KAPITEL 10

Pitt war sprachlos, als er den wahren Umfang und die ganze Bedeutung seiner neuen Aufgabe erfasste. Es gab weit mehr zu bedenken, als die vergleichsweise unerhebliche Frage, ob die Verschwörung der Sozialisten auf dem europäischen Kontinent ernsthafte Ausmaße annehmen würde oder es sich dabei um nichts weiter als einen erneuten Ausbruch der von Zeit zu Zeit auftretenden Gewaltäußerungen handelte, zu denen es im Lauf der letzten Jahre hier und da gekommen war. Immer vorausgesetzt, dass ein bestimmtes Vorhaben geplant war, dürfte es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht auf England abzielen.

Als mit Frankreich verbündete Macht hatte England die Pflicht, alle wichtigen Informationen an die Behörden jenes Landes weiterzuleiten. Doch was hätte er sagen können, was über bloße Spekulationen hinausging? West war umgebracht worden, bevor er ihnen hatte mitteilen können, was er wusste. Im Rückblick lag der Verdacht nahe, dass Gower ein Verräter war. Doch war das alles, oder hatte noch mehr dahintergesteckt? Hatte West Kenntnis davon gehabt, auf welchen der Mitarbeiter außer Gower man sich in Lisson Grove nicht verlassen konnte? Und auf welcher Ebene spielte sich der Verrat ab? Ging es dabei um eine sozialistische Verschwörung? Hatte man die Betreffenden mit Geld oder Macht geködert? Oder

War womöglich auch Narraway bedroht worden, und hatte er sich dagegen zur Wehr gesetzt? Oder hatten man ihn einfach ohne Vorankündigung kaltgestellt, im Bewusstsein dessen, dass ein solcher Versuch sinnlos sein würde?

Während er in Narraways früherem Büro saß, gingen ihm all diese Gedanken durch den Kopf. Würde er der Nächste sein? Er hatte keine Vorstellung davon, welche Bedrohung er nach Ansicht jener unbekannten Kräfte für sie bedeuten konnte. Wohl auf keinen Fall eine so große wie Narraway. Er sah sich in dem Raum um, der ihm von der anderen Seite des Schreibtisches so vertraut gewesen war, dass er sogar jetzt noch, da er mit dem Rücken zur Wand saß, vor seinem inneren Auge die von Narraway dort aufgehängten Bilder sehen konnte. Es waren überwiegend Bleistiftzeichnungen von kahlen Bäumen mit wirrem Geäst, hinter denen der Himmel lediglich angedeutet war. Auf einer der Zeichnungen allerdings war ein alter steinerner Turm am Meer zu sehen, doch auch dort war der Vordergrund genauestens mit Licht und Schatten herausgearbeitet, während die See dahinter lediglich den Eindruck endloser Ferne vermittelte.

Er nahm sich vor, Austwick zu fragen, wo die Bilder jetzt waren, und sie wieder an ihren alten Platz zu hängen. Seiner Ansicht nach gehörten sie dorthin. Außerdem würden sie ihn ständig an Narraway erinnern – ein ebenso tröstender wie betrüblicher Gedanke. Falls man ihn nicht wieder in sein Amt einsetzte, würde Pitt sie ihm zurückgeben, denn sie waren sein Eigentum.

Narraway würde genau wissen, wie all die zum Teil widersprüchlichen Aufgaben in den sich vor Pitt auf dem Schreibtisch

Gewiss, Austwick hatte ihm Aktennotizen hinterlassen. Aber wie konnte er sich auf etwas von dem verlassen, was dieser Mann gesagt oder geschrieben hatte, ohne dass sich eine vertrauenswürdige Stelle für dessen Richtigkeit verbürgte? Solche Bestätigungen einzuholen würde Zeit in Anspruch nehmen, die er nicht hatte. Und wem durfte er überhaupt trauen? Ihm würde nichts anderes übrigbleiben, als den ganzen Wust durchzuarbeiten. Er würde die dringendsten Fälle zuerst in Angriff nehmen müssen, Angaben miteinander vergleichen, streichen, was ihm unwahrscheinlich erschien, und dann überlegen, was mit dem Rest zu tun war.

Während der Vormittag verging und ein Mitarbeiter nach dem anderen mit weiteren Akten, Lageberichten und schriftlich niedergelegten Einschätzungen hereinkam, wurde ihm schmerzlich bewusst, wie einsam sich Narraway gefühlt haben musste. Auch wenn er sich wohl auf die Ehrlichkeit mancher seiner Untergebenen verlassen durfte, mochte das nicht unbedingt für deren Urteilskraft gelten, jedenfalls nicht in jeder Beziehung. Bei anderen war er überzeugt, ihnen nicht einmal Tatsachenbehauptungen glauben zu dürfen, und so wagte er niemandem zu vertrauen. Jetzt, da er die Führung hatte, gestand ihm niemand Verletzlichkeit oder Unsicherheit zu, und alle waren überzeugt, dass man ihn nicht zu beraten brauchte.

Auf den Gesichtern der meisten seiner Untergebenen erkannte er Höflichkeit und den Respekt, den sie dem Mann an der Spitze schuldeten, doch sah er auf manchen auch Neid

Er hätte gern den größten Teil dessen, was er besaß, dafür gegeben, dass Narraway wieder an diesem Schreibtisch sitzen konnte. Stets fürchtete er, eine Situation falsch zu beurteilen, die Bedeutung von Informationen nicht richtig einzuschätzen oder auch einfach nicht den nötigen Mut und Verstand aufzubringen, um richtige Entscheidungen zu treffen. Ein einziger größerer Fehler, den er beging, konnte genügen, einen anderen Menschen das Leben zu kosten.

Aber Narraway saß jetzt irgendwo in Irland. Warum nur hatte Charlotte ihn begleitet? Um ihn im Kampf gegen das ihm angetane Unrecht zu unterstützen – oder aus Ergebenheit einem Freund gegenüber, der auf Hilfe angewiesen war? Wie sehr das ihrem Wesen entsprach! Andererseits aber war Narraway Pitts Freund und nicht der ihre. Noch während er über die Situation nachdachte, fielen ihm ein Dutzend kleiner Einzelheiten ein, die ihm gezeigt hatten, dass Narraway schon seit längerem in Charlotte verliebt war.

Er konnte sich genau erinnern, wann er das zum ersten Mal gemerkt hatte. Ihm war aufgefallen, wie sich Narraway in der Küche des Hauses in der Keppel Street umgewandt hatte, um sie anzusehen. Sie hatten es zu jener Zeit mit einem schwierigen Fall zu tun gehabt, und Narraway hatte ihn am späten Abend zu Hause aufgesucht, um mit ihm über einen neu aufgetretenen Aspekt zu sprechen. Charlotte, die ein altes Kleid trug, da es keinen Grund gegeben hatte, mit Besuch zu rechnen, hatte den Kessel aufgesetzt, um Tee zu machen. Das Licht der Lampe war auf eine ihrer Wangen und ihr dunkles Haar gefallen und

Als Narraway etwas sagte und sie sich zu ihm umwandte und lachte, hatte ihn der Ausdruck seines Gesichts verraten.

Ob ihr bewusst war, was Narraway für sie empfand?

Vor Jahren, ganz zu Anfang ihrer Beziehung, war es Pitt wie eine Ewigkeit vorgekommen, bis sie gemerkt hatte, dass er sie liebte. Seither hatten sie sich alle verändert. Damals war sie ein wenig unbeholfen gewesen, die mittlere von drei Schwestern und die einzige, für die die Mutter so recht keinen passenden Ehemann hatte finden können. Jetzt aber wusste Charlotte doch sicher, dass sie geliebt wurde, etwas anderes war gar nicht möglich. Zwar war denkbar, dass sie nicht wusste, wie sehr Pitt an ihr hing, doch hielt er das für unwahrscheinlich.

Bestimmt war sie entrüstet über die Ungerechtigkeit, mit der man Narraway behandelt hatte. Ganz davon abgesehen war sie ihm nach wie vor dankbar dafür, dass er Pitt zu einer Zeit, als es ihm schlecht ging, in den Sicherheitsdienst übernommen hatte. Ohne diese Anstellung hätte das Leben der Familie Pitt damals eine ausgesprochen trostlose Wendung nehmen können. Sofern ihr bewusst war, was Narraway für sie empfand, würde sie das in ihrem Verantwortungsgefühl ihm gegenüber womöglich noch bestärken. Zwar wäre es lachhaft anzunehmen, sie schulde ihm deswegen etwas – schließlich hatte sie nicht um seine Gunst gebuhlt –, aber Pitt wusste nur allzu gut, wie einfühlsam sie verletzliche Menschen behandelte. Das ging auf einen Beschützerinstinkt zurück, ähnlich wie ihn ein Muttertier mit Jungen hat. Sie würde erst handeln und dann nachdenken. Gerade wegen dieses Wesenszuges liebte er sie. Wäre sie anders, vernunftbetonter und weniger einfühlsam, würde ihm etwas unendlich Wertvolles fehlen. Trotzdem war dies Charaktermerkmal ein gewisser Schwachpunkt.

