KAPITEL 6

Pitt machte sich Sorgen. Er stand im Sonnenschein an der Brüstung der Stadtmauer hoch über Saint Malo und sah von dort auf das blaue Wasser des Ärmelkanals hinaus. Das auf den Wellen tanzende Licht blendete so sehr, dass er die Augen zusammenkneifen musste. In der Bucht fiel das Segel eines Bootes schlaff, weil der Mann an der Pinne ein Wendemanöver durchführte.

Die alte und schöne Stadt Saint Malo hätte er bei anderer Gelegenheit sicherlich interessant gefunden. Wäre er mit seiner Familie hier gewesen, um Ferien zu machen, wäre er begeistert durch die mittelalterlichen Straßen und Gassen gestreift und hätte sich bemüht, mehr über die dramatische Geschichte des Ortes zu erfahren.

Aber so ließ ihn der Gedanke nicht los, dass er und Gower nur ihre Zeit vergeudeten. Sie beobachteten Frobishers Haus jetzt seit nahezu einer Woche, ohne etwas zu sehen, was ihnen den geringsten Hinweis darauf geliefert hätte, um welchen Geheimnisses willen Wrexham den zu Informationen an den Sicherheitsdienst bereiten West umgebracht haben könnte. Besucher kamen und gingen, Männer und Frauen. Weder Pieter Linsky noch Jacob Meister war ein zweites Mal aufgetaucht, wohl aber hatte es Abendgesellschaften mit mindestens

Gower, dessen Gesicht einen kräftigen Sonnenbrand aufwies, schlenderte über den Rundweg. Seine Haare wehten im Wind. Er blieb ein oder zwei Schritte von Pitt entfernt stehen und beugte sich dann ebenfalls über die Brüstung, als beobachte er das Segelboot.

»Wohin ist er?«, erkundigte sich Pitt leise, ohne ihn anzusehen.

»Ins selbe Café wie immer«, gab Gower zur Antwort. Gemeint war Wrexham, den sie abwechselnd Tag für Tag beschatteten. »Ich bin nicht reingegangen, weil ich nicht gesehen werden wollte. Derselbe dürre Mann wie beim vorigen Mal ist auch reingegangen und nach etwa einer halben Stunde wieder rausgekommen.«

Er sprach etwas rascher, und seine Stimme hob sich, als er fortfuhr: »Ich hab so getan, als ob ich auf jemand wartete, und die beiden eine Weile durch das offene Fenster beobachtet. Sie haben darüber geredet, dass noch mehr Leute kommen, ziemlich viele sogar. Es sah so aus, als ob sie die auf einer Liste abhakten. Die haben auf jeden Fall was vor.«

Pitt hätte gern die gleiche Erregung empfunden, wie sie sein Untergebener an den Tag legte, aber was sie im Laufe der vergangenen Woche erlebt hatten, schien ihm zu unergiebig. Er sah darin nichts, was bedeutende politische Veränderungen ankündigte. Seit langem beschäftigen er und Narraway sich gründlich mit Revolutionären, Anarchisten, Aufwieglern und Unruhestiftern aller Art. Was hier stattfand, wirkte viel zu beschaulich, es schien das harmlose Gerede von Leuten zu sein, die zu keinen wirklichen Risiken bereit waren. Gower war jung und hatte, womöglich unbewusst, den Eindruck, dass sie

»Die Leute haben sich noch mehr Austern kommen lassen«, bemerkte Pitt. »Wahrscheinlich gibt es da wieder eine große Gesellschaft. Ganz gleich, wie Frobishers politische Ansichten in Bezug auf die Veränderung der Lebensumstände der Armen aussehen, er scheint sich oder seinen Gästen auf keinen Fall etwas versagen zu wollen.«

»Er dürfte kaum rumziehen und lauthals aller Welt verkünden, was er vorhat … Sir«, gab Gower rasch zurück. »Solange man ihn für einen reichen harmlosen Idealisten hält, der nicht im Traum daran denkt, nach seiner Theorie zu leben, wenn er sich Freunde einlädt, wird ihn niemand ernst nehmen. Wahrscheinlich gibt es für ihn keine bessere Tarnung.«

Pitt dachte eine Weile darüber nach. Zweifellos hatte Gower mit dieser Annahme Recht. Trotzdem war ihm unbehaglich zumute. Er war immer mehr überzeugt, dass sie dort in Saint Malo ihre Zeit vertrödelten, doch konnte er kein einziges rationales Argument dafür finden. Alles stützte sich auf seinen durch lange Erfahrung geschulten Instinkt.

»Und was ist mit all den anderen, die ständig kommen und gehen?«, fragte er und wandte sich Gower zu, der lächelnd den Sonnenschein auf seinem Gesicht genoss. Unter ihm überquerte eine Frau in einem modischen roten Kleid mit Puffärmeln und einem weiten Rock den kleinen Platz und verschwand in dem schmalen Gässchen, das nach Westen führte. Zufrieden nickend, blickte Gower ihr nach.

Dann wandte er sich mit einem Gesicht, auf dem ein Ausdruck von Ratlosigkeit lag, Pitt zu. »Das sind etwa ein Dutzend. Halten Sie die wirklich für harmlos, Sir? Natürlich abgesehen von Wrexham.«

»Meinen Sie, dass es sich um lauter wilde Revolutionäre handelt, die sich mit Erfolg bemühen, den Eindruck biederer Bürger mit einem langweiligen und friedlichen Leben zu erwecken?«, erkundigte sich Pitt.

Lange schwieg Gower, als müsse er sorgfältig überlegen, was er darauf erwidern wollte. Er wandte sich um, lehnte sich gegen die Mauerbrüstung und sah auf das Wasser. »Bestimmt hatte Wrexham einen Grund, West umzubringen«, sagte er bedächtig. »Er selbst war nicht gefährdet, wenn man davon absieht, dass man ihn als Anarchisten – oder wie auch immer er sich selbst nennt – ansehen konnte. Vielleicht will er gar kein allgemeines Durcheinander, sondern eine bestimmte Gesellschaftsordnung, die er für gerechter hält und in der die Menschen weniger ungleich behandelt werden als jetzt. Es kann aber auch sein, dass er eine radikale Reform des Regierungssystems anstrebt. Was die Sozialisten genau wollen, gehört zu den Dingen, die wir in Erfahrung bringen müssen. Die können Dutzende unterschiedlicher Ziele verfolgen …«

»Das tun sie auch«, fiel ihm Pitt ins Wort. »Ihnen allen aber ist gemeinsam, dass sie nicht bereit sind, auf Reformen zu warten, die in allgemeiner Übereinstimmung durchgeführt werden. Sie wollen sie dem Volk aufnötigen und ihre Durchsetzung notfalls mit Gewalt erzwingen.«

»Und wie lange würde es dauern, bis jemand freiwillig Reformen einführt?«, fragte Gower mit einem Anflug von Sarkasmus. »Wer hat je seine Macht aufgegeben, ohne dazu gezwungen zu werden?«

Pitt ging in Gedanken seine Geschichtskenntnisse durch. »Da fällt mir nichts ein«, gab er zu. »Deswegen nimmt das

»Ich bin nicht sicher, dass die ehemaligen Sklaven dieser Einschätzung zustimmen würden«, sagte Gower mit einer Stimme, in der Bitterkeit mitschwang. »Vielleicht möchte Wrexham gern die Nachfolge des Menschenfreundes und Sklavenbefreiers William Wilberforce antreten?«

Pitt sah ihn von der Seite an und schämte sich ein bisschen wegen seiner wenig durchdachten und unausgegorenen Äußerung über die Sklaverei.

»Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir genauer feststellen, was hier eigentlich gespielt wird«, sagte er. Es klang endgültig.

Gower richtete sich auf. »Wenn wir uns offen erkundigen, bekommt er mit Sicherheit Wind davon und nimmt sich sehr viel mehr in Acht. Unser einziger Vorteil, Sir, besteht darin, dass er von der Beschattung durch uns nichts weiß. Können wir es uns leisten, diesen Vorteil aufzugeben?« Er zog die Brauen zusammen und machte ein besorgtes Gesicht.

»Ich habe bereits ein paar Erkundigungen eingezogen«, sagte Pitt.

»Was?« Mit einem Mal lag leichter Ärger in Gowers Stimme.

Pitt war überrascht. Er gewann den Eindruck, dass sich hinter dem nach außen hin entspannt wirkenden Verhalten des Mannes eine innere Anteilnahme verbarg, die ihm bisher entgangen war. Das hätte ihm unbedingt auffallen müssen. Immerhin hatten sie auch vor Beginn der überraschenden Jagd, die sie nach Saint Malo geführt hatte, schon zwei Monate lang zusammengearbeitet.

»Ja, und zwar um herauszufinden, von wem ich unauffällig Informationen bekommen kann«, gab er mit gleichmütiger Stimme zurück.

»Und von wem?«, fragte Gower rasch.

»Einem gewissen John McIver, ebenfalls Engländer, der seit zwanzig Jahren hier lebt. Er ist mit einer Französin verheiratet. «

»Und Sie sind sicher, dass man dem Mann vertrauen kann, Sir?« Gower war nach wie vor skeptisch. »Ein einziges unbedachtes Wort, eine hingeworfene Bemerkung genügt, und Frobisher weiß, dass er überwacht wird. Dann könnten uns die wichtigen Leute wie Linsky und Meister durch die Lappen gehen.«

»Ich habe McIver nicht aufs Geratewohl herausgepickt«, sagte Pitt. Er verschwieg, dass er den Mann von einem gänzlich anders gelagerten Fall her kannte.

Gower holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. »Ja, Sir. Ich bleibe hier und behalte Wrexham im Auge, dann sehen wir ja, mit wem er zusammentrifft.« Mit einem plötzlichen Lächeln fügte er hinzu: »Vielleicht geh ich sogar runter zum Platz, seh die hübsche junge Frau mit dem schönen Kleid wieder und gönn mir ein Glas Wein.«

Während Pitt den Kopf schüttelte, spürte er, wie seine Anspannung nachließ. »Ich vermute, dass Ihr Nachmittag angenehmer wird als meiner«, sagte er bedauernd.


McIver wohnte rund acht Kilometer von Saint Malo entfernt auf dem Land. Er war von Pitts Besuch geradezu begeistert. Ganz offensichtlich schien er sich danach zu sehnen, mit jemandem in seiner Muttersprache reden zu können und aus erster Hand die letzten Neuigkeiten aus London zu erfahren.

»Natürlich vermisse ich London, aber verstehen Sie mich nicht falsch, Sir«, sagte er, während er sich, behaglich in seinen Gartenstuhl zurückgelehnt, von der Sonne bescheinen ließ. Er hatte Pitt Wein und Kekse angeboten und – nachdem

Jetzt wartete er darauf, dass McIver fortfuhr.

»Es gefällt mir hier. Die Franzosen sind möglicherweise das zivilisierteste Volk auf Erden – natürlich abgesehen von den Italienern. Sie verstehen wirklich zu leben und tun das auf eine Weise, die selbst alltägliche Dinge elegant erscheinen lässt. Doch manche Annehmlichkeit des Lebens in England fehlt mir durchaus. So habe ich schon seit Jahren keine anständige Orangenmarmelade mehr gegessen. Sie wissen schon – kräftig, aromatisch und ein wenig bitter.« Er seufzte, während die Erinnerung seine Züge verklärte. »Die Times am frühen Morgen, eine schöne Tasse Tee und einen Diener, den buchstäblich nichts aus der Ruhe bringt. Ich hatte mal einen, der den Engel der Apokalypse mit der gleichen Gelassenheit hätte ankündigen können, mit der er das Eintreffen der Herzogin von Malmsbury gemeldet hat.«

Pitt lächelte und verzehrte eine Scheibe Brot, zu der er einen Schluck Wein trank, bevor er auf den Zweck seines Besuchs zu sprechen kam.

»Ich muss unauffällig Erkundigungen einziehen. Im Auftrag der Regierung, Sie verstehen?«

»Selbstverständlich.« McIver nickte. »Was kann ich Ihnen sagen?«

»Frobisher. Einer unserer Landsleute, der in Saint Malo lebt. Wäre er der richtige Mann, wenn es um einen kleinen Dienst an seiner alten Heimat ginge? Seien Sie bitte offen. Es ist … wichtig. Sie verstehen doch?«

»Durchaus – durchaus.« McIver beugte sich leicht vor. »Ich würde Ihnen empfehlen, sich das gut zu überlegen, Sir. Ich kenne Ihren Auftrag nicht, Sir, aber Frobisher ist dafür kaum der Richtige.« Er machte eine kleine abschätzige Bewegung. »Er verkehrt mit einigen äußerst sonderbaren Gestalten. Er

Zwar hatte Pitt sich zu fragen begonnen, ob hinter Frobisher mehr steckte als das behagliche Leben, das er zu führen schien, doch war er bitter enttäuscht von McIvers Worten. Wenn die Informationen, die West ihnen hätte zukommen lassen und um derentwillen Wrexham ihn umgebracht hatte, nichts mit Frobisher zu tun hatten – was tat Wrexham dann noch in Saint Malo? Warum hatten Leute wie Linsky und Meister Frobishers Haus aufgesucht?

»Sind Sie sicher?«, fragte er.

»So sicher, wie man nur sein kann«, gab McIvers zurück. »Er stolziert prahlerisch herum, aber es steckt nichts dahinter. Es ist wie das Radschlagen eines Pfaus. Er hat in seinem Leben noch keinen Handschlag getan.«

»Bei ihm waren einige Besucher, die dafür bekannt sind, dass sie mit gewalttätigen Kreisen in Verbindung stehen«, blieb Pitt beharrlich bei der Sache. Er war nicht ohne weiteres bereit, sich einzugestehen, dass er und Gower sich für nichts und wieder nichts knapp eine Woche in Saint Malo aufgehalten hatten. Erst recht konnte er sich nicht vorstellen, dass man West ohne jeden Grund aus dem Weg geräumt hatte.

»Haben Sie die selbst gesehen?«, erkundigte sich McIver.

»Ja. Einer von denen ist unverkennbar«, teilte ihm Pitt mit. Noch während er das sagte, ging ihm auf, wie einfach es

Aber welcher Zweck steckte hinter all dem? Warum wurde diese Scharade gespielt?

Mit einem Schlag ging ihm auf: um ihn und Gower von ihrer eigentlichen Aufgabe fortzulocken. Bis zu diesem Augenblick war das den Leuten glänzend gelungen. Noch jetzt war Pitt verwirrt und bemühte sich, einen Sinn in dem Ganzen zu sehen, ohne zu wissen, was er als Nächstes tun sollte.

