht?« fragte Cron, die ihren Ärger wegen Fidelmas Enthüllungen über ihr Verhältnis mit ihrem Vater überwunden hatte.

»Wie ich schon sagte, er ist ein unduldsamer Fanatiker. Als er erfuhr, daß Eber der Vater von Moen war, empörte er sich gegen die Unmoral, die darin lag. Eber mußte in das geschickt werden, was Gorman sich als die Hölle vorstellte, und Moen als Frucht von Ebers Inzest sollte bestraft werden, indem ihm der Mord angelastet wurde. Ich habe schon erklärt, daß Teafa getötet wurde, damit sie nichts über den Ogham-Stab verriet. Das Motiv für den Mord an Eber lag einfach in Gormans übereifriger Moralauffassung.«

»Aber wie hat er erfahren, daß Moen Ebers Sohn war?« fragte Cron. »Selbst ich wußte das nicht, bis du es uns gesagt hast.«

»Ich glaube, diese Frage kannst du uns beantworten, Cranat. Vor zwei Wochen beobachtete Duban, wie du dich mit Teafa gestritten hast. Als Teafa nämlich herausgefunden hatte, daß Cron ihr Verhältnis mit ihrem Vater benutzt hatte, um Tanist zu werden, kam sie zu dir, um dich davon zu überzeugen, daß das nicht sein dürfte. Sie sagte dir, daß Moen aus Ebers Inzest mit Tomnat stammte. Und das erzähltest du Gorman. Ist das richtig?«

»Als der Priester an diesem Ort hatte Pater Gorman das Recht, das zu wissen«, erwiderte Cranat.

»Aber Gorman ist ein Fanatiker, und was er nun erfahren hatte, führte direkt zu Teafas Tod. Voller Wut ging er zu Eber und Teafa und machte ihnen Vorwürfe. Critan wurde zufällig Zeuge dieser Auseinandersetzung und sah, wie Eber den Priester schlug. In dem Moment beschloß Gorman, ihn zu töten.«

»Aber wenn nun Moen nicht den Geruch des Weihrauchs erkannt hätte?« überlegte Eadulf. »Ich hätte gedacht, der Weihrauchgeruch wäre Moen so vertraut, daß er ihn mit der Kapelle und nicht mit dem Täter in Verbindung bringen würde?«

»Hast du vergessen, Eadulf, daß Gorman uns sagte, daß er Moen nicht erlaubte, die Kapelle zu betreten? Daß er ihn mied? Deshalb verband sich für Moen dieser Geruch nicht mit der Kapelle.«

»Aber warum hat Pater Gorman meinen Onkel Muadnat töten lassen?« fragte Agdae. »Er war doch sein Partner beim Betreiben des geheimen Bergwerks.«

»Den Grund habe ich schon kurz erwähnt. Als Muadnat immer mehr Aufsehen erregte, indem er versuchte, auf gerichtlichem Wege Archü das Land abzunehmen, bekam Gorman es mit der Angst zu tun. Muadnats Verhalten konnte dazu führen, daß man das Bergwerk entdeckte, denn es lenkte die Aufmerksamkeit der Leute auf die Gegend. Menma war Gormans Gefolgsmann, nicht Muadnats. Gorman ließ Muadnat von Menma töten, um das Geheimnis zu wahren. Aus demselben Grund ließ er Menma auch Morna und Dignait töten. Gormans Habgier spielte dabei die Hauptrolle.«

»Wie kamst du darauf, daß Menma Gorman diente?«

»Daß es eine Art Zusammenarbeit zwischen Gorman und Menma gab, wurde mir bald klar. Ich sah sie einmal zusammenstehen und etwas besprechen. Als Archü Gorman erzählte, er wolle im Streit um das Land gegen Muadnat vor Gericht gehen, riet ihm Gorman, sich nach Lios Mhor zu wenden. Das fand ich merkwürdig, bis ich begriff, daß dies verhinderte, daß der Fall vor Eber verhandelt würde. Eber hätte Muadnat unbequeme Fragen stellen können. Gorman war es auch, der Archü auf dem längeren Weg nach Lios Mhor schickte. Wahrscheinlich wollte er damit vermeiden, daß Archü auf dem kürzeren Weg einem Goldtransport nach Ard Mor begegnete.

Dann stellte Gorman fest, daß Morna, einer der Bergleute, die er beschäftigte, seinem Bruder Bressal ein Stück Erz mitgenommen hatte. Menma bekam den Auftrag, Morna zu töten und die Herberge zu zerstören. Für den Überfall konnte man die Geächteten in der Gegend verantwortlich machen.

