»Du kanns nicht mitkommen«, sagte Charlotte mit Nachdruck. Es war früher Nachmittag, und sie stand in ihrem besten Frühjahrskostüm, zu dem sie die herrliche neue Bluse angezogen hatte, im Speiseraum von Mrs Hogans Pension. Es war ihr fast nicht recht, zu sehen, wie gut ihr die Bluse stand. Zusammen mit einem einfachen dunklen Rock wirkte sie schlicht gesagt hinreißend. »Da kennt dich bestimmt jemand«, fügte sie hinzu.
Narraway hatte sich ganz offensichtlich ebenfalls die größte Mühe gegeben. Sein Hemd war makellos, seine Krawatte saß einwandfrei, und sein dichtes Haar war tadellos gekämmt.
»Es geht nicht anders«, gab er zurück. »Ich muss unbedingt mit Talulla Lawless sprechen. Das kann ich nur an einem sozusagen öffentlichen Ort, weil sie mich sonst bezichtigen würde, mich an ihr vergangen zu haben. Das hat sie früher schon einmal versucht und mir klargemacht, dass sie es wieder tun würde, wenn ich es wagen sollte, mit ihr unter vier Augen zusammenzutreffen. Ich weiß, dass sie heute Nachmittag zu dem Konzert gehen will. Bei den vielen Menschen dort wird man nicht sonderlich auf uns achten.«
»Es genügt, wenn dich nur ein Einziger erkennt, denn der würde es sofort allen anderen sagen«, gab sie zu bedenken.
»Ich gehe nicht mit dir zusammen. Die Scharade, dass du meine Schwester bist, ist ausschließlich für Mrs Hogan bestimmt. « Er lächelte trübselig. »Ich gehe allein, dich hingegen wird Fiachra McDaid begleiten. Er wird dich …«, er warf einen Blick auf die Kaminuhr, »… in etwa zehn Minuten hier abholen. Mir bleibt wirklich keine Wahl. Meiner festen Überzeugung nach ist Talullas Rolle in dieser Angelegenheit von entscheidender Bedeutung. Bei allem, was ich herausbekommen habe, führt die Fährte immer wieder zu ihr. Sie ist das Bindeglied zwischen allen anderen.«
»Wer sind denn diese anderen?«, fragte sie. »Kann ich die Sache nicht übernehmen?«
Er lächelte flüchtig. »Diesmal nicht, meine Teure.«
Obwohl ihr klar war, dass er ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte, gab sie den Versuch auf, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Vermutlich hatte er Recht mit seinem Hinweis, dass es töricht gewesen wäre, herzukommen, wenn sie nicht bereit waren, Risiken einzugehen. Sie erwiderte sein Lächeln kurz und nickte. »Aber sei vorsichtig.«
Der Blick seiner Augen wurde weicher. Er schien im Begriff, etwas Spöttisches zu erwidern, doch da klopfte es an die Tür. Mrs Hogan, deren Frisur wie üblich halb aufgelöst war, kam in ihrer gestärkten weißen Schürze herein.
»Mr McDaid möchte Sie abholen, Mrs Pitt.« Ihrem Gesichtsausdruck ließ sich unmöglich entnehmen, was sie dachte, wohl aber, dass es ihr offenkundig schwerfiel, ihre Gesichtszüge zu beherrschen.
»Danke, Mrs Hogan«, sagte Charlotte höflich. »Ich gehe gleich hin.« Sie sah Narraway an. »Bitte sei vorsichtig«, wiederholte sie, raffte, bevor er etwas erwidern konnte, ihren
Fiachra McDaid stand im Vestibül neben der Standuhr, die gegenüber der im Esszimmer fünf Minuten vorging. Obwohl er modisch gekleidet war, reichte er nicht an Narraways lässige Eleganz heran.
»Guten Tag, Mrs Pitt«, sagte er in herzlichem Ton. »Ich hoffe, dass Ihnen die Musik gefallen wird. Nun werden Sie einen anderen Teil Dublins kennenlernen, und es ist ein herrlicher Tag dafür, übrigens auch genau richtig für eine Besichtigung der näheren Umgebung. Wie wäre es beispielsweise mit einer Fahrt nach Drogheda und zu den Ruinen von Mellifont, der ältesten Abtei Irlands, die 1142 auf Betreiben des heiligen Malachias erbaut wurde? Sofern Ihnen das zu nahe an der Gegenwart sein sollte, könnte ich Ihnen den Hügel von Tara empfehlen. Er war zur Zeit unserer Hochkönige das politische Zentrum Irlands, denn dort stand deren Burg, bis das Christentum kam und ihrer Macht ein Ende bereitete.«
»Das klingt eindrucksvoll«, sagte sie mit so viel Begeisterung, wie sie aufbringen konnte, nahm seinen Arm und ging mit ihm zur Haustür. Sie drehte sich nicht um, um zu sehen, ob Narraway sie beobachtete. »Liegen diese Orte weit von Dublin entfernt?«
»Es ist eine gewisse Strecke, aber die Fahrt lohnt sich unbedingt«, gab McDaid zurück. »Irland ist sehr viel mehr als Dublin, müssen Sie wissen.«
»Das kann ich mir denken. Ich weiß die Großzügigkeit zu schätzen, mit der Sie mich an der Schönheit Ihres Landes teilhaben lassen. Bitte berichten Sie mir mehr über diese Orte.«
Dazu war er gern bereit, und sie hörte ihm auf der kurzen Fahrt zum Konzertsaal mit aufmerksamer Miene zu. Zu jeder anderen Zeit wäre sie sogar wirklich so interessiert gewesen,
An den Türen des Konzertsaals drängten sich die Menschen bereits, und sie mussten sich beeilen, um gute Plätze in einer der vorderen Reihen zu finden. Das war Charlotte ganz recht, weil sie auf diese Weise einen möglichst großen Abstand von Narraway halten konnte und niemand den Eindruck gewann, sie könnten zueinander gehören – außer natürlich McDaid, auf dessen Diskretion sie sich verlassen musste.
Die anderen Damen waren ausgesprochen modisch gekleidet, doch in ihrer schwarz und bronzefarben gestreiften Bluse fühlte sie sich ihnen allen gleichwertig, auch wenn sie nach wie vor das schlechte Gewissen peinigte, weil sie zugelassen hatte, dass Narraway dafür bezahlte, und sie noch nicht wusste, auf welche Weise sie Pitt diesen kostbaren Besitz erklären wollte. Im Augenblick aber genoss sie es, dass Männer wie Frauen sie aufmerksam musterten und dann ein zweites Mal hersahen, sei es bewundernd, sei es neidvoll. Sie lächelte ein wenig, nur gerade so viel, dass man es ihr nicht als selbstgefällig auslegen konnte, und mit dem gleichen Lächeln erwiderte sie das Nicken, mit dem Menschen sie begrüßten, die sie bei früheren Gelegenheiten kennengelernt hatte.
Als sie Plätze gefunden hatten, setzte sie sich mit durchgedrücktem Rücken hin und musterte scheinbar interessiert die noch leeren Stühle der Musiker auf dem Podium.
Dann sah sie sich diskret um und erkannte Dolina Pearse. Im letzten Augenblick vermied sie es, sie anzusehen. Neben Dolina ließ Talulla Lawless betont unauffällig ihren Blick durch den Saal wandern. Offensichtlich suchte sie jemanden. Charlotte, die der Richtung ihrer Blicke zu folgen versuchte, spürte,
Der Zeremonienmeister trat auf das Podium, um den Beginn des Konzerts anzukündigen, und sogleich verstummte das Stimmengewirr. Etwas mehr als eine Stunde lauschten die Besucher angespannt den Klängen der Musik und gaben sich den Empfindungen hin, die sie in ihnen weckte. Sie waren so angenehm, dass Charlotte lächeln musste. Es kostete sie nicht die geringste Mühe, den Anschein zu erwecken, als sei sie wunschlos glücklich.