»Tut mir leid«, sagte McIver betrübt, »aber Frobisher ist ein Maulheld und Schaumschläger. Etwas anderes kann ich nicht über ihn sagen. Es wäre töricht, ihm in wichtigen Dingen zu vertrauen. Und ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie den weiten Weg wegen irgendwelcher Kinkerlitzchen gemacht haben. Ich bin nicht mehr der Jüngste und komme nicht mehr oft in die Stadt, aber falls ich etwas für Sie tun kann, brauchen Sie es nur zu sagen.«

Pitt zwang sich zu einem Lächeln. »Vielen Dank, aber es müsste schon jemand sein, der in Saint Malo wohnt. Auf jeden Fall bin ich Ihnen dankbar, dass Sie mich vor einem schlimmen Fehler bewahrt haben.«

»Nichts zu danken«, tat McIver das mit einer Handbewegung ab. »Nehmen Sie doch noch etwas Käse. Niemand macht so guten Käse wie die Franzosen – wenn man einmal von einem guten Wensleydale oder einem Caerphilly absieht, wie man sie in England bekommt.«

Pitt lächelte. »Mir ist ein vollfetter Gloucester am liebsten. «

»Ach ja«, stimmte McIver zu. »Hab ich ganz vergessen. Nun, sagen wir, die Käse-Partie zwischen England und Frankreich steht unentschieden. Aber gegen einen guten französischen Wein kommt nichts an.«

»Da haben Sie Recht«, gab Pitt zu.

McIver goss beiden noch einmal nach und lehnte sich wieder auf seinem Stuhl zurück. »Was sind die letzten Cricket-Ergebnisse? Ich höre hier so gut wie nie etwas darüber, und wenn, dann nur mit großer Verspätung. Wie steht Somerset zur Zeit da?«


Kurz vor Sonnenuntergang kehrte Pitt auf der leicht gewundenen Straße zurück. In der Luft hing ein blasser Goldschimmer von der Art, der die Gemälde alter Meister so unwirklich erscheinen lässt, dass sie aussehen wie erdachte Landschaften. Von Scheunen und Stallungen umgebene behäbige Bauernhäuser lagen am Weg. Die Bäume standen um diese frühe Jahreszeit noch nicht in vollem Laub, aber in den dicht an dicht sitzenden Blüten, die wie später Schnee wirkten, spiegelte sich der Schein der schwindenden Sonne. Es war windstill, man hörte keinen Laut, und nichts regte sich, wenn man davon absah, dass hin und wieder eine grasende Kuh den Kopf hob.

Im Osten kündigte sich die bevorstehende Dunkelheit lediglich durch ein leichtes Verblassen des Himmels hinter den über ihn hinwegziehenden Wolken an.

Sorgfältig ging Pitt in Gedanken alles durch, was sie wussten, versuchte einzuordnen, was er selbst gesehen oder gehört hatte, und verglich es mit allem, was Gower berichtet hatte.

Nichts davon ergab einen Sinn, also musste etwas fehlen – oder hatten sie etwas falsch bewertet?

Als ein Fuhrwerk vorüberkam, dessen Räder Staubwolken aufwirbelten, stieg Pitt der angenehme Geruch von Pferdeschweiß und frisch gepflügter Erde in die Nase. Der Fuhrmann

Inzwischen sank die Sonne rascher, und die Farben des Himmels wurden lebhafter. Eine leichte Brise strich durch das Gras und das frische Laub der Weiden, die stets als erste Bäume den Frühling verkündeten. Mit rauschendem Flügelschlag stieg ein Vogelschwarm von einer rund hundert Schritt entfernten Baumgruppe auf, flog eine Runde und verschwand gleich darauf am Himmel.

Nach dem, was Pitt und Gower gesehen hatten, waren sie der Ansicht gewesen, es lohne sich, Frobishers Haus im Auge zu behalten. Falls sie Wrexham jetzt festnahmen, wäre das für alle Beteiligten ein unübersehbarer Hinweis darauf, dass der Sicherheitsdienst ihre Pläne kannte, und sie würden sie umgehend ändern.

Sie hätten den Mann gleich in London festnehmen sollen. Zwar hätte er ihnen nichts gesagt, aber sie hatten auch so nichts in Erfahrung gebracht, sondern lediglich kostbare Zeit vergeudet.

Wie hatte er das nur zulassen können? West hatte ihnen wichtige Informationen versprochen und das Treffen mit ihnen vereinbart. Pitt sah den Brief noch vor sich, die in fehlerhafter Rechtschreibung und vielleicht vor Angst schief und eilig hingekritzelten Wörter, die Tintenkleckse auf dem Papier.

Niemand außer Gower und ihm hatte davon gewusst. Auf welche Weise also hatte Wrexham davon erfahren? Wer hatte West verraten? Es konnte nur einer von denen gewesen sein, die an der Planung dessen beteiligt waren, was ihnen der arme West hatte enthüllen wollen.

Wieso hatte West Fersengeld gegeben, als sich Pitt und Gower dem vereinbarten Treffpunkt genähert hatten? Sie hatten

Ob das stimmte? War es ein entsetzlicher Zufall gewesen, dass West auf Wrexham gestoßen war?

Noch einmal ging Pitt in Gedanken den Weg, den sie genommen hatten. Er kannte Londons Straßen und Gassen gut genug, um sie vor seinem inneren Auge wie auf einem Stadtplan zu sehen und ihnen Schritt für Schritt zu folgen. Außer ihnen war niemand aus der Menschenmenge gerannt. West war um eine Ecke geeilt und aus Pitts Blickfeld verschwunden. Gower war ihm gefolgt und hatte einen Arm ausgestreckt, um Pitt die Richtung anzuzeigen, in die es ging. Pitt hatte in der langen, schattigen Gasse vielen Menschen ausweichen müssen, und dann hatte die nächste Hauptstraße schon vor ihnen gelegen, als Gower bei dem Versuch, West zu schnappen, gestrauchelt, gegen eine Mauer geprallt und stehen geblieben war.

Pitt hatte West eine ganze Weile allein weiterverfolgt und schließlich aus den Augen verloren – und dann war Gower unvermittelt aus einer Seitenstraße zu ihm gestoßen und hatte ihn mit sich gezogen. Er hatte genau gewusst, welchen Weg sie weiter nehmen mussten, und Pitt geradewegs zu Wests Leichnam geführt.

Pitt stolperte und blieb stehen. Mit einem Mal war ihm alles klar: Gower war ein glänzender Läufer. Er hätte, nachdem er gegen die Mauer geprallt war und einen Moment innegehalten hatte, Pitt und West in einigem Abstand folgen und dann, während Pitt die Fährte verloren hatte, mit etwas mehr Glück West auf den Fersen bleiben und ihn auf Höhe

Dies »anderswo« konnte nur London sein, weil es andernfalls sinnlos gewesen wäre, Pitt von dort wegzulocken.

Gower also. In einer Viertelstunde oder zwanzig Minuten würde Pitt wieder in Saint Malo sein. Gower würde höchstwahrscheinlich schon in ihrer Pension auf ihn warten. Mit einem Mal sah Pitt ihn nicht mehr als den umgänglichen und ehrgeizigen jungen Mann, als der er ihm noch am Vormittag erschienen war, sondern als einen gerissenen und äußerst gefährlichen Fremden, den er nur oberflächlich kannte. Er wusste von Gower, dass er einen tiefen Schlaf hatte, leicht Sonnenbrand bekam, gern Schokoladenkuchen aß, sich gelegentlich beim Rasieren schnitt, auf dunkelhaarige Frauen flog und recht gut singen konnte. Er hatte aber nicht die geringste Vorstellung davon, woher der Mann kam, woran er glaubte oder auf wessen Seite er stand – kurz, von all den Dingen, auf die es ankam und die seine Handlungsweise in dem Augenblick bestimmen würden, da man ihm die Maske vom Gesicht riss.