Obwohl der Papierstapel auf dem Tisch vor ihm dringend bearbeitet werden musste, waren seine Gedanken nach wie vor bei Charlotte.

Wo mochte sie sein? Auf welche Weise ließe sich ihr Aufenthaltsort feststellen, ohne dass er sie dadurch in Gefahr brachte? Wem konnte er bedingungslos vertrauen? Noch vor einer Woche hätte er Gower geschickt und ihm damit unwissentlich und ohne es zu wollen eine Geisel in die Hand gespielt, wie er sich keine bessere hätte wünschen können.

Sollte er Verbindung mit der Polizei in Dublin aufnehmen?

Vielleicht war es das Beste, wenn niemand dort wusste, wer sie war.

Er empfand eine geradezu schmerzliche Hilflosigkeit. Obwohl ihm der gesamte Apparat und sämtliche Mittel des Sicherheitsdienstes zur Verfügung standen, waren ihm die Hände gebunden, da er nicht wusste, wem er trauen durfte.

Es klopfte. Auf sein »Herein« trat Austwick mit weiteren Papieren ein. Er machte eine bedenkliche Miene.

Pitt war froh, in die Gegenwart zurückkehren zu müssen. » Was bringen Sie?«, fragte er.

Austwick setzte sich, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Unwillkürlich kam Pitt der Gedanke, dass er das bei Narraway kaum gewagt haben dürfte. Worauf sich die Überheblichkeit des Mannes wohl gründen mochte?

» Weitere Berichte aus Manchester«, gab Austwick zur Antwort. »Allmählich erweckt die Sache den Anschein, als ob Latimer in Bezug auf die Fabrik in Hyde Recht hat. Die Leute stellen Schusswaffen her, streiten es aber ab. Außerdem ist da die verkorkste Geschichte in Glasgow. Wir müssen die Sache genauer unter die Lupe nehmen, bevor da alles ganz aus dem Ruder läuft.«

»Im letzten Bericht hieß es, dass es da lediglich um junge Leute ging, die demonstrierten«, erinnerte ihn Pitt. »Narraway

Austwick verzog angewidert das Gesicht. »Ich nehme an, dass er sich da schon nicht mehr um die Interessen des Landes gekümmert hat. Leider wissen wir nicht, wann seine … Nachlässigkeit begann. Am besten lesen Sie den Bericht selbst. Ich habe die Sache seit seinem Ausscheiden bearbeitet und bin überzeugt, dass er sie in jeder Hinsicht falsch eingeschätzt hat. Außerdem können wir es uns nicht leisten, Schottland einfach zu ignorieren.«

Pitt schluckte die Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag. Er traute Austwick nicht, durfte ihm das aber nicht zeigen. Er hatte den Eindruck, mit dieser Sache nur Zeit zu vergeuden, von der er ohnehin zu wenig hatte.

» Was ist mit den Berichten über die Sozialisten auf dem Kontinent? «, erkundigte er sich. »Ist irgendetwas aus Deutschland gekommen? Und was ist mit den russischen Emigranten in Paris?«

»Nichts Wichtiges«, gab Austwick zurück. »Auch von Gower haben wir nicht das Geringste gehört.« Er sah Pitt mit erkennbarer Unruhe in den Augen an.

So gelassen er konnte, gab Pitt zurück: »Er wird sich vermutlich erst melden, wenn er etwas Bemerkenswertes zu berichten hat. Schließlich ist es nicht ungefährlich, von Saint Malo aus Kontakt mit Lisson Grove aufzunehmen. Immerhin geht da alles durch das örtliche Postamt.«

Austwick schüttelte den Kopf. »Offen gestanden halte ich die Sache für belanglos. Vielleicht hat man West nur deshalb umgebracht, weil die Leute dahintergekommen waren, dass er für uns arbeitete. Ich denke, dass es sich dabei um einen Racheakt gehandelt hat und der Mann uns gar nichts Wichtiges mitzuteilen hatte.«

Er veränderte seine Stellung ein wenig und sah Pitt offen an. »Sie wissen ja, dass seit Jahren Gerüchte über bedeutende

Pitt sah den Groll in den Augen des Mannes, während ihn dieser, vermutlich ganz bewusst, daran erinnerte, dass er noch nicht lange beim Sicherheitsdienst tätig war. Einen Augenblick lang fragte sich Pitt, ob gekränkte persönliche Eitelkeit dahintersteckte oder das Ganze mit der politischen Unruhe im Lande zusammenhing. Dann fiel ihm ein, wie sich Gower über den in seinem Blut am Boden liegenden West gebeugt hatte. Entweder hatte Austwick tatsächlich nichts mit der Sache zu tun, oder er verstand es, seine Empfindungen und Gedanken besser zu verbergen, als Pitt annahm. Er musste unbedingt auf der Hut sein.

»Vielleicht geht die Sache ja gut«, sagte er.

Austwick veränderte seine Stellung erneut, so, als sitze er unbequem. »Das hier sind die Berichte aus Liverpool. Sie enthalten Verweise auf die Lage in Irland. Zwar gibt es da bisher nichts Gefährliches, aber es dürfte sich empfehlen, dass wir uns einige der Namen notieren und die Leute im Auge behalten. « Er schob Pitt noch einige Papiere hin, und dieser beugte sich darüber, um sie zu lesen.

Der Nachmittag verlief wie der Vormittag, und weitere mündliche sowie schriftliche Berichte landeten auf Pitts Schreibtisch. Ein Fall von Gewalttätigkeit in einer Stadt in Yorkshire schien auf den ersten Blick einen politischen Hintergrund zu haben, doch dann erwies sich, dass nichts daran war. In London war in Piccadilly auf der Straße ein Minister ausgeraubt worden, der als geheim eingestufte Papiere mit sich geführt

Er ging dabei mit äußerster Sorgfalt vor, befragte den Mann persönlich, versuchte festzustellen, ob er gewusst hatte, dass es sich bei seinem Opfer um ein Kabinettsmitglied handelte, und falls ja, ob ihm bekannt gewesen war, dass sich in dessen Aktentasche unter Umständen der Geheimhaltung unterliegende Dokumente befanden. Auch nach mehreren Stunden war er seiner Sache noch nicht sicher. Er musste daran denken, dass Narraway bestimmt niemanden um Rat gefragt hätte. Wenn er einen solchen Fall nicht ohne Hilfe bearbeiten konnte, war er seinem Amt alles andere als gewachsen.

Schließlich kam er zu dem Ergebnis, dass man die Öffentlichkeit nicht wissen lassen durfte, wie einfach es war, einen unaufmerksamen Minister zu bestehlen, und so entschied er sich, Anklage wegen eines geringfügigeren Vergehens erheben zu lassen, statt auf dem Anklagepunkt »Ausspähen von Staatsgeheimnissen« zu beharren.

Am Abend kehrte er müde und mit dem Gefühl, wenig geleistet zu haben, nach Hause zurück. Doch alle Niedergeschlagenheit und Mattigkeit verflogen in dem Augenblick, als er die Haustür öffnete und ihm Daniel durch die Diele entgegengerannt kam. »Papa, Papa, ich hab ein Schiff gemacht! Komm mit und sieh es dir an!« Er fasste seinen Vater an der Hand und zog ihn mit sich.

Lächelnd folgte er dem Jungen bereitwillig in die Küche, aus der es verlockend duftete. In einer großen Kasserolle auf dem Herd brodelte etwas, und auf dem Küchentisch war inmitten von zerfetztem Zeitungspapier eine Schüssel mit einer

Minnie Maude sah Pitt verlegen an. Offensichtlich hatte sie ihn später erwartet.

»Sieh mal!«, sagte Daniel begeistert und wies auf das Schiff. »Minnie Maude hat mir gezeigt, wie man das macht.« Achselzuckend fügte er hinzu: »Und Jemima hat mir ein bisschen … na ja … ziemlich viel geholfen.«

Mit einem Mal erfüllte Pitt ein tiefes Gefühl der Wärme. Er sah auf Daniels vor Stolz strahlendes Gesicht und dann auf das Schiff.

»Es ist großartig«, sagte er mit vor Rührung beinahe erstickter Stimme. »Ich habe noch nie so ein schönes Schiff gesehen.« Dann wandte er sich Minnie Maude zu, die ganz offensichtlich damit rechnete, getadelt zu werden, weil sie gespielt hatte, wo sie eigentlich das Abendessen rechtzeitig hätte auf den Tisch bringen sollen.

»Danke«, sagte er aufrichtig. »Stellen Sie es bitte erst weg, wenn sicher ist, dass es dabei nicht zu Schaden kommen kann.«

» Was … was is mi’m Ab’ndess’n, Sir?«, fragte sie und atmete erleichtert auf.

»Wir räumen das Zeitungspapier und die Masse weg und essen um das Schiff herum«, sagte er. »Wo ist Jemima?«

»Die liest«, gab Daniel sofort zur Antwort. »Sie hat mein Neues Universum genommen. Warum liest sie eigentlich keine Mädchenbücher?«

»Weil die langweilig sind«, ertönte von der Tür die Stimme seiner Schwester, die ungehört hereingekommen war. An Pitt

»Ja«, sagte er, legte ihr den Arm um die Schulter und fuhr fort: »Es ist einfach großartig.«

»Wie geht es Mama?«, fragte sie mit besorgter Stimme.

