KAPITEL 5

Noch als sie am nächsten Morgen Narraway am Frühstückstisch in Mrs Hogans ruhiger Pension gegenübersaß, hatte sich Charlotte nicht entschieden, was sie ihm sagen wollte. Sie brauchte noch viel mehr Zeit, um einzuordnen, was sie gehört hatte, und möglicherweise würde nicht einmal das helfen. Um diese relativ späte Vormittagsstunde waren keine weiteren Gäste im Speiseraum. Auf den meisten anderen Tischen lagen bereits frische Leinentischtücher mit Spitzenbesatz für das Abendessen.

»Ausgesprochen angenehm«, antwortete sie auf seine Frage nach dem Verlauf des Abends. Dabei merkte sie überrascht, dass das weitgehend ihrer wahren Meinung entsprach. Es war schon lange her, dass sie an einer Abendgesellschaft von so hohem Niveau teilgenommen hatte, bei der zugleich ganz allgemein eine gewisse Leichtigkeit der Atmosphäre geherrscht hatte. In Bezug auf die bessere Gesellschaft schien es ihr keine bemerkenswerten Unterschiede zwischen Dublin und London zu geben.

Sie konzentrierte sich auf das reichhaltige Frühstück, das vor ihr stand. Es war weit mehr, als sie brauchte, um sich bei guter Gesundheit zu erhalten.

»Die Leute waren äußerst freundlich zu mir«, fügte sie hinzu.

»Unsinn«, gab er gelassen zurück.

Von seiner Schroffheit überrascht, hob sie den Blick.

Er lächelte, doch im klaren Licht des Vormittags war außer der Müdigkeit auf seinem Gesicht deutlich etwas zu erkennen, was Furcht sein mochte. Ihre Entschlossenheit, ihm nicht die Wahrheit zu sagen, geriet ins Wanken. Es gab so manches, was sie an ihm nicht deuten konnte, doch die ausgeprägten Falten in seinem Gesicht und die tief in ihren Höhlen liegenden Augen zeigten, wie es wahrhaft um ihn stand.

»Schön«, gab sie nach. »Sie waren gastfreundlich, und ein gewisser Glanz des Ereignisses war sehr angenehm. Trifft es das besser?«

Er war belustigt. Zwar reagierte er nicht mit einem so offenkundigen Signal wie einem Lächeln, doch begriff sie auch so.

» Wen hast du kennengelernt? Natürlich abgesehen von Fiachra.«

»Kennst du ihn schon lange?«, fragte sie zurück, während sie sich mit einem leichten Schauder an McDaids Worte erinnerte.

» Warum willst du das wissen?« Er nahm eine weitere Scheibe Toast und bestrich sie mit Butter. Er hatte noch nicht viel gegessen, und sie fragte sich, ob er überhaupt geschlafen hatte.

»Nun, er scheint durchaus bereit, dir weiterzuhelfen«, erklärte sie, »und er hat mich in Bezug auf dich nach nichts gefragt. «

»Er ist ein guter Freund«, sagte er und sah ihr dabei gerade in die Augen.

Sie lächelte. »Unsinn«, sagte sie im selben Ton wie zuvor er.

»Stimmt«, bestätigte er. »Aber wir kennen einander wirklich schon lange.«

»Kann es sein, dass Irland von Menschen wimmelt, die du schon lange kennst?«

Er strich ein wenig Orangenmarmelade auf seinen Toast.

Sie wartete.

»Ja«, sagte er. »Aber von den meisten weiß ich nicht, auf welcher Seite sie stehen.«

»Wofür brauchst du eigentlich mich, wenn dieser McDaid dein Freund ist?«, fuhr sie mit schonungsloser Offenheit fort. Benutzte er sie etwa dazu, andere abzulenken, während er sich bemühte, die Probleme allein zu lösen? Mit einem Mal kam ihr ein noch entsetzlicherer Gedanke: Vielleicht wollte er nicht, dass sie in London war, wo sich Pitt mit ihr in Verbindung setzen könnte. Wie verwickelt war diese ganze Geschichte eigentlich und wie widerwärtig? Wo mochte sich das unterschlagene Geld gegenwärtig befinden? Ging es wirklich um Geld und nicht in Wahrheit um die Begleichung alter Rechnungen, um Rache? Oder ging es um beides?

Es war dringender nötig denn je, die Wahrheit zu erfahren, oder zumindest alles, was nach wie vor seinen Schatten auf die Gegenwart warf.

Er hatte ihr keine Antwort gegeben.

»Ist es nicht so, dass du mich oder sogar uns beide benutzt und großzügig mit der Wahrheit umgehst?«, hielt sie ihm vor.

Er zuckte zusammen, als habe sie ihn nicht nur seelisch getroffen, sondern auch körperlich. »Ich belüge dich nicht, Charlotte. « Seine Stimme war so leise, dass sie sich ein wenig vorbeugen musste, um zu verstehen, was er sagte. »Ich wähle … nur sehr sorgfältig aus, einen wie großen Teil der Wahrheit ich dir sage …«

»Und worin besteht da der Unterschied?«, erkundigte sie sich.

Er seufzte. »Du bist eine gute Kriminalistin – auf deine ganz besondere Weise beinahe so gut wie dein Mann –, aber die Arbeit im Sicherheitsdienst ist von gänzlich anderer Art als die Ermittlung in einem gewöhnlichen Mordfall.«

»Nicht alle Mordfälle sind gewöhnlich«, widersprach sie. »Liebe und Hass der Menschen lassen sich nur äußerst selten unter diesem Begriff fassen. Die Menschen töten einander aus allen möglichen Gründen, meist aber, um etwas zu schützen, etwas zu bekommen, was ihnen wahrhaft am Herzen liegt, oder um sich für eine Herabsetzung oder Verletzung zu rächen, die sie andernfalls nicht ertragen könnten. Damit meine ich nicht unbedingt körperliche Verletzungen. Seelische Wunden heilen mitunter weit schlechter.«

»Ich bitte um Entschuldigung«, gab er zurück. »Ich hätte sagen sollen, dass die Bündnisse und Treuebeziehungen sehr viel kompliziertere Netze knüpfen. Geschwister können einander ebenso gut als Feinde gegenüberstehen wie Mann und Frau. Genauso kann es sein, dass Rivalen einander helfen oder gar einer für den anderen in den Tod geht, weil sie derselben Sache dienen.«

»Und dabei werden Unschuldige, die es zufällig trifft, ebenso zu Opfern wie die Schuldigen«, wiederholte sie McDaids Worte. »Meine Rolle ist recht einfach. Ich würde dir gern beistehen, sehe mich aber durch alles in meinem Wesen dazu verpflichtet, in erster Linie meinem Mann zu helfen und natürlich auch mir selbst …«

»Ich hatte gar nicht gewusst, dass du so nüchtern und praktisch denkst«, sagte er mit einem angedeuteten Lächeln.

»Für mich als Frau mit begrenzten Geldmitteln, die für ihre Kinder sorgen muss, ist ein gewisses Maß an Nüchternheit und praktischem Denken unabdingbar.« Sie sagte das mit freundlicher Stimme, um ihn mit ihren Worten nicht zu kränken.

»Dann wirst du verstehen, dass Fiachra in Bezug auf so mancherlei mein Freund ist, ich mich aber nicht auf ihn verlassen kann, wenn bei der Sache eine andere Lösung herauskommt, als ich vermutet hatte.«

»Es gibt also eine, die du vermutest?«

»Das habe ich dir doch gesagt: Ich nehme an, dass Cormac O’Neil eine ideale Methode entdeckt hat, sich an mir zu rächen, und die hat er genutzt.«

»Für etwas, was zwanzig Jahre zurückliegt?«, fragte sie in zweifelndem Ton.

»Niemand in Europa hat ein längeres Gedächtnis als die Iren.« Er biss in seinen Toast.

»Und haben sie auch so viel Geduld?«, fragte sie ungläubig. »Normalerweise werden Menschen tätig, weil sich irgendwo etwas verändert hat. Das ist der gemeinsame Nenner von Staatsverbrechen und gewöhnlichem, alltäglichem Mord. Etwas, was neu auf der Bildfläche erschienen ist, muss O’Neil – oder wer auch sonst immer dahintersteckt – veranlasst haben, das gerade jetzt zu tun. Unter Umständen hat sich die Möglichkeit dazu erst jüngst ergeben, ebenso gut aber kann es sein, dass er jetzt den richtigen Zeitpunkt für gekommen hielt.«

Er verzehrte den Rest der Scheibe Toast, bevor er antwortete. »Du hast natürlich Recht. Der Haken ist nur, dass ich nicht weiß, welcher dieser Gründe zutrifft. Ich beschäftige mich schon lange gründlich mit der Lage in Irland und vermag keinerlei Anlass dafür zu erkennen, dass O’Neil das gerade jetzt getan hat.«

Ein äußerst unangenehmer Gedanke kam ihr und ließ sie innerlich erschauern. »Müsste er sich dann nicht auch klar darüber sein, dass seine Handlungsweise dich hierherbringen würde?«, fragte sie.

Narraway sah sie aufmerksam an. »Du meinst, dass er mich hier haben möchte? Ich bin sicher, wenn er mich umbringen wollte, wäre er dazu nach London gekommen. Wenn ich der Ansicht gewesen wäre, dass es hier um Mord geht, hätte ich nicht zugelassen, dass du mich begleitest, Charlotte. Bitte billige mir zu, dass ich so weit vorausgedacht habe.«

»Entschuldigung«, sagte sie.