Doch kaum war der Applaus nach dem Ende des Musikstücks vorüber, als ihre Gedanken zum Anlass ihrer Anwesenheit zurückkehrten. Vor allem aber wollte sie wissen, wo sich Narraway aufhielt. Unwillkürlich musste sie an den Ausdruck auf Talullas Gesicht denken. Möglicherweise hatte das, was Charlotte für Narraway tun konnte, absolut nichts mit Cormac O’Neil zu tun, und es war wichtiger, ihm beizustehen, falls Talulla auf den Gedanken kam, ihm eine Szene zu machen.
Sie warf McDaid ein flüchtiges Lächeln zu, stand auf und ging dorthin, wo Talulla saß, wobei sie überlegte, was sie ihr sagen konnte, ganz gleich, ob es der Wahrheit entsprach oder nicht. Sie erreichte Talulla gerade in dem Augenblick, als diese ihren Platz verlassen wollte. Dabei stießen sie so heftig zusammen, dass Charlotte beinahe umgefallen wäre. Talulla sah sie verblüfft an.
»Das tut mir aufrichtig leid«, entschuldigte sich Charlotte, obwohl Talulla sie angestoßen hatte. »Meine Begeisterung hat mich wohl unaufmerksam sein lassen.«
»Sie sind begeistert?«, fragte Talulla kalt. Auf ihren Zügen lag unverhüllte Ungläubigkeit.
»Ja, von der Harfenistin«, sagte Charlotte rasch. »Ich habe noch nie beeindruckendere Musik gehört.« Sie suchte verzweifelt nach etwas, was sie sagen konnte.
»Dann will ich Sie nicht daran hindern, mit ihr zu sprechen«, gab Talulla zurück. »Sie finden sie bestimmt sehr angenehm. «
»Kennen Sie sie?«, fragte Charlotte eifrig.
»Nur dem Namen nach. Ehrlich gesagt habe ich auch nicht die Absicht, sie zu belästigen«, gab Talulla scharf zurück. »Bestimmt gibt es viele Leute, die unbedingt mit ihr sprechen wollen.«
»Ich wäre Ihnen aufrichtig dankbar, wenn Sie mich ihr vorstellen könnten«, fuhr Charlotte fort, indem sie die Zurückweisung einfach überging.
»Ich bedaure, Ihnen dabei nicht behilflich sein zu können.« Talulla gab sich keinerlei Mühe, ihre Ungehaltenheit zu verbergen. » Wie gesagt, ich kenne sie nicht. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht …«
»Ach je«, sagte Charlotte in enttäuschtem Ton. »Aber Sie haben doch gesagt, ich würde sie angenehm finden«, gab sie herausfordernd zurück. Sie wagte nicht, den Blick auf die Stelle zu richten, an der sie Narraway im Gespräch mit Ardal Barralet erkannt hatte.
»Ja, aber nur aus reiner Höflichkeit«, blaffte Talulla sie an. »Und jetzt, Mrs Pitt, muss ich gehen, damit ich die Leute nicht verpasse, mit denen ich dringend zu reden habe. Sie entschuldigen mich wohl.« Mit diesen Worten schob sie Charlotte förmlich aus dem Weg, so dass sie beiseitetreten musste,
Narraway stand nach wie vor am anderen Ende des Saals und unterhielt sich mit Barralet. Als Charlotte sah, dass Talulla genau in diese Richtung strebte, folgte sie ihr mit einigen Schritten Abstand. Ungefähr in der Mitte des Ganges zwischen den Stuhlreihen blieb Talulla unvermittelt stehen, was Charlotte ebenfalls dazu nötigte.
Dann sah sie, warum Talulla nicht weitergegangen war. Eine kleine Menschentraube hatte sich dort gebildet, wo Narraway, der sich wohl inzwischen von Ardal Barralet verabschiedet hatte, Cormac O’Neil gegenüberstand. Phelim O’Conor sah von einem zum anderen, Bridget Tyrone stand rechts von ihm.
Einige Augenblicke rührte sich keiner der beiden Männer, dann holte Cormac tief Luft und stieß zwischen den Zähnen hervor: »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so unverfroren sein könnten, sich noch einmal in Irland zu zeigen.« Dabei sah er Narraway unverwandt an. »Wen wollen Sie diesmal ins Unglück stürzen? Mulhare ist tot – haben Sie das etwa nicht gewusst? « Seine Worte waren kaum zu verstehen, denn seine Stimme bebte, und er zitterte am ganzen Leibe.
Heftige Gefühle erfüllten die Menschen um die beiden herum. Es war, als fege der Wind durch ein Getreidefeld.
»Doch, das ist mir bekannt«, sagte Narraway, der keinen Schritt zurückwich, obwohl Cormac dicht vor ihm stand. »Jemand hat das Geld unterschlagen, das er bekommen sollte, damit er irgendwo im Ausland untertauchen und ein neues Leben anfangen konnte.«
»Jemand?«, höhnte Cormac. »Und vermutlich haben Sie keine Ahnung, wer das war?«
»Bisher nicht«, gab Narraway zurück, der sich nach wie vor nicht rührte, obwohl Cormac nur noch gut einen halben
Cormac verdrehte die Augen. »Wenn ich nicht genau im Bilde über Sie wäre, würde ich die Geschichte glauben. So aber bin ich sicher, dass Sie selbst das Geld gestohlen haben, Sie haben Mulhare ebenso verraten wie uns alle.«
Narraways Gesicht war jetzt kreideweiß. Seine Augen blitzten. »Damals herrschte Krieg, Cormac. Sie haben verloren, das ist alles …«
»Das ist eben nicht alles!«, stieß Cormac mit vor Hass verzerrtem Gesicht aus. »Ich habe dabei nicht nur meinen Bruder und meine Schwägerin verloren, sondern auch mein Land. Und jetzt kommen Sie her und sagen kaltschnäuzig: ›Das ist alles‹ …«
Gemurmel erhob sich in der Gruppe um ihn herum. Charlotte biss die Zähne zusammen. Sie wusste, was Narraway mit seiner Aussage gemeint hatte, aber er hatte wohl die Situation nicht recht bedacht und seine Worte nicht besonders glücklich gewählt. Dabei musste er doch wissen, dass die Menschen im Lande gegen ihn aufgebracht waren und er nichts beweisen konnte. Von London konnte er keine Unterstützung mehr erwarten; er war auf sich allein gestellt, und es sah ganz so aus, als werde er die Partie verlieren.
»Es können nun einmal nicht beide Seiten gewinnen«, sagte Narraway, der mit Mühe seine Selbstbeherrschung wiederfand. »Damals hatte ich Erfolg. Sofern Sie gewonnen hätten, hätten Sie bestimmt nicht ›Verrat‹ geschrien!«
»Es geht um mein verdammtes Land, Sie überheblicher Affe!«, fuhr ihn Cormac an. »Wie viele von uns Iren müssen denn noch ausgeplündert, betrogen und ermordet werden, bis Ihr endlich ein schlechtes Gewissen bekommt und von unserer Insel verschwindet?«
»Ich gehe, sobald ich den Beweis dafür habe, wer das für Mulhare bestimmte Geld veruntreut hat«, sagte Narraway.