»Gut«, gab er im vollen Bewusstsein dessen zurück, dass er die Unwahrheit sagte, und drückte sie ein wenig fester an sich. »Sie hilft einem Freund, der in Schwierigkeiten ist, kommt aber bald wieder. Jetzt wollen wir den Tisch abräumen und essen.«

Als es später im Hause still wurde, setzte er sich allein im Wohnzimmer in einen Sessel. Daniel und Jemima waren zu Bett gegangen, auch Minnie Maude hatte ihr Zimmer aufgesucht, nachdem sie in der Küche Ordnung geschaffen hatte. Im Hause war es so still, dass Pitt jede einzelne Treppenstufe hatte knarren hören. Dass er jetzt weder Geräusche noch Bewegungen im Hause wahrnahm, war alles andere als trostreich und erfüllte ihn erneut mit Gedanken, die ihm wie Nebelschwaden durch den Kopf wirbelten. Tiefe Schatten umgaben die Lichtinseln um die Lampen an der Wand. Er kannte jede einzelne Oberfläche in dem Raum und wusste, dass alles so peinlich sauber war, als sei Charlotte im Hause gewesen, um das neue Mädchen zu überwachen, dessen einziger Fehler es war, nicht Gracie zu sein. Doch, sie war wirklich gut, ihr fehlte lediglich das Altvertraute. Der Gedanke an das Pappmaché-Schiff zauberte ein Lächeln auf Pitts Züge. Das war nichts Banales, sondern sehr wichtig. Mit Minnie Maude Mudway hatten sie ganz offensichtlich einen Treffer gelandet.

Lange dachte er an Jemima, ihren Stolz auf das von ihr gemeinsam mit ihrem Bruder Geleistete und daran, wie glücklich Daniel gewesen war. Schließlich wandte er seine Aufmerksamkeit


Der nächste Tag im Büro brachte das Übliche, unter anderem Berichte aus Paris, die kaum beunruhigend klangen. Zwar hatte man eine gewisse Zunahme der Aktivität von Personen bemerkt, die der Sicherheitsdienst überwachte, ohne aber für den Fall, dass das etwas bedeutete, feststellen zu können, worum es dabei gehen mochte. Pitt tat mehr oder weniger das Gleiche, was er getan hätte, wenn Narraway da gewesen wäre und er seiner eigenen Arbeit nachgegangen wäre. Der Unterschied lag darin, dass er jetzt die Last der Verantwortung auf seinen Schultern spürte und selbst Entscheidungen treffen musste, statt sie nach oben weitergeben zu können. Jetzt kamen alle zu ihm, wenn es galt, Beschlüsse zu fassen. Männer, die zuvor mit ihm auf einer Stufe gestanden hatten, mussten ihm jetzt Bericht erstatten. Sie kamen nicht immer, um Rat zu suchen; oft brachten sie nur Einzelinformationen über Untergrundaktivitäten, aus denen er sich selbst ein Bild über möglichen Verrat und zu verhindernde Gewalttätigkeit machen musste. Es war seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er Mittel fand, die geeignet waren, die Sicherheit des Reiches und der Regierung zu gewährleisten sowie den Frieden und Wohlstand Großbritanniens zu wahren.

Schließlich gelang es ihm am Vormittag des folgenden Tages, mit Sir Gerald Croxdale einen Gesprächstermin zu vereinbaren. Zwar war er mit seiner Bemühung, das wahre Ausmaß des Verrats zu erkunden, noch keinen Schritt weitergekommen, konnte es aber auf keinen Fall länger hinausschieben, Croxdale von Gowers Tod und dessen näheren Umständen in

Am späten Nachmittag traf er, vom Hyde Park kommend, in Whitehall ein. Die Sonne wärmte noch, und die Luft war weich. Auf seinem Weg zu Croxdales Ministerium fuhren offene Kutschen mit Familienwappen auf dem Schlag an ihm vorüber. Die blank geputzten Messingbeschläge der Pferdegeschirre blitzten in der Sonne. In den Kutschen sah er Damen in Musselinkleidern, deren Ärmel im leichten Wind flatterten. Sie trugen breitrandige Hüte, die sie vor den Sonnenstrahlen schützen sollten.

Croxdales Lakai ließ ihn sogleich ein – offensichtlich hatte er genaue Instruktionen bekommen. Im Arbeitszimmer des Ministers musste Pitt nur ganz kurz warten.

Als Croxdale eintrat, schüttelte er Pitt die Hand. »Setzen Sie sich. Wie sieht es in Lisson Grove aus?«

Obwohl er Wärme in seine Stimme legte und beinahe zwanglos mit ihm sprach, merkte Pitt, dass er ihn aufmerksam musterte. Fast war es, als sei ihm bereits bewusst, dass ihm Pitt eine unangenehme Mitteilung zu machen hatte.

Pitt war dankbar für die Frage; sie ersparte es ihm, selbst eine passende Einleitung finden zu müssen.

»Ich hatte gehofft, Ihnen mehr sagen zu können, Sir«, begann er. »Aber die ganze Geschichte, in deren Verlauf West ermordet wurde und wir Wrexham nach Frankreich gefolgt sind, hat sich als weit ernsthafter erwiesen, als ich ursprünglich angenommen hatte.«

Croxdale runzelte die Brauen und richtete sich ein wenig auf. »In welcher Hinsicht? Haben Sie erfahren, was West Ihnen mitteilen wollte?«

»Nein, Sir, das nicht. Aber ich habe eine bestimmte Vorstellung davon, worum es dabei ging, und alles, was ich seit meiner

»Hören Sie auf, um den heißen Brei herumzureden, Mann«, knurrte Croxdale ungeduldig. »Sagen Sie offen, was los ist.«

Pitt holte tief Luft. Er musste das Risiko eingehen. »Es gibt mindestens einen Verräter in Lisson Grove …«

Croxdale erstarrte, sein Blick wurde hart. Mit einem Mal lag seine Rechte so starr auf dem Schreibtisch, als zwinge er sich mit aller Kraft, sie nicht zur Faust zu ballen.

»Ich vermute, dass Sie damit nicht Victor Narraway meinen«, sagte er gefasst.

Pitt traf eine weitere Entscheidung. »Ihn habe ich zu keinem Zeitpunkt für einen Verräter gehalten und tue das auch jetzt nicht, Sir. Ob er Opfer einer Fehleinschätzung geworden ist oder sich eine Nachlässigkeit hat zuschulden kommen lassen, weiß ich noch nicht. Aber so etwas widerfährt leider jedem von uns von Zeit zu Zeit.«

»Raus mit der Sprache!«, stieß Croxdale zwischen den Zähnen hervor. »Wenn es nicht Narraway ist, über den ich mir ein Urteil noch vorbehalte, wer dann?«

»Gower, Sir.«

»Gower?« Croxdale riss förmlich die Augen auf. »Haben Sie ›Gower‹ gesagt?«

»Ja, Sir.« Pitt spürte, wie Zorn in ihm emporstieg. Wie konnte Croxdale Narraway so leichthin für einen Verräter halten und so ungläubig aufnehmen, was Pitt ihm über Gower mitteilte? Was hatte Austwick ihm gesagt? Wie weit reichte dieses Geflecht von Verrat, und wie raffiniert war es angelegt? War Pitt in einer Situation vorgeprescht, in der ein klügerer und erfahrenerer Mann erst einmal vorsichtig das Gelände erkundet hätte? Aber dafür war keine Zeit. Narraway war von seinem Amt suspendiert und in Irland, und der Himmel

Nein, er konnte es sich weiß Gott nicht erlauben, bei der Suche nach Feinden vorsichtig das Gelände zu erkunden.

Croxdale sah ihn finster an. Sollte er ihm nur über den Mord an West berichten oder die ganze Geschichte, die ihn selbst wie einen Dummkopf dastehen ließ? Aber er war ja in der Tat ein Dummkopf gewesen. Er hatte Gower vertraut, ihn sogar recht gut leiden können. Die Erinnerung an die damalige Situation schmerzte nach wie vor. Er glaubte in diesem Augenblick die Seeluft von Saint Malo zu riechen, die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht zu spüren, Gowers Stimme und sein Lachen zu hören.

»Ein bestimmter Vorfall in Frankreich hat mir klargemacht, dass es nur den Anschein hatte, als hätten Gower und ich gemeinsam die Stelle erreicht, an der wir Wrexham über Wests Leiche gebeugt vorgefunden haben«, sagte er. »In Wahrheit war Gower wenige Augenblicke zuvor dort gewesen und hatte West selbst umgebracht …«

»Das ist doch grotesk!«, explodierte Croxdale und fuhr von seinem Sessel auf. »Sie können nicht erwarten, dass ich Ihnen das abnehme! Wieso haben Sie nicht …« Er setzte sich wieder und versuchte mit Mühe, seine Fassung wiederzugewinnen. »Tut mir leid. Das ist für mich ein ziemlicher Schock. Ich … ich kenne Gowers Angehörige. Sind Sie Ihrer Sache sicher? Das kommt mir alles ein wenig … fadenscheinig vor.«

»Ja, Sir. Zu meinem Bedauern muss ich sagen, dass ich meiner Sache sicher bin.« Pitt konnte sich vorstellen, dass Croxdale das hart traf. »Ich habe ihn unter einem Vorwand in Frankreich gelassen und bin allein zurückgekehrt …«

»Sie haben ihn dagelassen?« Wieder war Croxdale verblüfft.