»Um deiner selbst willen kann ich dir nicht alles sagen, was ich weiß«, räumte er ein, »weder was Irland, noch was andere Dinge betrifft. Ich wüsste keinen Grund, warum sich O’Neil – oder auch sonst jemand – ausgerechnet jetzt zu diesem Schritt entschlossen hat. Unbestreitbar hat jemand, der in Dublin über sehr gute Beziehungen verfügen muss, das für Mulhare bestimmte Geld an sich gebracht, um auf diese Weise zu erreichen, dass der arme Teufel umgebracht wurde. Anschließend hat er es auf das besagte Konto zurücküberwiesen und dafür gesorgt, dass Austwick und Croxdale darauf aufmerksam wurden, was – ganz wie gewünscht – zu meiner Entfernung aus dem Amt geführt hat.«

Er goss sich Tee nach. »Vielleicht hat O’Neil die Sache gar nicht selbst in Gang gesetzt, sondern lediglich als williges Werkzeug gedient. Ich habe mir im Laufe der Zeit viele Feinde gemacht. Das bringen Wissen und Macht zwangsläufig mit sich.«

»Dann überleg dir, welche anderen Feinde das sein könnten«, drängte sie ihn. »Bei wem haben sich die Umstände geändert? Gibt es jemanden, dem ihr vielleicht zu dicht auf den Fersen wart?«

»Meinst du wirklich, meine Liebe, dass ich daran nicht gedacht habe?«

»Und du meinst nach wie vor, dass es O’Neil ist?«

»Vielleicht hängt das einfach mit meinem schlechten Gewissen zusammen.« Er lächelte so flüchtig, dass es kaum seine Augen erreichte und gleich wieder verschwunden war. »›Der Gottlose flieht, und niemand jagt ihn‹«, zitierte er. »Aber auf jeden Fall gibt es in diesem Zusammenhang ein Wissen, das ausschließlich mit der Angelegenheit vertraute Menschen besitzen können.«

»Oh.« Sie goss sich ebenfalls noch einmal Tee ein. »Dann sollten wir besser mehr über O’Neil in Erfahrung bringen.

Er schluckte. »Wie hieß sie in Wirklichkeit?«

»Christine Owen«, gab sie zur Antwort.

Er lachte, aber es klang nicht fröhlich, sondern eher ein wenig traurig. Sie sagte nichts, aß ihren Toast auf und leerte ihre Tasse.

Den Vormittag und den größten Teil des Nachmittags hindurch las sie so viel wie möglich über die Geschichte Irlands. Dabei merkte sie, wie groß ihre Wissenslücken waren, und sie schämte sich ein wenig dafür. Da das Land so nahe an England lag und die Engländer es über Jahrhunderte hinweg gewissermaßen besetzt gehalten hatten, war seine Geschichte in den Köpfen der meisten Briten zum Bestandteil der Geschichte des eigenen Landes geworden. Großbritannien beherrschte ein Viertel der ganzen Welt, und die Engländer neigten dazu, Irland ihrem eigenen kleinen Teil davon zuzuschlagen. Das fiel ihnen umso leichter, als die Iren »selbstverständlich« nicht nur der Krone und der Londoner Regierung unterstanden, sondern auch dieselbe Sprache benutzten wie die Engländer – die Existenz des Gälischen hatten die Briten der Einfachheit halber gar nicht erst zur Kenntnis genommen.

Eine große Zahl der bedeutendsten Söhne Irlands hatte sich auf der Weltbühne einen Namen gemacht und war dabei von Engländern nicht zu unterscheiden. Zwar war allgemein bekannt, dass Oscar Wilde Ire war, doch seine Theaterstücke waren durch und durch englisch. Wahrscheinlich wussten die Leute auch, dass Jonathan Swift irischer Abkunft war – aber wie war es mit Bram Stoker, dem Schöpfer des bösen Grafen Dracula, und dem bedeutenden Herzog von Wellington, dem Sieger von Waterloo und späteren Premierminister Englands? Dass all diese Männer die irische Heimat in jungen Jahren verlassen hatten, änderte nicht das Geringste an ihrer Abstammung.

Zwar hatte Charlotte keine irische Vorfahren, doch nachdem sie behauptet hatte, eine irische Großmutter zu haben, war es vielleicht angebracht, die ganze Sache sensibler zu betrachten und für die Gefühle der Iren etwas mehr Verständnis aufzubringen.

Gegen Abend zog sie erneut ihr einziges schwarzes Kleid an, diesmal mit anderem Schmuck und anderen Handschuhen. Ihre Frisur zierte ein Schmuckstück, das ihr Emily vor Jahren geschenkt hatte. Dann fragte sie sich besorgt, ob sie für das Theater vielleicht übertrieben gut gekleidet war. Sie überlegte sich, ob andere Frauen weniger Aufwand treiben würden. Immerhin war es denkbar, dass die Iren als gebildete und kultivierte Menschen in einem Theaterabend weniger ein gesellschaftliches Ereignis sahen, als vielmehr das intellektuelle Vergnügen und die innere Bewegung in den Vordergrund stellten.

Sie nahm den Haarschmuck ab und musste dann ihre Frisur neu ordnen. Das kostete Zeit, und so war sie ziemlich aufgeregt, als Narraway an ihre Tür klopfte, um ihr mitzuteilen, McDaid sei da, um sie abzuholen.

»Danke«, sagte sie und legte rasch den Kamm auf die Frisierkommode, wobei ihr mehrere lose Haarnadeln zu Boden fielen, ohne dass sie weiter darauf achtete.

Er sah sie besorgt an. »Alles in Ordnung?«

»Ja. Ich war mir einfach nicht ganz sicher, was ich anziehen sollte«, tat sie seine Sorge mit einer Handbewegung ab.

Er musterte sie gründlich. Seine Augen wanderten von ihren Schuhen, deren Spitzen unter dem Saum ihres Kleides zu sehen waren, bis hinauf zu ihrer Stirn. Sie spürte, wie ihre Wangen brannten, als sie in seinen Augen die unverhohlene Bewunderung erkannte.

»Du hast es genau richtig gemacht«, gab er schließlich sein Urteil ab. »Brillantschmuck wäre hier gänzlich unangebracht. Die Iren nehmen ihr Theater sehr ernst.«

Sie holte Luft, um zu erwidern, dass sie derlei nicht besitze, doch dann ging ihr auf, dass er sich über sie lustig machte. Sie fragte sich, ob er einer Frau, die er liebte, Diamanten schenken würde. Wahrscheinlich nicht. Falls er zu dieser Art Liebe fähig war, würde er wohl eher etwas Persönlicheres und Einfallsreicheres schenken: ein Häuschen am Meer, wie klein auch immer, einen geschnitzten Vogel, ein Musikstück.

»Da bin ich aber froh«, sagte sie und sah ihm in die Augen. »Mir erschien das ebenfalls als zu ordinär.« Sie nahm den Arm, den er ihr anbot, und legte die Finger so leicht auf den Stoff seines Jacketts, dass er kaum etwas gespürt haben dürfte.

McDaid war ebenso elegant gekleidet wie am Vorabend, doch weniger formell. Er schien sich zu freuen, sie wiederzusehen, obwohl ihr Abschied noch nicht lange zurücklag, und erklärte sich bereit, ihr das irische Theater zu erläutern, damit sie so viel davon verstand, wie das einer Engländerin möglich war. Bei diesen Worten lächelte er ihr zu, als handele es sich um eine geheime Botschaft, von der ihm klar war, dass sie sie verstand.

Sie war schon ziemlich lange nicht im Theater gewesen, da Pitt nicht viel dafür übrig hatte, und ohne ihn mochte sie nicht gehen. Gelegentlich allerdings begleitete sie Emily und Jack und genoss einen solchen Abend in vollen Zügen. Am angenehmsten aber waren ihr Theaterbesuche mit Tante Vespasia. Da diese jedoch gegenwärtig tief bekümmert über die Hetzkampagne gegen Oscar Wilde sowie über die Art war, wie man die Affäre zwischen ihm und Lord Queensberry in der Öffentlichkeit breittrat, hatte sie in letzter Zeit keine rechte Lust gehabt, ins Theater zu gehen.

Hier in Dublin war nun so manches anders. Da das Theater deutlich kleiner war als die großen Londoner Theater, herrschte dort eine nahezu familiäre Atmosphäre. Offensichtlich

McDaid stellte sie mehreren seiner Bekannten vor, die ihn begrüßten. Sie schienen sich sowohl vom Alter wie auch – so weit sich das dem äußeren Erscheinungsbild entnehmen ließ – von ihrer gesellschaftlichen Stellung her sehr zu unterscheiden. Man hätte glauben können, er habe sie aus so vielen Berufen wie möglich ausgewählt.