Jetzt sah sich Pitt mit einem Mal genötigt, selbst eine Maske zu tragen, denn sein Leben konnte davon abhängen, dass er Gower etwas vorspielte. Mit einem Frösteln dachte er daran,

Pitt hatte niemanden, an den er sich wenden konnte. In Frankreich wusste man nicht, wer er war, und von London konnte er vor Ort keinerlei Unterstützung erwarten. Ebenso gut hätte Saint Malo in einer anderen Welt liegen können. Selbst wenn er ein Telegramm an Narraway schickte, würde das nichts bewirken. Gower würde einfach irgendwohin verschwinden – Europa war groß.

Er ging weiter. Die Sonne hatte jetzt den Horizont erreicht und würde binnen weniger Minuten nicht mehr zu sehen sein. Bis er die Stadt erreichte, würde es so gut wie dunkel sein. Bis er an ihrer Pension ankam, blieb etwa eine Viertelstunde, sich zu entscheiden, was er tun wollte. Ein winziger Fehler, ein falsches Wort konnte sein Ende bedeuten.

Er dachte an die wilde Jagd durch das East End, in deren Verlauf sie schließlich den Bahnhof erreicht hatten. Selbstkritisch gestand er sich ein, dass er es Gower äußerst leicht gemacht hatte, ihn an der Nase herumzuführen. Immer wieder hatte Gower es verstanden, zu erreichen, dass sie Wrexhams Fährte nicht vollständig verloren, und die Sache dennoch als echte Verfolgungsjagd darzustellen. Wann immer sie den Mann kurz aus den Augen verloren hatten, war es stets Gower gewesen, der die Spur wiedergefunden hatte. Er hatte Pitt mit dem Hinweis, wie nützlich es sein könne, Wrexham zu beschatten, um mehr zu erfahren, daran gehindert, ihn festzunehmen. Auch hatte Gower genug Geld in der Tasche

Und hatte nicht auch Gower gesagt, er habe Linsky und Meister gesehen – und Pitt hatte ihm geglaubt?

War Wrexham in den Plan eingeweiht gewesen, Pitt aus London wegzulocken? Hatte er genau gewusst, was er tat, und die Gründe dafür gekannt? Warum aber hatte er dann nicht auch West getötet? War seine Angst, waren seine Bedenken zu groß gewesen? Hatte man ihm nicht genug dafür geboten?

Ganz offensichtlich musste Pitt umgehend nach London zurück. Die Frage war nur, was er Gower sagen, welchen Grund er dafür angeben sollte. Gower würde wissen, dass keine Mitteilung aus Lisson Grove gekommen war, denn die hätte man ihnen ins Haus gebracht. Pitt konnte auch nicht so tun, als habe er sie am Postamt abgeholt, denn Gower brauchte lediglich dort nachzufragen, um festzustellen, dass das nicht der Wahrheit entsprach.

Die Sonne stand jetzt als leuchtender orangefarbener Halbkreis über dem lila flammenden Horizont. Die Schatten, die auf die Straße fielen, wurden allmählich dunkler.

Sollte Pitt versuchen, Gower zu entkommen, indem er einfach zum Hafen ging und dort die nächste Fähre nach Southampton nahm? Die kam aber möglicherweise erst am nächsten Morgen. Bis dahin würde Gower begreifen, was geschehen war, und irgendwann in der Nacht nach ihm suchen. Außerdem trug Pitt wegen des warmen Nachmittags nur ein leichtes Jackett; seine warmen Sachen waren in der Pension.

Der Gedanke, an Ort und Stelle den Kampf gegen Gower aufzunehmen, war abwegig. Sogar wenn es ihm gelang, ihn zu besiegen – und das war äußerst zweifelhaft, denn Gower war jünger und außerordentlich gestählt –, was würde er dann mit ihm tun? Er hatte keine Möglichkeit, ihn festzunehmen. Würde er ihn gefesselt und geknebelt im Zimmer liegenlassen

Aber sicherlich verfügte Gower am Ort über Helfer. Dieser Gedanke ernüchterte Pitt wie ein Guss kalten Wassers. Wie viele der Menschen in Frobishers Haus waren in den Plan eingeweiht? Die einzige Möglichkeit, die Pitt hatte, bestand darin, Gower zu täuschen, ihn in dem Glauben zu lassen, er hege keinerlei Verdacht. Das aber würde alles andere als einfach sein. Die geringste Änderung in seinem Verhalten würde ihn verraten. Eine leichte Befangenheit, ein Zögern, ein zu sorgfältig gewählter Ausdruck, und Gower würde merken, dass Pitt ihn und seine Machenschaften durchschaut hatte.

Wie nur konnte er begründen, dass sie nach London zurückkehren mussten? Welcher Vorwand würde Gower glaubhaft erscheinen?

Oder sollte er sagen, er werde allein zurückkehren und Gower solle am Ort bleiben, um weiterhin Frobisher und Wrexham zu beschatten, für den Fall, dass etwas an der Sache war? Für den Fall, dass Meister oder Linsky zurückkehrten? Oder einer der anderen, den Gower erkennen konnte? Dieser Einfall erleichterte ihn unaussprechlich. Es kam ihm vor, als befände er sich schon auf der Flucht in die Freiheit. Er würde allein und in Sicherheit sein, während Gower in Frankreich bliebe.

Im nächsten Augenblick verachtete er sich wegen seiner Feigheit. Als er in jungen Jahren angefangen hatte, auf den Straßen Londons Streife zu gehen, war er auf ein gewisses Maß an Gewalttätigkeit gefasst gewesen und damit auch tatsächlich hin und wieder in Berührung gekommen. Es hatte eine Reihe wilder Verfolgungsjagden gegeben, an deren Ende es oft zu körperlichen Auseinandersetzungen gekommen war. Doch nach seiner Beförderung zum Leiter der Wache in der Bow Street hatte er als Angehöriger der Kriminalpolizei in gehobener

All das hatte aber nichts mit körperlicher Gewalttätigkeit zu tun gehabt, und die geistige Auseinandersetzung hatte sein eigenes Leben nicht bedroht.

Als es vollends dunkel wurde, erhob sich eine frische Brise. Ihn fröstelte, und zugleich brach ihm der Schweiß aus. Er musste sich beherrschen. Gower würde es merken, wenn er nervös war; er würde sicherlich auf solche Anzeichen achten. Dann wäre es für ihn das Nächstliegende zu vermuten, dass Pitt ihn durchschaut hatte.

Er musste sich jetzt jedes Wort genau überlegen, das er sagen würde, durfte sich nicht den geringsten Fehler erlauben.


Gower war bereits zu Hause, als Pitt eintrat. Er saß in einem behaglichen Sessel, ein Glas Wein auf dem Tischchen neben sich, und las in einer französischen Zeitung. Trotzdem sah er sehr englisch aus, was wohl auch an seinem unübersehbaren Sonnenbrand lag. Bei Pitts Eintreten hob er den Blick, lächelte, als er dessen schmutzige Stiefel sah, und stand auf.