»Es gab für mich keine Möglichkeit, ihn festzunehmen«, gab Pitt zu bedenken. »Ich war unbewaffnet, und er ist jung und sehr kräftig. Auf keinen Fall wollte ich, dass die französischen Behörden erfuhren, wer wir waren und dass wir dort ohne ihr Wissen und ihre Genehmigung französische Staatsbürger überwachten …«

»Natürlich, das verstehe ich. Sprechen Sie weiter.« Croxdale war ganz offensichtlich tief erschüttert. In einer anders gelagerten Situation hätte Pitt wohl Mitgefühl für ihn aufgebracht.

»Ich habe ihn aufgefordert, dazubleiben und Wrexham sowie Frobisher im Auge zu behalten …«

» Wer ist Frobisher?«, wollte Croxdale wissen.

Pitt teilte ihm mit, was er über den Mann wusste, wie auch über die anderen, die sie in dessen Haus hatten ein und aus gehen sehen.

Croxdale nickte. »Dann war also durchaus etwas an dem Verdacht, dass sich dort Sozialisten treffen und eventuell etwas aushecken?«

»Möglicherweise. Bisher haben wir aber keine Bestätigung dafür.«

»Und Gower ist dort geblieben?«

»Das hatte ich angenommen. Aber im Zug von Southampton nach London bin ich zweimal angegriffen und dabei fast getötet worden.«

»Großer Gott, von wem denn?«, fragte Croxdale mit allen Anzeichen des Entsetzens.

» Von Gower, Sir. Beim ersten Mal ist ein mutiger Mann dazwischengetreten, den ich nicht kannte, und hat mit seinem Leben dafür bezahlt, dass er mich retten wollte. Dann hat mich Gower erneut angegriffen, diesmal aber war ich darauf gefasst, und er hat die Partie verloren.«

Croxdale fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Und wie ist es weitergegangen?«

»Er ist auf den Bahndamm gestürzt«, gab Pitt zur Antwort. Bei dieser Erinnerung bildete sich ein Kloß in seiner Kehle, und der Schweiß brach ihm erneut aus. Er beschloss, nichts von seiner Festnahme zu sagen, um nicht erklären zu müssen, auf welche Weise ihn Lady Vespasia befreit hatte. Er wollte sie unbedingt aus der Geschichte heraushalten.

»Er ist … umgekommen?«, fragte Croxdale.

»Bei der hohen Geschwindigkeit des Zuges kann daran kein Zweifel bestehen, Sir.«

Croxdale lehnte sich wieder zurück. »Wie ganz und gar entsetzlich.« Er stieß langsam den Atem aus. »Offensichtlich haben Sie Recht. Wir hatten einen Verräter in Lisson Grove. Ich bin sehr erleichtert, dass nicht Sie auf dem Bahndamm gelandet sind, sondern er. Warum nur haben Sie mir das nicht gleich nach Ihrer Rückkehr mitgeteilt?«

» Weil ich vorher zu erfahren hoffte, wer Gowers Hintermann war.«

Croxdales Gesicht wurde kreidebleich. »Sie meinen, er hatte einen Hintermann?«, fragte er stockend.

»Ich bin da noch nicht sicher«, gab Pitt zu. »Bisher habe ich nicht herausfinden können, ob Frobisher hinter einem neuen sozialistischen Aufstand steckt, der möglicherweise bald droht, oder lediglich als Sympathisant am Rande der eigentlichen Verschwörung mitläuft.«

» Wir schätzen die Sache keinesfalls als belanglos ein«, sagte Croxdale rasch. »Falls Gower … Ich kann das immer noch nicht fassen … aber falls Gower zwei Menschen getötet und auch Ihnen nach dem Leben getrachtet hat, müssen wir diese Gefahr durchaus ernst nehmen.« Er biss sich auf die Lippe. »Ihren Worten entnehme ich, dass Sie Austwick von all dem nichts gesagt haben.«

»So ist es. Meiner festen Überzeugung nach hat jemand Narraway nur eine Unterschlagung unterstellt, um ihn aus

» Wer könnte das sein? Besteht da eine Beziehung zu diesem Frobisher, oder steckt erneut Gower dahinter?«

»Nein, Sir. Keiner der beiden hätte das bewerkstelligen können«, gab Pitt zu bedenken. »Es muss jemand in Lisson Grove sein, dessen Vollmachten es ihm ermöglichten, Einblick in Narraways Bankgeschäfte zu nehmen.«

Croxdale sah ihn mit gequältem Gesicht an. Seine Wangen waren gerötet. »Ich verstehe. Natürlich haben Sie Recht. Wenn die Dinge so liegen, muss diese sozialistische Verschwörung ziemlich weit verzweigt sein. Vielleicht ist jener Frobisher doch so gefährlich, wie Sie zuerst angenommen haben, und man hat den armen West umgebracht, um zu verhindern, dass Sie die Zusammenhänge durchschauten. Zweifellos hat Gower Sie nach Frankreich gelockt, damit Sie zu dem Ergebnis kamen, Frobisher sei harmlos, und diese falsche Information nach London weitergaben.« Einen Augenblick lächelte er trübselig. »Gott sei Dank waren Sie klug genug, das Ganze zu durchschauen, und flink genug, den Angriff auf Sie zu überleben. Sie sind der richtige Mann für die Aufgabe, Pitt. Welchen Dreck Narraway auch immer am Stecken haben mag – damit, dass er Sie in den Sicherheitsdienst eingestellt hat, hat er Weitblick bewiesen.«

Pitt nahm an, er müsse ihm für das Kompliment wie das damit ausgesprochene Vertrauen danken, hatte aber eher das Bedürfnis zu sagen, wie wenig er sich für die Aufgabe eignete. Schließlich neigte er den Kopf, dankte ihm kurz und kam auf die drängenden Aufgaben der Gegenwart zu sprechen.

» Wir müssen unbedingt feststellen, Sir, welche Informationen Gower möglicherweise aus Frankreich nach London geschickt

»Da haben Sie Recht«, sagte Croxdale nachdenklich und lehnte sich erneut zurück. »Mir geht es genauso. Wir müssen die Sache noch viel genauer unter die Lupe nehmen. Austwick hat mir seit Narraways Suspendierung mindestens dreimal Bericht erstattet. Ich habe die Unterlagen hier. Wir werden alles darin Enthaltene genauestens durchgehen, und Sie sagen mir, was davon stimmt und was nicht, um, wo es nötig ist, noch einmal nachzufassen. Dabei dürfte sich dann ja wohl ein Bild ergeben. Es tut mir sehr leid, aber möglicherweise kann das die halbe Nacht in Anspruch nehmen. Ich werde dafür sogen, dass man uns etwas zu essen holt.« Er schüttelte den Kopf. »Großer Gott, was für eine verfahrene Geschichte.«

Pitt hatte keine Möglichkeit, Einwände zu erheben.

Croxdale hatte nicht nur die Berichte Austwicks im Hause, sondern auch weiter zurückliegende von Narraway. Es kam Pitt merkwürdig vor, die verschiedenen Papiere durchzugehen. Ihm fiel auf, dass Austwicks Berichte wortreich und in einer ordentlichen Handschrift sauber präsentiert waren. Beim Anblick der von Narraway vorgelegten Berichte durchfuhr ihn die Vertrautheit wie ein Stich, und er spürte erneut, wie einsam er sich auf dessen Posten und ohne ihn fühlte. Narraways Schrift war kleiner und fließender als die Austwicks, wie beiläufig hingeworfen, und vor allem machte er weniger Worte als dieser. An keiner Stelle ließ sich das geringste Zögern erkennen. Er hatte sich genau überlegt, was er schreiben wollte, bevor er die Feder aufs Papier setzte, und nicht einmal ansatzweise den Versuch unternommen zu verbergen, dass er Croxdale nur das Allernötigste mitteilte. Beruhte das auf einer Absprache zwischen den beiden, besaß Croxdale die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen? Oder hatte Narraway damit

Pitt musterte Croxdales Gesicht aufmerksam, fand aber dort keine Antwort auf diese Fragen.

Sie gingen alle Berichte sorgfältig durch. Ein Diener brachte ein Tablett mit Toast und Leberpastete sowie Käse und einen Früchtekuchen zusammen mit Brandy, den Pitt aber ebenso höflich wie entschieden ablehnte.

Inzwischen war es draußen vollständig dunkel geworden. Ein leichter Wind hatte sich erhoben und trieb Regentropfen gegen die Scheiben.