»Mrs Pitt«, sagte er munter. »Sie ist aus London zu uns gekommen, um zu sehen, wie wir leben, hauptsächlich, weil unsere schöne Stadt sie interessiert, zum Teil aber auch, weil sie versuchen will, Spuren ihrer irischen Vorfahren zu finden. Wer könnte sie dafür tadeln? Welcher Mensch mit wachem Geist und heißem Herzen hätte nicht gern ein wenig irisches Blut in den Adern?«

Sie reagierte freundlich auf das Willkommen, das man ihr bot, und fand die Unterhaltung angenehm. Sie hatte fast vergessen, wie belebend es sein konnte, Menschen mit frischen Gedanken kennenzulernen. Gleichzeitig dachte sie gründlich über das nach, was Narraway über McDaid gesagt hatte. Aus dessen Antworten auf die Fragen einer oder zweier etwas neugieriger Damen schloss sie, dass er weit mehr wusste, als Narraway hatte durchblicken lassen.

Sie betrachtete aufmerksam das Gesicht ihres Begleiters, sah darauf aber nichts als gute Laune, Interesse und Freude. Dennoch war sie überzeugt, dass ihm Dinge bekannt waren, die er auf keinen Fall preiszugeben bereit war.

Obwohl sie recht früh gekommen waren, schienen die meisten Besucher schon da zu sein, als sie ihre Plätze einnahmen. Während McDaid noch mit Bekannten plauderte, hatte sie Gelegenheit, sich umzusehen und einige Gesichter zu mustern. Die Unterschiede zwischen den Besuchern hier und denen der Londoner Theater waren nicht besonders groß. Man sah

Außerdem hörte sie natürlich die ihr bereits vom Vortag vertraute andersartige melodiöse Sprechweise. Von Zeit zu Zeit bedienten sich Menschen einer ihr völlig unverständlichen Sprache, in der weder der geringste Hinweis auf lateinische oder französische Wörter noch auf solche aus germanischen Sprachen lag, aus denen sich so viele englische Wörter herleiteten. Sie nahm an, dass es sich um Gälisch handelte, die eigentliche Muttersprache der Iren. Lediglich anhand der Gesten, des Gelächters und der Gesichtsausdrücke konnte sie Rückschlüsse auf das Gesagte ziehen.

Ein Mann fiel ihr wegen seiner mit Grau durchsetzten schwarzen Tolle besonders auf. Er hatte einen schmalen Kopf, und erst als er sich zu ihr umwandte, sah sie, wie dunkel seine Augen waren. Seine Nase war stark gekrümmt, so dass das Gesicht schief wirkte. Auf seinen Zügen glaubte sie den Ausdruck großer Verwundbarkeit zu erkennen. Zu ihrer Erleichterung wandte er sich bald wieder ab, als habe er sie nicht gesehen. Sie hatte ihn unverhohlen angestarrt, und das war ungehörig, ganz gleich, wie interessant man einen Menschen finden mochte.

»Sie haben ihn gesehen«, bemerkte McDaid. Es war kaum lauter als ein Flüstern.

Verblüfft fragte sie: »Wen?«

»Cormac O’Neil.«

Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Hatte sie sich so auffällig verhalten? » War das … ich meine … der Mann mit dem …« Sie wusste nicht, wie sie ihren Satz beenden sollte.

»… mit dem gequälten Gesicht«, sagte er an ihrer statt.

»Ich wollte nicht …« Sie sah in seinen Augen, dass Abstreiten zwecklos gewesen wäre. Entweder hatte Narraway es ihm

»Kennen Sie ihn?«, fragte sie.

»Ich?« McDaid hob die Brauen. »Natürlich bin ich ihm hier und da begegnet, aber kennen? So gut wie nicht.«

»Eigentlich meinte ich damit, ob Sie miteinander bekannt sind.«

»Früher habe ich das gedacht.« Er warf einen unauffälligen Blick zu dem Mann hinüber. »Aber Tragödien verändern den Menschen. Vielleicht bringen sie auch nur zum Vorschein, was schon immer da war, ohne an die Oberfläche zu gelangen. Wie gut kennt man einen Menschen denn? Und wie gut sich selbst.«

»Ausgesprochen metaphysisch«, gab sie trocken zurück. »Die Antwort auf diese Frage lautet, dass man mehr oder weniger zutreffende Vermutungen anstellen kann, je nachdem, wie klug man ist und welche Erfahrungen man mit dem Betreffenden gemacht hat.«

Er sah sie unverwandt an. »Victor hat gesagt, dass Sie … sehr direkt sind.«

Sie fand es sonderbar, dass jemand Narraway formlos beim Vornamen nannte, da sie an die Distanz gewöhnt war, die Menschen in Führungspositionen einforderten.

Sie war nicht sicher, ob sie im Begriff stand, McDaid zu kränken. Andererseits würde ihr die Gelegenheit entgleiten, wenn sie zu schüchtern war, auch nur anzusprechen, was sie wirklich wissen wollte.

» Wie war O’Neil, als Sie ihn kennengelernt haben?«, fragte sie mit entwaffnendem Lächeln.

Seine Augen weiteten sich.

»Hat Ihnen Victor das nicht gesagt? Wie interessant.«

»Hatten Sie das von ihm erwartet?«, fragte sie zurück.

»Warum interessiert er sich für ihn, ausgerechnet jetzt?« Er saß reglos da. Um ihn herum bewegten sich Theaterbesucher in alle Richtungen, lächelten, winkten, suchten ihren Platz, nickten zustimmend zu etwas, was man ihnen sagte, machten sich Bekannten bemerkbar.

»Vielleicht kennen Sie ihn gut genug, um ihn danach zu fragen?«

Er hielt dagegen: »Sie etwa nicht?«

Mit unverändert warmem und zugleich leicht belustigtem Lächeln gab sie zurück: »Doch, selbstverständlich. Aber ich würde Ihnen seine Antwort nicht wiederholen. Sicher kennen Sie ihn gut genug, um zu wissen, dass er niemandem sein Vertrauen schenken würde, auf den er sich nicht in jeder Hinsicht verlassen kann.«

»Dann kennen wir vielleicht beide die Antwort, und keiner traut dem anderen«, sagte er nachdenklich. »Eine wie absurde und unglaublich menschliche Situation, die zugleich allerlei seelische Verletzungen ermöglicht – geradezu der Stoff für eine Komödie.«

»Nach Cormac O’Neils Aussehen zu urteilen, war es zumindest in seinem Fall eine Tragödie«, hielt sie dagegen. »Er dürfte wohl eines der unschuldigen Zufallsopfer des Krieges sein, von denen Sie gestern gesprochen haben.«

Er sah sie ruhig an, und einen Augenblick lang nahm keiner der beiden die Geräusche um sie herum wahr. »Das stimmt«, sagte er leise. »Aber das liegt zwanzig Jahre zurück.«

»Vergisst man so etwas denn?«

»Ein Ire? Nie. Und Engländer?«

»Manchmal«, gab sie zurück.

»Selbstverständlich. Es dürfte ihnen wohl auch kaum möglich sein, sich an all ihre Opfer zu erinnern!« Sogleich fing er

»Ja, bitte.«

»Ich werde mich darum kümmern«, versprach er.

Auf die Unruhe im Zuschauerraum folgte völlige Stille. Gleich darauf hob sich der Vorhang, und die Vorstellung begann. Charlotte konzentrierte sich auf die Handlung, um in den Pausengesprächen bestehen zu können, denn sicher würde McDaid sie dann mit weiteren Menschen bekanntmachen. Wenn sie keine Kommentare zu dem Stück beitragen konnte, würde man ihr das als mangelndes Interesse auslegen, und das war hier unverzeihlich.

Es fiel ihr schwer, allen Windungen der Handlung zu folgen. Nicht nur wurde häufig auf Ereignisse angespielt, von denen sie nichts wusste, es wurden sogar Wörter verwendet, die sie nicht kannte. Über dem Ganzen lag eine schwermütige Stimmung, so, als sei den Hauptdarstellern bewusst, dass am Ende ein Verlust stehen würde, an dem nichts von dem, was sie sagten oder taten, etwas ändern konnte.

Ob sich Cormac O’Neil so fühlte wie die Personen in dem Stück: ohnmächtig dem alles überrollenden Schicksal ausgeliefert? Persönliche Verluste waren ein Bestandteil des Lebens. Die einzige Möglichkeit, sie zu vermeiden, bestünde darin, niemanden zu lieben. Nach einer Weile gab sie ihre Bemühungen auf, der Handlung auf der Bühne zu folgen, und beobachtete unauffällig O’Neil.

Er schien ohne Begleitung gekommen zu sein. Die Menschen links und rechts von ihm schienen zu anderen zu gehören, denn er wandte kein einziges Mal den Kopf zu ihnen. Während der ganzen Zeit, da sie zu ihm hinsah, richtete niemand das Wort an ihn und auch er an keinen der anderen, und er sah auch zu niemandem hin, wenn die Schauspieler eine besonders gelungene Sentenz zum Besten

Je länger sie ihn beobachtete, desto vollkommener schien seine Einsamkeit zu sein. Zugleich aber merkte sie, dass er alles andere als gelangweilt wirkte. Nicht eine Sekunde lang nahm er den Blick vom Geschehen auf der Bühne, doch so manches Mal spiegelte sich, was er sah, nicht auf seinen Zügen. Was ihm wohl durch den Kopf gehen mochte? Andere Zeiten und Ereignisse, andere Tragödien, die mit der hier gezeigten durch nichts als die Tiefe der Empfindungen verbunden waren?