Mehrere Dinge lenkten meine Aufmerksamkeit auf Gorman. Eadulf war aufgefallen, daß eine schlanke Gestalt in einem bunten Mantel hinter Muadnats Bau-ernhof den Berg hinaufritt. Die Gestalt verschwand. Kurz darauf erschien Gorman, doch ohne Reitmantel. Ich wußte, daß Gorman einen bunten Mantel besaß, denn ich hatte ihn in der Sakristei liegen sehen. Gormans Kleidung war stark mit dem Geruch des Weihrauchs durchtränkt, den er in seiner Kapelle benutzt. Gorman trug Handschuhe. Die Bedeutung dieser Tatsachen habe ich schon erklärt.

An dem Abend, bevor Bruder Eadulf von den giftigen Pilzen aß, hörte Gorman, wie ich Cron versicherte, ich würde am folgenden Tag den Mörder benennen. Am nächsten Morgen schlich er sich in aller Frühe in die Küche und legte Lorcheln auf unsere Teller. Dignait hatte ihn dabei in der Küche gesehen, und er wußte, wenn bekannt würde, daß man uns vergiftet hatte, dann würde sie ihn verraten, um sich selbst zu schützen. Vielleicht hatte er auch von vornherein die Absicht, ihr die Schuld zuzuschieben. Menma hatte sie zum Schweigen zu bringen, und ihm wurde gesagt, was er mit der Leiche tun sollte. Gorman war einer der wenigen, die von der unterirdischen Vorratskammer auf Archüs Hof wußten, denn Archü hat mir erzählt, daß Gorman dort war, als vor langer Zeit ein Kind darin verunglückte, und daß er damals vorgeschlagen hatte, die Kammer zu verschließen. Außerdem beherrscht Gorman Latein und Ogham. So fügten sich die Stücke des Rätselbildes zusammen.«

Fidelma hielt inne und breitete die Hände aus.

»Doch es war ein Hauptfaktor, der alle diese Details wie ein Rahmen umschloß. Gorman hatte erfah-ren, daß Moen aus Ebers Inzest mit seiner Schwester stammte. Das ließ er ungewollt durchblicken, als er mit mir sprach. Sein unversöhnlicher Glaube konnte sich damit nicht abfinden, und deswegen tötete er Eber und Teafa, aus Motiven, die mit dem Goldbergwerk nichts zu tun hatten.«

Drei Tage später kehrten Fidelma und Eadulf in Bres-sals »Herberge der Sterne« ein, um ihm die traurige Kunde vom Tod seines Bruders zu bringen. Der rundliche Herbergswirt nahm sie gefaßt auf.

»Als er nicht zurückkam, vermutete ich bereits, daß er nicht mehr unter den Lebenden weilte. Mein Bruder verbrachte sein Leben mit der Suche nach dem Reichtum, der es ihm erlauben würde, den Rest seines Lebens mit Nichtstun zu verbringen. Das Nichtstun hätte ihn nicht glücklich gemacht. Es ist traurig, daß er das nicht mehr selbst herausfinden konnte.«

Fidelma nickte. »Auri sacra fames - der verfluchte Hunger nach Gold. Er zerstört mehr, als er schafft. Hat nicht der Evangelist Matthäus geschrieben: >Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, da sie die Motten und der Rost fressen und da die Diebe nachgraben und stehlen

Bressal stimmte ihr lächelnd zu.

»Sprich ein Gebet für Mornas Seele, Schwester«, bat er sie.

Fidelma und Eadulf ritten weiter durch den Wald zu der Hauptstraße, die nach Cashel führte. In den drei Tagen, die sie nach Fidelmas Enthüllungen noch im rath von Araglin geblieben waren, hatte sie die Nachricht erreicht, daß die Bergarbeiter aufgegriffen worden waren und der örtliche Brehon Gormans Goldschatz, der sich in der Kapelle von Ard Mor befand, bis zum Ergebnis der Gerichtsverhandlung gegen Gorman in Cashel beschlagnahmt hatte. Doch dieser Prozeß würde nie stattfinden. Fidelma hatte großzügig gestattet, daß Gorman in der Sakristei seiner eigenen Kapelle in Haft saß. Am Tag nach seiner Festnahme aß Gorman von einem geheimen Vorrat an Lorcheln und starb innerhalb von vier Stunden. Er fand ein ihm entsprechendes Ende, wie Bruder Eadulf bemerkte, der noch unter den Folgen der vereitelten Vergiftung litt.