Croxdale legte das letzte Blatt zurück. »Offensichtlich war Narraway überzeugt, dass hinter der Sache in Paris zwar etwas steckte, hielt es aber nicht für bedeutend genug, um gleich dagegen vorzugehen. Austwick hingegen sieht darin nichts weiter als Lärm und Großtuerei. Im Unterschied zu Narraway ist er überzeugt, dass uns das hier in England nicht betrifft. Was meinen Sie, Pitt?«

Diese Frage, von der ihm klar gewesen war, dass sie unausweichlich kommen würde, hatte Pitt gefürchtet. Hier gab es keine Möglichkeit, Ausflüchte zu machen, ganz gleich, wie leicht sich diese rechtfertigen ließen. So oder so würde man ihn danach beurteilen, wie zutreffend seine Einschätzung der Lage war. Er hatte ganze Nächte hindurch wachgelegen und alles erwogen, was er wusste, in der Hoffnung, von Croxdale etwas zu erfahren, was die Waage in die eine oder andere Richtung ausschlagen ließ.

Mit kaum wahrnehmbarem Zögern erklärte er: »Ich denke, dass Narraway unmittelbar davorstand, etwas ganz Entscheidendes in Erfahrung zu bringen, und man ihn aus dem Weg geräumt hat, bevor er eine Möglichkeit dazu hatte.«

Croxdale wartete lange mit seiner Antwort. »Ist Ihnen klar, was Sie damit sagen? Für den Fall, dass Sie damit Recht haben,

»Ja, Sir, ich fürchte, so verhält es sich in der Tat«, stimmte Pitt zu. »Gower hat jemandem Berichte geliefert, also muss zumindest ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes ein Verräter sein.«

»Ich arbeite seit Jahren mit Charles Austwick zusammen«, sagte Croxdale leise. »Aber vielleicht kennt man einen Menschen nicht immer so gut, wie man annimmt.« Er seufzte. »Ich habe nach Stoker geschickt. Soweit ich weiß, müsste er heute aus Irland zurückgekehrt sein. Vielleicht kann er etwas Licht auf die Angelegenheit werfen. Vertrauen Sie ihm?«

»Ja. Aber ich habe auch Gower vertraut, und so bin ich nicht sicher, ob das viel wert ist«, sagte Pitt betrübt. »Trauen Sie ihm?«

Croxdale lächelte ihm trübselig zu. »Nein. Ich traue niemandem. Mir ist nur allzu bewusst, dass wir uns das auch gar nicht leisten können. Nicht nach dem, was wir mit Narraway und jetzt auch mit Gower erlebt haben. Auf jeden Fall wollen wir uns aber anhören, was Stoker zu sagen hat. Wollen Sie ganz bestimmt keinen Brandy?«

»Nein. Wirklich nicht. Vielen Dank, Sir.«

Es klopfte, und auf Croxdales Aufforderung trat Stoker ein. Er wirkte müde. Tiefe Schatten lagen um seine Augen, und sein Gesicht trug die unübersehbaren Spuren von Erschöpfung. Dennoch stand er stramm, bis ihn Croxdale aufforderte, Platz zu nehmen. Stoker begrüßte auch Pitt, aber lediglich mit einem leichten Nicken, wie es die Höflichkeit erforderte.

»Nach Mr Pitts Überzeugung lässt sich der gegen Narraway erhobene Vorwurf der Unterschlagung nicht halten«, eröffnete Croxdale das Gespräch. »Er vermutet, dass man ihn mit Hilfe gefälschter Beweise beschuldigt hat, um sich seiner zu entledigen, weil er im Begriff stand, wichtige Informationen über eine bedeutende sozialistische Verschwörung zu erlangen, die auch unser Land bedroht.« Ohne im Geringsten auf

»Sir?«, sagte Stoker erstaunt, ebenfalls ohne zu Pitt hinzusehen.

»Sie haben mit ihm zusammengearbeitet«, fuhr Croxdale fort. »Halten Sie diese Annahme für wahrscheinlich? Und was können Sie uns aus Irland berichten?«

Mit zusammengepressten Lippen und bleichem Gesicht beugte sich Stoker ein wenig vor, so dass das Licht der Lampe auf ihn fiel. Sein Gesicht war grau. »Es tut mir leid, Sir, aber ich kann keinen Grund erkennen, das Beweismaterial anzuzweifeln. Es ist erstaunlich, wozu sich manche Leute von Geldgier treiben lassen und wie sie deren Blick auf die Dinge zu ändern vermag.«

»Ich verstehe«, sagte Croxdale aufseufzend. »Und wie sieht es gegenwärtig in Dublin aus?«

»Die Polizei hat Mr Narraway festgenommen. Man legt ihm zur Last, Cormac O’Neil ermordet zu haben«, gab Stoker zur Antwort.

»Ermordet?« Croxdale wirkte entsetzt.

Auch Pitt schwirrte der Kopf. Der Narraway, den er kannte, war kein Mörder. Und was war mit Charlotte? War sie jetzt ganz allein und voller Angst? Aber Stoker konnte er danach unmöglich fragen.

» Allem Anschein nach hat Narraway ziemlich öffentlich mit O’Neil gestritten und ihm offen vorgehalten, die treibende Kraft hinter der Verschiebung des Geldes gewesen zu sein, durch die es so aussieht, als habe er das für Mulhare bestimmte Geld unterschlagen. Offen gesagt kann das sogar stimmen, Sir.«

»Tatsächlich?«, fragte Croxdale mit einem Anflug von Hoffnung in der Stimme.

»Soweit ich sehe, wäre es durchaus möglich, Sir. Der einzige Haken an der Sache ist: Über wen hätte O’Neil an die Informationen

»Und handelt es sich um jemanden in Lisson Grove?«, fragte Croxdale.

»Nein, Sir«, gab Stoker, ohne mit der Wimper zu zucken, zurück. »Das glaube ich nicht.«

Croxdale kniff die Augen zusammen. » Wer steckt dann dahinter? Wer wäre dazu imstande?«

Ohne das geringste Zögern kam Stokers Antwort. »Sieht ganz so aus, als ob das jemand in Mr Narraways Bank war, Sir. Ich denke, man darf sagen, dass er sich hier und da Feinde gemacht hat. Oder vielleicht war es ja auch einfach jemand, der bereit war, sich dafür bezahlen zu lassen. Es wäre zwar schön, wenn man annehmen dürfte, dass es so etwas nicht gibt, aber das wäre wohl ein bisschen naiv. Immerhin gibt es Menschen, die so viel Geld haben, dass sie so gut wie alles kaufen können.«

»Da können Sie Recht haben«, gab Croxdale zurück. »Vielleicht ist Narraway bereits dahintergekommen? Das würde manches erklären. Was haben Sie noch aus Irland zu berichten?«

Stoker teilte ihm mit, was er über Narraways Verbindungen in Erfahrung gebracht, mit wem er gesprochen und wie diese Leute reagiert hatten. Außerdem berichtete er Einzelheiten von dem Zusammenstoß Narraways mit O’Neil bei dem Nachmittagskonzert. Mit keiner Silbe erwähnte er Charlotte. Was er über Narraway sagte, klang zumindest zum Teil so unwahrscheinlich, dass man annehmen musste, dessen Charakter habe sich von Grund auf verändert.

Ungläubig und mit zunehmendem Ärger hörte sich Pitt an, was Stoker berichtete. Seiner festen Überzeugung nach war alles, was er vortrug, nichts als hinterhältiger Verrat.

»Danke, Stoker«, sagte Croxdale betrübt. »Ein tragisches Ende einer glänzenden Laufbahn. Übergeben Sie Mr Pitt Ihren Bericht über Irland.«

»Ja, Sir.«

Stoker ging, und Croxdale sagte, zu Pitt gewandt: »Ich denke, dass die Sache damit klarer geworden ist. Gower war der Verräter, was zu glauben mir ehrlich gesagt immer noch schwerfällt. Allerdings lässt es sich nach allem, was Sie mir gesagt haben, nicht mehr bestreiten. Möglicherweise ist der Katastrophe jetzt Einhalt geboten, doch dürfen wir unserer Sache noch nicht sicher sein. Gehen Sie der Angelegenheit so gründlich nach, wie Sie können, Pitt, und erstatten Sie mir Bericht. Halten Sie ein wachsames Auge auf die Vorgänge in Europa. Sollte es da etwas geben, was wir den Franzosen mitteilen müssen, werden wir das tun. Darüber hinaus hält uns eine ganze Menge anderer politischer Schwierigkeiten in Atem, aber ich bin sicher, dass Ihnen das bekannt ist.« Er stand auf und hielt ihm die Hand hin. »Seien Sie auf der Hut. Sie haben eine schwierige und gefährliche Aufgabe, und Ihr Land braucht Sie mehr denn je.«

Pitt schüttelte ihm die Hand, dankte ihm und trat hinaus in die Nacht, ohne deren Kühle zu bemerken, denn die Kälte war bereits in ihm. Was Stoker über die Möglichkeit gesagt hatte, dass Narraways Bank in die Affäre verwickelt war, mochte stimmen, auch wenn er es nicht recht glaubte. Alles andere kam ihm vor wie ein sonderbares Sammelsurium von Übertreibungen und Unwahrheiten. Er konnte sich nicht mit der Vorstellung anfreunden, dass sich Narraway so grundlegend geändert haben sollte. Seiner festen Überzeugung nach hatte er weder fremdes Geld an sich gebracht noch die Werte, auf die sich sein ganzes Wesen gründete, so verleugnet, dass er sich auf die Weise hätte verhalten können, die Stoker beschrieben hatte. Hätte der Mann nicht außerdem Charlottes Anwesenheit

Er fühlte sich so hilflos wie jemand, der im Treibsand feststeckte. Keine seiner Einschätzungen stimmte. Er hatte Stoker vertraut, Gower sogar gut leiden können, und er hätte sein Leben bereitwillig in Narraways Hände gelegt … Er gestand sich ein, dass er das nach wie vor tun würde.