Als es im Saal zur Pause hell wurde, merkte Charlotte, dass eine von den Akteuren wie auch dem Publikum ausgehende Leidenschaftlichkeit sie gepackt hatte, der sie sich nicht entziehen konnte. Zugleich verwirrte es sie, es vermittelte ihr mehr noch als die andere Sprechweise, dass sie sich an einem fremden Ort befand, voller Empfindungen, die sie zwar wahrnahm, die sich ihr aber sogleich entzogen.

» Wollen wir etwas trinken gehen?«, fragte McDaid, als der Vorhang gefallen war. »Vielleicht kann ich Sie dann auch dem einen oder anderen meiner Bekannten vorstellen. Sicher sterben die vor Neugier zu erfahren, wer Sie sind, und natürlich werden sie auch wissen wollen, woher ich Sie kenne.«

»Sehr gern«, gab sie zurück. »Und woher kennen Sie mich? Da wäre es doch sicher am besten, wenn wir dasselbe sagten, weil die Leute sonst anfangen würden zu reden.« Sie lächelte, um ihren Worten den möglichen Geschmack einer Kränkung zu nehmen.

»Hat nicht ein Theaterbesuch mit einer schönen Frau den einzigen Zweck, zu erreichen, dass die Leute reden?« Er hob die Brauen. »Sonst würde man doch besser allein kommen wie Cormac O’Neil und sich auf das Stück konzentrieren, ohne sich ablenken zu lassen.«

»Vielen Dank. Der Gedanke, ich könnte Sie ablenken, schmeichelt mir.« Sie neigte den Kopf leicht kokett. »Vor allem von einem so aufwühlenden Drama. Die Schauspieler sind glänzend. Ich hatte zwar die halbe Zeit keine Ahnung, wovon sie reden, trotzdem schlagen mich die von ihnen vermittelten Gefühle in ihren Bann.«

»Sind Sie ganz sicher, dass Sie keine Irin sind?«, fragte er.

»Überhaupt nicht. Vielleicht bin ich es ja tatsächlich zum Teil. Ich müsste einfach gründlicher suchen. Aber sagen Sie Mr O’Neil bitte nicht, dass auch meine Großmutter eine geborene O’Neil war, weil ich mich sonst gezwungen sähe zuzugeben, dass ich kaum etwas über sie weiß. Das würde doch ausgesprochen unhöflich wirken, so, als missbilligte ich diesen Teil meiner Herkunft. Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, als wie interessant sie sich erweisen würde.«

»Ich werde es ihm nicht sagen, wenn das Ihr Wunsch ist«, versprach er.

»Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, wie wir einander kennengelernt haben«, erinnerte sie ihn.

»Ich habe Sie in einem Raum voller Menschen gesehen und eine gemeinsame Bekannte gebeten, uns vorzustellen«, sagte er. »Lernt man eine Frau, die man sieht und bewundert, nicht immer auf diese Weise kennen?«

»Gut möglich. Aber was für ein Raum war das? Hier in Irland? Vermutlich nicht, denn ich bin erst zwei Tage hier. Waren Sie denn in jüngster Zeit in London?« Mit einem Lächeln fügte sie hinzu: »Oder überhaupt jemals?«

»Selbstverständlich. Sie halten mich doch nicht etwa für einen Hinterwäldler?« Er zuckte die Achseln. »Allerdings nur einmal. Die Stadt hat mir nicht zugesagt – und ich ihr auch nicht. Sie ist so ungeheuer groß, so voller Menschen und gleichzeitig so anonym. Man könnte dort leben und sterben, ohne je wahrgenommen zu werden.«

»Jedenfalls bin ich doch erst seit zwei Tagen in Dublin«, erinnerte sie ihn noch einmal, um das Schweigen zu füllen.

»Dann haben Sie mich eben auf den ersten Blick behext«, sagte er und lächelte plötzlich wieder. »Es tut mir leid, etwas Kränkendes über Ihre Heimat gesagt zu haben. Das ist unverzeihlich. Führen wir es auf meine eigene Unzulänglichkeit inmitten von drei Millionen Engländern zurück.«

»Oh, unter denen gibt es eine ganze Menge Iren, das dürfen Sie mir glauben«, sagte sie lächelnd. »Und keiner von denen ist im Geringsten unzulänglich.«

Er verneigte sich.

»Und ich habe in unverantwortlicher Weise Ihre Einladung angenommen, weil ich mich geschmeichelt fühlte?«, fragte sie in herausforderndem Ton.

»Nein, Sie haben Recht«, räumte er ein. »Wir müssen gemeinsame Bekannte haben – irgendeine hochachtbare Tante, würde ich sagen. Haben Sie solche Verwandten?«

»Meine angeheiratete Großtante, Lady Vespasia Cumming-Gould. Wenn die Sie mir empfohlen hätte, würde ich Sie ohne das geringste Zögern an jeden beliebigen Ort auf der Welt begleiten«, gab sie zurück.

»Das klingt nach einer bezaubernden Dame.«

»Das ist sie auch. Sie können mir glauben. Wenn Sie wirklich mit ihr zusammengetroffen wären, würden Sie nicht wagen, mich anders als mit der größten Achtung zu behandeln.«

»Wie heißt diese bemerkenswerte Dame, und wo habe ich sie kennengelernt?«

»Lady Vespasia Cumming-Gould. Der genaue Ort ist unerheblich. Sie würden jede Umgebung sogleich vergessen, wenn Sie sie sehen würden. London genügt voll und ganz.«

»Lady Vespasia Cumming-Gould«, sagte er in einem Ton, als ließe er sich den Namen auf der Zunge zergehen. »Den Namen muss ich schon einmal gehört haben.«

»Sie hat in ganz Europa Aufsehen erregt«, teilte sie ihm mit. »Ihnen muss klar sein, dass sie von unbestimmtem Alter ist, aber ihr Haar ist silberfarben, und sie hat einen Gang wie eine Königin. Sie war die schönste und aufregendste Frau ihrer Generation. Wenn Sie das nicht wissen, ist sofort klar, dass Sie ihr nie begegnet sind.«

»Ich bin zutiefst enttäuscht, dass es mir nicht vergönnt war.« Er bot ihr den Arm, und sie schritten die Treppe hinab. Im Foyer hatte sich bereits ein großer Teil des Publikums versammelt, um Bekannte zu begrüßen und Kommentare über das Gesehene abzugeben.

Nach einigen weiteren Minuten angeregten Plauderns stellte McDaid sie einem ungewöhnlich großen Mann namens Ardal Barralet sowie einer Dame namens Dolina Pearse vor, die durch ihr wild gelocktes Haar auffiel. Neben den beiden stand Cormac O’Neil, doch war offensichtlich, dass er nicht in ihrer Gesellschaft war.

»Ach, da ist ja O’Neil!«, sagte McDaid mit einer Stimme, die überrascht klang. »Ich habe Sie ewig lange nicht gesehen. Wie geht es denn?«

Barralet wandte sich um, als habe er O’Neil nicht gesehen, der so dicht neben ihm stand, dass sich ihre Frackschöße berührten.

»’n Abend, O’Neil. Gefällt Ihnen das Stück? Hinreißend, finden Sie nicht auch?«, sagte er im Plauderton.

O’Neil blieb nichts anderes übrig, als darauf einzugehen, wenn er den Mann nicht offen vor den Kopf stoßen wollte.

»Grandios«, sagte er und sah Barralet an. Seine tiefe Stimme klang äußerst gepflegt, als sei auch er ein Schauspieler, der die Wörter liebkoste, indem er sie aussprach. Ohne zu Charlotte hinzusehen, begrüßte er ihre Nachbarin mit den Worten »Guten Abend, Mrs Pearse.«

»Guten Abend, Mr O’Neil«, gab sie kalt zurück.

»Natürlich kennen Sie Fiachra McDaid«, füllte Barralet das plötzlich eingetretene Schweigen. »Aber vielleicht nicht Mrs Pitt? Sie ist erst seit kurzem in Dublin.«

»Schön, Sie zu sehen, Mrs Pitt«, sagte O’Neil höflich, doch ohne jede Spur von Interesse, und sah dann McDaid mit einem plötzlich aufflammenden Ausdruck an, den Charlotte nicht zu deuten vermochte.

McDaid erwiderte seinen Blick gelassen, und der Moment war vorüber.

Charlotte fragte sich, ob sie das gesehen oder es sich nur eingebildet hatte.

» Was führt Sie hierher, Mrs Pitt?«, erkundigte sich Dolina Pearse, unübersehbar aus dem Wunsch heraus, die Situation zu entspannen, indem sie das Thema wechselte. Weder in ihrer Stimme noch auf ihrem Gesicht lag der geringste Anflug von Interesse.

»Ich habe viel Gutes über die Stadt Dublin gehört«, gab Charlotte zurück, »und den Entschluss gefasst, angenehme Dinge in Zukunft nicht aufzuschieben, wenn sie sich sofort erledigen lassen.«

»Typisch englisch«, murmelte Dolina, »und ausgesprochen wohlerzogen«, fügte sie hinzu, als langweile sie das entsetzlich.