In einer Sondersitzung der derbfhine der Familie Ebers wurde Agdae zum vorläufigen Tanist von Ara-glin ernannt. Nur Cron protestierte dagegen. Es war klar, daß man sie nicht als Fürstin von Araglin bestätigen würde. Duban hatte nicht einmal das Ergebnis der Sitzung abgewartet, sondern sein Pferd gesattelt und war in den Bergen verschwunden. Cranat hatte ebenfalls ihre bewegliche Habe gepackt und war ins Land der Deisi zurückgekehrt.

Es war Eadulf, der aussprach, was auch Fidelma dachte.

»Es tut mir nicht leid, diesen Ort zu verlassen. Ich habe das Gefühl, ich muß in gutem, klarem Wasser baden nach allem, was vorgefallen ist.«

Als sie sich dem Kreuzweg näherten, erblickte Fidelma zwei vertraute Gestalten, die zu Fuß auf dem Weg nach Lios Mhor dahinzogen. Der eine Mann war jung, wurde aber von dem älteren an der Hand geführt. An den gebeugten Schultern des letzteren erkannte man sein hohes Alter.

»Gadra!« rief Fidelma und trieb ihr Pferd ein wenig an.

Der Alte blieb stehen und schaute sich um. Sie sahen, wie seine Finger auf die Handfläche Moens klopften; offensichtlich erklärte er ihm, weshalb er anhielt.

»Gesegnet sei deine Reise, Fidelma«, sagte er lächelnd. »Und auch deine Reise sei gesegnet, mein angelsächsischer Bruder.«

Fidelma schwang sich vom Pferd.

»Wir haben uns gefragt, warum wir euch in den letzten Tagen nicht gesehen haben. Ihr hättet euch von uns verabschieden sollen. Wo wollt ihr beide hin?«

»Nach Lios Mhor«, erwiderte der Alte.

»Ins Kloster?« fragte Fidelma erstaunt.

»Ja. Du brauchst nicht so entgeistert dreinzuschauen.« Gadra grinste. »Wäre ein alter Heide wie ich dort nicht willkommen?«

»Im Hause Christi ist jedermann willkommen«, antwortete Fidelma ernst. »Obgleich ich gestehen muß, daß deine Entscheidung, dorthin zu gehen, mich wirklich überrascht.«

»Nun.« Gadra rieb sich die Nase. »Wenn es nach mir ginge, würde ich lieber in den Bergen wohnen bleiben. Aber der Junge braucht mich.«

»Ach«, seufzte Eadulf. »Es ist sehr lobenswert, was du für den Jungen tust. Die Klostermauern schützen ihn besser als die Berge.«

Gadra warf ihm einen belustigten Blick zu.

»Noch wichtiger ist, daß er die Gemeinschaft von Menschen braucht, die sich mit ihm verständigen können. Im heiligen Haus in Lios Mhor gibt es Mönche und Nonnen, die die alte Schrift beherrschen. Ich kann ihnen rasch beibringen, wie sie sie dazu verwenden können. Sobald Moen in der Lage ist, sich mit mehreren Menschen zu verständigen, habe ich meine Pflicht gegenüber Teafa und Tomnat erfüllt. Dann kann ich weiter meinem Schicksal folgen und ihn dem seinen überlassen.«

»Das ist sehr großzügig von dir«, bemerkte Fidelma.

»Großzügig?« Gadra schüttelte den Kopf. »Es ist nicht mehr als meine heilige Pflicht gegenüber dem Verstand Moens. Der Junge hat seinen ausgezeichneten Geruchssinn bewiesen, und wenn er richtig angeleitet wird, kann man diese Fähigkeit nutzen.«

»Zu welchem Zweck?« fragte Eadulf interessiert.

»Es gibt viel zu tun für jemanden, der die verschiedensten Gerüche so gut voneinander unterscheiden kann, vom Mischen von Parfüm bis zum Erkennen von Kräutern oder dem Herstellen von Arzneien.«

»Also werdet ihr beide in Lios Mhor wohnen?«

»Vorerst einmal.«

»Wer weiß, unter dem heiligen Einfluß des Klosters wirst du vielleicht sogar noch Christ?« neckte Fidelma Gadra.

»Das werde ich niemals«, erwiderte Gadra trocken. »Ich habe zuviel von eurer christlichen Liebe und Barmherzigkeit erlebt, als daß ich dazu gehören möchte.«

»Ich bin sicher, wenn du das Wort hörst, wie es von den Brüdern und Schwestern in Lios Mhor gepredigt wird, dann wirst du erkennen, daß dieses Wort die Wahrheit ist«, erklärte Eadulf mit Überzeugung.