Croxdales Kutsche stand bereit, ihn nach Hause zu bringen. Undeutlich erkannte er den Schatten eines Mannes auf dem Gehweg, der auf ihn zukam, achtete aber nicht darauf. Der Kutscher öffnete den Schlag, und er stieg ein. Auf dem ganzen Weg bis zur Keppel Street war ihm elend, und er fror. Nur gut, dass es spät war, so konnte er sich die ungeheure Anstrengung ersparen, die nötig gewesen wäre, seine Enttäuschung vor Daniel und Jemima verbergen zu müssen. Wenn er Glück hatte, schlief auch Minnie Maude bereits.


Am nächsten Morgen überlegte er es sich auf halbem Weg zu seiner Dienststelle anders und suchte Lady Vespasia auf, statt gleich nach Lisson Grove zu gehen. Zwar war es für einen privaten Besuch noch zu früh, doch für den Fall, dass sie noch nicht aufgestanden war, war er gern bereit zu warten. Sein Bedürfnis, mit ihr zu sprechen, war so dringend, dass er dafür alle Regeln von Anstand und Höflichkeit sowie jede Rücksichtnahme in den Wind schlug, in der festen Überzeugung, dass sie den Grund für sein Verhalten verstehen würde.

Es erwies sich, dass sie bereits aufgestanden war. Da sie beim Frühstück war, nahm er ihre Einladung zu einer Tasse Tee an, wollte aber nichts essen.

» Verpflegt euer neues Mädchen dich ordentlich?«, fragte sie mit einem Anflug von Besorgnis.

»Ja«, sagte er und wunderte sich, dass seine Stimme dabei überrascht klang. »Sie ist ausgesprochen tüchtig und auch angenehm

»Du bist nicht um diese frühe Stunde gekommen, um dir von mir eine Empfehlung für ein neues Mädchen zu holen«, sagte sie. » Was gibt es, Thomas? Du siehst richtig bedrückt aus. Ich vermute, dass sich etwas Neues ergeben hat.«

Er berichtete ihr alles, was seit ihrer letzten Begegnung geschehen war, und teilte ihr auch mit, wie enttäuscht und entsetzt er von Stokers plötzlichem Treubruch war. Ebenso wenig verschwieg er ihr die von diesem berichteten Einzelheiten über Narraways angebliches Verhalten.

»Es kommt mir vor, als wäre ich ganz und gar unfähig, den Charakter anderer Menschen zu beurteilen«, sagte er niedergeschlagen und so wenig selbstironisch, dass er fürchtete, es klänge nach Selbstmitleid.

Sie hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Als sie ihm eine zweite Tasse Tee eingoss, verzog sie das Gesicht, weil sie merkte, dass er kalt war.

»Das macht nichts«, sagte er rasch. »Ich brauche keinen mehr.«

»Führen wir uns doch einmal ein Gesamtbild der Situation vor Augen«, sagte sie. »Unbestreitbar hast du dich in Bezug auf Gower geirrt. Da es aber allen anderen in Lisson Grove, einschließlich Victor Narraway, ebenso ergangen ist, macht dich das keineswegs zu einem Versager, mein Lieber. Wenn man bedenkt, dass er dein Mitarbeiter war, hattest du allen Grund, von ihm Loyalität zu erwarten. Damals war es nicht deine Aufgabe, Mitarbeiter zu beurteilen und Entscheidungen dieser Art zu treffen – jetzt hingegen schon.«

»Ich habe mich auch in Bezug auf Stoker geirrt«, gab er zu bedenken.

»Möglich. Aber wir sollten keine übereilten Schlüsse ziehen. Das Einzige, was du weißt, ist, dass sein Bericht an Croxdale

»Ja … natürlich. Allerdings wüsste ich gern, ob es ihr gutgeht. « Das war eine Untertreibung, deren Ausmaß wohl niemand besser erfassen konnte als Lady Vespasia.

»Hast du Croxdale gesagt, dass du Austwick verdächtigst?«, fragte sie.

»Nein.« Er erklärte ihr, dass er zögerte, wem auch immer mehr zu vertrauen, als unbedingt nötig war. So hatte er manches für sich behalten, weil er fürchtete, dass Croxdale, der Austwick schon sehr lange kannte, diesem vielleicht mehr trauen würde als ihm.

»Das war sehr klug«, stimmte sie zu. »Und nimmt Croxdale an, dass in Frankreich etwas Schwerwiegendes geplant wird?«

»Er hat lediglich gesagt, dass wir die Sache im Auge behalten sollten«, gab er zurück. » Wie du weißt, hatte nur Gower angeblich Meister und Linsky gesehen. Die Leute haben geredet, aber nicht mehr als sonst. Man hat gerüchtweise gehört, Jean Jaurès werde aus Paris kommen. Das aber hat sich nicht bewahrheitet.«

Lady Vespasia runzelte die Brauen. »Und wer hat gesagt, dass Jean Jaurès kommen würde?«

»Ich glaube, einer der Gastwirte am Ort. Die Männer in der Wirtsstube haben sich darüber unterhalten.«

»Du glaubst? Jemand nennt den Namen Jaurès, und du weißt es nicht?«, sagte sie ungläubig.

Erneut war er von seiner eigenen Torheit überrascht. Wie leicht man ihn hinters Licht führen konnte! Er hatte das nicht selbst gehört, Gower hatte es ihm berichtet. Das teilte er ihr mit.

»Hat er auch Rosa Luxemburg erwähnt?«, fragte sie mit leicht gehobenen Brauen.

»Ja, aber nicht im Zusammenhang mit Saint Malo.«

»Aber ihren Namen hat er genannt?«

»Ja. Warum?«

»Jean Jaurès ist eingefleischter Sozialist, aber ein durchaus umgänglicher und gebildeter Mensch«, erklärte sie. »Er hat sich für Reformen eingesetzt und in seinem Land hohe Ämter bekleidet. Er strebt Veränderungen an, aber keinen Umsturz. Soweit mir bekannt ist, beschränkt er sich mit all seinen Bemühungen auf Frankreich. Bei Rosa Luxemburg sieht die Sache gänzlich anders aus. Sie ist polnischer Herkunft und hat eine internationale Sichtweise. Russische Emigranten, mit denen ich bekannt bin, fürchten, dass sie eines Tages zu Gewalttaten aufrufen wird, und ich habe Sorge, dass etwas in der Art an manchen Orten unmittelbar bevorsteht. Die Unterdrückung in Russland wird zweifellos in einer Tragödie enden.«

»Und könnte sich das auch hier bei uns auswirken?«, fragte er zweifelnd.

»Nein. Doch freilich ist die Welt mitunter kleiner, als wir wahrhaben wollen. Natürlich wird es Flüchtlinge geben. Genau genommen ist London bereits voll von ihnen.«

»Was wohl Gowers Triebfeder gewesen sein mag?«, fuhr er fort. »Warum hat er West umgebracht? Womöglich, weil West mir mitteilen wollte, dass Gower ein Verräter war?«

»Das scheint möglich. Andererseits muss ich zugeben, dass mir nichts von all dem einen rechten Sinn zu ergeben scheint, es sei denn, dahinter steckt sehr viel mehr als die eine oder andere Gesetzesänderung zugunsten der französischen Arbeiterschaft oder eine zunehmende gesellschaftliche Unruhe in Russland. Nichts von all dem ist neu, weshalb sich auch der Sicherheitsdienst darüber keine übermäßigen Sorgen macht.«

» Wäre doch Narraway hier«, sagte er im Brustton der Überzeugung. »Ich weiß für diese Aufgabe einfach nicht genug. Croxdale hätte Austwick auf dem Posten belassen sollen. Oder weiß er womöglich, dass auch er ein Verräter ist?«

»Das scheint mir ohne weiteres denkbar.« Sie war nach wie vor tief in Gedanken versunken. »Für den Fall, dass Victor schuldlos ist, woran ich keine Sekunde zweifle, hat sich jemand einen ausgesprochen raffinierten Plan ausgedacht, um ihn wie dich von London fortzulocken. Warum kommen wir nur nicht dahinter, wer das war und was der Grund dafür war?«


Während Pitt durch die Gänge des Gebäudes in Lisson Grove seinem Büro entgegenstrebte, war ihm bewusst, dass ihn mehrere Männer aufmerksam und abwartend musterten – insbesondere Austwick.