Charlotte spürte, wie Zorn in ihr aufstieg. Sie sah die Frau an und erklärte: »Wenn es als wohlerzogen gilt, nach Dublin zu kommen, hat man mich falsch informiert. Ich hatte gehofft, dass es vergnüglich sein würde.«

McDaid lachte laut heraus, offensichtlich von dieser Parade höchst belustigt. »Es kommt ganz darauf an, worin man seine Vergnügungen sucht, meine Liebe. Oscar Wilde, der arme Kerl, ist natürlich einer von uns und hat die Welt zum Lachen gebracht. Jahrelang haben wir versucht, die Engländer so gut nachzuahmen, wie wir konnten. Jetzt endlich sind wir dabei,

»Das erklärt eine ganze Menge«, sagte Charlotte und dankte ihm mit einem leichten Neigen des Kopfes. Ihr war klar, dass O’Neil sie beobachtete, möglicherweise, weil sie die Einzige in der Gruppe war, die er nicht kannte. Sie wollte unbedingt auf irgendeine Weise mit ihm ins Gespräch kommen, war er doch derjenige, von dem Narraway vermutete, dass er die ganze unselige Sache angezettelt hatte. Was nur konnte sie sagen, was nicht gezwungen klang? Sie sah ihn offen an, damit er sich genötigt fühlte, ihr entweder zuzuhören oder sie offen zu brüskieren.

»Möglicherweise war der Ausdruck ›vergnüglich‹ etwas unbedacht«, sagte sie halb entschuldigend. »Ich würze mein Vergnügen gern mit einer Prise Nachdenklichkeit und gelegentlich auch mit dem einen oder anderen schwer zu lösenden Rätsel, um den Genuss zu verlängern. Ein Theaterstück, bei dem man gleich alles versteht, ist oberflächlich, finden Sie nicht auch?«

Seine harten Züge wurden ein wenig weicher. » Wenn das so ist, werden Sie Irland als glückliche Frau verlassen«, teilte er ihr mit. »Bestimmt werden Sie uns nicht in einer Woche oder einem Monat verstehen, wahrscheinlich nicht einmal in einem ganzen Jahr.«

» Weil ich Engländerin bin? Oder weil die Iren so schwer zu verstehen sind?«, setzte sie nach.

»Weil wir uns meistens selbst nicht verstehen«, gab er mit leichtem Schulterzucken zurück.

»Das gilt für uns alle«, erwiderte sie. Jetzt sprachen sie miteinander, als sei sonst niemand anwesend. »Nur langweilige Menschen glauben, sie seien leicht zu verstehen.«

»Man kann langweilig sein, indem man stets laut versucht, sich selbst zu verstehen.« Er lächelte, wobei sich der Ausdruck seines Gesichts vollständig veränderte. »Aber wir tun es auf poetische Weise. Auf die Nerven geht man anderen erst, wenn man anfängt, sich zu wiederholen.«

»Aber wiederholt sich die Geschichte nicht ständig selbst, so, wie in der Musik Variationen ein Thema wieder aufnehmen? «, fragte sie. »Jede Generation, jeder Künstler, fügt eine andere Note hinzu, doch die Grundmelodie bleibt dieselbe. «

»Die Englands ist in Dur geschrieben.« Er verzog den Mund, während er das sagte. »Viel Blech und Schlagzeug. Die von Irland hingegen in Moll – Holzbläser und verklingende Akkorde. Vielleicht hier und da ein Violinsolo.« Er sah sie aufmerksam an, als spielten sie ein Spiel, bei dem einer gewinnen und der andere verlieren würde. War ihm bereits bekannt, wer sie war? Wusste er, dass sie mit Narraway gekommen war und warum?

Sie versuchte diese Überlegung als absurd von sich zu weisen, dann aber fiel ihr ein, dass jemand Narraway bereits überlistet hatte. Das durfte man als durchaus bemerkenswerte Leistung ansehen, denn dafür war außer dem glühenden Wunsch nach Rache eine hohe Intelligenz erforderlich. Vor allem aber waren, um das Geld auf Narraways Bankkonto zu überweisen, Verbindungen zu Lisson Grove nötig, und zwar zu Leuten in einflussreicher Position, die darüber hinaus bereit waren, ihrem Vorgesetzten in den Rücken zu fallen. Dieser Gedanke ließ sie vor Furcht erstarren.

Mit einem Mal erschien ihr die Sache weitaus bedrohlicher als bisher. Während sie zögerte weiterzusprechen, merkte sie,

»Ich finde immer, dass die Violine der menschlichen Stimme sehr ähnlich klingt«, sagte Charlotte mit einem Lächeln. »Sie nicht auch, Mr O’Neil?«

Einen Augenblick lang flackerte in seinem Blick Überraschung auf. Offensichtlich war er auf eine andere Äußerung gefasst gewesen, möglicherweise eine, mit der sie sich gegen ihn zur Wehr setzte. »Haben Sie nicht damit gerechnet, dass die Stimme der Helden Irlands menschlich klingt?«, fragte er. Der Blick seiner Augen zeigte, dass er diesen melodramatischen Hinweis nur halb ernst meinte.

»Nicht unbedingt«, gab sie zurück, wobei sie es vermied, McDaid oder Dolina Pearse anzusehen. »Ich hatte eher an etwas Heroisches, wenn nicht gar Übermenschliches, gedacht. «

»Das hat gesessen«, sagte McDaid leise. Er nahm Charlottes Arm mit überraschend festem Griff. Sie hätte seine Hand nicht einmal abschütteln können, wenn sie es gewollt hätte. »Leider müssen wir jetzt zurück.« Er entschuldigte sich bei den anderen und führte sie nach einem knappen Abschied davon. Fast hätte sie ihn gefragt, ob sie jemanden gekränkt habe, doch sie wollte die Antwort lieber nicht hören, und sie dachte auch nicht daran, sich zu entschuldigen.

Als sie wieder ihre Plätze eingenommen hatten, merkte sie, dass man von ihrer Loge aus das Publikum im Parkett ebenso gut sah wie die Bühne. Ein Blick auf McDaids Gesicht zeigte ihr, dass er das mit Absicht so eingerichtet hatte, doch sie äußerte sich nicht dazu.

Sie hatten ihre Loge gerade rechtzeitig erreicht, denn schon ging der Vorhang auf, und die Handlung des Stücks nahm sie sogleich wieder gefangen. Es fiel ihr trotz der großen Gefühle schwer, den Dialogen zu folgen, die voller Anspielungen

In einer Loge ihnen nahezu genau gegenüber sah sie das Ehepaar Tyrone. Sie konnte beider Gesichter ziemlich deutlich erkennen. John folgte dem Bühnengeschehen so aufmerksam, dass er sich leicht vorbeugte, als wolle er sich kein Wort entgehen lassen. Bridget sah zu ihm hin, wandte sich dann aber ab, als sie merkte, wie konzentriert er war, und ließ ihrerseits den Blick durch den Saal schweifen. Charlotte nahm das Opernglas, das ihr McDaid geliehen hatte, vor die Augen, nicht etwa, um die Schauspieler auf der Bühne besser sehen zu können, sondern damit niemand merkte, wohin sie blickte, und beobachtete Bridget aufmerksam. Als diese einen Mann entdeckte, der links unter ihr im Parkett saß, sah sie lange zu ihm hin. Obwohl Charlotte lediglich seinen Hinterkopf sehen konnte, war sie sicher, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte, doch fiel ihr nicht ein, wo.

Bridget sah weiterhin unverwandt zu ihm hin, als wolle sie ihn dazu veranlassen, seinen Blick auf sie zu richten.

Die Handlung auf der Bühne spitzte sich zu, doch bekam Charlotte das nur am Rande mit, da sie sich weiterhin auf die Zuschauer im Saal konzentrierte. John Tyrone ließ nach wie vor die Schauspieler nicht aus den Augen. Der Mann im Zuschauerraum wandte endlich den Kopf und hob den Blick zu den Logen, die er eine nach der anderen abzusuchen schien, bis er Bridget entdeckt hatte. Charlotte erkannte ihn sofort, als sie ihn im Profil sah – es war Phelim O’Conor. Mit einem für sie nicht deutbaren Gesichtsausdruck hielt er den Blick unverwandt auf Bridget gerichtet.

Diese wandte den Kopf rasch beiseite, als sich ihr Mann vom Geschehen auf der Bühne löste und zu ihr hersah. Sie wechselten einige Worte miteinander.

Jetzt wandte sich O’Conor erneut der Bühne zu und beobachtete, was sich dort abspielte. Er hielt sich völlig reglos, während die Handlung erkennbar einem Höhepunkt entgegenstrebte und die Schauspieler einander wild gestikulierend zu bedrohen schienen.

In der zweiten Pause nahm McDaid Charlotte wieder mit ins Foyer, an dessen Bar Erfrischungen serviert wurden. Alle Gespräche schienen sich um das Stück zu drehen, die Qualität der Darbietung, die Frage, ob sie die Aussageabsicht des Autors deutlich machte und der Hauptdarsteller seiner Rolle gerecht wurde.

Während Charlotte zuhörte, sah sie sich aufmerksam unter den Anwesenden um. Doch wie sich zeigte, war unter ihnen niemand weiter, den sie kannte. Dennoch kamen ihr die Menschen in gewisser Weise vertraut vor. Manche von denen, die da an der Bar anstanden oder sich angeregt mit anderen unterhielten, ähnelten solchen, die sie vor ihrer Heirat gekannt hatte, so sehr, dass sie mehr oder weniger damit rechnete, sie wiederzuerkennen. Es war ein sonderbares Gefühl, angenehm und zugleich voll Wehmut, auch wenn sie ihr gegenwärtiges Leben um keinen Preis mit ihrem früheren vertauscht hätte.

