KAPITEL 9

Als Charlotte Cormac O’Neils Haus so gefasst wie möglich verließ, fürchtete sie, jeder könne ihr die Angst, Verwirrung und hilflose Wut ansehen, die sie empfand. Ihr war bewusst, dass Narraway auf keinen Fall Cormac O’Neil getötet hatte, was auch immer er sonst auf dem Kerbholz haben mochte – und das war möglicherweise eine ganze Menge. Er hatte das Haus praktisch unmittelbar vor ihr betreten, gleich darauf hatte sie gehört, wie der Hund zu bellen begonnen und seine Lautstärke immer mehr gesteigert hatte. Ging das lediglich darauf zurück, dass er Narraways Eintreten gemerkt hatte, oder hatte es womöglich auch damit zu tun, dass er den Tod seines Herrn mitbekommen hatte?

Hatte O’Neil geschrien? Hatte er seinen Mörder gesehen, oder war er von hinten erschossen worden? Charlotte hatte keinen Schuss gehört. Das war der springende Punkt, natürlich! Sie hatte ausschließlich das Bellen des Hundes gehört. Es hatte Narraway gegolten, nicht aber demjenigen, der den Schuss abgefeuert hatte, wer auch immer das gewesen sein mochte.

Als ihr das aufging, blieb sie wie angewurzelt mitten auf der Straße stehen. Narraway konnte Cormac unmöglich erschossen haben. Diese Gewissheit gründete sich nicht darauf, dass

Niemand – natürlich nicht! Talulla Lawless würde ihr mit Sicherheit allein schon wegen ihres blinden Hasses auf Narraway widersprechen. Es würde sie freuen, wenn man ihn für den Mord an Cormac an den Galgen brachte. In ihren Augen wäre das ein Sieg der Gerechtigkeit – und sie würde es besonders genießen, weil sie so lange darauf hatte warten müssen. Zweifellos war ihr bewusst, dass er nicht schuldig war, denn sie hatte sich nahe genug am Ort des Geschehens aufgehalten, um selbst zu hören, wann der Hund angefangen hatte zu bellen. Doch zugleich wäre sie die Letzte, die das zugeben würde.

Das dürfte Narraway bewusst sein. Charlotte erinnerte sich an den Ausdruck seines Gesichts in dem Augenblick, als er zuließ, dass ihn der Polizeibeamte fesselte. Er hatte ihr lediglich einen kurzen Blick zugeworfen, in dem alles lag, was er zu sagen hatte. Es war unerlässlich, dass sie ihn verstand. Außerdem musste sie unbedingt einen kühlen Kopf bewahren und die Situation in allen Einzelheiten gründlich durchdenken. Handeln durfte sie erst, wenn sie sich ihrer Sache vollständig sicher war. Es genügte nicht, die Wahrheit zu kennen, sie musste auch die Möglichkeit haben, unwiderlegliche Beweise dafür vorzubringen. Es war äußerst schwierig, jemanden von etwas zu überzeugen, was dessen Empfindungen widerstrebte. Das galt in diesem Fall besonders, denn hier ging es um einen vor vielen Jahren aufgerissenen tiefen Graben zwischen Freund und Feind, um Überzeugungen, für die Menschen mit Blut und schweren Verlusten bezahlt hatten.

Sie stand nach wie vor reglos da. Inzwischen hatte sich vor dem etwa hundert Schritt entfernten Haus wegen der dort begangenen Gewalttat eine kleine Menschenmenge angesammelt. Man sah zu ihr her. Vermutlich fragten sich die Leute, warum sie dort stand.

Sie schluckte, strich sich den Rock glatt, wandte sich erneut um und machte sich auf den Weg zu einer Stelle, von der sie annahm, dass sie dort am ehesten eine Droschke zurück zur Molesworth Street finden konnte. Es galt, eine ganze Reihe praktischer Gesichtspunkte sorgfältig zu erwägen. Sie war jetzt völlig auf sich allein gestellt. In der ganzen Stadt gab es niemanden, dem sie trauen konnte. Sie musste überlegen, ob sie in Mrs Hogans Pension bleiben sollte oder ob es sicherer wäre, sich eine andere Unterkunft zu suchen, von der niemand etwas wusste. Schließlich hatte es sich inzwischen herumgesprochen, dass sie angeblich Narraways Halbschwester war.

Aber wohin könnte sie sich wenden? Wie lange würde es dauern, bis man sie in einer Stadt von der Größe Dublins aufspürte? Sie war dort fremd, eine auf sich allein gestellte Engländerin. Außer den Menschen, denen sie durch Narraways Vermittlung vorgestellt worden war, kannte sie niemanden. Sicher würde es nur Stunden dauern, bis man sie entdeckt hätte. Dann würde es lächerlich wirken, dass sie das Quartier gewechselt hatte, und den Eindruck erwecken, als habe sie einen Grund, sich zu verstecken.

Sie schritt rasch aus und versuchte so zu tun, als kenne sie ihr Ziel und wisse, was sie dort wollte. Ersteres stimmte sogar. Sie sah eine Droschke, die einen Fahrgast absetzte. Wenn sie schnell genug war, konnte sie sich von ihr in die Molesworth Street fahren lassen. Sie erreichte sie gerade in dem Augenblick, als der Kutscher sein Pferd antrieb, um zu wenden.

»Kutscher!«, rief sie. »Würden Sie mich in die Molesworth Street bringen?«

»Selbstverständlich gern«, gab er zur Antwort, beendete das Wendemanöver und ließ sie einsteigen. Erleichtert und dankbar nahm sie Platz. Sie wandte sich nicht um, während die Droschke davonfuhr. Sie konnte sich die Szene deutlich genug vorstellen. Narraway, der sich, gefesselt wie ein gefährlicher Verbrecher, in jenem Haus befand, musste sich entsetzlich einsam fühlen. Ob er Angst hatte? Sicherlich würde er das nie zeigen. Vermutlich verheimlichte er diese Angst, wenn er sie empfand, wie alle anderen Empfindungen, die ihn verletzlich machten und die er nach außen hinter seinem spöttischen Humor versteckte.

Sie mahnte sich, weniger an sich selbst zu denken. Pitt war irgendwo in Frankreich, fest überzeugt, dass Narraway nach wie vor Lisson Grove leitete, während er in Wahrheit niemanden hatte, auf den er sich stützen konnte. Nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen würde er annehmen, dass man seinen Vorgesetzten in Irland unter Mordverdacht festhielt und das Hauptquartier des Sicherheitsdienstes sich – zumindest teilweise – in den Händen von Hochverrätern befand. Angesichts dieser Situation waren ihre eigenen Gefühle unerheblich. Wichtig war jetzt einzig und allein die Rettung Narraways, und dazu musste sie sich bemühen, die Wahrheit nicht nur zu erkunden, sondern auch zu beweisen.

Als Täter kam ausschließlich jemand in Frage, bei dessen Betreten des Hauses der Hund nicht anschlagen würde. Es musste also jemand sein, den er kannte, jemand, der dort ein und aus ging. Damit fiel der Verdacht automatisch auf Talulla. Ihr Onkel Cormac lebte allein, das hatte er am Vorabend zu Charlotte gesagt, als sie ihn gefragt hatte. Vermutlich kam von Zeit zu Zeit eine Zugehfrau zum Putzen und Waschen, doch selbst wenn man annahm, dass sie gerade jetzt dort gewesen war – welchen Grund hätte sie haben sollen, ihren Arbeitgeber zu töten? Woher hätte sie überhaupt eine Schusswaffe?

Warum also sollte ihn ausgerechnet seine Nichte Talulla getötet haben? Aus Pitts früheren Fällen war Charlotte bekannt, dass Morde ausgesprochen häufig von Angehörigen oder anderen dem Opfer nahestehenden Menschen begangen wurden. Natürlich bestand die Möglichkeit eines Raubüberfalls, doch hätte der Hund sofort angeschlagen, wenn ein Einbrecher ins Haus gekommen wäre.

Aus welchem Grund mochte Talulla ihn getötet haben – und warum gerade jetzt? Womöglich, um Narraway die Schuld daran zu geben? Doch woher hätte sie wissen können, dass er dort sein würde?

Die Antwort auf diese Frage lag auf der Hand: Der Brief, der Narraway dorthin gelockt hatte, stammte von Talulla und nicht von Cormac. Es dürfte ihr nicht schwergefallen sein, die Handschrift ihres Onkels nachzuahmen. Zwar mochte sich Narraway aus der Zeit vor zwanzig Jahren daran erinnern, wie diese aussah, aber bestimmt nicht in solchen Einzelheiten, dass er eine gute Fälschung als solche erkannt hätte.

Aber auch damit blieb nach wie vor die Frage, warum sie gerade diesen Zeitpunkt gewählt hatte. Cormac und sie waren die beiden einzigen Überlebenden der zwanzig Jahre zurückliegenden Tragödie. Er war kinderlos, und Talullas Eltern lebten nicht mehr. Zweifellos waren beide davon überzeugt, dass Narraway die Schuld an deren Tod trug. Welches Motiv aber hätte Talulla gehabt, Cormac zu töten? Gab es etwas, wovon sie nicht zulassen durfte, dass Narraway es erfuhr, und hatte er womöglich unmittelbar davorgestanden, das herauszubekommen?

Doch auch das ergab keinen Sinn, denn in dem Fall hätte es sich eher angeboten, Narraway zu töten.