»Guten Morgen«, sagte dieser unter Auslassung des »Sir«, das er bei Narraway hinzugefügt hätte.

»Guten Morgen, Austwick«, gab Pitt mit einer gewissen Schärfe in der Stimme zurück, ohne ihn anzusehen.

Schon als er die Tür zu seinem Dienstzimmer öffnete, hatte er das Empfinden, dass es nach wie vor das Büro Narraways war. Das lag nicht nur daran, dass er immer noch keine persönlichen Gegenstände dort hingeschafft hatte, weder Bilder noch Bücher, sondern ganz im Gegenteil dafür gesorgt hatte, dass Narraways Bilder wieder an den Wänden hingen, als warteten sie darauf, dass dieser in sein angestammtes Reich zurückkehrte. Sofern es dazu kam, würde sich Pitt aufrichtig freuen, und das keineswegs aus reiner Selbstlosigkeit. Liebend gern würde er ihm das Amt wieder überlassen, das er jetzt unwillig an seiner Stelle verwaltete. Es entsprach weder seinem Wesen noch seinen Fähigkeiten, wohingegen er genau wusste, dass Narraway es nicht nur ausfüllte, sondern es geradezu sein Leben war.

Er erledigte die dringendsten Aufgaben zuerst und gab alles, was er nicht selbst zu bearbeiten brauchte, an untergeordnete Mitarbeiter weiter. Nachdem er erklärt hatte, er wolle nicht gestört werden, ging er gründlich alle Unterlagen Narraways über sämtliche Fälle durch, an denen Gower in den letzten acht Monaten mitgewirkt hatte. Er las alle Dokumente und gewann dabei einen gewissen Überblick über die verschiedenen in anderen europäischen Ländern beobachteten Bestrebungen, das Los der Arbeiterschaft zu verbessern. Außerdem las er den neuesten Bericht über die Situation in Paris.

Die darin dargelegten Pläne zu gewalttätigen Ausschreitungen bedrückten ihn, doch zugleich empfand er tiefes Mitgefühl angesichts das Ausmaßes an gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, das darin erkennbar wurde. Es bekümmerte ihn, dass man die Menschen dort unterdrückte und ihnen die Möglichkeit, ein menschenwürdiges Leben zu führen, so lange vorenthielt, bis der Vollzug des gesellschaftlichen Wandels eines Tages von einem unmäßig großen Hass begleitet sein würde.

Je weiter er las, desto tragischer erschien es ihm, dass die von hohem Idealismus getragene Revolution des Jahres 1848 einfach niedergeschlagen worden war und diese so gut wie keinen Wandel bewirkt hatte.

Gowers Berichte waren knapp gehalten, so, als habe er bewusst alle Begriffe daraus entfernt, die auf Gefühle schließen lassen konnten. Anfangs hatte Pitt angenommen, es handele sich dabei einfach um einen besonders klaren Stil, doch dann begann er sich zu fragen, ob nicht mehr dahintersteckte. Vielleicht hatte Gower verhindern wollen, dass man durchschaute, was er dachte, dass Narraway irgendwelche Verbindungen oder Auslassungen erkannte oder dass es nicht echt klang.

Als Nächstes nahm Pitt Narraways eigene Unterlagen zur Hand. Die meisten hatte er früher schon einmal gelesen, und mit einigen der Fälle war er ohnehin vertraut, da innerhalb

Welche Tatsachen waren ihm persönlich bekannt? Gower hatte West getötet und Wrexham als Täter bezeichnet. War das eine aus dem Augenblick geborene Entscheidung gewesen, oder hatte er von vornherein die Absicht gehabt und Wrexham in seinen Plan eingeweiht und mit einbezogen? Pitt musste an die Verfolgung durch halb London denken und wie ihn Gower bis Southampton und schließlich nach Saint Malo gelockt hatte. Erneut wurde ihm klar, dass alles viel zu einfach gewesen war. Immer dann, wenn es so ausgesehen hatte, als sei ihnen Wrexham entkommen, war Gower, und nicht Pitt, erneut auf die Fährte gestoßen. Das legte die unausweichliche Schlussfolgerung nahe, dass Gower und Wrexham Hand in Hand gearbeitet hatten. Im Rückblick ergab das Ganze nur dann einen Sinn, wenn es ihre Absicht gewesen war, Pitt in Saint Malo festzuhalten – oder genauer gesagt, ihn von London fernzuhalten. Daraus ließ sich folgern, dass sie genau wussten, welch übles Spiel man in Bezug auf Narraway plante.

Doch was steckte dahinter? Hatte es mit bevorstehenden sozialistischen Aufständen zu tun, oder war auch das nur vorgetäuscht ?

Wer war Wrexham eigentlich? Er wurde in Gowers Berichten zweimal kurz als junger Mann aus achtbarer Familie erwähnt, der sein Studium der Neueren Geschichte abgebrochen hatte, um durch Europa zu reisen. Gower hatte die Vermutung

Je mehr sich Pitt mit dem vorliegenden Material beschäftigte, desto mehr nahm seine Überzeugung zu, dass sich hinter den bisher entdeckten Einzelhandlungen ein größerer Plan verbarg. Keine dieser Einzelheiten rechtfertigte einen Mord, auch nicht in der Summe. Es musste um eine wichtige Sache gehen – aber welche?

Am dringendsten schien ihm die Frage, ob man Narraway mit so großem Aufwand des Diebstahls bezichtigt hatte, um sich an ihm für etwas zu rächen. Oder ob die eigentliche Absicht dahinter gewesen war, zu erreichen, dass er aus seinem Amt entlassen wurde und aus England verschwand. Je länger sich Pitt mit dieser Frage beschäftigte, desto ausgeprägter wurde seine Überzeugung, dass Letzteres der Fall war.

Was hätte Narraway an seiner Stelle den Informationen entnommen? Sicher hätte er das Muster erkannt, das sich dahinter verbarg. Warum konnte Pitt es nicht erkennen? Was entging ihm?

Während er Ereignisse miteinander verglich und nach Querverbindungen und Gemeinsamkeiten suchte, klopfte es an die Tür, obwohl er ausdrücklich darum gebeten hatte, ihn nicht zu stören. Sofern der Mann, wer auch immer es war, nichts wirklich Wichtiges zu melden hatte, würde er ihn dafür büßen lassen.

»Herein«, sagte er schroff.

Die Tür öffnete sich, Stoker trat ein und schloss sie wieder hinter sich.

Pitt sah ihn kalt an.

Ohne sich davon beeindrucken zu lassen, begann Stoker: »Ich wollte gestern Abend noch mit Ihnen sprechen. Ich habe Ihre Gattin in Dublin gesehen. Es ging ihr gut, und Mr Narraway kann von Glück sagen, dass sich eine so mutige Frau für ihn einsetzt, obwohl ich sicher bin, dass sie es nicht um seinetwillen tut.«

Pitt sah ihn aufmerksam an. Der Mann wirkte gänzlich anders als am Vorabend in Croxdales Gegenwart. Worin bestand der Unterschied? Im Respekt, der Loyalität, steckten persönliche Empfindungen dahinter? Oder war es der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge?

»Haben Sie auch Mr Narraway gesehen?«, fragte Pitt.

»Ja, aber ich habe nicht mit ihm gesprochen. Es war der Tag, an dem O’Neil erschossen wurde.«

» Von wem?«

»Das weiß ich nicht. Ich vermute, dass eine gewisse Talulla Lawless die Täterin ist, weiß aber nicht, ob man das je wird beweisen können. Mr Narraway ist in Schwierigkeiten, Mr Pitt. Er hat mächtige Feinde …«

»Das ist mir bekannt«, fiel ihm Pitt ins Wort. » Wie es scheint, aus der Zeit vor zwanzig Jahren.«

»Die meine ich nicht«, sagte Stoker eindringlich. »Jetzt, hier in Lisson Grove. Derjenige, der ihn in Verruf bringen und aus dem Land haben wollte, hat auch dafür gesorgt, dass man Sie nach Frankreich lockte, in die andere Richtung, damit Sie nicht mitbekamen, was hier gespielt wurde, und Mr Narraway nicht helfen konnten.«

»Sagen Sie mir alles, was Sie über die Vorfälle in Irland wissen«, verlangte Pitt. »Und setzen Sie sich!« Ihm lag weniger an Einzelinformationen als an der Möglichkeit, abzuwägen, was

Stoker kam der Aufforderung nach, ohne sich weiter darüber zu äußern. Vermutlich hatte er begriffen, worum es Pitt ging, doch war seinen Zügen nichts anzumerken.

»Ich war nur zwei Tage da«, begann er.

» Wer hat Sie geschickt?«, unterbrach ihn Pitt.