»Gefällt Ihnen das Stück?«, erkundigte sich McDaid. Sie näherten sich der Bar, wo Cormac O’Neil mit einem Glas Whiskey in der Hand stand.

Ob McDaid wusste, wie wenig sie auf die Vorstellung geachtet hatte? Das war durchaus möglich. Sie wollte ihn weder belügen noch ihm die Wahrheit sagen.

Auch O’Neil schien gespannt auf ihre Antwort zu warten.

»Mir gefällt das Ganze. Es ist für mich ein wirkliches Erlebnis«, gab sie diplomatisch zurück. »Ich bin Ihnen außerordentlich

»Es freut mich, dass es Ihnen zusagt«, sagte McDaid mit einem Lächeln. »Ich war nicht sicher, ob es die richtige Wahl war, denn das Stück endet mit einem düsteren und schrecklichen Höhepunkt. Sie werden möglicherweise nicht viel davon verstehen.«

»Ist das die Absicht«, fragte sie, wobei sie den Blick zwischen den beiden Männern hin und her wandern ließ, »uns alle so sehr zu verwirren, dass wir Wochen oder gar Monate damit zubringen müssen herauszubekommen, welche Bedeutung wirklich dahintersteckt? Vielleicht finden wir dann ein halbes Dutzend verschiedener Möglichkeiten.«

Flüchtig trat ein Ausdruck von Überraschung und Bewunderung in McDaids Augen. In munterem Ton gab er zurück: »Es kann sein, dass Sie uns überschätzen, zumindest in diesem Fall. Ich nehme kaum an, dass die Gedankengänge des Autors so kompliziert waren.«

»An welche Möglichkeiten hatten Sie denn gedacht?«, erkundigte sich O’Neil mit leiser Stimme und in einem Ton, als handele es sich lediglich um eine Pausenplauderei. Allerdings nahm sie an, dass er darauf aus war, mit dieser Frage etwas zu ergründen.

»Fragen Sie mich in einem Monat noch einmal, Mr O’Neil«, sagte sie leichthin. »Natürlich liegt Wut darin, das kann jeder merken. Außerdem habe ich den Eindruck, dass es um eine Art Vorbestimmung geht, so, als gebe es für uns alle keine rechte Wahl und als sei unsere Handlungsweise von Geburt an vorgegeben. Mir sagt das nicht zu. Ich möchte nicht den Eindruck haben, dass … mich die Schicksalsmächte auf diese Weise beherrschen.«

»Sie sind Engländerin. Ihre Leute halten sich gern für die Herren der Geschichte. Wir in Irland haben gelernt, dass die Geschichte uns beherrscht«, erwiderte er. Auch wenn sich die Bitterkeit in seiner Stimme mit leichtem Spott und Lachen vermengte, war der Schmerz darin unverkennbar.

Es lag ihr auf der Zunge, ihm zu widersprechen, doch dann begriff sie, welche Gelegenheit sich ihr da bot. »Wirklich? Wenn ich das Stück richtig verstehe, geht es um eine gewisse allgemeingültige Unausweichlichkeit in der Liebe und im Verrat – eine Art düsteres und auf Urzeiten zurückgehendes Thema ähnlich dem in Romeo und Julia.«

O’Neils Gesichtszüge spannten sich an, und selbst im Lampenlicht des von Menschen erfüllten Raumes konnte Charlotte sehen, dass er erbleichte. »Sehen Sie das darin?« Seine Stimme klang belegt, er schien beinahe an seinen Worten zu ersticken. »In dem Fall romantisieren Sie das Ganze, Mrs Pitt.« Jetzt war die Bitterkeit in ihm überwältigend, das merkte sie deutlich.

»Ach ja?«, fragte sie und tat einen Schritt beiseite, damit ein Paar passieren konnte, das Arm in Arm vorüberkam. Dabei trat sie absichtlich näher an O’Neil heran, als erforderlich war, um Platz zu machen, so dass er nicht hätte fortgehen können, ohne sie aus dem Weg zu schieben. »Welche härtere Wirklichkeit müsste ich erkennen? Rivalität zwischen verfeindeten Parteien, zerrissene Familien, unerfüllte Liebe, Verrat und Tod? Ich halte das nicht für wirklich romantisch, außer natürlich für uns Zuschauer im Theater. Für die davon Betroffenen dürfte es alles andere als das sein.«

Er sah sie mit einer Art schwarzer Verzweiflung in seinen tief liegenden Augen an. Es fiel ihr leicht zu glauben, dass Narraway mit seiner Vermutung Recht hatte und O’Neil seinen Hass zwanzig Jahre lang genährt hatte, bis ihm das Schicksal eine Möglichkeit zur Rache aufgezeigt hatte. Aber was war der Auslöser gewesen, was hatte sich verändert?

»Und als was sehen Sie sich, Mrs Pitt?«, fragte er dicht neben ihr so leise, dass McDaid es nahezu mit Sicherheit nicht hören konnte. »Sind Sie Zuschauerin oder Mitwirkende? Ist der Zweck Ihres Hierseins, sich das Blut und die Tränen Irlands anzusehen – oder sich in die Sache einzumischen, wie Ihr Freund Narraway?«

Sie war wie vor den Kopf geschlagen und wusste nicht, was sie sagen sollte. Einen Augenblick lang waren die Gespräche der Menge um sie herum nichts anderes als ein Lärmteppich, den ebenso gut eine Gänseherde hätte erzeugen können. War es sinnvoll, die Verbindung zu ihm abzustreiten? Sicherlich würde es lächerlich wirken, wenn sie sich jetzt unwissend gebärdete.

»Ich wäre gern so etwas wie ein Deus ex Machina«, gab sie zurück. »Aber ich nehme an, dass dergleichen unmöglich ist.«

»Der Gott aus der Maschine wie im römischen Theater?«, fragte er ärgerlich. »Sie wollen also im letzten Akt auf die Bühne herabsteigen und einen unmöglichen Schluss bewirken, der dafür sorgt, dass sich alles in Wohlgefallen auflöst? Wie englisch Sie sind! Es ist geradezu absurd und unglaublich überheblich. Sie kommen zwanzig Jahre zu spät. Sagen Sie das Victor Narraway, wenn Sie ihn sehen. Hier gibt es nichts mehr auszubügeln.« Er wandte sich ab, bevor sie den Mund auftun konnte, und drängte sich an ihr vorüber. Weil er dabei gegen einen breitschultrigen Mann in einem blauen Jackett stieß, verschüttete er den Rest seines Whiskeys. Im nächsten Augenblick war er verschwunden.

Charlotte sah, dass McDaid mit dem Ausdruck eines gewissen Unbehagens neben sie trat.

»Es tut mir leid«, bat sie um Entschuldigung. Es hatte keinen Sinn, nach einer Erklärung zu suchen. Gründe spielten keine Rolle, und sie wusste nicht, inwieweit McDaid mit Narraways gegenwärtiger Schwierigkeit oder der Rolle vertraut war,

Er biss sich auf die Lippe. »Sie konnten das nicht wissen, aber Themen wie die Freiheit Irlands und Verräter an der Sache gehen O’Neil schmerzhaft nahe. Angehörige seiner Familie waren vor zwanzig Jahren verantwortlich für den Fehlschlag unseres großen Vorhabens.« Er zuckte die Achseln. »Was da im Hintergrund wirklich abgelaufen ist, haben wir nie erfahren. Sean O’Neil ist gehängt worden, weil er seine Frau Kate umgebracht hat. Es hieß immer, er habe das getan, weil sie den Engländern unsere Pläne verraten hatte, doch ist so mancher der Ansicht, in Wahrheit habe er sie mit einem anderen Mann ertappt. Wie auch immer sich das verhalten mag, wir haben wieder einmal versagt, und die Bitterkeit dieser Niederlage dauert bis in die Gegenwart an.«

Mord und der Strang. Kein Wunder, dass O’Neil verbittert war und der Kummer nie endete – und Narraway nach wie vor ein Schuldgefühl empfand, das schwer auf ihm lastete.

»Hatten Sie einen Aufstand geplant?«, fragte sie ruhig. Sie hörte die vielen Leute um sich herum.

»Natürlich«, gab McDaid mit einer Stimme zurück, die betont jeden Ausdruck vermied, so dass sie gekünstelt klang. »Damals lag die Selbstbestimmung für unser Volk in der Luft, die wir atmeten. Wir hätten wir selbst sein können, ohne den Mühlstein England um den Hals.«

»Sehen Sie das so?« Mit diesen Worten wandte sie sich ihm zu und sah ihn forschend an.

Sein Gesichtsausdruck entspannte sich, und er erwiderte ihr Lächeln, betrübt und ein wenig selbstironisch. »Damals jedenfalls habe ich es so gesehen, und immer wenn ich Cormac sehe, kommt mir die ganze Situation ins Gedächtnis. Jetzt

»Und was für Ziele wären das?«, fragte sie mit aufrichtigem Interesse.

Sein Lächeln wurde breiter, als wolle er damit die Frage abtun. »Die Reform längst überholter Gesetze und die Abschaffung gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten«, gab er zurück. »Mehr Gleichheit. Zweifellos sind es dieselben, für die Sie in Ihrer Heimat kämpfen. Wie ich höre, gibt es in London einige bemerkenswerte Frauen, die sich für allerlei Bestrebungen dieser Art einsetzen. Vielleicht werden Sie mir eines Tages über die eine oder andere etwas berichten?« Er sagte das in fragendem Ton, als sei ihm an einer Antwort gelegen.