»Jeder weiß davon«, knurrte Cormac. »Seine Leiche wurde am Ufer des Hafens von Dublin angetrieben. Der Teufel soll Euch holen!«
»Nicht ich habe ihn verraten«, gab Narraway mit bebender Stimme zurück. Trotz seiner Mühe, sich zu beherrschen, war er lauter geworden. »Ich hätte mich mit Sicherheit nicht so amateurhaft verhalten und das Geld auf mein eigenes Konto geleitet, damit man es da finden kann. Ganz gleich, was Sie von mir halten, Cormac, Sie wissen genau, dass ich kein Dummkopf bin.«
Cormac schwieg einen Augenblick lang. Er schien fassungslos zu sein.
Inzwischen hatte auch Talulla die Gruppe erreicht und stellte sich Narraway so gegenüber, dass sie Cormac den Rücken zukehrte. Ihr Gesicht war so bleich, dass sogar ihre Lippen jede Farbe verloren hatten, und ihre Augen sahen aus wie schwarze Löcher.
»Und ob Sie ein Dummkopf sind!«, stieß sie hervor. »Ein hochnäsiger englischer Dummkopf, der überzeugt ist, dass wir nie die Oberhand über Euch gewinnen werden. Nun, einer von uns hat es diesmal geschafft. Sie sagen, Sie haben das Geld nicht auf Ihr eigenes Konto überwiesen? Offensichtlich hat es aber jemand getan, und dafür müssen Sie jetzt geradestehen. Ihre eigenen Leute halten Sie für einen Dieb, und da Ihnen hier in Irland niemand je wieder eine Information liefern wird, sind sie für London jetzt wertlos. Dafür dürfen Sie sich bei Cormac O’Neil bedanken.«
Sie holte tief Luft und fuhr fort: »Sagt Ihr Engländer nicht: ›Wer zuletzt lacht, lacht am besten‹? Nun, wir werden noch lachen, wenn Sie ein gebrochener alter Mann sind, der seine Anstellung verloren hat und an dem niemandem liegt! Denken
Charlotte sah zuerst auf Cormac, dann auf Phelim O’Conor und schließlich auf Narraway. Alle standen bleich und wortlos da. Schließlich ergriff Ardal Barralet das Wort und sagte trocken: »Höchst bedauerlich. Es sieht so aus, als wärest du besser nicht gekommen, Victor. Alte Erinnerungen haben ein zähes Leben. Nach allem, was wir gerade gehört haben, sieht es ganz so aus, als ob du diesmal die Schlacht verloren hättest. Nimm deine Niederlage mit so viel Anstand hin, wie du es von uns erwartet hast, und reise ab, solange es dafür nicht zu spät ist.«
Narraway sah mit keinem Blick zu Charlotte hin, um sie nicht mit in die peinliche Situation hineinzuziehen. Mit einer steifen Verbeugung sagte er: »Entschuldigung«, wandte sich ab und ging.
McDaid nahm Charlottes Arm mit überraschend festem Griff. Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass er in der Nähe war. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als gemeinsam mit ihm fortzugehen.
»Talulla hat Recht – er ist wirklich ein Dummkopf«, sagte McDaid bitter, als sie weit genug von den anderen entfernt waren, so dass ihn niemand hören konnte. »Er kann unmöglich angenommen haben, irgendjemand hier würde je sein Gesicht vergessen.«
Sie wusste, dass er Recht hatte; trotzdem ärgerte sie, was er da sagte. Sie kannte keine Einzelheiten der Verwicklung Narraways in die alte Geschichte, wusste nicht, ob er Kate O’Neil geliebt oder benutzt hatte, wenn nicht sogar beides, aber für sie stand fest, dass diesmal er der Verratene war – und zwar nicht durch die Wahrheit, sondern mit Hilfe einer Lüge.
Statt ihren Verstand zu benutzen, ließ sie sich in ihrem Urteil von Gefühlen und Empfindungen leiten. Vielleicht glaubte sie auch deshalb an ihn, weil er einst so unverbrüchlich zu Pitt gehalten hatte. Pitt war nicht da, konnte weder helfen noch raten, und so musste sie das an seiner Stelle tun. An dieser Notwendigkeit konnte es nicht den geringsten Zweifel geben.
Dann kam ihr, so deutlich wie ein Blitz, der durch schwarze Gewitterwolken zuckt, eine Erinnerung. Talulla hatte gesagt, das für Mulhare bestimmte Geld sei zurück auf Narraways eigenes Konto überwiesen worden, und daher werde ihm jetzt niemand in London mehr trauen. Hatte sie nahe genug an Cormac gestanden, um zu hören, wie Narraway das diesem vorgeworfen hatte? Falls nein – woher konnte sie etwas von dieser Intrige wissen, ohne selbst daran beteiligt gewesen zu sein? Sie war schätzungsweise Ende zwanzig, dürfte also zu der Zeit, als Kate und Sean O’Neil den Tod gefunden hatten, etwa sieben oder acht Jahre alt gewesen sein.
War Narraway gekommen, um sie zu diesem Akt der Selbstentblößung herauszufordern? Das wäre in der Tat ein verzweifelter Schritt gewesen.
Sie versuchte, ihren Arm mit einem scharfen Ruck aus McDaids Griff zu befreien, doch er ließ nicht locker.
»Sie folgen ihm nicht«, sagte er mit fester Stimme. »Zumindest in einem Punkt hat er sich anständig verhalten: Er hat Sie nicht mit in die Sache hineingezogen. Was Talulla betrifft, gibt es zwischen Ihnen und ihm nicht die geringste Beziehung. Sie sollten es besser dabei belassen.«
Mit diesen Worten machte er alles nur schlimmer, vergrößerte ihre Schuld Narraway gegenüber. Ihn zu verleugnen wäre sinnlos und ausgesprochen unanständig. Erneut versuchte sie sich loszureißen, und diesmal ließ er es geschehen.
»Ich wollte ihm nicht nach«, sagte sie wütend. »Ich will nach Hause.«
»Nach London?«, fragte er ungläubig.
»In unsere Pension in der Molesworth Street«, fuhr sie ihn an. »Hätten Sie die Güte, mich dort hinzubringen, damit ich keinen Pferdeomnibus nehmen muss? Ich weiß weder, wo ich bin, noch, wohin ich fahren müsste.«
»Das ist mir bekannt«, stimmte er mit trübseliger Miene zu.
Als sie vor Mrs Hogans Pension ausgestiegen war, wartete sie lediglich, bis seine Kutsche um die nächste Ecke verschwunden war, ging dann entschlossen in die Gegenrichtung und hielt die erste Droschke an, die sie sah. Von Narraway wusste sie, wo Cormac O’Neil wohnte, und so nannte sie dem Kutscher diese Adresse. Sofern O’Neil nicht inzwischen schon zu Hause war, würde sie so lange warten, bis er zurückkehrte.
Kurz nach Einbruch der Dämmerung sah sie ihn in etwa hundert Schritt Entfernung aus einer Droschke steigen. Mit unsicher wirkenden Schritten näherte er sich auf dem schmalen Weg, der von der Gartenpforte zu seinem Haus führte.
Sie trat aus dem Schatten. »Mr O’Neil?«
Er blieb stehen und sah sie an.
»Mr O’Neil«, wiederholte sie. »Dürfte ich wohl kurz mit Ihnen sprechen? Es ist sehr wichtig.«
»Ein anderes Mal«, sagte er mit kaum verständlicher Stimme. »Es ist schon spät.« Er machte Anstalten, an ihr vorüber zur Haustür zu gehen, doch sie vertrat ihm den Weg.