Charlotte erinnerte sich an den Ausdruck, der auf Talullas Gesicht getreten war, als sie Narraway an Cormacs Leiche hatte stehen sehen. Sie war nahezu hysterisch gewesen. Sicher

Während der Droschkenfahrt nahm Charlotte nicht das Geringste von der Schönheit der Stadt Dublin um sich herum wahr. Lediglich als ihr kalter Regen auf Gesicht und Schulter fiel, reagierte sie einen Augenblick lang auf ihre Umwelt und schloss das Fenster.

Welchen Anteil hatte Talulla an der ganzen Geschichte? Auf welche Weise hing das alles mit Mulhare und dem unterschlagenen Geld zusammen? Unmöglich konnte Talulla die Intrige in die Wege geleitet haben – es sei denn, in Lisson Grove gab es jemanden, der die Leidenschaft der Iren schürte und alte Wunden aufriss, um auf diese Weise jemanden zu finden, der ihnen Narraway vom Halse schaffte. Sofern diese Vermutung zutraf und nicht lediglich ein Produkt von Charlottes überreizter Vorstellungskraft war – wer war daran beteiligt? Wen konnte sie fragen? Gab es unter Narraways angeblichen Freunden jemanden, der bereit war, ihm zu helfen? Oder hatte er jeden einzelnen von ihnen irgendwann so sehr verprellt oder hintergangen, dass sie keinen anderen Wunsch kannten, als sich an ihm zu rächen, wenn der Zeitpunkt dafür günstig war?

Vielleicht aber fällte sie damit ein oberflächliches Urteil, zu dem sie kein Recht hatte. Was würde sie in der umgekehrten Situation empfinden, wenn beispielsweise die Iren Englands ausländische Zwingherren wären? Würde sie, falls jemand ihre Angehörigen benutzt und verraten hätte, weiterhin an ihren Überzeugungen festhalten, sich dem Anstand und einer vorurteilsfreien Suche nach Gerechtigkeit verpflichtet fühlen? Das war denkbar – aber keineswegs sicher. Auf diese Frage könnte sie höchstens eine so theoretische Antwort geben, dass sie auf keine praktische Situation anwendbar wäre.

So oder so – Narraway hatte keinen Anteil an Cormacs Tod. Während sie sich das sagte, ging ihr auf, dass er ihrer festen Überzeugung nach nur teilweise an Kate O’Neils Untergang schuldig war. Hatten nicht die Angehörigen der Familie O’Neil ihrerseits ihn zu benutzen versucht, indem sie ihn dazu bringen wollten, Verrat an seinem Vaterland zu begehen? Zwar hatten sie allen Grund, sich zu ärgern, weil ihnen das misslungen war, aber gab ihnen das ein Recht, sich dafür an ihm zu rächen?

Sie musste unbedingt jemanden finden, der ihr helfen konnte, denn sofern sie allein auf sich gestellt blieb, konnte sie gleich aufgeben, nach London zurückkehren und Narraway sowie damit letzten Endes auch Pitt seinem Schicksal überlassen. Noch bevor sie in der Molesworth Street ankam und versuchte, Mrs Hogan die Situation zu erklären, was sich nicht


»Was?«, fragte McDaid ungläubig, als sie ihm im Herrenzimmer seines Hauses das Vorgefallene berichtete.

Sie saßen in gewaltigen Ledersesseln, und Charlotte nahm an, dass es in vornehmen Herrenklubs so aussah wie dort: holzgetäfelte Wände, abgewetzte bequeme Polstermöbel und Dekorationsgegenstände aus Messing – nur dass sie bei McDaid aus reinem Silber bestanden, keltische Unikate von unschätzbarem Wert.

»Es tut mir so leid.« Sie schluckte und versuchte, ihre Fassung wiederzugewinnen. Sie hatte geglaubt, sich beherrschen zu können, und merkte jetzt, dass sie weiter davon entfernt war, als sie angenommen hatte. »Wir haben Cormac O’Neil aufgesucht. Genau genommen hatte Victor gesagt, dass er allein hinfahren wolle, aber ich bin ihm ohne sein Wissen sozusagen auf den Fersen gefolgt …«

»Wollen Sie damit sagen, Sie haben eine Droschke gefunden, deren Kutscher imstande war, ihn im Dubliner Verkehr nicht aus den Augen zu verlieren?«, fragte McDaid mit gerunzelter Stirn.

»Das nicht. Ich wusste, wohin er wollte, weil ich gestern Abend selbst dort war …«

»Bei O’Neil?« Er machte ein ungläubiges Gesicht.

»Ja. Hören Sie mir bitte zu.« Ihre Stimme war unwillkürlich lauter geworden, und sie bemühte sich, sie zurückzunehmen. »Ich bin nur wenige Augenblicke nach Victor dort eingetroffen. Kaum dass er ins Haus getreten war, hat der Hund angefangen zu bellen – aber einen Schuss habe ich nicht gehört !«

»Natürlich hat der gebellt.« Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. »Das tut der bei jeder Gelegenheit, außer wenn

»Nicht die Zugehfrau?«, fragte sie rasch.

»Nein. Die hat vor dem Hund Angst.« Er sah sie aufmerksam und mit ernster Miene an. »Warum fragen Sie das – spielt es eine Rolle?«

Sie zögerte, weil sie nach wie vor nicht sicher war, wie weit sie ihm trauen durfte. Was sie zu sagen hatte, war das Einzige, womit sie Narraway helfen konnte. Vielleicht war es besser, dies Wissen für sich zu behalten.

»Möglicherweise nicht«, sagte sie und sah betont verwirrt drein. Dann teilte sie ihm so zusammenhängend, wie es ihr möglich war, mit, was geschehen war, ohne den Hund noch einmal zu erwähnen. Dabei achtete sie aufmerksam auf die Reaktionen in seinem Gesicht und versuchte die Empfindungen zu deuten, die sich darauf spiegelten, Glaube oder Ungläubigkeit, Verwirrung oder Verständnis, Triumph oder Niedergeschlagenheit.

Er hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. »Und die Polizei hält Narraway für den Täter? Warum in drei Teufels Namen hätte er Cormac erschießen sollen?«

»Um sich dafür zu rächen, dass dieser ihn in London unmöglich gemacht hat«, gab sie zurück. »Jedenfalls hat Talulla das gesagt. Es klingt ja auch irgendwie sinnvoll.«

»Und glauben Sie, dass das so abgelaufen ist?«, fragte er.

Beinahe hätte sie gesagt, dass sie das Gegenteil mit Sicherheit wisse, doch fiel ihr gerade noch rechtzeitig ein, dass das ein Fehler sein könnte. »Eigentlich nicht«, sagte sie zurückhaltend. »Ich habe unmittelbar hinter ihm das Haus betreten und keinen Schuss gehört. Ganz davon abgesehen, glaube ich auch nicht, dass Victor so etwas tun würde. Es ergibt keinen Sinn.«

Jetzt war sie wütend. Sie spürte, wie der Zorn in ihr aufstieg, sich ihr Magen verkrampfte. Ihre Hände zitterten, während sie mit einer Stimme, die klang, als sei sie leicht beschwipst, sagte: »Damit haben Sie Recht. Aber Sie kennen Victor schon seit vielen Jahren. Hat er sich je wie ein Dummkopf aufgeführt?«

»Nein. Er hat so manches getan, was nicht unbedingt immer besonders anständig war, aber dumm war es nie«, gab er zu.

»Hat er je hitzköpfig oder gedankenlos gegen seine eigenen Interessen gehandelt?« Sie konnte es sich nicht vorstellen, nicht von dem Mann, den sie kannte. War er womöglich früher von dieser Art unbeherrschter Leidenschaftlichkeit gewesen? War seine übermäßige Selbstbeherrschung nichts als eine Maske? Sie fand den Gedanken sonderbar abwegig, hatte den Eindruck, als zerstöre sie damit einen Teil von ihm, den sie auf keinen Fall anders sehen wollte, als sie ihn bisher gesehen hatte.

McDaid stieß ein freudloses Lachen aus. »Nein. Er hat nie vergessen, wofür er sich eingesetzt hat. Er hätte sich unter keinen Umständen von etwas ablenken lassen, und wenn es noch so außergewöhnlich gewesen wäre. Warum fragen Sie?«

»Nun ja, sofern er wirklich geglaubt haben sollte, dass Cormac O’Neil die Sache in London eingefädelt und dafür gesorgt hat, dass man ihn der Unterschlagung bezichtigt, hätte er nie und nimmer gewollt, dass Cormac umkam«, gab sie zurück. »In dem Fall hätte er ihm ja nicht mehr sagen können,

»Ich verstehe«, unterbrach er sie. »Ich verstehe. Sie haben Recht. Victor würde eine Rache nie über den Versuch stellen, seine Position wiederzuerringen, zumal in diesem Fall die beste Rache darin bestehen würde, zu zeigen, dass man ihm Unrecht getan hatte.«

»Dann muss jemand anders Cormac umgebracht und dafür gesorgt haben, dass es so aussieht, als sei er der Täter«, schloss sie. »Damit hätten sich diese Leute an ihm gerächt.«

»Ja«, stimmte er zu. Seine Augen leuchteten, seine Hände waren vollständig entspannt.

»Wären Sie bereit, mir zu helfen, festzustellen, wer der Täter war?«, fragte sie.

Er beugte sich in seinem Klubsessel ein wenig vor. »Haben Sie denn bereits eine Vorstellung, wer das gewesen sein könnte?«

Ihre Gedanken jagten sich. Was sollte sie antworten, einen wie großen Teil der Wahrheit preisgeben? Würde er sie überhaupt unterstützen können, wenn sie ihm nicht die ganze Wahrheit sagte?