»Gern«, sagte sie leichthin und versuchte, Fakten in ihrem Kopf zu ordnen, damit sie erforderlichenfalls eine brauchbare Auskunft geben konnte.

Er nahm erneut ihren Arm und führte sie durch das Menschengewimmel zu ihrer Loge zurück, ein höflicher, gastfreundlicher Mann mit trockenem Witz, voller Leben. Wie leicht könnte es ihr fallen zu vergessen, dass sie nicht hierhergehörte, und wie gefährlich wäre das – vor allem für sie, denn ihr Mann arbeitete für den Sicherheitsdienst, und McDaids alter Bekannter


Narraway fragte sich, was Charlotte im Theater wohl so alles herausfinden würde. Während er mit gesenktem Kopf in der warmen, feuchten Luft, die vom Wasser aufstieg, am Nordufer des Liffey am Arran-Kai entlangging, begann er zu fürchten, dass sie über ihn so manches in Erfahrung bringen würde, was er ihr lieber vorenthalten hätte, doch sah er keine Möglichkeit, das zu verhindern. Sie würde Cormac O’Neil treffen und zumindest zum Teil das Ausmaß seines Hasses wie auch die Gründe dafür erkennen.

Er lächelte bitter, als er sich vorstellte, wie sie ihrer Aufgabe nachging, all das herauszubekommen. Ob sie enttäuscht wäre, wenn sie hörte, welche Rolle er bei all dem gespielt hatte? War es reine Eitelkeit, wenn er annahm, sie schätze ihn so sehr, dass sie davon enttäuscht oder gar verletzt sein würde?

Nie würde er die Tage nach Kates Tod vergessen. Am schlimmsten war der Vormittag gewesen, an dem man Sean gehängt hatte. Die Härte dieser Strafe und der Kummer, den er darüber empfand, hatten einen kalten Schauer auf all die folgenden Jahre gelegt. Warum hatte er sich den Schmerz angetan, Charlotte davon zu berichten? Hatte er befürchtet, sie werde von sich aus etwas darüber in Erfahrung bringen, und es für besser gehalten, den Stoß selbst zu führen, als qualvoll darauf zu warten, dass ein anderer das tat?

Er hätte es besser wissen können. Die vielen im Sicherheitsdienst verbrachten Jahre hätten ihn sowohl Geduld als auch Selbstbeherrschung lehren müssen. Gewöhnlich legte er diese beiden Tugenden mit einer Perfektion an den Tag, die dafür sorgte, dass man ihn für so kalt wie einen Fisch hielt. Sicherlich

Er wollte unter keinen Umständen, dass sie etwas für ihn empfand oder sich um ihn grämte, wenn diese Gefühle auf einer Fehleinschätzung seines Wesens fußten.

Er lachte über sich selbst, so leise, dass es in seinen raschen Schritten auf den Pflastersteinen beinahe unterging. Wieso legte er eigentlich in seinem Alter so großen Wert auf die Meinung der Frau eines anderen?

Er zwang sich, auf seinen Weg und auf sein Ziel zu achten. Wenn er nicht dahinterkam, wer das für Mulhare bestimmte Geld fehlgeleitet und zurück auf sein Konto überwiesen hatte, wäre alles, was er über O’Neil erfuhr, bedeutungslos. Irgendjemand in Lisson Grove war an der Sache beteiligt. Den Iren machte er in diesem Zusammenhang keine Vorwürfe. Sie kämpften für ihr Land und ihre Freiheit, und bisweilen waren sie ihm deswegen sogar sympathisch. Aber der Mann im Sicherheitsdienst, der dahintersteckte, war zum Verräter an der eigenen Sache geworden, und das war etwas gänzlich anderes. Er wollte wissen und vor allem beweisen, wer das war. Der Schaden, den ein solcher Mensch anrichten konnte, war grenzenlos. Wenn er England so sehr hasste, dass er eine Möglichkeit gefunden hatte, dafür zu sorgen, dass Narraway bei der Regierung in Ungnade fiel, was konnte er da noch alles anrichten? War es sein eigentliches Ziel, an Narraways Stelle zu treten? Möglicherweise war die ganze Geschichte mit Mulhare nichts anderes als ein Mittel zu diesem Zweck. Aber ging es dabei wirklich um nichts als persönlichen Ehrgeiz, oder stand dahinter noch ein anderer, finstererer Zweck?

Tief in Gedanken, wäre er an der Gasse, die er suchte, beinahe vorübergegangen. Er bog in sie ein und musste sich auf den unebenen Steinen seinen Weg förmlich ertasten, so dunkel

Charlotte hatte er mit nach Dublin genommen, weil das seinem Wunsch entsprach, aber sie hatte ihre eigenen Gründe dafür, hier zu sein. Sofern er mit seiner Vermutung bezüglich des Verräters in Lisson Grove Recht hatte, würde eine der ersten Amtshandlungen jenes Menschen darin bestehen, Pitt kaltzustellen. Wenn er Glück hatte, würde man ihn einfach entlassen, doch es gab weit schlimmere Möglichkeiten. Einige davon gingen Narraway durch den Kopf, während die Tür geöffnet wurde. Man führte ihn in einen kleinen, entsetzlich stickigen Büroraum voller Hauptbücher, Rechnungsbücher und Stapel loser Blätter. Eine getigerte Katze hatte es sich vor dem Kaminfeuer bequem gemacht und rührte sich nicht, als er eintrat und sich setzte.

O’Casey saß hinter dem überladenen Schreibtisch, sein kahler Schädel glänzte im Licht der Gaslampe.

»Nun?«, fragte Narraway, bemüht, seine Ungeduld zu verbergen, so gut es ging.

O’Casey zögerte.

Narraway überlegte, ob er dem Mann drohen sollte. Ihm standen durchaus noch gewisse Machtmittel zur Verfügung, wenn sie auch jetzt nicht mehr durch die Gesetze gedeckt wurden. Er sog die Luft ein. Dann sah er erneut zu O’Casey hin und überlegte es sich anders. Er hatte wenig genug Freunde, da konnte er es sich nicht leisten, es sich mit einem von ihnen zu verderben.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte O’Casey mit leicht schief gelegtem Kopf. »Um der alten Zeiten willen will ich Ihnen helfen. Aber nicht mehr, als ich unbedingt muss, und das ist wenig genug. Und dann muss Schluss sein.«

»Ist mir klar«, gab ihm Narraway Recht. Es gab auf beiden Seiten Wunden und Schulden, die zum Teil noch nicht beglichen

»Lassen Sie den armen Mann doch um Gottes willen in Ruhe! Haben Sie ihm nicht schon alles genommen, was er hatte?«, rief O’Casey aus. »Sie sind doch wohl nicht auf das Kind aus, oder?«

»Das Kind?« Einen Augenblick verstand Narraway nicht. Dann kam ihm die Erinnerung – Kates und Seans Tochter. Sie war beim Tod ihrer Eltern erst sechs oder sieben Jahre alt gewesen. »Hat Cormac sie aufgezogen?«, fragte er.

»Natürlich nicht.« O’Casey warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Was hätte er denn mit einem sechsjährigen Mädchen anfangen sollen? Eine Kusine von Kate, ich glaube, sie hieß Maureen, hat sie zu sich genommen. Sie und ihr Mann. Sie haben sie als ihr eigenes Kind aufgezogen.«

Narraway empfand tiefes Mitleid mit dem Mädchen – Kates Tochter. Das hätte nie geschehen dürfen.

»Aber sie weiß, wer sie ist?«, fragte er.

»Selbstverständlich. Wenn sonst schon niemand, hat Cormac es ihr bestimmt gesagt.« O’Casey hob leicht die Schultern. »Es kann natürlich gut sein, dass das nicht die Wahrheit ist, wie Sie sie kennen. Das arme Kind. Manche Dinge bleiben besser ungesagt.«

Unwillkürlich überlief Narraway ein Schauder. An Kates Tochter hatte er nicht gedacht. Der Ausbruch von Gewalttätigkeit, dem man nicht mehr hätte Einhalt gebieten können, hatte so unmittelbar bevorgestanden, dass er nicht daran gedacht hatte, zu verhindern, was dann geschehen war. Er hatte nicht mit der Möglichkeit gerechnet, dass Kate sterben würde, es war nie Teil von ihrer beider Plan gewesen. Er hatte Sean gekannt. Ihn im Kampf gegen den Aufruhr zu hintergehen war eine Sache gewesen, eine gänzlich andere, ihn in Bezug auf Kate zu hintergehen.

Im Rückblick hatte er schon nach wenigen Wochen begriffen, dass Kate die Seiten gewechselt hatte, weil der Aufstand ihrer festen Überzeugung nach zum Scheitern verurteilt war und dabei weit mehr Iren als Engländer umgekommen wären. Aber sie hatte auch Sean gekannt. Er hatte nicht das Geringste dabei gefunden, sich ihrer Schönheit zu bedienen, um Narraway abzulenken, doch wäre er in seinen wildesten Träumen nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie sich Narraway bereitwillig hingeben oder er ihr, schlimmer noch, etwas bedeuten könnte.

Als es dann dazu gekommen war, hatte sich Sean außerstande gesehen, ihr zu verzeihen. Er hatte gesagt, er habe sie für Irland umgebracht, aber Narraway wusste, dass er es um seiner selbst willen getan hatte und ihm selbst das auch klar gewesen war.