»Niemand. Ich habe es so hingestellt, als hätte mir Mr Narraway vor seiner Abreise den Auftrag dazu erteilt.«

»Warum?«

» Weil ich ihn ebenso wenig für schuldig halte wie Sie«, sagte Stoker voll Bitterkeit. »Auch wenn er manchmal kühl und schroff wirkt, würde er nie sein Land verraten. Man hat ihn aus dem Weg geräumt, weil den Leuten bewusst war, dass Mr Narraway sofort durchschauen würde, was hier gespielt wird, und dann wäre damit schon bald Schluss gewesen. Dieselben Leute waren überzeugt, dass auch Sie ihnen in die Quere kommen würden, auch wenn Sie ihre Machenschaften vielleicht nicht durchschauen würden. Ich will Sie damit nicht kränken, Sir, aber Sie wissen noch nicht genug, um zu erkennen, worum es geht.«

Pitt zuckte zusammen, konnte aber nichts dagegen einwenden. Der Mann hatte nur allzu Recht, so sehr es Pitt schmerzte, sich das einzugestehen.

»Ich hatte den Eindruck, dass Mr Narraway in Dublin zu ermitteln versucht hat, wer dafür gesorgt hat, dass es aussah, als habe er das für Mulhare vorgesehene Geld an sich gebracht. Wahrscheinlich, um auf die Weise allmählich dahinterzukommen, wer hier in London die ganze Sache eingefädelt hat«, fuhr Stoker fort. »Ich weiß nicht, ob ihm das gelungen ist, auf jeden Fall hat man ihm mit dem Mord an O’Neil eine üble Falle gestellt. Das Ganze muss glänzend vorbereitet gewesen

Ihre Gattin war dicht hinter ihm, aber er hat vor der Polizei geschworen, dass sie mit der Sache nichts zu tun hatte, damit man sie in Ruhe ließ. Sie ist dann in ihre Pension zurückgekehrt. Mehr weiß ich nicht über sie. Man hat Mr Narraway festgenommen. Bestimmt wird man ihn unter Anklage stellen und hängen, wenn wir nichts unternehmen. Bis dahin bleibt uns aber sicher noch eine gute Woche Zeit.« Er sah Pitt fragend an.

Die Notwendigkeit, eine Entscheidung zu treffen, lastete wie ein bleierner Mantel auf Pitts Schultern. An niemanden konnte er sich wenden, niemandes Meinung dazu einholen und gegen seine eigene abwägen. Wer immer es so eingerichtet hatte, dass er, und nicht Narraway, diese Entscheidung zu treffen hatte, musste ungeheuer gerissen sein.

Er entschloss sich, Stoker zu trauen. Der Vorteil, den das versprach, war größer als das Risiko, das er damit einging.

»Das heißt, uns stehen vielleicht zehn Tage zur Verfügung, um Narraway zu retten«, gab er zurück. » Vermutlich ist das den Leuten, die hinter der ganzen Sache stehen, ebenso bewusst wie uns. Also dürfen wir annehmen, dass sie bis dahin das Vorhaben beendet haben, um dessentwillen sie ihn aus dem Weg haben wollten.«

Stoker richtete sich ein wenig auf. »Ja, Sir.«

»Und wir haben keine Vorstellung davon, wer diese Leute sind«, fuhr Pitt fort. »Außer dass sie hier in der Abteilung ein hohes Maß an Macht und Einfluss haben, so dass wir niemandem trauen können. Selbst Sir Gerald scheint diesen Menschen mehr zu trauen als Ihnen oder mir.«

Stoker gestattete sich ein leichtes Lächeln. »Damit haben Sie Recht, Sir. Und das könnte das Ende von allem bedeuten, wahrscheinlich auch von Ihnen und mir und ganz bestimmt von Mr Narraway.«

»Das heißt, Sie und ich sind auf uns allein gestellt, um festzustellen, was hier gespielt wird.« Pitt war zu dem Ergebnis gekommen, dass es ums Ganze ging und er, wenn er Stoker schon trauen wollte, es rückhaltlos tun müsste. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, dem Mann den Eindruck zu vermitteln, als verlasse er sich nur zum Teil auf ihn.

Er holte die Papiere hervor, an denen er gearbeitet hatte, und legte sie so auf den Tisch, dass beide sie einsehen konnten.

»Dieses Muster habe ich bisher erkannt.« Er wies auf Linien, die Fälle von Waffenschmuggel und die Bewegungen von sowohl in Großbritannien als auch auf dem europäischen Kontinent allgemein bekannten Radikalen miteinander verbanden.

»Das ist ehrlich gesagt nichts Besonderes«, sagte Stoker mit finsterer Miene. »Es sieht für mich so aus wie immer.« Er wies auf einzelne Stellen des Planes: »Das da ist Rosa Luxemburg im Osten, aber die ist schon seit Jahren so aktiv. Dann haben wir Jean Jaurès in Frankreich. Der bedeutet aber keine Gefahr, denn er ist nicht auf Revolution aus, sondern auf Gesellschaftsreformen. Er führt zwar ab und zu eine recht scharfe Sprache, ist aber bei Licht besehen ziemlich gemäßigt. Jedenfalls hat das nichts mit uns zu tun. Der Mann ist so französisch wie Froschschenkel.«

»Und hier?« Pitt wies auf eine Linie, die Aktivitäten der Fabier-Gesellschaft in London und Birmingham bezeichnete.

»Die werden ihre Vorhaben letzten Endes durch das Unterhaus bringen«, sagte Stoker. »Keir Hardie wird ein bisschen Lärm schlagen, aber auch darum brauchen wir uns nicht zu

Pitt gab keine Antwort. Er sah erneut die Berichte an und las den Text noch einmal, sah aufmerksam auf das geografische Muster, das sich vor seinen Augen abzeichnete, und auf die Namen derer, die an den jeweiligen Aktionen beteiligt waren.

Dann erregte etwas seine Aufmerksamkeit. »Ist das Willy Portman?«, fragte er und wies auf einen Bericht über bekannte Agitatoren, die man in Birmingham beobachtet hatte.

»Ja, Sir, sieht ganz so aus. Was hat der hier zu suchen? Das ist ein ziemlich übles Subjekt. Gewalttätig. Wo der sich beteiligt, kommt nichts Gutes dabei heraus.«

»Ich weiß«, gab ihm Pitt Recht. »Aber nicht darauf will ich hinaus. In diesem Bericht hier heißt es, man habe ihn bei einer Versammlung zusammen mit Joe Gallagher gesehen. Es ist aber allgemein bekannt, dass die beiden seit Jahren miteinander verfeindet sind – was könnte die veranlassen, etwas gemeinsam zu unternehmen?«

Stoker sah ihn an. »Das ist noch nicht alles«, sagte er leise. »In Sheffield hat man McLeish zusammen mit Mick Haddon gesehen.«

Pitt kannte auch diese Namen. Es handelte sich um zwei extrem gewalttätige Männer, von denen ebenfalls bekannt war, dass sie einander bis aufs Blut hassten.

»Außerdem Fenner«, fügte er hinzu und wies auf das Blatt, wo der Name stand. »Hinzu kommen Guzman und Scarlatti. Das ist ein durchgehendes Muster. Ganz gleich, worum es sich bei der Sache handelt, sie scheint diesen Erzfeinden so wichtig zu sein, dass sie plötzlich zusammenarbeiten, und das hier in unserem Land.«

Ein Anflug von Besorgnis trat in Stokers Augen. »Ich bin aus einer ganzen Reihe von Gründen durchaus für Reformen, Sir, aber ich möchte nicht, dass dabei gleich alles Gute aufgegeben wird. Außerdem ist Gewalt nicht der richtige Weg, denn einerlei, was man damit bewirkt, es geht dann immer auf die gleiche Art weiter. Wenn man den König hinrichtet, hat man entweder einen religiösen Diktator wie Cromwell am Hals, der das Volk stärker unterdrückt hat, als je vor ihm ein König, und man muss zusehen, wie man den wieder los wird – oder ein Ungeheuer wie Robespierre mit seiner Schreckensherrschaft in Frankreich taucht auf, und anschließend kommt dann noch ein Napoleon. Ganz zum Schluss hat man dann doch wieder einen König auf dem Thron, zumindest eine Zeit lang. Lieber als all das möchte ich, dass die Dinge bei uns im Lande bleiben, wie sie sind, mit allen Mängeln.«

»Mir geht es ebenso«, stimmte Pitt zu. »Aber solange wir nicht wissen, wer diese Leute sind und wann und auf welche Weise sie losschlagen wollen, können wir der Sache nicht Einhalt gebieten. Ich fürchte, uns bleibt nicht viel Zeit.«

»Nein, Sir. Und wenn Sie gestatten, dass ich es offen sage, wir haben auch keine Verbündeten, jedenfalls nicht hier in Lisson Grove. Wer immer das war, der Mr Narraways Namen in den Schmutz gezogen hat, er hat gründliche Arbeit geleistet, und Ihnen traut hier im Hause niemand, weil Sie Narraways Mann sind.«

Pitt lächelte grimmig. »Ich bin sicher, dass noch viel mehr dahintersteckt, Stoker. Ich bin ganz neu in dieser Position und kenne die Hintergründe nicht. Keiner von den Männern wird mir mehr trauen als Austwick, was man ihnen kaum übelnehmen kann.«

»Ist Austwick Ihrer Ansicht nach ein Verräter, Sir?«

»Vermutlich. Aber möglicherweise nicht der einzige.«

»Ich weiß«, sagte Stoker kaum hörbar.

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