»Ich habe mehrere Denkmodelle entwickelt, die aber alle keinen rechten Sinn ergeben«, wich sie aus. »Ich weiß zwar, wer Victor hasst, nicht aber, wer Cormac gehasst hat.«

Ein Ausdruck von Belustigung trat auf seine Züge und verschwand gleich wieder. Es sah aus, als verspotte er sich selbst.

»Ich nehme an, dass auch Sie es nicht wissen«, fuhr sie fort. »Sonst hätten Sie ihn wohl gewarnt. Aber vielleicht gibt es Dinge, die Sie im Rückblick besser einordnen können. Talulla ist Seans und Kates Tochter, die nach dem Tod ihrer Eltern außerhalb Dublins aufgezogen worden ist.« An seinem Blick sah sie sogleich, dass er das wusste.

»Ja, das arme Kind«, stimmte er zu.

»Das haben Sie Victor aber nicht gesagt, nicht wahr?« Es klang deutlicher wie ein Vorwurf, als sie beabsichtigt hatte.

Einen Augenblick lang senkte er den Blick, dann sah er sie wieder an. »Nein. Ich war der Ansicht, dass sie deswegen schon genug gelitten hat.«

»Ein weiteres Ihrer unschuldigen Zufallsopfer«, bemerkte sie in Anspielung auf das, was er während ihrer Kutschfahrt im Dunkeln gesagt hatte. Irgendetwas an dieser Äußerung hatte sie gestört, eine Resignation, die sie sich nicht zu eigen machen konnte. Alle Opfer gingen ihr nahe, allerdings führte ihr eigenes Land auch keinen Unabhängigkeitskampf, war nicht von einem fremden Volk besetzt, das teils Freund und teils Feind war.

»Ich fälle keine Urteile darüber, wer schuldig und wer schuldlos ist, Mrs Pitt, sondern entscheide lediglich, was nötig ist, und das auch nur dann, wenn mir keine Wahl bleibt.«

»Talulla war ein Kind.«

»Kinder werden erwachsen.«

Wusste oder erriet er, ob Talulla die Tat begangen hatte? Sie sah ihn unverwandt an und merkte, wie eine leise Angst sie dabei beschlich. Es erschreckte sie zu sehen, wie sehr er die Situation durchschaute und zugleich fähig war zu spotten. Doch dieser Spott, das erkannte sie jetzt, bezog sich nicht etwa auf ihn selbst, sondern galt ihr und ihrer Arglosigkeit. Offensichtlich war er ihr die ganze Zeit schon um einen Gedanken voraus gewesen. Sie hatte bereits zu viel gesagt, und ihm war klar, dass sie von Talullas Täterschaft überzeugt war.

»Und was wird aus solchen Kindern, wenn sie erwachsen sind?«, fragte sie jetzt. »Beispielsweise eine Frau, die bereit ist, ihrem Onkel ein Loch in den Kopf zu schießen, um sich an dem Mann zu rächen, von dem sie annimmt, dass er ihre Mutter verraten hat?«

Das überraschte ihn, wenn auch nur einen kurzen Augenblick lang, dann verschwand der Ausdruck von seinem Gesicht. »Natürlich denkt sie das«, gab er zur Antwort. »Sie kann sich nicht gut vorstellen, dass Kate freiwillig mit ihm gegangen ist, obwohl sie ihm möglicherweise sogar nach England gefolgt wäre, wenn er sie dazu aufgefordert hätte, wer weiß?«

»Sie?«, fragte sie sofort.

»Ich?« Seine Brauen hoben sich. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

»Und hat Sean sie tatsächlich deshalb umgebracht?«

»Auch davon habe ich nicht die geringste Ahnung.«

Sie wusste nicht, ob sie ihm glauben durfte oder nicht. Er hatte sich ihr gegenüber reizend verhalten, hatte ihr großzügig seine Zeit geopfert, sie begleitet, war ihr aber trotz allem hinter der lächelnden Fassade vollständig fremd. Sie hatte keine Vorstellung von dem, was er dachte, hätte nicht sagen können, ob das abwegige und unerträgliche Sachen waren.

»Lauter Dinge, zu denen es ganz zufällig gekommen ist«, sagte sie. »Kate, Sean, Talulla, Cormac. Und was ist die Hauptsache, um die es dabei geht, Mr McDaid? Irlands Freiheit?«

»Könnte es für uns Iren eine bessere Sache geben, Mrs Pitt?«, fragte er in liebenswürdigem Ton. »Man kann doch sicher verstehen, dass Talulla sich das wünscht? Hat sie nicht schon genug dafür bezahlt?«

Doch das ergab keinen Sinn, erklärte die Sache jedenfalls nicht vollständig. Wer steckte hinter der Rückbuchung des für Mulhare bestimmten Geldes auf Narraways Konto? Hatte sie lediglich bewirken sollen, ihn für diese Rache nach Irland zu locken? Aber warum so kompliziert? Hätte sich Talullas Rachedurst nicht auch dadurch befriedigen lassen, dass sie Narraway selbst tötete? Warum um Himmels willen musste sie dafür den armen Cormac opfern? War das nicht unnötig verwickelt und letzten Endes auch ziemlich sinnlos? Wenn sie wollte,

Das konnte durchaus ein Teil des Bildes sein, war aber mit Sicherheit nicht alles.

»Und warum ausgerechnet jetzt? Dafür muss es doch einen Grund geben.«

McDaid sah sie nach wie vor abwartend an.

»Ich denke schon, dass sie genug dafür bezahlt hat«, beantwortete sie seine Frage. »Aber gilt das nicht auch für Cormac?«

»Ach ja … der arme Cormac«, sagte McDaid leise. »Sie müssen wissen, dass er Kate geliebt hat. Deshalb konnte er Narraway auch nicht verzeihen. Kate konnte Cormac gut leiden, hätte ihn aber nie geliebt … In erster Linie wohl, weil er Seans Bruder war. Ich habe immer Cormac für den Besseren der beiden gehalten. Vielleicht hat Kate am Ende ebenso gedacht. «

»Das würde aber nicht erklären, warum ihn Talulla erschossen hat«, gab Charlotte zu bedenken.

»Da haben Sie Recht. Natürlich nicht …«

»Auch so ein Zufallsopfer, gleichsam nebenbei?«, fragte sie mit einem Anflug von Bitterkeit. »Wessen Freiheit wollen Sie um einen so hohen Preis erringen? Wird dabei nicht auf die Dauer zu viel Kummer angehäuft?«

Einen Augenblick lang blitzte es in seinen Augen auf, dann war der Ärger verflogen. Aber er war unübersehbar gewesen.

»Auch Cormac hatte sich schuldig gemacht«, sagte er finster.

»Und worin bestand seine Schuld? Darin, dass er überlebt hat?«

»Ja, aber das war nicht alles. Er hat sich keine sonderlich große Mühe gegeben, Sean zu retten. Ehrlich gesagt hat er es

»Vielleicht hat aber Cormac in ihm genau das gesehen«, gab sie zu bedenken. »Gramgebeugte Menschen reagieren mitunter langsam. Es dauert eine Weile, bis die Benommenheit von ihnen weicht. Vielleicht war er zu entsetzt, als dass er etwas Vernünftiges hätte unternehmen können. Welche Möglichkeiten hätte er denn überhaupt gehabt? Hat Sean nicht selbst gesagt, warum er Kate umgebracht hatte?«

»Er hat so gut wie nichts gesagt«, sagte McDaid und hielt diesmal den Blick auf den Boden gerichtet, statt Charlotte anzusehen.

»Auch er war wohl zu benommen«, sagte sie. »Aber jemand muss Talulla gesagt haben, dass Cormac ihren Vater hätte retten können, und das hat sie geglaubt. Es ist leichter, im eigenen Vater einen verratenen Helden zu sehen als einen eifersüchtigen Ehemann, der seine Frau umgebracht hat, weil sie ihm zusammen mit seinem Feind, noch dazu einem Engländer, Hörner aufgesetzt hat.«

McDaid sah sie mit erneut aufflammendem Zorn an, beherrschte seine Züge aber gleich darauf wieder so vollständig, dass sie geneigt war anzunehmen, sie habe sich das eingebildet.

»So sieht es aus«, stimmte er zu. »Aber wie können wir irgendeinen dieser Punkte beweisen?«

Sie spürte, wie Kälte in ihr hochkroch. »Das weiß ich nicht. Ich versuche es mir zu überlegen.«

»Seien Sie auf der Hut, Mrs Pitt«, mahnte er sie freundlich. »Ich fände es ausgesprochen bedauerlich, wenn auch Sie gleichsam nebenbei zum Opfer würden.«

Sie brachte es fertig zu lächeln, so, als könne sie sich nicht vorstellen, dass seine Worte ebenso sehr eine Drohung wie

Als sie in der Molesworth Street eintraf, trat Mrs Hogan sogleich auf sie zu. Sie sah verlegen drein und verdrehte ihre Schürze in den Händen.

Charlotte sprach das Thema an, bevor Mrs Hogan nach Worten suchen konnte.

»Offensichtlich haben Sie bereits von der entsetzlichen Sache mit Mr O’Neil gehört«, sagte sie. »Ich hoffe sehr, dass Mr Narraway imstande ist, der Polizei bei ihren Nachforschungen behilflich zu sein. Er hat mit solchen Tragödien eine gewisse Erfahrung. Selbstverständlich hätte ich Verständnis dafür, wenn Sie es lieber sähen, dass ich unterdessen bei Ihnen ausziehe. Natürlich müsste ich eine Übergangslösung finden, bis ich nach Hause zurückkehren kann. Ich nehme an, dass das einen oder zwei Tage dauern wird. Also werde ich die Sachen meines Bruders zusammenpacken und zunächst bei mir unterbringen, damit Sie sein Zimmer weitervermieten können. Soweit ich weiß, sind die nächsten Nächte bereits bezahlt?«

Wenn der Himmel wollte, würde sich der Fortgang der Angelegenheit in zwei Tagen entschieden haben, und zumindest ein weiterer Mensch in Dublin würde mit Sicherheit wissen, dass Narraway die Tat nicht begangen hatte.