»Kann ich Ihnen ein Glas Wein anbieten?«, fragte er. »Ich nehme an, Sie haben Hunger.«

Sogleich überfielen Pitt Zweifel. War seine Annahme lachhaft, dieser Mann habe blitzschnell und brutal West getötet und sich dann mit Unschuldsmiene daran gemacht, gemeinsam mit Pitt Wrexham bis Southampton und über den Ärmelkanal bis hierher in die Bretagne zu verfolgen?

Er durfte nicht zögern. Gower erwartete eine Antwort auf seine Frage, und sie musste natürlich und unbefangen klingen.

»Ja«, sagte er mit schiefem Lächeln, während er sich in den anderen Sessel fallen ließ. Dabei merkte er erst richtig, wie erschöpft er war. »Eine so lange Strecke bin ich schon lange nicht mehr marschiert.«

»Sind wohl an die fünfzehn Kilometer?« Gower hob die Brauen. Er stellte Pitt den Wein hin. »Haben Sie überhaupt etwas zu Mittag gehabt?« Er nahm wieder Platz und sah neugierig zu Pitt her.

»Brot mit Käse und ein gutes Glas Wein«, gab Pitt zurück. »Ich bin zwar nicht sicher, ob Rotwein und Käse gut miteinander harmonieren, aber es hat gut geschmeckt, wenn es auch kein Stilton war«, fügte er rasch hinzu für den Fall, dass Gower annahm, er wisse nicht, dass ein Herr zum Portwein ein wenig Stilton zu nehmen pflegte. Sie saßen wie Freunde beim Wein zusammen und unterhielten sich über Fragen der Etikette, als habe es keinen Toten gegeben und als stünden sie beide auf derselben Seite. Er musste sorgfältig darauf achten, sich durch diese absurde Situation auf keinen Fall von der tödlichen Wirklichkeit ablenken zu lassen.

»Und war es der Mühe wert?«, erkundigte sich Gower. In seiner Stimme lag nicht der kleinste verräterische Hinweis, und seine sehnige Hand, die das Glas hielt, zitterte nicht im Geringsten.

»Durchaus«, sagte Pitt. »Der Mann hat meine Vermutung bestätigt. Er hält Frobisher für einen Maulhelden und Schaumschläger.

»Und Wrexham?«, fragte Gower.

Einen Augenblick lang trat Schweigen ein. Von draußen hörte man Hundegebell, irgendwo sang jemand, und Gelächter erscholl.

»Bei ihm scheint die Sache anders auszusehen«, gab Pitt zurück. »Das wissen wir ja aus leidvoller Erfahrung selbst. Allerdings habe ich keine Ahnung, was er hier treibt. Ich hatte angenommen, ihm sei unbekannt, dass wir hinter ihm her sind, aber da habe ich mich vielleicht getäuscht.« Die Schlussfolgerung, die sich daraus ergab, ließ er unausgesprochen.

»Wir haben uns vorgesehen«, sagte Gower und tat, als überlege er. »Aber warum hält er sich hier bei Frobisher auf, wenn er nichts anderes im Sinn hat, als uns zu entkommen? Er könnte doch nach Paris weiterfahren oder sonstwohin?« Er stellte sein Glas auf das Tischchen und sah Pitt an. »Günstigstenfalls ist er ein Revolutionär und schlimmstenfalls ein Anarchist, der jede Ordnung umstoßen und Chaos an ihre Stelle setzen will.« In seiner Stimme lag beißende Verachtung. Sofern die gespielt war, fand Pitt, gehörte der Mann unbedingt auf die Bühne.

Er überdachte seinen Plan erneut. »Vielleicht wartet er hier auf jemanden und fühlt sich so sicher, dass er gar nicht auf uns achtet«, gab er zu bedenken.

»Wie wäre es, wenn derjenige, der erwartet wird, so wichtig ist, dass Wrexham das Risiko eingehen muss?«, hielt Gower dagegen.

»Damit haben Sie wohl Recht.« Pitt setzte sich bequemer hin. »Aber das kann dauern. Möglicherweise würden wir es nicht einmal merken, wenn es so weit ist. Ich denke, dass wir noch viel mehr Informationen brauchen.«

»Etwa von der französischen Polizei?«, fragte Gower in zweifelndem Ton. Auch er veränderte seine Haltung, wirkte aber eher ein wenig angespannt, als wolle er jeden Augenblick aufstehen.

Pitt zwang sich, es ihm nicht gleichzutun. Er musste unbedingt den Eindruck völliger Gelöstheit erwecken.

»Die haben unter Umständen andere Interessen als wir«, fuhr Gower fort. »Trauen Sie denen überhaupt, Sir? Wollen Sie denen tatsächlich sagen, was wir über Wrexham wissen und warum wir hier sind?« Sein Ausdruck war besorgt, seine Stimme klang kritisch, so, als hindere ihn lediglich seine untergeordnete Stellung daran, sich deutlicher auszudrücken.

Pitt zwang sich zu einem Lächeln. »Natürlich nicht. Wir haben weder eine Vorstellung davon, was die Leute wissen, noch eine Möglichkeit, auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen, was sie uns vielleicht sagen. Außerdem decken sich unsere Interessen womöglich in der Tat nicht mit den ihren. Vor allem aber möchte ich nicht, dass sie wissen, wer wir sind – da bin ich mit Ihnen ganz und gar einig.«

Gower zwinkerte rasch. »Und was schlagen Sie vor, Sir?«

Das war die einzige Chance, die Pitt haben würde. Er wäre gern aufgestanden, um reagieren zu können, falls ihn Gower plötzlich angriff. Doch er zwang seine Muskeln, sich zu entspannen, und blieb scheinbar bequem sitzen. Er ließ sich ein wenig weiter nach vorn gleiten und streckte die Beine, als sei er müde – was ihm nach seinem langen Fußmarsch nicht schwerfiel. Gott sei Dank hatte er gute Stiefel, auch wenn sie jetzt staubig und abgestoßen waren.

»Ich denke, dass ich nach London fahre und mich erkundige, was es in Lisson Grove Neues gibt«, sagte er. »Unter Umständen haben die da inzwischen eine ganze Reihe von Informationen, die sie uns nicht weitergegeben haben. Sie halten hier die Stellung bis zu meiner Rückkehr und achten weiterhin auf jede Bewegung Frobishers und Wrexhams. Mir ist bewusst, dass diese Aufgabe für einen Einzelnen unmäßig schwierig ist, aber uns ist bisher noch nie aufgefallen, dass die Leute nach Einbruch der Dunkelheit etwas anderes getan hätten, als Gäste zu empfangen.« Er wollte noch etwas hinzufügen, die Sache weiter erklären, begriff aber rechtzeitig, dass er damit nur Verdacht erregen würde. Als Gowers Vorgesetzter hatte er es nicht nötig, sich zu rechtfertigen.

»Ja, Sir, wenn Sie das für das Beste halten. Wann werden Sie zurück sein? Soll ich Ihr Zimmer für Sie freihalten?«, erkundigte sich Gower.