»Nein, es ist nicht spät. Es isYTt kaum Abendessenzeit, und die Sache ist wirklich dringend. Dürfte ich bitte?«
Er sah sie an. »Sie sehen tatsächlich gut aus«, sagte er freundlich, »aber ich bin nicht interessiert.«
Mit einem Mal begriff sie, dass er sie für eine Straßendirne hielt. Dieser Gedanke war so aberwitzig, dass sie sich nicht gekränkt
O’Neil blieb ruckartig stehen, fuhr herum und sah sie scharf an.
»Mir ist bekannt, was er Mitgliedern Ihrer Familie angetan hat«, fuhr sie mit einem Anflug von Verzweiflung fort. »Jedenfalls glaube ich das zu wissen. Ich war heute Nachmittag bei dem Konzert und habe gehört, was Sie und Miss Lawless gesagt haben.«
»Was wollen Sie hier?«, fragte er. »Sie sind Engländerin, das höre ich an Ihrer Stimme. Versuchen Sie also gar nicht, mir Mitleid vorzugaukeln«, sagte er so scharf wie verachtungsvoll.
Sie hielt ebenso hart dagegen. »Und Sie meinen also, dass die Iren als einziges Volk auf der Welt Opfer sind?«, fragte sie. »Auch mein Mann hat gelitten. Vielleicht gäbe es mir eine Möglichkeit, etwas zu unternehmen, wenn ich die Wahrheit wüsste.«
»Was könnte das schon sein?«, fragte er in schneidendem Ton.
Ihr war klar, dass das, was sie ihm weismachen wollte, unbedingt glaubwürdig klingen musste. Das Unrecht, das sie schildern wollte, musste so schreiend sein, dass er in ihr ein ebensolches Opfer sah, wie er es war. Innerlich tat sie Narraway Abbitte. »Aus dem Sicherheitsdienst ist Narraway bereits entlassen«, sagte sie. »Und zwar wegen des für Mulhare bestimmten Geldes. Aber abgesehen von seiner Stellung als Leiter dieser Abteilung hat er alles, was man für ein angenehmes
Er zögerte einen Augenblick, dann suchte er, als ob er sich ergeben in etwas schicke, in seiner Tasche nach dem Schlüssel, steckte ihn unsicher ins Schloss, öffnete und hielt ihr die Haustür auf.
Ein großer Hund – wohl ein irischer Wolfshund – begrüßte seinen Herrn schwanzwedelnd nach einem flüchtigen Blick auf Charlotte. Er drängte sich dicht an ihn und verlangte nach seiner Aufmerksamkeit.
Mit leisen Worten tätschelte O’Neil dem Tier den Kopf und ging dann ins Wohnzimmer, um Licht zu machen, wobei ihm der Hund auf dem Fuß folgte. Im Schein der Gasflammen sah Charlotte einen sauberen behaglichen Raum, dessen großes Fenster auf den Vorgarten und die Straße ging. O’Neil schloss die Vorhänge, wohl eher, damit niemand hereinsehen konnte, als um die Abendkühle draußen zu halten, und forderte Charlotte auf, Platz zu nehmen.
Sie dankte ihm und wartete, bis er sich gefasst hatte, bevor sie ihm ihre Fragen stellte. Ihr war bewusst, dass ihn eine einzige ungeschickte Bemerkung oder falsche Reaktion gegen sie aufbringen konnte und sie keine Gelegenheit für einen zweiten Versuch bekommen würde.
»Die Sache liegt über zwanzig Jahre zurück«, sagte er und sah sie mit ernster Miene an. Er saß ihr gegenüber, der Hund lag ihm zu Füßen am Boden. Im Schein der Gaslampen konnte sie deutlich sehen, dass sich O’Neil bemühte, seine Gefühle zu beherrschen, die sicherlich durch die unvermittelte Begegnung mit Narraway wieder an die Oberfläche gespült worden waren. Seine Augen waren rot gerändert, sein Gesicht verhärmt. Die Haare standen ihm wirr um den Kopf, als sei er
»Ich weiß, Mr O’Neil«, sagte sie leise. Es gab keinen Grund, in diesem stillen Haus die Stimme zu heben, im Gegenteil verlangte die Tragödie, um die es hier ging, eine gewisse Ehrfurcht. »Haben Sie den Eindruck, dass die Zeit Wunden heilt? Ich würde das gern denken, sehe aber keinen Hinweis darauf.« Sie stand im Begriff, für sich selbst eine völlig neue Situation zu erfinden, wobei ihr zugleich schmerzlich bewusst war, dass Pitts Schicksal, das sie da in ihrer Vorstellung heraufbeschwor, Wirklichkeit werden konnte, falls es Narraway nicht gelang, seine Position im Sicherheitsdienst zurückzuerobern, und der Mann, der ihm diese Schmach bereitet hatte, ihn endgültig verdrängte – wer auch immer das sein mochte.
Sie setzte sich ein wenig bequemer hin und wartete auf seine Antwort.
»Ob die Zeit Wunden heilt?«, fragte er nachdenklich. »Nein. Vielleicht lässt sie etwas darüber wachsen, was die Wunden verschließt, aber darunter bluten sie auf alle Zeiten weiter.« Er sah sie fragend an. »Was hat er Ihnen angetan?«
Sie sprang in die Zukunft, auf die sich ihr Blick sorgenvoll richtete, und malte sich das Schlimmste aus.
»Auch mein Mann war im Sicherheitsdienst tätig«, erklärte sie. »Mit Irland hatte er nie etwas zu tun, sondern ausschließlich mit dem Kampf gegen Anarchisten in England, Bombenwerfer, die harmlose Frauen und Kinder umbrachten, alte Leute, meistens Arme.«
O’Neil zuckte zusammen, unterbrach sie aber nicht.
»Narraway hat ihm einen gefährlichen Auftrag gegeben, und als die Sache bedenklich wurde und mein Mann weit von zu Hause entfernt war, hat er erkannt, dass er die Situation falsch eingeschätzt hatte, und die Schuld an diesem Fehler,
»Und inwiefern könnte Ihnen meine Geschichte helfen?«, fragte O’Neil.
»Selbstverständlich streitet Narraway die Sache von A bis Z ab«, sagte sie. »Aber da er Sie ebenfalls verraten hat, bekommt die Sache ein anderes Gesicht. Sagen Sie mir bitte, was geschehen ist?«
»Er ist vor zwanzig Jahren hier aufgetaucht«, begann er langsam, »und hat uns Mitgefühl vorgegaukelt. Damit ist es ihm gelungen, so manchen zu täuschen. Er hat es ausgenutzt, dass er wie ein Ire aussieht, unsere Kultur, unsere Träume und unsere Geschichte kennt. Doch nicht alle von uns haben sich davon hinters Licht führen lassen. Man wird als Ire geboren oder man ist keiner. Aber wir haben so getan, als spielten wir mit – mein Bruder Sean, seine Frau Kate und ich.« Er hielt inne. Seine Augen waren verhangen, als sehe er aus diesem stillen Zimmer im Jahre 1895 etwas, was in weiter Ferne lag. Für ihn war die Vergangenheit ebenso gegenwärtig wie die Gesichter der Toten und die unverheilten Wunden.
Da sie nicht recht wusste, ob sie etwas Bestätigendes sagen sollte oder ob ihn das eher ablenken würde, schwieg sie.