Mrs Hogan war peinlich berührt. Mit diesen Worten hatte ihr Charlotte die Sache aus den Händen genommen, und jetzt wusste sie nicht, was sie tun sollte. Ganz wie von Charlotte erhofft, stimmte sie dem vorgeschlagenen Kompromiss zu. »Danke, Ma’am. Das wäre sehr freundlich von Ihnen.«

»Wenn Sie mir den Schlüssel für das Zimmer meines Bruders geben könnten, werde ich das gleich erledigen.« Mit diesen Worten hielt Charlotte ihr die Hand hin.

Zögernd händigte ihr Mrs Hogan den Schlüssel aus.

Charlotte schloss Narraways Zimmer auf und ging hinein. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, kam sie sich wie ein Eindringling vor. Sie würde seine Habe einpacken und darum bitten, dass man ihr den großen Koffer trug, wenn sie es nicht schaffte, ihn selbst hinüber in ihr Zimmer zu schleifen.

Wichtiger als seine Hemden, Socken und Wäsche waren Papiere. Hatte er womöglich irgendetwas schriftlich festgehalten? Falls ja – war es so abgefasst, dass sie es verstehen konnte? Könnte sie doch wenigstens Thomas um Rat fragen! Er hatte ihr noch nie so sehr gefehlt wie jetzt. Andererseits war ihr bewusst: wenn er hier wäre, befände sie sich jetzt in ihrem Haus in London, statt verzweifelt zu versuchen, eine Aufgabe auszuführen, für die sie sich so wenig eignete. Hier ging es nicht um ein alltägliches Verbrechen, für das sich die Beweise in aller Ruhe Stück für Stück zusammentragen ließen. Sie befand sich in einem fremden Land, von dessen Träumen und Vorstellungen sie so gut wie nichts wusste und in dem sie niemanden so recht kannte. Vor allem aber wurde sie dort als Feindin wahrgenommen, und das mit Grund, denn das Gewicht von Jahrhunderten der Geschichte stand gegen sie.

Sie öffnete Narraways Koffer, ging an den Kleiderschrank, nahm seine Anzüge und Hemden heraus, faltete alles ordentlich zusammen und packte es ein. Dann zog sie die Kommodenschubladen auf, wobei sie sich vorkam, als stecke sie ihre Nase in Angelegenheiten, die sie nichts angingen, nahm seine Leibwäsche heraus und packte sie ebenfalls ein. Auch den Schlafanzug unter dem Kopfkissen vergaß sie nicht. Sein

Als Nächstes wandte sie sich den Toilettenartikeln zu, wobei sie einige lange schwarze und graue Haare aus seiner Haarbürste entfernte. Was für ein persönlicher Gegenstand so eine Haarbürste doch war! Ihr folgten die Zahnbürste, sein Rasierzeug und eine kleine Kleiderbürste. Dabei kam ihr der Gedanke, wie entsetzlich sich dieser stets wie aus dem Ei gepellt auftretende Mann in einer Gefängniszelle fühlen musste, in der man sich wohl so gut wie nicht waschen konnte und keinerlei Privatsphäre hatte.

Seine wenigen Papiere fand sie in der obersten Schublade, zum Glück nicht in einer verschlossenen Dokumentenmappe. Allerdings konnte das nur bedeuten, dass sie einem Außenstehenden nichts sagen würden.

Nachdem sie seinen Koffer in ihrem Zimmer in eine Ecke gestellt hatte, ging sie die wenigen Notizen durch, die er sich gemacht hatte. Sie waren ein sonderbares Spiegelbild seines Wesens, zeigten eine Seite von ihm, von der sie nichts geahnt hatte. Meist waren es kleine, geradezu winzige Zeichnungen, doch ausgesprochen gut ausgeführt, auch wenn es nur Strichmännchen waren. Sie zeigten charakteristische Merkmale auf so lebendige Weise, dass sie sogleich wusste, wen sie darstellen sollten.

Neben einem kleinen Mann in einer gestreiften Hose, in dessen Hutband ein Geldschein steckte, stand eine Frau mit wirrem Haar und hinter ihm eine weitere, noch schlankere Frau, bei deren Armen und Beinen die Knochen durch die Haut zu stoßen schienen.

Obwohl Arme und Beine nur angedeutet waren, wusste Charlotte sogleich, dass es sich dabei um John und Bridget Tyrone handeln musste. Die andere Frau wirkte so ungebärdig,

Außer einem Mann, von dem man lediglich die obere Hälfte sehen konnte, als stecke er bis zu seinen Armen in etwas, war das alles. Sie sah eine ganze Weile hin, bis ihr mit Entsetzen die Erleuchtung kam. Es war Mulhare, der ertränkt worden war, weil ihn das Geld nicht erreicht hatte.

Die kleine Zeichnung wies auf eine Verbindung zwischen Talulla und John Tyrone hin. Charlotte wusste, dass er Bankier war, und die Art der Darstellung ließ darauf schließen, dass das sein entscheidendes Merkmal war. In dem Fall dürfte er in der Angelegenheit eine entscheidende Rolle gespielt haben. Lief der Kontakt nach London über ihn? Hatte er aufgrund seines Berufs die Möglichkeit gehabt, Geld von Dublin nach London zu verschieben und mit Hilfe eines Mitwissers oder Mittäters in Lisson Grove dafür zu sorgen, dass es erneut auf Narraways Konto landete?

In dem Fall stellte sich die Frage, wer sein Kontaktmann in Lisson Grove war und aus welchem Grund dieser auf so infame Weise gehandelt hatte. Das würde ihr niemand außer Tyrone sagen können.

Ob es sinnlos oder gar gefährlich sein würde, ihn aufzusuchen? Sie wusste nicht, an wen sie sich sonst hätte wenden können, da ihr nicht bekannt war, wer außer ihm mit der Sache zu tun hatte. Auf keinen Fall konnte sie McDaid noch einmal aufsuchen, denn in ihr festigte sich immer mehr die Gewissheit, dass seine Äußerungen über Unschuldige, die »zufällig nebenbei« Opfer wurden, einerseits Ausdruck seiner Weltanschauung waren, ihr aber auch zur Warnung dienen sollten. Er kam ihr vor wie eine Urgewalt, die sich ihren Weg ohne Rücksicht auf Hindernisse bahnt.

War Talulla die treibende Kraft hinter Cormacs Tod oder nur das Werkzeug in den Händen eines anderen gewesen? Dafür

Sie sah zwei Möglichkeiten: Entweder ging sie zu Tyrone, oder sie gab auf, kehrte nach London zurück und überließ es Narraway, sich der Anklage zu stellen, immer vorausgesetzt, dass er bei der Gerichtsverhandlung noch lebte. Würde man ihm einen Prozess gemäß den gesetzlichen Vorschriften machen? Das war nicht unbedingt sicher. Die alten Wunden waren noch nicht verheilt, und der englische Sicherheitsdienst würde sich nicht auf seine Seite schlagen. Bei Licht besehen blieb ihr keine andere Möglichkeit, als Tyrone aufzusuchen.


Das Mädchen, das auf ihr Klopfen geöffnet hatte, ließ sie mit unübersehbarem Zögern eintreten.

»Ich muss dringend mit Mr Tyrone sprechen«, sagte Charlotte, kaum, dass sie in dem hohen Vestibül stand. »Es hat mit dem Mord an Mr Mulhare und an dem armen Mr O’Neil zu tun.«

»Ich sage es ihm«, gab das Mädchen zurück. »Wen darf ich melden?«

»Mrs Charlotte Pitt.« Sie zögerte nur einen kleinen Augenblick. »Victor Narraways Schwester.«

»Sehr wohl, Ma’am.« Sie ging davon und klopfte an eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Vestibüls. Sie wurde geöffnet, das Mädchen sagte etwas, kehrte zurück und bat Charlotte, ihr zu folgen.

Das Mädchen klopfte erneut an die Tür.

»Herein.« Tyrones Stimme klang schroff.

Das Mädchen öffnete und ließ Charlotte eintreten. Offenkundig war Tyrone bei der Arbeit. Zahlreiche Papiere lagen auf seinem großen Schreibtisch verstreut.

Er erhob sich zu ihrer Begrüßung, ohne ein Hehl daraus zu machen, dass er sich gestört fühlte.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte sie. »Ich weiß, dass es spät ist und ich Sie überdies in Ihrem Hause aufsuche, ohne eingeladen worden zu sein. Aber die Sache duldet keinen Aufschub. Schon morgen würde es unter Umständen keine Möglichkeit mehr geben, etwas zu retten, sofern sich überhaupt noch etwas retten lässt.«

Mit erkennbarer Ungeduld trat er von einem Fuß auf den anderen. »Ich bedaure zutiefst, Mrs Pitt, dass ich nicht weiß, auf welche Weise ich Ihnen behilflich sein könnte. Ich denke, ich werde dem Mädchen sagen, dass sie meine Frau dazuholt.« Das klang mehr nach einer Ausflucht als nach einem ernstgemeinten Vorschlag. »Sie hält sich bei einer Nachbarin auf und kann gleich hier sein.«

»Ich muss aber Sie sprechen«, teilte sie ihm mit. »Vielleicht sollten Sie, um Ihren Ruf zu wahren, das Mädchen hereinbitten, auch wenn das, was ich mit Ihnen zu besprechen habe, vertraulich ist.«

»In dem Fall dürfte es das Beste sein, wenn Sie mich während der Geschäftszeiten in meinem Büro aufsuchten.«

Sie lächelte knapp und förmlich. »Die Vertraulichkeit betrifft ausschließlich Sie, Mr Tyrone. Das ist auch der Grund, warum ich gekommen bin.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Ihre Vermutung gründete sich ausschließlich auf Narraways Zeichnung, denn außer ihr hatte sie nichts in der Hand.