»Ja – bitte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich länger als zwei, höchstens drei Tage bleiben werde. Ich habe den Eindruck, dass wir im Augenblick im Dunkeln tappen.«

»In Ordnung, Sir. Wie wäre es jetzt mit Abendessen? Ich habe heute ein neues Gasthaus entdeckt. Da gibt es die beste Muschelsuppe, die Sie je gegessen haben.«

»Guter Gedanke.« Pitt stand ein wenig steif auf. »Ich nehme gleich morgen früh die erste Fähre.«


Der nächste Tag war diesig und deutlich kühler. Pitt hatte sich mit voller Absicht für die erste Fähre entschieden, um nicht gemeinsam mit Gower frühstücken zu müssen. Er fürchtete, in der scheinbar entspannten Atmosphäre einen Fehler zu begehen, der diesem sicher sofort auffallen würde. Ob Gower bereits etwas argwöhnte? War ihm bewusst, dass Pitt seine Tarnung durchschaut hatte? Während er durch die ihm inzwischen vertrauten Straßen dem Hafen entgegenstrebte, fiel es

Doch das wäre gar nicht nötig, denn zu seinen Verbündeten, Frobishers oder Wrexhams Leuten, konnte jeder Beliebige gehören. Wie wäre es beispielsweise mit dem Hafenarbeiter im Seemannspullover, der in einem Hauseingang die erste Zigarette des Tages rauchte, dem Mann, der auf einem Fahrrad über die Pflastersteine schaukelte, wenn nicht gar mit der jungen Frau mit dem Wäschekorb? Wieso nahm er an, dass Gower ihm selbst folgen würde? Wieso nahm er überhaupt an, dass er etwas gemerkt hatte? Dieser neue Gedanke vertrieb beinahe alle anderen Erwägungen. Wie ichbezogen war es von ihm, zu vermuten, dass Gower nichts Wichtigeres zu tun hatte, als hinter seine Gedanken zu kommen! Vielleicht ließen Pitt und was er wusste oder zu wissen glaubte, ihn ohnehin völlig kalt.

Während er den Schritt beschleunigte, kam er an einer Gruppe von Reisenden mit prall gefüllten Koffern und schweren Reisetaschen vorüber. Am Hafen sah er sich um, als suche er einen Bekannten, und war erleichtert, ausschließlich unbekannte Gesichter zu sehen. Er merkte, dass der Wind aufgefrischt hatte und den Geruch von Salz mit sich brachte.

Zweimal musste er sich in eine Schlange einreihen – vor dem Fahrkartenschalter und an der Landungsbrücke. Sobald er das leichte Schwanken des Decks unter seinen Füßen spürte, fühlte er sich in Sicherheit.

Pitt stand an der Reling und hielt den Blick auf die Landungsbrücke und den Kai gerichtet. Über ihm schossen kreischend die Möwen durch die Luft. Er hoffte, dass er aussah wie jemand, der voll angenehmer Erinnerungen einen letzten

Zweimal glaubte er, ihn entdeckt zu haben, doch beide Male war es ein Fremder. Es hatte einfach an den hellen Haaren gelegen oder an der Art, wie der Betreffende den Kopf hielt. Pitt schalt sich töricht wegen der Angst, die er empfand, während in Wahrheit womöglich keinerlei Gefahr bestand. Vielleicht reichte diese Angst so tief, weil ihm am Vortag auf dem Rückweg in die Stadt zum ersten Mal der Gedanke gekommen war, dass Gower der Mörder Wests war und es sich bei Wrexham lediglich um einen Mitwisser, wenn nicht gar um einen gänzlich Unschuldigen, handelte. Er konnte ohne weiteres jemand sein, der sich als Sozialist ausgab und sich ähnlich wie Frobisher als Fanatiker aufspielte. Was Pitt bestürzt hatte, war das Entsetzen, mit dem ihm aufgegangen war, wie blind und dumm er gewesen war, wie wenig er andere Möglichkeiten in Erwägung gezogen hatte. Er würde sich schämen, wenn er Narraway davon berichtete, aber ihm würde nichts anderes übrigbleiben. Um dies Eingeständnis würde er nicht herumkommen.

Endlich wurde der Anker gelichtet, und die Fähre lief aus. Pitt blieb an der Reling stehen und sah zu, wie die Türme und Mauern der Stadt kleiner wurden. Auf dem Wasser tanzte glitzernd das Sonnenlicht. An der Ausfahrt des Hafens schwappte und schlug das auflaufende Wasser gegen den Fuß der dortigen Befestigungsanlage. So früh am Vormittag sah man nur wenige Segelboote: Fischer, die in aller Herrgottsfrühe hinausgefahren waren, um ihre Hummerkörbe einzuholen.

Er versuchte, sich das Bild einzuprägen, um Charlotte berichten zu können, wie schön das alles war. Er würde ihr schildern, was er gesehen, gehört und geschmeckt hatte, seinen Eindruck, in frühere Zeiten zurückversetzt worden zu sein. Er nahm sich vor, eines Tages mit ihr dorthin zu fahren und mit ihr in einem der Gasthöfe zu essen, wo es so herrliche Muschelgerichte, Austern und Hummer gab. Charlotte kam so gut wie nie aus London heraus, von Auslandsreisen ganz zu schweigen. Bestimmt würde sie das freuen; es wäre einmal etwas anderes. So lebhaft stellte er sich vor, sie wiederzusehen, dass er den Duft ihres Haares zu riechen und den Klang ihrer Stimme zu hören glaubte. Er würde sich nicht lange bei dem aufhalten, was ihn nach Frankreich geführt hatte, sondern ihr nur die guten Dinge berichten.

Jemand stieß ihn an, und er reagierte nicht sogleich. Dann überlief ihn ein Schauder, als er merkte, wie unaufmerksam er gewesen war.

Der Mann entschuldigte sich.

Nur mit Mühe gelang es Pitt zu sprechen. Sein Mund war völlig ausgetrocknet. »Nicht weiter schlimm.«

Der Mann lächelte. »Es hat mich von den Beinen gehauen. Bin nicht an den Seegang gewöhnt.«

Pitt nickte, trat aber von der Reling zurück und suchte den Salon auf. Dort blieb er während der ganzen Überfahrt, trank Tee und frühstückte: frisches Brot, Käse und einige Scheiben Schinken. Er gab sich Mühe, den Eindruck zu erwecken, als fühle er sich wohl.

Als er mit dem kleinen Koffer, den er in Saint Malo gekauft hatte, in Southampton an Land ging, sah er aus wie ein beliebiger Reisender, der aus den Ferien zurückkehrte. Es war Mittag. Im Hafen wimmelte es von Menschen.

Er suchte unverzüglich den Bahnhof auf, um den ersten Zug nach London zu nehmen. Dort würde er als Erstes nach

Inzwischen fühlte er sich besser. Frankreich schien in weiter Ferne zu liegen, und er hatte auf der Fähre keine Spur von Gower gesehen. Seine Erklärung hatte ihm wohl eingeleuchtet.

Der Bahnhof war voller Menschen, die alle ziemlich schlecht gelaunt zu sein schienen. Den Grund dafür erfuhr er, als er seine Fahrkarte nach London löste.

»Tut mir leid, Sir«, sagte der Mann hinter dem Schalter. »Wir haben in Shoreham-by-Sea eine technische Störung. Sie müssen mit Verspätung rechnen.«

»Wie lang wird die sein?«

»Das kann ich nicht sagen, Sir. Vielleicht eine Stunde oder länger.«

»Aber der Zug fährt doch?«, fragte Pitt nach. Mit einem Mal konnte er es nicht abwarten, Southampton zu verlassen, als schwebe er nach wie vor in Gefahr.