»Wir haben durchschaut, wes Geistes Kind er war«, fuhr O’Neil fort. »Damals planten wir einen weitreichenden Aufstand und wollten ihn benutzen, indem wir ihm falsche Informationen zuspielten und auf diese Weise den Spieß umdrehten. Wir hatten allerlei Träume. Sean war der Anführer, aber Kate war diejenige, die uns alle mit ihrer Leidenschaft befeuert hat. Sie war schön wie das Sonnenlicht, das auf dem Herbstlaub tanzt, schön wie der Wind und der Schatten. Es war die Art von Schönheit, die man nicht halten kann. Sie war so lebendig wie keine andere Frau jemals.« Erneut hielt er inne, tief in seine Erinnerungen versunken. Der Schmerz, den er empfand, stand ihm unübersehbar ins Gesicht geschrieben.
»Sie haben sie geliebt«, sagte sie mit freundlicher Stimme.
»Wie alle anderen Männer auch«, bestätigte er und sah ihr kurz in die Augen, als sei ihm ihre Anwesenheit gerade erst wieder eingefallen. »Sie erinnern mich ein bisschen an sie. Ihre Haare hatten etwa die gleiche Farbe wie Ihre. Aber Sie sind natürlicher, wie die Erde. Unerschütterlich.«
Charlotte war nicht sicher, ob sie sich gekränkt fühlen sollte. Ohnehin war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür, aber sie würde später darüber nachdenken.
»Sprechen Sie weiter«, ermunterte sie ihn. Bisher hatte er ihr nichts gesagt, womit sie etwas anfangen konnte, außer dass er in die Frau seines Bruders verliebt gewesen war. War das der wahre Grund für seinen Hass auf Narraway?
Als hätte er ihren Gedanken gelesen, fuhr er fort: »Natürlich hat auch Narraway gemerkt, wie lebendig sie war. Wie wir alle war er von ihr fasziniert, und wir haben beschlossen, uns das zunutze zu machen. Wir hatten ihm weiß Gott so gut wie nichts entgegenzusetzen. Er war gerissen. Viele Iren halten die Engländer für dumm, und manche sind es sicher auch, aber von denen war Narraway keiner, der bestimmt nicht.«
»Sie haben sich also entschieden, sich seine Gefühle für Kate zunutze zu machen?«
»Ja. Warum auch nicht?«, fragte er und verteidigte mit vor Zorn sprühenden Augen die vor so vielen Jahren getroffene Entscheidung. »Wir haben für unser Land gekämpft, für unser Recht, uns selbst zu regieren. Und Kate war einverstanden. Sie hätte für Irland alles getan.« Seine Stimme versagte einen Augenblick, so dass er nicht weitersprechen konnte.
Sie wartete. Von draußen war nicht das leiseste Geräusch zu hören, weder Wind noch Regen, keine Schritte, kein Hufgeklapper auf der Straße. Selbst der Hund zu Cormacs Füßen rührte sich nicht. Das Haus hätte ebenso gut weit draußen auf dem Lande stehen können, viele Kilometer vom nächsten Nachbarn entfernt. Die Gegenwart hatte sich vollständig aufgelöst und war verschwunden.
»Kate und Narraway wurden ein Liebespaar«, sagte Cormac mit Bitterkeit in der Stimme. »Sie hat uns gesagt, was er plante, er und die anderen Engländer. Zumindest hat sie behauptet, dass es so war.« Der Kummer war seiner Stimme deutlich anzuhören.
»Hat es denn nicht gestimmt?«, fragte sie, als er nicht weitersprach.
»Er hat sie belogen. Durch sie wusste er, was wir vorhatten. Irgendwo muss sie einen Fehler begangen haben.« Die Tränen liefen ihm über die Wangen, und er machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. »Er hat uns lauter Lügen aufgetischt, und wir haben ihm geglaubt. Der Aufstand wurde verraten. Eine furchtbare Dummheit. Man hat Kate die Schuld daran gegeben!« Er schluckte, sah auf die Wand, als könne er dort alle an jener Tragödie Beteiligten vor sich sehen.
»Die Leute sind dahintergekommen, dass sie uns belogen hatte«, fuhr er fort. »Natürlich war das Narraways Schuld; er
Die tiefe Wut, die aus ihm sprach, erschütterte sie. Er schien körperlich darunter zu leiden wie unter einer Krankheit. Seine Haut war fleckig, sein Gesicht wirkte aufgequollen. Früher musste er einmal gut ausgesehen haben.
»Was ist mit ihr geschehen?« Es war grausam, diese Frage zu stellen, aber es war Charlotte klar, dass die Geschichte damit nicht zu Ende war, und sie musste sie aus seinem Mund hören, nicht nur von Narraway.
»Man hat sie umgebracht, erwürgt«, sagte er. »Die schöne Kate.«
»Das tut mir sehr leid.« Es war ihr ernst damit. Sie versuchte sich die Frau vorzustellen, die Cormac beschrieben hatte, mit ihrer Leidenschaft, ihren Träumen, doch vergebens: Das Bild war die Erinnerung eines Mannes, der einen Schatten aus der Vergangenheit liebte. Kate hatte aufgehört zu atmen und zu lachen, sie konnte nicht mehr wachen und schlafen wie andere Menschen, nicht mehr verletzt werden und keine Fehler mehr begehen.
»Es hieß, Sean hätte sie umgebracht«, fuhr er fort. »Aber das kann nicht sein. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie unsere Sache nie im Leben verraten hätte. Auch das war wieder Narraways Werk. Er hat sie umgebracht, damit sie unseren Leuten nicht sagen konnte, was er getan hatte, denn dann hätte er Irland nie und nimmer lebend verlassen.« Er sah Charlotte verzweifelt an, Tränen quollen ihm aus den Augen. Offensichtlich wartete er auf ihre Reaktion.
Sie zwang sich zu sprechen. »Warum hätte er das tun sollen? Und haben Sie Beweise dafür?«, fragte sie. »Ich meine, können Sie mir irgendetwas in die Hand geben, was ich nach
»Er hat sie umgebracht, weil sie nicht bereit war, ihm zu sagen, was er von ihr erfahren wollte. Aber glauben Sie, dass er noch am Leben wäre, wenn ich solche Beweise hätte?«, fragte Cormac scharf. »In dem Fall wäre der arme Sean nicht gehängt worden, und die arme Talulla wäre nicht als Waisenkind aufgewachsen.«
Entgeistert stieß Charlotte hervor: »Talulla?«
»Ja, sie ist Kates und Seans Tochter«, sagte er schlicht. »Wussten Sie das nicht? Nach dem Tod der beiden hat sich eine Kusine um sie gekümmert und sich bemüht, sie so gut es ging vor dem Hass zu bewahren, den man ihrer Mutter allgemein entgegenbrachte. Das arme Kind.«
Die entsetzliche Tragödie überwältigte Charlotte. Sie wollte etwas sagen, was dem Verlust angemessen war, doch alles, was ihr einfiel, war banal.
»Das tut mir leid«, sagte sie. »Ich …«
Er hob den Blick zu ihr. »Und Sie fahren jetzt also nach London, um das jemandem zu berichten?«
»Ja … das werde ich tun.«
»Dann seien Sie vorsichtig«, mahnte er sie. »Narraway lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Wenn es ihm für sein Überleben nötig erscheint, würde er auch Sie umbringen.«
»Ich werde vorsichtig sein«, versprach sie. »Ich denke, ich muss noch ein wenig mehr in Erfahrung bringen, aber ich
Er begleitete sie zur Tür und hielt sie ihr auf, bot ihr aber nicht an, für sie nach einer Droschke Ausschau zu halten. Es war, als habe sie für ihn in dem Augenblick aufgehört, wirklich zu sein, da sie den Fuß auf den Weg zur Gartenpforte setzte.