Entschlossen wagte sie den Sprung ins kalte Wasser. »Es geht um das für Mulhare bestimmte Geld, das Sie auf das Londoner Konto meines Bruders zurücküberwiesen haben. Das Ergebnis dieser Transaktion war der Tod Mulhares und der berufliche Ruin meines Bruders, Mr Tyrone.«

Möglicherweise hatte er die Absicht, die Anschuldigung abzustreiten, doch eine unwillkürliche Veränderung bestätigte die Richtigkeit ihrer Vermutung: Alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen, so dass seine Haut fast grau aussah. Er holte tief Luft, überlegte es sich dann aber offenbar anders und sagte nichts. Seine Augen funkelten, und einen Augenblick lang fragte sich Charlotte, ob er jemanden herbeiklingeln und sie auf die Straße setzen lassen wollte. Zwar würde vermutlich kein Dienstbote gegen sie handgreiflich werden, doch sollte sich einer der in die Angelegenheit verwickelten Mittäter im Hause befinden, würde das die Gefahr nur vergrößern, in der sie schwebte. McDaid hatte sie gewarnt.

Oder nahm Tyrone womöglich an, sie sei auf die eine oder andere Weise an Cormac O’Neils Ermordung beteiligt?

Jetzt zitterte ihre eigene Stimme. »Zu viele Menschen sind bereits zu Schaden gekommen. Sicher wissen Sie auch, dass man den armen Cormac O’Neil heute Morgen ermordet hat. Es ist an der Zeit, diesen Dingen ein Ende zu bereiten. Ich will gern glauben, dass Sie keine Vorstellung davon hatten, was für Tragödien sich aus jener Geldüberweisung ergeben würden, und habe auch volles Verständnis für Ihren Hass auf jene, die ein Land besetzen, das von Rechts wegen Ihnen gehört. Aber durch Mord und Verrat lässt sich nichts gewinnen. Sie führen lediglich zu weiteren Tragödien unter denen, die darin verwickelt sind. Falls Sie an der Wahrheit meiner Worte zweifeln sollten, brauchen Sie sich nur anzusehen, was geschehen ist: Alle O’Neils sind tot. Sogar das, was sie einst miteinander verband, ist zerstört, denn sowohl Kate als auch Cormac sind von denen ermordet worden, die sie geliebt haben.«

»Ihr Bruder hat Cormac getötet«, sagte er schließlich.

»Nein. Er war bereits tot, als wir sein Haus erreichten.«

Er war verblüfft. »Sie sagen ›wir‹? Waren Sie denn ebenfalls dort?«

»Unmittelbar hinter ihm, aber nur wenige Sekunden später als er …«

»Dann konnte er ihn umgebracht haben, bevor Sie ins Haus getreten sind.«

»Nein. Ich bin ihm praktisch auf den Fersen gefolgt und hätte einen Schuss hören müssen. Ich habe lediglich gehört, dass der Hund angefangen hat zu bellen, als Victor das Haus betreten hat.«

Er stieß einen tiefen Seufzer aus, als hätten sich vor seinem inneren Auge plötzlich die Bestandteile des Puzzles zu einem finsteren Bild zusammengefügt, das er trotz aller Widerwärtigkeit erkennen konnte. Auf sein Gesicht trat der Ausdruck tiefen Schmerzes.

»Kommen Sie bitte mit in mein Arbeitszimmer«, sagte er matt. »Ich weiß nicht, was Sie jetzt noch an der Sache ändern könnten. Die Polizei ist von Narraways Täterschaft überzeugt, weil sie das glauben möchte. Ihm schlägt hier ein tief verwurzelter Hass entgegen, der weit in die Vergangenheit reicht. Man hat ihn sozusagen auf frischer Tat ertappt und wird sich keine Mühe geben, nach etwas zu suchen, was ihn entlasten könnte. Sie wären gut beraten, wenn Sie nach London zurückkehrten, solange Sie noch die Möglichkeit dazu haben.« Er führte sie durch den Raum zu seinem Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter ihnen. Dort bot er ihr einen Stuhl an und nahm ebenfalls Platz.

»Ich weiß nicht, was ich Ihrer Ansicht nach tun könnte, um etwas an der Situation zu ändern.« In seiner tonlosen Stimme lag der Ausdruck von Hoffnungslosigkeit.

»Erklären Sie mir genau, wie die Geldtransaktion abgelaufen ist«, forderte sie ihn auf.

»Inwiefern könnte das von Nutzen sein?«

»Insofern, als man dann beim Sicherheitsdienst in London wüsste, dass nicht Victor das Geld an sich genommen hat.«

Er lachte spöttisch auf. »Und was nützt ihm das, wenn man ihn hier in Dublin wegen Mordes an O’Neil hängt? Das Ganze hat etwas von poetischer Gerechtigkeit. Auch wenn Sie auf eine logische Erklärung hinauswollen, wird es Ihnen nichts helfen, dass er das Geld nicht an sich genommen hat. O’Neil hatte nicht das Geringste mit der Sache zu tun, aber das hat Ihr Bruder nicht gewusst.«

»Doch, das war ihm klar!«, gab sie sofort zurück. »Was glauben Sie, woher ich das weiß?«

Damit hatte er nicht gerechnet, das sah sie sogleich in seinen Augen.

»Und was soll ich Ihnen jetzt sagen?«, fragte er.

»Wer außer Ihnen daran beteiligt war. Irgendjemand in Lisson Grove muss Ihnen die Kontendaten mitgeteilt haben, damit Sie die Sache in die Wege leiten konnten. Diesen Leuten lag nicht daran, Ihnen zu helfen, sondern sie waren darauf aus, Victor aus dem Sicherheitsdienst hinauszudrängen. Man hat sich zu diesem Zweck Ihrer als Werkzeug bedient.« Sie hatte sich nicht überlegt, was sie sagen würde, bis ihr die Worte über die Lippen gekommen waren. War sie wirklich überzeugt, dass Charles Austwick dahintersteckte? Das musste nicht unbedingt der Fall sein. Ebenso gut hätten es ein Dutzend andere aus einem Dutzend verschiedener Gründe tun können, und sei es nur, weil man sie dafür bezahlt hatte. Aber auch dann wiesen die Spuren nach Irland. Wer wäre in dem Fall der Geldgeber gewesen? Und welche Gründe hätte er gehabt? Ging es nur um Rache, oder war ein Feind darauf aus gewesen, Narraways Position seinem eigenen Mann zuzuschanzen? Es gab so viele denkbare Möglichkeiten. Steckte einfach persönlicher

Sie sah Tyrone abwartend an, der abzuschätzen versuchte, wie viel sie wissen mochte. Allerdings meinte sie in seinen Augen noch etwas anderes zu erkennen. Er schien sich in einer Weise verletzt zu fühlen, die sie nicht mit dieser alten Rachegeschichte in Verbindung zu bringen vermochte.

»Austwick?«, riet sie, bevor der Augenblick vorüber war.

»Ja«, sagte er leise.

»Hat er Sie bezahlt?« Es war ihr unmöglich, die Verachtung aus ihrer Stimme herauszuhalten.

Ruckartig hob er den Kopf. »Nein! Ich habe das aus Hass auf Narraway, Mulhare und alle anderen Verräter an Irland getan.«

»Victor ist kein Verräter an Irland!«, gab sie zu bedenken. »Er ist genau so englisch wie ich. Sie sagen mir bewusst die Unwahrheit.« Einer Eingebung folgend, fügte sie aufs Geratewohl hinzu: »Hatte er womöglich nicht nur eine Affäre mit Kate O’Neil, sondern auch mit Ihrer Frau?«

Tyrones Gesicht wurde flammend rot, und er erhob sich halb. »Wenn Sie nicht wollen, dass ich Sie hinauswerfe, werden Sie sich sofort dafür entschuldigen, dass Sie den Namen meiner Frau mit Ihrer verdorbenen Fantasie in den Schmutz gezogen haben. Aber ich nehme an, dass Sie Ihren Bruder sehr viel besser kennen als ich. Ist er überhaupt Ihr Bruder?«

Jetzt war es an Charlotte zu erröten. »Vielleicht sind Sie derjenige, der eine verdorbene Fantasie hat, Mr Tyrone«, sagte sie mit einer Stimme, die unter anderem deshalb bebte, weil sie wusste, was Narraway für sie empfand.

Da ihr keine Möglichkeit einfiel, sich zu verteidigen, ging sie zum Angriff über. »Warum tun Sie das für Charles Austwick?

Mit wütender Stimme zischte Tyrone: »Es kümmert mich einen Dreck, wer an der Spitze Ihrer verdammten Dienste steht, ob geheim oder nicht. Mir ging es um die Gelegenheit, Narraway aus dem Weg zu räumen. Verglichen mit ihm ist Austwick ein Dummkopf.«

»Sie kennen ihn also doch genauer?« Sie klammerte sich an den einzigen Bestandteil seiner Aussage, der eine Möglichkeit zu enthalten schien, ihn anzugreifen, und sei es auch nur kurzfristig.