»Ja, Sir. Wollen Sie jetzt die Fahrkarte oder nicht?«

»Ja. Es gibt ja wohl keine andere Möglichkeit, nach London zu kommen, oder?«

»Nein, Sir. Es sei denn, Sie wollen eine andere Strecke fahren. Manche tun das, aber es ist ein Umweg und kostet mehr. Ich denke, dass die Schwierigkeit bald behoben ist.«

»Danke. Geben Sie mir bitte eine Fahrkarte nach London. «

»Hin und zurück, Sir? Erste, zweite oder dritte Klasse?«

»Nur Hinfahrt und bitte zweite Klasse.«

Er bezahlte und ging auf den Bahnsteig, der sich mit immer mehr Menschen füllte. Das Gedränge war so dicht, dass er nicht einmal auf und ab gehen konnte, um seine Anspannung abzubauen. Anderen schien es ähnlich zu gehen. Frauen versuchten quengelnde Kinder zu beruhigen, Geschäftsleute zogen immer wieder prüfend die Uhr aus der Westentasche. Pitt sah sich fortwährend um, aber es gab keinen Hinweis auf Gower, obwohl er nicht sicher war, dass er ihn in der immer mehr anwachsenden Menschenmenge erkennen würde.

Als es auch um zwei Uhr nach wie vor keinen Hinweis auf eine bevorstehende Abfahrt gab, kaufte er ein belegtes Brot und ein großes Glas Apfelwein. Um drei Uhr stieg er schließlich in einen Zug nach Worthing, in der Hoffnung, von dort auf einer anderen Strecke nach London zu kommen. Zumindest hatte er die Illusion, dass es voranging. Während er im letzten Waggon einen freien Platz suchte, hatte er wieder den Eindruck, entkommen zu sein.

Mit Glück fand er in dem recht vollen Waggon einen Sitzplatz. Alle Fahrgäste hatten schon ziemlich lange gewartet; sie waren müde, besorgt und freuten sich darauf, nach Hause zu kommen. Eine Frau hielt ein etwa zwei Jahre altes weinendes Mädchen tröstend in den Armen. Während sich die Kleine schniefend die Augen rieb, musste Pitt unwillkürlich an Jemima denken. Wie lange es zurücklag, dass sie in jenem Alter gewesen war! Pitt nahm an, dass die Frau Ferien gemacht hatte und jetzt nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Aus Mitgefühl unterhielt er sich zwei Stationen lang mit ihr. Als die schaukelnden Bewegungen des Zuges die Kleine in den Schlaf gewiegt hatte, entspannte sich schließlich auch die Mutter.

Manche Fahrgäste stiegen schon in Bognor Regis aus und noch mehr in Angmering. Als der Zug in Worthing einlief,

»Tut mir leid«, sagte der Schaffner, schob die Mütze ein wenig hoch und kratzte sich am Kopf. »Weiter geht es nicht, solange das Gleis bei Shoreham nicht geräumt ist.«

Es gab einiges Murren unter den wenigen Fahrgästen, doch alle stiegen aus. Sie wanderten unruhig auf dem Bahnsteig auf und ab, gingen den Gepäckträgern und dem Schaffner mit Fragen auf die Nerven, die niemand beantworten konnte, oder suchten den Wartesaal auf, wo schon Fahrgäste aus den anderen Waggons saßen.

Pitt nahm eine Zeitung zur Hand, die jemand hatte liegen lassen, und überflog die Schlagzeilen. Nichts Besonderes lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich, und jedes Mal, wenn jemand vorüberkam, hob er den Blick in der Hoffnung, man werde die bevorstehende Abfahrt des Zuges ankündigen.

Während sich der Nachmittag scheinbar endlos in die Länge zog, stand er ein oder zwei Mal auf und ging den ganzen Bahnsteig auf und ab. Er nahm sich zusammen, um den Schaffner nicht mit Fragen zu behelligen, da ihm klar war, dass der Arme die Sache vermutlich ebenso unerfreulich fand wie alle anderen Wartenden und ihnen die erhoffte Mitteilung nur allzu gern gemacht hätte.

Als sich die Sonne dem Horizont entgegenneigte, konnten sie endlich in einen bereitgestellten Zug steigen, der langsam aus dem Bahnhof dampfte. Es war erstaunlich, wie erleichtert alle waren. Dabei hatte niemand von ihnen Entbehrungen leiden müssen oder in Gefahr geschwebt. Dennoch lächelten alle, redeten miteinander, und einige lachten sogar glücklich.

Der nächste Bahnhof war Shoreham-by-Sea, der Ort, an dem das Gleis unterbrochen gewesen war, dann kam Hove. Inzwischen war es bald dunkel, und das letzte Sonnenlicht warf scharfe Schatten. In Pitts Augen war diese Abendstunde

Da er sich mit einem Mal durch das Abteil beengt fühlte, stand er auf, ging ans Ende des Waggons und trat auf die kleine Plattform dort hinaus. Auf diesen Plattformen rauchten gewöhnlich Männer ihre Zigarren, um Mitreisende nicht zu belästigen. Es war schön, dort zu stehen, den Fahrtwind zu spüren und den Geruch frisch gepflügter Erde und feuchter Wälder in sich aufzunehmen. Nicht viele Züge hatten solche Plattformen. Irgendwo hatte er gehört, dass diese Einrichtung aus Amerika stammte. Sie gefiel ihm sehr.

Auch wenn es draußen recht kühl war, empfand er die Atmosphäre als angenehm und blieb dort stehen, während es rasch immer dunkler wurde. Dicke Wolken zogen von Norden heran. Wahrscheinlich würde es irgendwann in der Nacht regnen.

Er überlegte, was er Narraway über die Verfolgung Wrexhams sagen wollte, die sie nach Frankreich geführt hatte und die er inzwischen als vollständigen Fehlschlag einschätzte. Auch musste er sich darüber klarwerden, wie er ihm die Schlussfolgerungen erklären wollte, zu denen er in Bezug auf Gower gelangt war, und seine Blindheit, die ihn daran gehindert hatte, von Anfang an die wirklichen Zusammenhänge zu erkennen. Als Nächstes malte er sich voll Vorfreude das Wiedersehen mit Charlotte aus. Wie schön es sein würde, wieder zu Hause zu sein, wo er nur den Blick zu heben brauchte, um zu

Inzwischen war es praktisch Nacht; wegen der Wolken war die Dunkelheit rascher als gewöhnlich hereingebrochen.

Mit einem Mal spürte er, dass jemand hinter ihm stand. Wegen des Räderratterns hatte er nicht gehört, wie sich die Tür zum Waggon öffnete. Er wandte sich halb um, doch es war zu spät. Jemand umklammerte von hinten seinen rechten Arm mit eisernem Griff und drängte ihn so fest gegen das Geländer der Plattform, dass sein eigener Körper seinen linken Arm einquetschte.

Er versuchte, dem Mann kräftig auf den Fuß zu treten, um ihn durch den Schmerz dazu zu bewegen, seinen Griff zu lockern. Zwar merkte er, dass der Mann zusammenzuckte, dann aber schob dieser ihn immer weiter nach vorn, mit dem Oberkörper über das Geländer. So scharf schnitt Pitt das Metall in den linken Arm, dass er vor Schmerz nach Luft rang. Inzwischen hatte ihn der Angreifer so weit vornüber gedrückt, dass sich sein Kopf dem vorbeifliegenden Boden immer mehr näherte. Der kalte Wind fuhr ihm durch das Gesicht, und Rußflocken von der Lokomotive bissen in seine Haut. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er das Gleichgewicht verlor, von der Plattform stürzte und auf den Bahndamm prallte. Das würde bei der hohen Geschwindigkeit des Zuges mit großer Wahrscheinlichkeit seinen Tod bedeuten. Der ausgesprochen kräftige und massige Mann presste ihm geradezu alle Luft aus dem Brustkorb, und Pitt hatte nicht die geringste Möglichkeit, sich zu wehren. Er konnte nicht mehr lange Widerstand leisten, in wenigen Sekunden würde es vorüber sein.