»Wo warst du so lange?«, wollte Narraway wissen, als sie in Mrs Hogans Salon trat. Er hatte am Fenster gestanden, war unter Umständen sogar unruhig auf und ab gegangen. Er wirkte erschöpft und angespannt, wie von einer großen Furcht befallen. »Ist alles in Ordnung? Wer hat dich herbegleitet? Wo ist er jetzt?«
»Ja, mit mir ist alles in Ordnung«, gab sie zurück. »Niemand hat mich herbegleitet.«
»Du warst allein unterwegs?« Seine Stimme klang unsicher. »Allein in der Dunkelheit auf der Straße? Um Gottes willen, Charlotte, was ist mit dir los? Da hätte dir wer weiß was zustoßen können, und ich hätte womöglich nicht einmal etwas davon erfahren!« Er fasste nach ihrem Arm. Sie spürte die Kraft seiner Hand und fragte sich, ob ihm wohl bewusst war, wie fest er sie hielt.
»Mir ist aber nichts zugestoßen, Victor. Ich war nicht weit weg. Außerdem ist es noch gar nicht spät. Draußen sind viele Leute unterwegs«, versicherte sie ihm.
»Du hättest dich verlaufen können …«
»Dann hätte ich nach dem Weg gefragt«, gab sie zurück. »Bitte … du hast keinen Grund, dich zu beunruhigen. Ein kleiner Umweg hierher schadet mir nicht.«
»Du hättest …«, setzte er an, sprach aber nicht weiter, vielleicht weil ihm bewusst geworden war, wie sehr er es mit seiner Besorgnis übertrieb. Er ließ sie los. »Entschuldige. Ich …«
Sie sah ihn an. Das war ein Fehler. Einen Moment lang war in seinen Augen unverhüllt zu sehen, was er empfand. Es wäre ihr lieber gewesen, nicht zu wissen, dass ihm so viel an ihr lag. Künftig würde es ihnen beiden unmöglich sein, sich weiterhin ahnungslos zu stellen; sie konnte nicht mehr so tun, als sei ihr nicht bewusst, dass er sie liebte.
Sie wandte sich ab und spürte, wie ihre Wangen brannten. Es gab keine Worte, mit denen sie die Wahrheit nicht bagatellisiert hätte.
Er stand reglos da.
Nach einer Weile sagte sie: »Ich war bei Cormac O’Neil.«
»Was?«
»Es war ganz harmlos. Ich wollte einfach aus seinem Munde hören, was damals genau geschehen ist, oder zumindest, was er glaubt, was damals geschehen ist.«
»Und was hat er gesagt?«, fragte Narraway rasch mit einer Stimme, in der unüberhörbar Anspannung lag.
Sie wollte ihn nicht ansehen, sich nicht in alten Kummer hineindrängen, der offensichtlich noch ganz frisch war. Doch es wäre feige gewesen, auszuweichen. Sie sah ihm in die Augen, teilte ihm mit, dass Talulla Kates Tochter war, und wiederholte, was Cormac sonst noch gesagt hatte.
»Wahrscheinlich sieht er das tatsächlich so«, sagte Narraway, nachdem sie geendet hatte. »Gut möglich, dass er es nicht fertigbringt, mit der Wahrheit zu leben. Kate war wirklich schön.« Als er das sagte, trat ein flüchtiges Lächeln auf seine Züge. In jenem Augenblick konnte sie sich vorstellen, wie er zwanzig Jahre zuvor gewesen war: jünger, männlicher, vielleicht weniger weise.
»Kaum ein Mann konnte ihr widerstehen«, fuhr er fort. »Ich habe es gar nicht erst versucht. Mir war bewusst, dass die Iren sie dazu benutzten, mich zu ködern. Sie war tapfer und leidenschaftlich …« Er lächelte. »Vielleicht eine Spur humorlos, aber bedeutend klüger, als den Leuten auf der anderen Seite bewusst war. Das ist bei schönen Frauen manchmal so. Die Leute sehen dann nur das Äußere, vor allem Männer. Der Mensch sieht, was er sehen möchte, das ist die unbequeme Wahrheit.«
Charlotte runzelte die Brauen, während sie an Kate dachte. Andere hatten sie als Spielfigur eingesetzt, wenngleich als eine, um die sie kämpften, die sie begehrten. »Wieso sagst du, dass sie klug war?«, fragte sie.
»Wir haben uns unterhalten – über die Sache der Iren, deren Pläne. Ich habe sie davon überzeugt, dass sich deren Vorhaben für die irische Seite als Bumerang erweisen würde. Das entsprach der Wahrheit – es hätte eine Unzahl von Toten gegeben, und sie wären auf grausame Weise umgekommen. Aufstände dieser Art drängen den Gegner nicht in die Defensive und bringen ihn auch nicht dazu, sich zu ergeben. Sie haben genau die gegenteilige Wirkung. Mit einem Erfolg hätten die Iren lediglich die verschiedenen Lager in England gegen die Aufständischen geeinigt und überdies sämtliche Sympathien in allen Ländern Europas eingebüßt, wenn nicht gar bei einigen ihrer eigenen Leute. Kate hat mir in Einzelheiten berichtet, was sie planten, damit ich der Sache Einhalt gebieten konnte.«
Charlotte versuchte sich die Situation vorzustellen, den Kummer, den Preis, den so viele Menschen dafür hatten zahlen müssen.
»Wer hat sie umgebracht?«, fragte sie. Sie empfand einen Verlust, als habe sie Kate persönlich gekannt und nicht nur als Namen und in ihrer Vorstellung.
»Sean«, gab er zurück. »Ich weiß nicht, ob er es getan hat, weil sie Irland verraten hat, wie er das sah, oder weil sie ihn betrogen hat.«
»Mit dir?«
Narraway wurde rot, wandte den Blick aber nicht ab. »Ja.«
»Weißt du genau, dass er es war? Gibt es daran keinerlei Zweifel?«
»Ich weiß es ganz genau«, sagte er mit halberstickter Stimme. »Ich habe ihre Leiche gefunden. Ich bin überzeugt, dass er das wollte.«
Sie konnte sich jetzt kein Mitleid mit ihm leisten. »Und wieso bist du so sicher, dass er der Täter war?« Sie musste Gewissheit haben, damit sie den Zweifel für immer ausräumen konnte. Falls Narraway selbst Kate getötet hatte, mochte das im Licht einer verdrehten politischen Logik gleichsam seine Pflicht gewesen sein und dazu gedient haben, größeres Blutvergießen zu verhindern. Während sie ihn ansah, verstand sie mit einem Mal deutlicher, welches Gewicht auf ihm lastete, und sie empfand Trauer darüber, was ihn das gekostet hatte.
»Wieso glaubst du so sicher zu wissen, dass Sean sie getötet hat?«, wiederholte sie ihre Frage.
Er sah sie unverwandt an. »In Wirklichkeit willst du wissen, ob ich beweisen kann, dass ich es nicht selbst war.«
Sie spürte die Schamröte auf ihrem Gesicht. Auf keinen Fall wollte sie ihn belügen. »Ja.«
Weder machte er ihr für diesen Gedanken Vorhaltungen, noch schob er die Frage einfach beiseite.
»Sie war schon kalt, als ich sie gefunden habe«, gab er zur Antwort. »Er hat versucht, mir die Schuld an ihrem Tod zu geben. Die Polizei hätte sich dieser Theorie nur allzu gern angeschlossen, aber zur Zeit ihrer Ermordung war ich zusammen mit dem Vizekönig in dessen Residenz im Phoenix Park.