Hinter ihr ertönte ein leises Geräusch, es klang wie Stoff, der den Türrahmen streifte.

Sie wandte sich um und sah Bridget Tyrone nur einen Schritt von sich entfernt stehen. Mit einem Mal wurde sie von tiefer Angst erfasst. Wenn man ihr etwas antäte, könnte sie sich die Lunge herausschreien, ohne dass jemand sie hörte … oder sich dafür interessierte. Es kostete sie alle Kraft, ruhig stehen zu bleiben und mit – zumindest annähernd – ruhiger Stimme weiterzusprechen.

Es war sinnlos, so zu tun, als habe Tyrones Frau das Gespräch nicht mit angehört.

Charlotte saß in der Falle, das war ihr klar. Die blinde Wut in Bridgets Gesicht war unverkennbar. Beide Frauen traten im

Diese fiel zur Seite und stieß gegen ein Tischchen voller Bücher, das unter dem Anprall umfiel. Sie schrie laut auf, ebenso sehr vor Schmerz wie vor Wut. Das lenkte ihren Mann ab, der daraufhin zu ihr eilte, um ihr auf die Beine zu helfen. Diese Gelegenheit nutzte Charlotte dazu, den Raum zu verlassen und mit schnellem Schritt durch das Vestibül der Haustür entgegenzueilen. Sie riss sie auf und stürmte auf die Straße hinaus, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen. Mit beiden Händen ihre Röcke raffend, um nicht zu stolpern, rannte sie bis zur nächsten Hauptstraße. Dort kam sie so außer Atem an, dass sie keinen Schritt mehr gehen konnte. Sie ließ die Röcke los und begann, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war, so würdevoll, wie sie konnte, die schwach beleuchtete Straße entlangzugehen. Dabei hielt sie Ausschau nach einer Kutschenlaterne, in der Hoffnung, möglichst bald eine Droschke zu finden, die sie in ihre Pension bringen würde. Sie wollte diese Gegend so rasch wie möglich hinter sich lassen.

Als sie endlich eine Droschke anhalten konnte, nannte sie dem Kutscher die Adresse und stieg ein. Unterwegs versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen.

Noch hatte sie nicht alle Zusammenhänge durchschaut, kannte lediglich einzelne Elemente, die nur teilweise zueinander passten. Talulla war Seans und Kates Tochter. Wann hatte sie, und sei es auch nur in groben Zügen, erfahren, was wirklich geschehen war? Noch wichtiger aber war unter Umständen die Frage, wer sie über die Hintergründe aufgeklärt hatte.

Wer aber mochte Talulla auf diese Weise benutzt haben? Und warum? Hatte es Cormac lediglich »zufällig getroffen«, wie Fiachra McDaid zu sagen pflegte, in einem Kampf, der einem höheren Ziel diente? War in Wirklichkeit Narraway das eigentliche Opfer, um das es demjenigen ging? Wenn man Narraway für einen Mord hängte, den er nicht begangen hatte, wäre das in Talullas Augen in der Tat eine Art poetische Gerechtigkeit. Da sie überzeugt war, dass er die Schuld am Tod ihrer Mutter trug und ihr Vater nichts damit zu tun hatte, musste sich das für sie als elegante und geradezu vollkommene Lösung darstellen.

Aber wer steckte dahinter? Wer hatte sie dazu angestiftet, ihr die nötigen Informationen geliefert, ihre Leidenschaft angestachelt und damit gleichsam ihre Hand geführt? Und aus welchem Grund? Cormac dürfte es kaum gewesen sein und auch nicht John Tyrone, denn der schien nichts davon zu wissen, und Charlotte glaubte ihm das. Seine Frau Bridget? Möglich. Auf jeden Fall hatte sie mit der Sache zu tun. Die Art, wie sie an jenem ersten Abend spontan auf Charlotte reagiert

Von wem? War auch Tyrone, zumindest teilweise, ein weiteres beiläufiges Zufallsopfer? Hatte sich jemand seiner bedienen können, weil er verletzlich war, seine Frau mehr liebte als sie ihn und er als Bankier Zugang zu den erforderlichen Geldmitteln hatte?

Auf all diese Fragen gab es eine Antwort, der sie sich endlich stellen musste: Niemand anders konnte dahinterstecken als Fiachra McDaid. Auch wenn er mit der Vergangenheit nicht das Geringste zu tun gehabt haben und in keiner Weise in die Tragödie verwickelt gewesen sein mochte, so hatte er sich die ganze Geschichte doch zunutze gemacht. Für ihn bedeutete das Ziel alles und die Mittel, die ihm dazu dienten, es zu erreichen, nicht das Geringste. Das galt auch für die Opfer, die dabei auf der Strecke blieben, ob schuldig oder nicht.

Doch inwiefern konnte es der Sache Irlands dienen, dass man Narraway aus dem Sicherheitsdienst entfernte? Man würde einen anderen an seine Stelle setzen. War es das? Wollte man einen von den Iren gekauften und bezahlten Verräter einsetzen? Noch während sie diesem Gedanken nachhing, hielt die Droschke vor Mrs Hogans Pension. Sie hatte der Wirtin versprochen, am nächsten oder übernächsten Tag auszuziehen. Neben der Notwendigkeit, außer ihrem eigenen Gepäck auch das Narraways fortschaffen zu lassen, gab es andere Schwierigkeiten zu bedenken. Im Vordergrund stand das Bewusstsein, dass ihr Geld nicht für einen längeren Aufenthalt reichen würde, zumal sie noch ihre Fahrscheine für die Fähre und den Zug kaufen musste.

Wenn sie alles recht bedachte, blieb ihr eigentlich keine andere Wahl, als am nächsten Morgen zur Polizei zu gehen und dort ihre Sicht der Dinge darzulegen. Allerdings hatte sie für

Man würde sie fragen, warum sie das nicht gleich gesagt hatte. Sollte sie zugeben, dass sie angenommen hatte, man werde ihr nicht glauben? Würde sich ein schuldloser Mensch so verhalten?

Sie fiel in einen unruhigen Schlaf und wurde immer wieder wach, wobei sie jedes Mal daran denken musste, dass das Problem nach wie vor ungelöst war.


In der Haftzelle der nur gut einen Kilometer von Cormac O’Neils Haus entfernten Polizeiwache saß Narraway auf seiner Pritsche. Nach außen hin war er völlig reglos, doch seine Gedanken jagten sich. Er musste nachdenken, planen. Wenn man ihn ins Zentralgefängnis der Stadt verlegte, wäre das für ihn das Ende. Immer vorausgesetzt, er überlebte die Haft dort überhaupt so lange, würden sich bei der Hauptverhandlung Zeugen nur verschwommen erinnern, würde man sie dazu gebracht haben, Dinge anders einzuschätzen, als es der Wirklichkeit entsprach, oder gar dazu, sie zu vergessen. Weit schlimmer aber erschien es ihm, dass die unsichtbaren Mächte, die ihn nach Irland und Pitt nach Frankreich gelockt hatten, ihr Vorhaben, worin auch immer es bestehen mochte, inzwischen ausgeführt haben würden und man das Rad nicht mehr würde zurückdrehen können.

Länger als zwei Stunden saß er da, ohne sich zu rühren. Niemand kam, der das Wort an ihn gerichtet, ihm etwas zu essen oder zu trinken gebracht hätte. Mit der Zeit gewann in seinem Kopf ein verzweifelter Plan Gestalt. Mit dessen Ausführung hätte er gern bis zum Einbruch der Dunkelheit gewartet,

Aufmerksam lauschte er auf die leisesten Geräusche jenseits der Zellentür, achtete auf die kleinste Bewegung. Er hatte sich genau überlegt, was er zu tun hatte, wenn es so weit war.

Als ein Beamter den schweren Schlüssel im Schloss drehte und die Tür aufstieß, sah er, dass Narraways schönes weißes Hemd zerrissen an den Gitterstäben des Fensters hing und der Gefangene in einer Stellung am Boden lag, als habe er sich das Genick gebrochen.

»He, Flaherty!«, rief der Beamte. »Komm, schnell! Der blöde Mistkerl hat sich aufgehängt.« Er trat zu Narraway und beugte sich über ihn, um nach seinem Puls zu fühlen. »Heilige Mutter Gottes, ich glaub, der is’ tot!«, sagte er vor sich hin. »Flaherty, wo zum Teufel bleibst du?«

Bevor Flaherty kommen konnte, sprang Narraway auf und traf den Mann so heftig am Kinn, dass dessen Kopf nach hinten ruckte. Narraway versetzte ihm erneut einen Hieb, mit dem er ihn bewusstlos schlagen, aber auf keinen Fall töten wollte. Der Mann sollte höchstens fünfzehn oder zwanzig Minuten lang ohnmächtig sein, denn er brauchte ihn lebend und gehfähig. Er legte ihn dorthin, wo er selbst gelegen hatte, zerrte ihm den Uniformrock vom Leibe und nahm ihm die Schlüssel ab. Ihm blieb gerade noch Zeit, sich hinter die Tür zu stellen, als Flaherty eintrat.

Besorgt hielt er den Atem an für den Fall, dass Flaherty etwas witterte und die Geistesgegenwart besaß, die Tür hinter sich abzuschließen oder, schlimmer, sie sogleich zuzuschlagen und den Schlüssel von außen herumzudrehen. Aber der Anblick

Beim Verlassen der Wache achtete er sorgfältig darauf, dass ihn niemand sah, und blieb zweimal regungslos stehen, bis die Schritte der den Kollegen zu Hilfe eilenden Beamten verhallt waren.