Da hörte er, wie eine Tür zugeschlagen wurde, und ein wilder Schrei ertönte. Der Druck gegen seinen Rücken wurde noch stärker und presste ihm die letzte Luft aus der Lunge. Dann löste sich sein Angreifer von ihm, und Pitt, der sich keuchend am Geländer festhielt, drehte sich um. Der Angreifer kämpfte jetzt gegen einen anderen Mann. In der Dunkelheit vermochte Pitt lediglich schattenhafte Umrisse zu erkennen, sah aber, dass der Mann, der ihn gerettet hatte, wohlbeleibt und stämmig war und dass der Hut des Mannes davonflog. In diesem Kampf zog er unübersehbar den Kürzeren und wurde immer mehr zum gegenüberliegenden Geländer der Plattform gedrängt. Einen kurzen Augenblick lang fiel ein Lichtschein aus der Tür, und Pitt sah, dass sich Entsetzen auf dem vor Wut verzerrten Gesicht des Mannes auszubreiten begann, da er merkte, dass er nicht gewinnen konnte. Pitt richtete sich auf, stürmte mit bloßen Fäusten auf seinen Angreifer los und rammte sie ihm, so fest er konnte, in die kurzen Rippen, in der Hoffnung, ihm auf diese Weise die Luft zu nehmen. Er hörte ihn aufstöhnen und drang weiter auf ihn ein, aber nur einen Schritt weit. Der Dicke warf sich beiseite und auf ein Knie. Auf diese Weise konnte er verhindern, dass er das Gleichgewicht verlor und über das Geländer stürzte.

Pitt wandte sich weiter gegen seinen Angreifer, doch der musste damit gerechnet haben. Er ließ sich ebenfalls auf die Knie fallen, so dass ihn Pitts Schlag lediglich an der Schulter traf und diese nach hinten riss, und dann griff er Pitt mit gesenktem Kopf an und traf ihn so hart in die Magengrube, dass Pitt zu Boden stürzte. Die Waggontür schlug auf und zu.

Inzwischen hatte sich der Dicke wieder aufgerafft und stürmte auf den Mann los, der Pitt angegriffen hatte, wobei er etwas brüllte, was in den Geräuschen des Windes und des Zuges unterging. Der Angreifer tat einen Schritt beiseite, fuhr

Einen Augenblick lang war Pitt vor Entsetzen starr, dann wandte er sich dem Angreifer zu, den er im Dunkeln lediglich umrisshaft sehen konnte und von dem er trotzdem wusste, wer er war.

»Wie sind Sie mir eigentlich auf die Schliche gekommen?«, fragte Gower neugierig mit einer Stimme, die nahezu so klang wie immer.

Pitts Atem ging pfeifend, seine Lunge und Rippen schmerzten, wo ihn Gower gegen das Geländer gedrückt hatte, doch er konnte nur an den Mann denken, der ihn zu retten versucht hatte und jetzt mit zerschmetterten Gliedern auf dem Bahndamm lag.

Gower trat auf ihn zu. »Was hat Ihnen der Mann gesagt, den Sie gestern außerhalb der Stadt aufgesucht haben?«

»Nichts weiter, als dass man Frobisher nicht ernst nehmen darf«, gab Pitt zurück. Seine Gedanken jagten sich. »Um das zu merken, kann Wrexham unmöglich eine ganze Woche gebraucht haben. Also hat er es wahrscheinlich schon immer gewusst. Dann ist mir der Gedanke gekommen, dass auch Wrexham nicht der war, als den Sie ihn hingestellt haben. Zwar hatte ich zu sehen geglaubt, dass er West die Kehle durchgeschnitten hat, doch als ich die Sache in aller Ruhe Schritt für Schritt überdacht habe, ist mir aufgegangen, dass er es nicht gewesen sein konnte, denn vor West war schon eine Blutlache am Boden, als wir eintrafen. Sie waren bei der Verfolgung immer an der Spitze, bis hin zur Fähre. Ich hatte Sie damals für besonders klug gehalten, doch dann ist mir aufgegangen, wie einfach das alles war. Immer haben Sie den Mann angeblich wieder aufgespürt, wenn wir seine Fährte verloren hatten, und immer wieder darauf bestanden, ihn nicht festzunehmen.

Gower lachte kurz auf. »Der berühmte Pitt, auf den Narraway so große Stücke hält. Sie haben eine volle Woche gebraucht, um dahinterzukommen! Sie werden allmählich langsam – wenn Sie es nicht schon immer waren und bis jetzt einfach Glück hatten.«

Unvermittelt stürzte er sich mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern auf Pitt, um dessen Kehle zu umkrallen. Diesmal aber war Pitt auf den Angriff vorbereitet. Geduckt stürmte er mit dem Kopf voran auf Gower los und traf ihn unmittelbar über der Gürtellinie so heftig in den Bauch, dass er keuchen musste. Dann streckte er seine Beine, so dass Gower vom Boden emporgehoben wurde und, von seinem eigenen Schwung getragen, über das Geländer in der Dunkelheit verschwand. Auch wenn Pitt den Aufprall nicht hörte, war ihm mit tiefem Bedauern bewusst, dass Gower sofort tot sein musste. Niemand konnte einen solchen Sturz überleben.

Langsam richtete er sich auf, am ganzen Leibe zitternd. Fast hätten seine Beine unter ihm nachgegeben, so dass er sich am Geländer festhalten musste.

Wieder schlug die Waggontür zu, dann öffnete sie sich. Der Schaffner stand mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen da, die Laterne in der Hand. Hinter ihm leuchteten gelblich die Lampen im Waggon.

»Se sind ja wahnsinnig!«, schrie er mit sich überschlagender Stimme.

»Er wollte mich umbringen!«, begehrte Pitt auf und tat einen Schritt auf den Schaffner zu.

Dieser riss seine Laterne wie einen Schild vor sich hoch und stieß mit vor Entsetzen schriller Stimme hervor: »Rühr’n Se mich ja nich’ an! Ich hab hier ’n halbes Dutzend starker Männer, die mit Ihn’n fertig werd’n. Se sind ja total verrückt. Se

»Ich habe nichts dergleichen …«, setzte Pitt an, brachte den Satz aber nicht zu Ende. Zwei kräftig gebaute Männer waren hinter dem Schaffner aufgebaut. Der eine schwang drohend einen Knotenstock, während der andere einen Regenschirm mit scharfer Metallspitze wie eine Waffe vor sich hielt.

» Wir sperr’n Se im Packwag’n ein«, fuhr der Schaffner fort. »Un’ wenn wir Se dafür bewusstlos schlag’n müss’n. Se müss’n ’s nur sag’n. Ich konnte Mr Summers gut leiden. Er war ’n anständiger Kerl.«

Pitt dachte nicht daran, es mit diesen dreien aufzunehmen, und so ging er benommen und voll Entsetzen über das, was er getan hatte, widerstandslos mit ihnen.

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