»Doch«, stimmte sie zu und spürte, wie eine Last von ihr wich. Seelenschmerz war eine Sache, aber wenn keine Schuld dazukam, handelte es sich um eine Wunde, die wieder heilen würde. »Es … es tut mir leid, dass ich das fragen musste. Vielleicht hätte ich wissen müssen, dass du das nie getan hättest. «
»Es wäre mir lieb, wenn du gut von mir dächtest, Charlotte«, sagte er ruhig. »Aber ebenso sehr liegt mir daran, dass du mich als wirklichen Menschen ansiehst, der zum Guten wie zum Schlechten gleichermaßen fähig ist, der Mitleid und auch Scham empfinden kann …«
»Viktor … bitte …«
Er wandte sich langsam ab und sah ins Kaminfeuer. »Entschuldigung. Es wird nicht wieder vorkommen.«
Leise verließ sie den Raum und ging nach oben in ihr Zimmer. Sie musste allein sein, und was auch immer sie oder er sagen konnte, es würde die Sache nur verschlimmern.
Am nächsten Morgen trafen sie einander beim Frühstück. Nach einer schlechten Nacht hatte Charlotte leichte Kopfschmerzen; er war zwar müde, barst aber so vor Tatendrang, dass man die Ereignisse des Vortages für einen bösen Traum hätte halten können, für etwas, was nie geschehen war.
Während Charlotte Toast mit Orangenmarmelade bestrich, kam Mrs Hogan mit einem Brief für Narraway herein, den ein Bote abgegeben hatte. Narraway dankte ihr und öffnete den Brief.
Charlotte sah ihn aufmerksam an, konnte aber auf seinem Gesicht nichts anderes als einen Ausdruck von Überraschung sehen. Als er den Blick hob, merkte er, dass sie ihn erwartungsvoll ansah.
»Von Cormac. Ich soll ihn gegen Mittag aufsuchen. Er will mir sagen, was geschehen ist, und mir Beweise liefern.« Sie war verwirrt, dachte an den Hass des Mannes, den Schmerz, der ebenso stark zu sein schien, wie er wohl an jenem Tag in der fernen Vergangenheit gewesen war. Sie beugte sich vor. »Du solltest besser nicht hingehen, nicht wahr?«
Er legte den Brief auf den Tisch. »Ich bin gekommen, um die Wahrheit zu erfahren, Charlotte. Vielleicht höre ich sie aus seinem eigenen Munde, selbst wenn das nicht seine Absicht sein sollte. Ich muss unbedingt hin.«
»Aber er hasst dich nach wie vor aus tiefster Seele«, gab sie zu bedenken.
»Das ist mir bewusst«, versicherte er ihr, berührte mit seiner sehnigen Hand flüchtig ihren Arm und zog sie gleich wieder zurück. »Aber ich kann es mir nicht leisten, diese Gelegenheit ungenutzt vorübergehen zu lassen. Auch ich habe nichts zu verlieren. Falls Cormac hinter dem Verrat an Mulhare steckt, muss ich wissen, wie er das angestellt hat, und eine Möglichkeit finden, es Croxdale zu beweisen.« Sein Gesicht spannte sich erneut an. »Vor allem aber muss ich dahinterkommen,
Wortlos nickte sie, fest entschlossen, ihm zu folgen und ihn nicht aus den Augen zu lassen.
Er verließ das Haus mit gemächlichem Schritt, so, als wolle er sich nur ein wenig die Beine vertreten. Doch als sie, in ein Umschlagtuch gehüllt, aus der Haustür kam, sah sie, wie er dem Ende der Straße so eilig entgegenstrebte, dass ihr kaum Zeit blieb, die Tür hinter sich zu schließen. Ein kleines Stück musste sie sogar im Laufschritt zurücklegen, um den Abstand nicht zu groß werden zu lassen. Sie hatte ihr Ridikül mitgenommen, mit genug Geld darin, um bei Bedarf auch eine lange Droschkenfahrt bezahlen zu können.
Er bog um die Ecke in die Hauptstraße. Wenn sie ihn nicht aus den Augen verlieren wollte, musste sie den Schritt beschleunigen. Ganz wie sie vermutet hatte, trat er auf die erste der wartenden Droschken zu und stieg ein, nachdem er einige Worte mit dem Kutscher gewechselt hatte.
Rasch drehte sie sich um und tat so, als musterte sie die Auslage eines Geschäfts. Sobald die Droschke vorübergerollt war, hielt sie Ausschau nach der nächsten und nannte dem Kutscher Cormac O’Neils Adresse, wobei sie ihn zugleich aufforderte, so schnell wie möglich zu fahren.
»Sie bekommen einen Shilling zusätzlich, wenn es Ihnen gelingt, Ihren Kollegen einzuholen, der vor einer Weile hier abgefahren ist«, versprach sie.
Sie beugte sich vor und spähte angespannt hinaus, während die Droschke über das Pflaster rumpelte. Nachdem eine Straßenecke umrundet war, trieb der Kutscher die Pferde erneut zu einer schnelleren Gangart an. Sie hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wo sie sich befanden, und obwohl die Fahrt kaum länger als eine Viertelstunde dauerte, kam sie ihr
Als sie ausgestiegen war, dauerte es einen Moment, bis sie wieder fest auf den Beinen stand. Sie dankte dem Kutscher, gab ihm mehr, als er verlangt hatte, und legte den versprochenen Shilling noch dazu.
Dann strebte sie erneut über den schmalen Weg, den sie am Vorabend im Dunkeln gegangen war, auf das Haus zu. Jetzt, in der Helligkeit des Tages, schien er ihr länger zu sein, kamen ihr die Büsche zu beiden Seiten beengender vor. Vielleicht lag das daran, dass die Kronen der Bäume über ihr das Sonnenlicht nicht durchließen.
Sie hatte die Haustür noch nicht ganz erreicht, als sie ein wütendes Kläffen hörte. Konnte das derselbe Hund sein, der am Vorabend so friedlich mit dem Kopf auf den Pfoten zu O’Neils Füßen gelegen und sie so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen hatte? Es überraschte sie, dass sich Cormac nicht um das Bellen zu kümmern schien. Er konnte es unmöglich nicht gehört haben.
Die Haustür gab schon bei einer leichten Berührung ihrer Finger nach und öffnete sich.
Narraway stand in der Diele und fuhr herum, als von draußen Licht hereinfiel. Einen Augenblick lang war er verblüfft, fasste sich aber sogleich wieder.
»Ich hätte es mir denken müssen«, sagte er mit finsterer Miene. »Warte hier.«
Inzwischen hatte sich das wütende Gebell des Hundes noch gesteigert. Es klang, als werde er jeden zerreißen, der in seine Nähe kam, sobald man die Tür des Zimmers öffnete, in dem er sich befand.
Charlotte dachte nicht daran, Narraway allein zu lassen. Sie trat näher und sah sich suchend nach dem Schirmständer um, den sie am Vorabend gesehen hatte. Sie nahm einen schwarzen
Narraway trat auf die Tür des Wohnzimmers zu, rechts von dem sich der Hund hörbar gegen die Tür zu einem anderen Raum warf, wobei er nun auf eine Weise knurrte, als habe er einen Feind oder Beute gewittert.
Narraway öffnete die Tür und blieb sofort reglos stehen. An seiner Schulter vorüber sah Charlotte, dass Cormac O’Neil rücklings auf dem Boden lag. Um die Überreste seines Kopfes herum bildete sich eine Blutlache.
Sie musste unwillkürlich schlucken und gab sich große Mühe, die in ihr aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. Noch am Vortag hatte ihr dieser Mann lebend gegenübergesessen, hatte gewütet und Tränen wegen seines Grams vergossen. Jetzt war von ihm nichts übrig als ein toter Körper, der darauf wartete, von Menschen gefunden zu werden, denen möglicherweise nicht das Geringste an ihm lag.