Draußen auf der Straße hingegen rannte er mit voller Absicht. Er wollte auffallen, wollte, dass sich die Leute an ihn erinnerten, damit jemand den Verfolgern sagen konnte, in welche Richtung er sich gewandt hatte, falls sie nicht von selbst darauf kamen. Dazu aber müssten sie die Zusammenhänge kennen.

Es regnete. Schon bald war er durchnässt, und die Haare klebten ihm am Kopf. Die Passanten sahen ihn verblüfft an, wie er ohne Hemd unter der Jacke an ihnen vorüberrannte, aber niemand trat ihm in den Weg. Vermutlich hielten sie ihn für betrunken.

Für den Fall, dass noch Polizeibeamte Cormacs Haus bewachten, musste er sich außer Sichtweite halten. Unter keinen Umständen durfte er sich jetzt gleich fassen lassen. Er verlangsamte den Schritt und ging auf die andere Straßenseite. Als niemand zu sehen war, überquerte er vor Talullas Haus die Straße erneut. Falls sie nicht an die Tür kam, würde er eine Fensterscheibe einschlagen und sich gewaltsam Zutritt verschaffen müssen. Sein Plan beruhte darauf, dass sie einander gegenüberstanden, wenn ihn die Polizei einholte.

Er klopfte.

Nichts rührte sich. Und wenn sie gar nicht zu Hause war, sondern Bekannte aufgesucht hatte? War das denkbar, so kurz, nachdem sie ihren Onkel ermordet hatte? Sicherlich hatte sie da das Bedürfnis, allein zu sein? Außerdem musste sie sich um den Hund kümmern. Würde sie nicht warten, bis die Polizei abgezogen war, damit sie die von ihrem Onkel aufbewahrten Unterlagen über ihre Eltern aus dessen Haus holen konnte?

Er hämmerte erneut an die Tür.

Nach wie vor geschah nichts.

War sie womöglich schon dort? Er hatte keine Polizeibeamten vor der Tür gesehen. Oder hatte sie sich in ihrem Haus hingelegt, seelisch erschöpft von dem Mord und der endlich vollzogenen Rache?

Er zog die Uniformjacke aus, wickelte sie, während ihm der Regen auf den nackten Oberkörper prasselte, um die Faust und schlug eine Fensterscheibe neben der Tür ein, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass es nicht klirrte. Dann öffnete er das Fenster und kletterte hindurch. Er zog die Jacke wieder an und ging leise von Zimmer zu Zimmer, um zu sehen, wo sich Talulla aufhielt.

Das Haus war verlassen. Er hatte nicht angenommen, dass ein Dienstmädchen da sein würde, denn bestimmt hatte Talulla ihr den Tag freigegeben. Sie sollte nichts mitbekommen, weder Schüsse noch das Bellen des Hundes hören.

Er verließ das Haus durch die Hintertür und eilte mit raschen Schritten auf Cormacs Haus zu. Die Zeit wurde knapp. Seine Verfolger konnten jeden Augenblick eintreffen. Vorwärts! Vorwärts!

Er hielt sich nicht mit Anklopfen auf. Ihm blieb keine Zeit zu warten, und ohnehin war es nicht wahrscheinlich, dass Talulla jetzt jemandem öffnen würde.

Erneut zog er die Jacke aus. Inzwischen zitterte er vor Kälte, vielleicht auch vor Furcht. Wieder schlug er ein Fenster ein und war binnen Sekunden im Haus. Sogleich fing der Hund wild zu bellen an.

Er sah sich suchend um und trat in einen Raum, der aussah wie eine Speisekammer. Er musste unbedingt die Küche erreichen, bevor Talulla sich ihm in den Weg stellte. Wenn sie den Hund auf ihn hetzte, musste er bereit sein. Was sollte sie daran hindern? Schließlich war er in das Haus eingedrungen und wurde bereits des Mordes an Cormac verdächtigt. Da hatte sie jede Rechtfertigung, die sie brauchte.

Rasch öffnete er die Tür und fand sich in der Spülküche, die unmittelbar neben der Küche lag. Kaum hatte er einen hölzernen Schemel ergriffen, als Talulla die Tür von der Küche aus öffnete. Im selben Augenblick stürmte der Hund wild bellend auf ihn los.

Bei Narraways Anblick blieb Talulla verblüfft stehen. Er hob den Schemel so, dass dessen dünne spitze Beine auf den Hund wiesen.

»Ich möchte dem Tier nichts tun«, sagte er. Er musste laut sprechen, um das Bellen zu übertönen. »Rufen Sie ihn zurück. «

»Damit Sie mich auch umbringen können?«, rief sie ihm entgegen.

»Stellen Sie sich nicht dumm!« Er hörte die Wut in seiner eigenen Stimme, die er kaum noch beherrschen konnte. »Sie haben Ihren Onkel selbst umgebracht, um sich endlich zu rächen.«

Ein hartes, kaltes Lächeln voller Hass trat auf ihre Züge. »Sicher – aber hängen werden Sie dafür, Victor Narraway, und der Geist meines Vaters wird frohlocken. Ich werde da sein, um zuzusehen – das schwöre ich.« Sie wandte sich dem Hund zu. »Ruhig, ruhig«, gebot sie. »Lass ihn zufrieden. Ich will,

Irgendetwas lenkte den Hund ab, er fuhr in Richtung Haustür herum und knurrte drohend.

»Zu einfach?« Narraway hörte den Unterton von Verzweiflung in seiner Stimme. Auch ihr dürfte das nicht entgehen.

Das tat es in der Tat nicht, und ihr Lächeln wurde breiter. »Ich will Sie hängen sehen, will das Entsetzen mitbekommen, wenn man Ihnen die Schlinge um den Hals legt und Sie keuchend nach Atem ringen, Ihre Zunge sich verfärbt und aus dem Mund quillt. Dann werden Sie keinen Frauen mehr schön tun, nicht wahr? Macht man sich in die Hose, wenn man aufgehängt wird? Verliert man dann alle Beherrschung und Würde?« Sie kreischte jetzt mit verzerrtem Gesicht.

»Genaugenommen sollen die Schlinge und die Falltür dafür sorgen, dass man sich das Genick bricht, und zwar sofort«, sagte er. »Man soll gleich tot sein. Vermindert das Ihre Vorfreude? «

Schwer atmend sah sie ihn an. Mit zurückgezogenen Lefzen konzentrierte sich der Hund vollständig auf das, was er an der Haustür hörte, und das Knurren, das aus seiner Kehle drang, wurde lauter.

Sofern Talulla merkte, dass jemand dort war – und er hoffte, dass es die Polizei war –, würde sie aufhören zu reden und vielleicht sogar behaupten, Narraway habe sie angegriffen. Aber sie schien nicht darauf zu achten. Sie kostete ihren Triumph aus, weil sie endlich die Möglichkeit hatte, ihm zu sagen, auf welche Weise sie ihn in die Falle gelockt hatte.

Er machte eine plötzliche Bewegung auf sie zu.

Der Hund fuhr zu ihm herum und bellte erneut. Er hob ihm den Schemel entgegen für den Fall, dass er ihn anspringen würde.

»Jetzt haben Sie wohl Angst?«, sagte sie mit unüberhörbarer Befriedigung.

Er bemühte sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen, während er sagte: »McDaid hat Sie angestiftet, nicht wahr? Was hat er Ihnen gesagt? Und warum gerade jetzt? Er war einmal mein Freund.«

»Seien Sie nicht albern!«, stieß sie mit einer Stimme hervor, der anzuhören war, dass sie fast an ihren Worten erstickte. »Er hasst Sie genauso wie wir alle.«

»Was hat er Ihnen gesagt?«, ließ er nicht locker.

»Wie Sie meine Mutter, diese Hure, verführt und dann preisgegeben haben. Sie sind Schuld an ihrem Tod und haben zugelassen, dass mein Vater dafür gehängt wurde!« Jetzt schluchzte sie.

»Aber warum mussten Sie den armen Cormac umbringen, um mir einen Mord anhängen zu können?«, fragte er. »War Ihr Onkel Ihnen so wenig wert? Die Tat können nur Sie begangen haben. Sie waren der einzige Mensch, bei dessen Eintreten ins Haus der Hund nicht bellen würde, denn Sie haben ihn gefüttert, wenn Cormac nicht da war. Er ist an Ihre Anwesenheit gewöhnt. Wenn ich der Täter gewesen wäre, hätte er die ganze Nachbarschaft zusammengekläfft.«

»Sehr klug«, stimmte sie zu. »Aber beim Prozess wird das niemand wissen, und niemand wird Ihrer Schwester glauben, wenn sie überhaupt Ihre Schwester ist, weil alle als selbstverständlich voraussetzen, dass sie zu Ihnen hält.«

»Haben Sie Cormac wirklich nur umgebracht, um mich auf diese Weise zu erledigen?«, fragte er erneut.

»Nein, wohl aber dafür, dass er nichts getan hat, um meinen Vater zu retten! Keinen Handschlag, absolut nichts!«

»Sie waren damals erst sechs oder sieben Jahre alt.«

»McDaid hat mir das gesagt!«, schluchzte sie.

»Ach ja, McDaid – der irische Freiheitsheld, der die Gesellschaftsordnung in ganz Europa durch eine Revolution umgestalten

In diesem Augenblick ließ sie das Halsband des Hundes los und hetzte ihn auf Narraway. Während ihm dieser den Schemel entgegenhielt und halb auf dem Rücken landete, als der Hund dagegen sprang, kamen zwei Polizeibeamte durch die Diele hereingestürmt. Einer von ihnen riss den Hund so heftig am Halsband zurück, dass er ihm fast die Luft abgedrückt hätte, während der andere Talulla festhielt.