»Dein Wort oder Gormans Wort? Wie kannst du so sicher sein, daß dein Wort die Wahrheit für jedermann oder überhaupt die Wahrheit ist?« fragte Gadra.

»Man muß glauben, sonst entzieht sich einem die Wahrheit«, fühlte sich Eadulf herausgefordert zu antworten.

Gadra schüttelte den Kopf und wies zum blauen Himmelszelt.

»Hast du je daran gedacht, mein angelsächsischer Bruder, daß dann, wenn der Augenblick kommt, an dem sich uns die Türen zur anderen Welt öffnen, jeder von uns feststellen könnte, daß die Dinge, über die wir hier so heftig streiten, sich als nichts anderes als ein großes Mißverständnis erweisen könnten?«

»Niemals!« fuhr Eadulf empört auf.

Der alte Einsiedler sah ihn traurig an.

»Dann ist dein Glaube blind, und du hast deinen eigenen freien Willen abgedankt, und das widerspricht der geistigen Ordnung dieser Welt.«

Fidelma legte Eadulf die Hand auf den Arm, als sie merkte, daß er zu einer zornigen Antwort ansetzte.

»Ich verstehe dich, Gadra«, sagte sie, »denn wir stammen von gemeinsamen Ahnen ab. Doch die Sitten ändern sich im Laufe der Zeit. Den Wandel können wir nicht aufhalten, und wir können auch nicht zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren. Aber in dir erkenne ich dieselben Tugenden, die wir alle besitzen.«

»Sei gesegnet für dieses Wort, Schwester. Führen nicht alle Wege zu demselben großen Zentrum?«

Es trat Schweigen ein. Dann machte sich Moen bemerkbar.

»Er sagt, es tut ihm leid, daß er sich nicht ordentlich von dir verabschiedet hat, bevor wir auf die Reise gingen, doch er war der Ansicht, er habe dich schon zu sehr beansprucht. Er glaubt, du weißt, was er empfindet. Er verdankt dir das Leben.«

»Er verdankt mir nichts. Ich bin eine Dienerin des Gesetzes.«

»Er sagt, er halte das Gesetz für einen Käfig, der jeden einfängt, der nicht die Macht hat, sich einen Schlüssel zu sichern.«

»Wenn jemand diese Meinung widerlegt, dann ist er es selbst«, erwiderte Eadulf unwillig.

»Es war nicht das Gesetz, sondern die Anwältin, die den Schlüssel besorgte«, übersetzte Gadra.

»Der heilige Timotheus schrieb in der Heiligen Schrift, >daß das Gesetz gut ist, so es jemand recht braucht««, erwiderte Fidelma. »Und ein weiser Grieche, Heraklit, sagte einmal, die Bürger sollten für ihr Gesetz kämpfen, als verteidigten sie ihre Stadtmauer gegen ein fremdes Heer.«

»Darin bleiben wir wohl verschiedener Ansicht. Das Gesetz kann nicht Moral erzwingen. Aber ich danke dir für das, was du getan hast. Lebe wohl, Fidelma von Kildare. Lebe wohl, mein angelsächsischer Bruder. Friede sei mit euch auf eurem Wege.«

Sie sahen dem Alten nach, als er Moen auf dem Waldweg fortführte.

Traurigkeit überkam Fidelma.

»Ich wünschte, ich hätte ihn davon überzeugen können, daß unser Gesetz geheiligt ist, das Ergebnis von Jahrhunderten menschlicher Weisheit und Erfahrung, das uns ebenso beschützt, wie es uns bestraft. Wenn ich das nicht glaubte, könnte ich nicht Anwältin sein.«

Eadulf neigte zustimmend den Kopf.

»Hat nicht mal jemand gesagt, daß es nicht die Gesetze sind, die sich korrumpieren lassen, sondern die, die sie auslegen?«

Fidelma schwang sich wieder in den Sattel.

»Vor vielen Jahren schrieb Aischylos, daß ungerechtes Handeln sich nicht vermittels rechtlicher Kniffe durchsetzen darf. Infolgedessen müssen wir das Gesetz unserem eigenen Urteil unterwerfen. Ich glaube, das hat der Evangelist Matthäus tatsächlich gemeint, als er schrieb: >Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet<.«

Sie lenkten ihre Pferde nordwärts auf den Weg nach Cashel.

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