Narraway trat zu Cormac, beugte sich vor und berührte dessen Wange mit den Fingerspitzen.
»Er ist noch warm«, sagte er und sah sich zu Charlotte um. Er musste laut sprechen, um das Gebell des Hundes zu übertönen. »Wir müssen die Polizei rufen.«
Kaum hatte er das gesagt, als sie hörten, wie die Haustür gegen die Wand schlug. Dann folgten Schritte.
Schon im nächsten Augenblick schrie eine Frau mit schriller Stimme auf. Charlotte sah sich um und erkannte Talulla Lawless. Sie war aschfahl, hatte die Hand vor den Mund geschlagen und starrte mit ihren wilden schwarzen Augen an Charlotte und Narraway vorbei zu dem am Boden liegenden Cormac hin.
Ein Polizeibeamter, der ihr auf dem Fuß gefolgt war, hielt hörbar den Atem an, als er das Bild sah, das sich ihm bot.
Am ganzen Leibe zitternd, stieß Talulla hervor, wobei sie wilde Blicke auf Narraway warf: »Ich habe meinen Onkel gewarnt. Nach dem, was gestern passiert ist, war mir klar, dass Sie ihn umbringen würden. Aber er wollte nicht auf mich hören. Ich habe es ihm gesagt! Ich habe es ihm gesagt!« Ihre Stimme wurde immer schriller, bis sie sich überschlug.
Der Polizist trat vor und fragte mit einem Blick zu Charlotte und Narraway: »Was ist hier vorgefallen?«
»Er hat meinen Onkel umgebracht, sehen Sie das nicht?«, kreischte Talulla. »Hören Sie doch, wie der arme Hund bellt! Lassen Sie den bloß nicht raus, sonst reißt er den Mörder in Stücke! Sein unaufhörliches Gebell hat mich überhaupt erst aufmerksam gemacht.«
»Er war schon tot, als wir hier ankamen«, schrie Charlotte sie an. »Wir wissen ebenso wenig wie Sie, was hier passiert ist.«
Narraway trat auf den Polizeibeamten zu. »Ich bin als Erster hereingekommen«, sagte er. »Die Dame hat draußen gewartet. Sie hat nichts mit der Sache zu tun. Sie kannte Mr O’Neil erst seit ganz kurzer Zeit; ich hingegen kenne ihn seit zwanzig Jahren. Bitte lassen Sie sie gehen.«
Talulla stieß ihre Hand vor und wies mit dem Finger auf den Boden. »Da liegt die Pistole! Gleich neben ihm. Dieser Mann hatte nicht mal die Zeit, sie fortzunehmen.«
»Natürlich nicht«, gab Charlotte zurück. »Wir sind schließlich gerade erst angekommen. Wenn Sie den …«
»Nicht, Charlotte«, sagte Narraway mit solchem Nachdruck, dass sie den Mund sogleich schloss. Erneut sah er den Polizisten an. »Ich bin als Erster ins Haus gekommen. Bitte lassen Sie die Dame gehen. Wie ich schon gesagt habe, kannte sie Mr O’Neil nur flüchtig und erst seit kurzer Zeit, ich hingegen schon seit vielen Jahren. Zwischen uns bestand eine alte Feindschaft, die erneut aufgebrochen ist. Das stimmt doch, Miss Lawless?«
»Ja!«, sagte diese mit Nachdruck. »Als der Hund angefangen hat zu bellen, konnte ich das von meinem Haus aus hören. Ich wohne nur ein paar Schritte von hier, gleich da drüben. Wenn das ein anderer getan hätte, hätte das Tier schon viel früher gebellt. Da können Sie alle fragen.«
Der Beamte ließ den Blick zwischen der Leiche, Narraway, dessen Schuhspitzen von Blut bedeckt waren, und Charlotte hin und her wandern, die mit kalkweißem Gesicht an der Tür stand. Der Hund bellte nach wie vor wie rasend und bemühte sich offenbar verzweifelt, aus dem Raum hinauszugelangen, in den ihn wohl jemand gesperrt hatte.
»Ich bedaure, aber Sie werden mitkommen müssen. Es wäre für alle das Beste, wenn Sie keine Schwierigkeiten machten. «
»Ich habe nicht die geringste Absicht, Ihnen Schwierigkeiten zu machen«, teilte ihm Narraway mit. »Sie können schließlich nichts dazu. Gestatten Sie mir, dass ich der Dame etwas Geld gebe, damit sie für den Heimweg eine Droschke nehmen kann? Das muss für sie ein entsetzlicher Schock gewesen sein.«
Der Polizeibeamte sah verwirrt drein. »Sie war mit Ihnen zusammen, Sir«, sagte er.
»Nein«, korrigierte ihn Narraway. »Sie ist nach mir eingetroffen. Sie war nicht hier, als ich ins Haus gekommen bin. Gleich nach meinem Eintreten hat O’Neil Streit angefangen, mich angegriffen, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich zu verteidigen.«
»Sie sind gekommen, weil Sie ihn umbringen wollten!«, stieß Talulla hervor. »Er hat Sie als den Lügner und Betrüger bloßgestellt, der Sie sind, und dafür gesorgt, dass Sie Ihre Anstellung verlieren. Dafür wollten Sie sich rächen. Sie sind mit der Absicht gekommen, ihn zu erschießen.« Sie sah zu Charlotte hin. »Können Sie das bestreiten?«
»Ja, das kann ich«, gab Charlotte hitzig zurück. »Zwar stimmt es, dass ich erst nach Mr Narraway hier angekommen bin, aber zwischen unserem Eintritt lagen nur wenige Sekunden. Er befand sich erst in der Diele, als ich hereinkam. Die Tür zum Wohnzimmer war geschlossen. Wir haben Mr O’Neils Leiche im selben Augenblick entdeckt.«
»Lüge!«, schrie Talulla wieder. »Sie sind seine Geliebte und würden alles decken, was er sagt.«
Charlotte keuchte.
Ein belustigter und zugleich schmerzvoller Blick trat in Narraways Augen. Er wandte sich dem Polizisten zu: »Das stimmt nicht. Lassen Sie sie bitte gehen. Sofern Sie den Droschkenkutscher ausfindig machen können, mit dem Mrs Pitt gekommen ist, wird er Ihnen bestätigen, dass sie nach mir eingetroffen ist, und er muss auch gesehen haben, dass sie allein ins Haus gegangen ist. Wie Sie selbst bemerkt haben, ist O’Neil erschossen worden. Fragen Sie den Kutscher, ob er einen Schuss gehört hat.«
Der Beamte nickte. »Sie haben Recht, Sir.« Zu Talulla sagte er: »Und Sie gehen bitte nach Hause, Ma’am. Ich kümmere mich um die Angelegenheit.« Dann sah er zu Charlotte hin und erklärte: »Sie können gehen. Aber bleiben Sie bitte auf jeden Fall in Dublin. Wir müssen später noch mit Ihnen sprechen. Wo wohnen Sie?«
»Molesworth Street Nummer 7.«
»Danke, Ma’am. Das ist alles. Und jetzt lassen Sie mich bitte meine Arbeit tun.«
Es blieb Charlotte nichts anderes übrig, als hilflos mit anzusehen, wie ein zweiter Beamter, der inzwischen hereingekommen war, Narraway Handfesseln anlegte und ihn zu Talullas unübersehbarer Befriedigung hinausführte.
Benommen und schrecklich allein lief sie über den schmalen Gartenweg zur Straße.