Narraway stand mühsam auf und versuchte hustend und keuchend Luft zu bekommen.

»Danke«, sagte er mit heiserer Stimme. »Ich hoffe, Sie waren lange genug hier, um zu hören, was sie gesagt hat.«

»Das waren wir«, gab der ältere der beiden zur Antwort. »Aber für Sie bleibt trotzdem noch der eine oder andere Anklagepunkt übrig. Da wäre beispielsweise der tätliche Angriff auf einen Polizeibeamten in Ausübung seines Dienstes sowie Flucht aus dem Polizeigewahrsam. Ich an Ihrer Stelle würde die Beine in die Hand nehmen, als wenn der Teufel hinter mir her wäre, und dafür sorgen, dass ich nie wieder einen Fuß auf irischen Boden setzte.«

»Ein glänzender Ratschlag.« Narraway stand stramm, machte eine zackige Ehrenbezeigung, wandte sich dann um und lief davon, ganz, wie es ihm der Beamte geraten hatte.


Am nächsten Morgen verabschiedete sich Charlotte nach einem rasch eingenommenen Frühstück von Mrs Hogan und ließ eine Droschke kommen, die sie mit allem Gepäck zu der Polizeiwache bringen sollte, auf der Narraway festgehalten wurde.

Ihr war elend zumute. Als einzige Lösung war ihr eingefallen, den Beamten mitzuteilen, dass sie eine Aussage zum Tod Cormac O’Neils zu machen habe. Hoffentlich gab es auf der Wache einen einflussreichen Beamten mit klarem Verstand, der bereit war, sich ihren Bericht anzuhören.

Je näher sie ihrem Ziel kam, desto aussichtsloser erschien ihr, was sie sich vorgenommen hatte.

Der Gedanke, sich mit mehr Gepäck, als sie tragen konnte, einfach dort absetzen zu lassen, ängstigte sie ebenso sehr wie die Vorstellung, dass niemand ihre Geschichte glauben würde. Etwa hundert Schritt von der Wache entfernt hielt der Kutscher urplötzlich an und beugte sich nach unten, um mit jemandem zu sprechen, den Charlotte nicht sehen konnte.

»Wir sind noch nicht da!«, sagte sie verzweifelt. »Bitte fahren Sie noch ein Stück weiter. Ich kann das Gepäck unmöglich so weit tragen. Genau genommen kann ich es überhaupt nicht tragen.«

»Bedaure«, sagte der Kutscher in einem Ton, als empfinde er aufrichtiges Mitgefühl. »Das war einer von der Polizei. Er hat gesagt, dass ein gefährlicher Gefangener ausgebrochen ist und sie einen Aufruhr in der Bevölkerung fürchten. Sie haben die Straße ab hier gesperrt.«

»Ein Gefangener?«

»Ja. Engländer. Schrecklich brisant soll die Sache sein. Er ist gestern noch vor Tagesende einfach verschwunden. Wie sie in seiner Zelle nachgesehen haben, war er weg. Sie lassen keinen mehr zur Wache durch.«

Charlotte sah ihn an, als verstehe sie nicht, was er sagte, während sich ihre Gedanken überschlugen. Geflohen? Gestern? Ein Engländer? Das konnte nur Narraway sein, oder nicht? Vermutlich war ihm noch deutlicher bewusst als ihr, wie viele Menschen ihn hassten, wie leicht es ihnen fallen würde, dafür zu sorgen, dass die Beweise in einer Gerichtsverhandlung nach

Nach wie vor sah der Kutscher zu Charlotte hin und wartete auf ihre Entscheidung. »Ja dann …« Sie suchte nach Worten. Sie wollte zwar Narraway nicht allein in Irland zurücklassen, schon gar nicht jetzt, da man nach ihm suchte, aber sie sah keine Möglichkeit, ihm zu helfen. Woher hätte sie wissen sollen, wohin er sich wenden würde? War sein Ziel der Norden oder der Süden, das Landesinnere, oder wollte er sich bis zur Westküste durchschlagen? Auch wusste sie nicht, ob er im Lande jemanden kannte, den er um Hilfe bitten konnte, seien es Freunde oder alte Verbündete.

Dann überfiel sie ein neuer Gedanke und ließ sie erstarren. Bestimmt hatte man ihm bei seiner Festnahme alles abgenommen, auch sein Geld. Wenn er mittellos war, wovon würde er leben, seine Kosten bestreiten? Sie musste ihm helfen, obwohl sie selbst kaum noch Geld hatte.

Wenn er sich nur nicht einem der Menschen anvertraute, die er in Dublin kannte! Sie alle würden ihn an die Polizei ausliefern. Ihnen blieb gar keine andere Möglichkeit, denn sie waren einer wie der andere durch Erinnerungen und Bluttaten miteinander verbunden, durch alten Kummer, der zu tief reichte, als dass man ihn hätte vergessen können.

Mit der Frage »Wohin wollen Sie jetzt?« unterbrach der Kutscher ihren Gedankengang.

Nicht nur hatte Charlotte kein Geld, sie würde Narraway als seine angebliche Schwester auch nichts nützen, sondern ihm eher schaden. Sie konnte nichts für ihn tun. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, nach London zurückzukehren

»Fahren Sie mich bitte nach Kingstown zum Fährhafen«, sagte sie, so gefasst sie konnte. »Ich denke, es dürfte das Beste sein, wenn ich das nächste Schiff nach England nehme.«

»Gern.« Er stieg wieder auf den Bock, wendete und trieb sein Pferd an.

Die nicht besonders lange Fahrt kam Charlotte endlos vor. Der Weg führte sie durch Straßen, in denen ohne weiteres sieben oder acht Kutschen nebeneinander fahren konnten, doch sie wirkten verglichen mit den verstopften Straßen Londons nahezu leer. Sie konnte es nicht abwarten, die Insel zu verlassen, doch zugleich war sie von Bedauern erfüllt. Sie würde gern eines Tages als namenlose Besucherin, frei von alten Belastungen, zurückkehren, um deren Schönheiten zu genießen. Jetzt aber beugte sie sich vor, spähte hinaus und zählte die Minuten bis zum Fährhafen. Nachdem ihr Gepäck abgeladen war, sah sie entmutigt die langen Schlangen von Menschen, die darauf warteten, an Bord des Dampfers zu gehen. Das Gedränge war so groß, dass sie immer wieder angestoßen wurde. Es war gar nicht einfach, das Gepäck nicht aus dem Auge zu verlieren und gleichzeitig das Geld aus dem Ridikül zu holen, um gleich eine Fahrkarte zu kaufen. Zweimal hätte man ihr fast den eigenen Koffer entwendet, während sie versuchte, den Narraways von der Stelle zu rücken.

»Darf ich behilflich sein?«, sagte eine Stimme dicht neben ihr.

Gerade wollte sie ablehnen, als sie eine Hand auf der ihren spürte, die nach Narraways Koffer griff. Sie hätte am liebsten vor Verzweiflung geweint, doch sie hob wütend ihren Fuß und trat dem Mann mit dem Absatz auf den Spann.

Er keuchte vor Schmerz auf, ließ aber den Koffer nicht los.

Sie hob den Fuß erneut, um noch fester zuzutreten.

»Charlotte, lass das verdammte Ding doch endlich los«, stieß Narraway zwischen den Zähnen hervor.

Darauf fiel ihr der eigene Koffer aus der Hand. Sie war so aufgebracht, dass sie ihn hätte ohrfeigen können, und zugleich so erleichtert, dass sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten und über die Wangen liefen.

»Ich nehme an, dass du kein Geld hast«, sagte sie mit erstickter Stimme.

»Nicht besonders viel«, gab er ihr Recht. »Ich habe mir von O’Casey etwas geborgt, so dass es für die Fähre nach Holyhead reicht. Aber da du mein Gepäck und damit mein Geld mitgebracht hast, schaffen wir die Strecke bis London auch noch. Bleib nicht stehen. Wir müssen Fahrkarten kaufen, und ich möchte unbedingt diese Fähre erreichen. Vielleicht bleibt mir keine Möglichkeit mehr, auf die nächste zu warten. Ich nehme an, dass man mich schon bald hier suchen wird. Ich muss unbedingt nach London, denn ich fürchte, dass da demnächst etwas Entsetzliches geschieht.«

»Es sind schon mehrere entsetzliche Dinge geschehen«, hielt sie dagegen.

»Sicher. Aber wir müssen verhindern, was in unseren Kräften steht.«

»Ich habe herausbekommen, wie die Sache mit dem Geld für Mulhare abgelaufen ist, und bin ziemlich sicher, dass ich weiß, wer dahintersteckt.«

»Tatsächlich?« In seiner Stimme lag unüberhörbar die Begierde, mehr zu erfahren.

»Ich sage es dir, wenn wir an Bord sind. Hast du den Hund gehört?«

»Was für einen Hund?«

»Cormacs Hund.«

»Natürlich. Das arme Vieh hat sich gegen die Tür geworfen, kaum dass ich im Haus war.«

»Und hast du auch den Schuss gehört?«

»Nein. Du etwa?«, fragte er verblüfft.

»Nein«, antwortete sie mit einem Lächeln.

»Ich verstehe.« Sie standen jetzt vor dem Fahrkartenschalter. Auch er lächelte, aber diesmal galt es dem Mann hinter dem Schalter. »Bitte zweimal Holyhead.«

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