Und Cormac? Er hatte Kate ebenfalls geliebt. Hatte er den Eindruck gewonnen, in einem Kampf, den keine der beiden Seiten mit sauberen Mitteln führte, habe ein Engländer einen Iren an Verschlagenheit übertroffen? Oder hatte es daran gelegen, dass eine Frau, die er begehrte, aber nicht bekommen konnte, ihren Mann betrogen hatte: die Frau seines Bruders, die sich auf die Seite des Feindes geschlagen hatte – aus Gründen, die nur ihr bekannt gewesen waren, seien sie gut oder schlecht gewesen, politischer oder persönlicher Art?

Was hatte er Talulla gesagt?

War es denkbar, dass es in den letzten Monaten etwas Neues gegeben hatte? Falls ja, musste er feststellen, auf welche Weise sie es fertiggebracht hatte, das Geld von Mulhares Konto fernzuhalten und es mit Hilfe eines Verräters in Lisson Grove auf Narraways Konto zurückzuschleusen. Sie konnte das unmöglich allein bewerkstelligt haben. Wer also hatte ihr dabei geholfen?

»Wer hat Mulhare verpfiffen?«, fragte er O’Casey.

»Ich ahne es nicht«, gab dieser zurück, »aber ich würde es Ihnen auch nicht sagen, wenn ich es wüsste. Einer, der sein eigenes Volk verrät, hat verdient, dass man ihm seine dreißig Silberlinge wegnimmt und in einen Sack voll Blei steckt, ihm den um den Hals hängt und ihn dann in die Bucht von Dublin wirft.«

Narraway hatte Mulhare nicht besonders gut leiden können, aber er hielt es für ein Gebot der persönlichen Ehre, sich an Zusagen zu halten, ganz gleich, wem er sie gemacht hatte. Mit einem Wortbruch erreicht man im Krieg ebenso wenig wie mit einem zerbrochenen Schwert.

Er stand auf. Die Katze am Kaminfeuer streckte sich, drehte sich dann auf die andere Seite und rollte sich wieder zusammen.

»Danke«, sagte er.

»Kommen Sie ja nicht wieder«, knurrte O’Casey. »Ich werde nichts gegen Sie unternehmen, aber Ihnen auch bestimmt nicht unter die Arme greifen.«

»Das ist mir klar«, gab Narraway zurück.


Nach ihrer Rückkehr aus dem Theater hatte Charlotte keine Gelegenheit zu einem längeren Gespräch mit Narraway, und am folgenden Tag ebenso wenig. Sie trafen einander lediglich kurz zum Frühstück, aber diesmal saßen andere Pensionsgäste in Hörweite. Narraway teilte ihr mit, er habe Verschiedenes zu erledigen und von Dolina Pearse erfahren, Charlotte sei zur Eröffnung einer Kunstausstellung willkommen und anschließend bei Dolina mit deren Bekannten zu einer Teegesellschaft eingeladen. Er habe in ihrem Namen zugesagt.

»Danke«, sagte sie ein wenig distanziert.

Er lächelte. »Hättest du lieber abgelehnt?«, fragte er mit gehobenen Brauen.

Sie sah ihm ins Gesicht und erkannte die plötzlich in seinen Augen aufblitzende Belustigung wie auch die Überzeugung,

»Nein, natürlich nicht«, gab sie mit einem Lächeln zurück. »Ich bin einfach ein bisschen nervös. Ich habe im Haus der Tyrones ein paar von den Leuten kennengelernt und bin mir nicht sicher, ob die Begegnung ausschließlich freundschaftlicher Natur war.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagte er. »Aber ich kenne dich, und ich kenne auch Dolina ein wenig. Der Tee bei ihr dürfte interessant sein. Und die Bilder werden dir gefallen. Ich glaube, es sind Impressionisten.« Er stand auf. Mit seinem einwandfrei geschnittenen Jackett und seiner sorgfältig gebundenen Krawatte wirkte er ausgesprochen elegant, wie er zum Gehen bereit dastand.

»Victor!« Zum ersten Mal benutzte sie seinen Vornamen spontan.

Sie wusste kaum, wie sie beginnen sollte, doch war ihr klar, dass sie unbedingt sagen musste, was zu sagen war.

Er wartete. Sie zwang sich zu einem Lächeln.

»Wenn ich zu der Gemäldeausstellung gehen soll, würde ich mir gern vorher eine neue Bluse kaufen.« Sie spürte, wie ihr vor Peinlichkeit die Röte ins Gesicht stieg. »Meine Mittel erlauben mir aber nicht …«

»Selbstverständlich«, sagte er rasch. » Wir gehen, sobald du mit dem Frühstück fertig bist. Vielleicht sollten wir sogar zwei kaufen. Du kannst unmöglich bei allen Gelegenheiten immer völlig gleich gekleidet auftreten. Meinst du, dass du in einer halben Stunde fertig sein kannst?« Er sah zur Kaminuhr hin.

»Um Himmels willen! In der Zeit könnte ich sogar noch Mittag essen. Es dauert höchstens zehn Minuten«, rief sie aus.

» Wirklich? Dann warte ich an der Haustür auf dich.« Er sah überrascht aus und unübersehbar zufrieden.


Schon nach knapp dreihundert Metern stießen sie auf eine Droschke, mit der sie in die Stadtmitte fahren konnten. Narraway schien genau zu wissen, wohin er wollte, und ließ den Kutscher vor einem überaus exklusiv aussehenden Geschäft für Damenmoden anhalten.

Charlotte konnte sich die dort üblichen Preise nur allzu gut vorstellen, und so war ihr klar, dass sie ihr Budget bei weitem überstiegen. Warum nur hatte er sie ausgerechnet dorthin gebracht? Ihm musste doch bekannt sein, was Pitt verdiente!

Er hielt ihr die Ladentür auf, doch statt einzutreten, sagte sie: »Könnten wir bitte ein etwas weniger teures Geschäft aufsuchen? Ich denke, dass die hier geforderten Preise meine Möglichkeiten übersteigen, vor allem, wenn man bedenkt, dass ich etwas kaufen möchte, was ich möglicherweise nicht oft tragen werde.«

Er sah sie überrascht an.

»Vermutlich hast du ja noch nie eine Bluse gekauft«, sagte sie mit leichter Schärfe in der Stimme, weil sie sich gedemütigt fühlte. »Die können ziemlich teuer sein.«

»Ich hatte nicht die Absicht, dich dafür bezahlen zu lassen«, sagte er. »Da der Kauf im Zusammenhang mit meinen Erkundigungen steht, muss ich auch dafür aufkommen.«

»An diesen Erkundigungen bin ich in gleicher Weise wie du interessiert«, gab sie zu bedenken.

»Können wir das drinnen besprechen?«, fragte er. »So, wie wir hier am Eingang stehen, lenken wir nur die Aufmerksamkeit der Leute auf uns.«

Sie ging rasch hinein, über ihn wie auch sich selbst gleichermaßen verärgert. Sie hätte die Situation voraussehen und vermeiden sollen.

Eine ältere Verkäuferin kam auf sie zu. Sie trug ein unglaublich gut geschnittenes schwarzes Kleid ohne jede Verzierung. Es war so elegant, dass es keine bessere Werbung für das Geschäft hätte geben können. Liebend gern hätte Charlotte ein Kleid gehabt, das so erstklassig saß. Sie hatte nach wie vor eine sehr gute Figur, und ihr war klar, dass sie diese damit in äußerst vorteilhafter Weise zur Geltung bringen würde.

»Wir würden uns gern einige festliche Blusen ansehen«, erklärte Narraway. »Sie sollten für den Besuch einer Kunstausstellung oder einer Nachmittags-Teegesellschaft geeignet sein.«

»Gewiss, mein Herr«, sagte die Verkäuferin. Sie sah Charlotte nicht einmal eine Minute lang an, um zu überlegen, was ihr passen und stehen könnte, dann warf sie einen kurzen Blick auf Narraway, möglicherweise, um seine Finanzkraft einzuschätzen. Bei dem Gedanken an seinen eleganten und zweifellos teuren Anzug wurde Charlotte ganz flau im Magen. Zweifellos war die Frau zu dem naheliegenden Schluss gekommen, dass sie es mit einen Ehepaar zu tun hatte. Mit wem außer ihrem Gatten würde eine achtbare Frau ein so intimes Kleidungsstück wie eine Bluse kaufen gehen? Sie hätte darauf bestehen sollen, dass er sie zu einem anderen Geschäft brachte und draußen wartete. Allerdings hätte sie sich dann das Geld von ihm leihen müssen.

»Victor, das ist unmöglich«, flüsterte sie, kaum dass die Verkäuferin außer Hörweite war.

»Ach was, nicht im Geringsten«, widersprach er. »Es ist nötig. Möchtest du etwa, dass sich die Leute das Maul zerreißen, weil du ständig mit denselben Sachen aufkreuzt? So etwas erregt Aufsehen, das weißt du besser als ich. Dann wird man sich fragen, wie unsere Beziehung aussehen mag und warum ich mich nicht besser um dich kümmere.«

Sie versuchte sich ein schlagendes Gegenargument zu überlegen, doch ihr fiel keines ein.

»Oder willst du etwa den Kampf ganz aufgeben?«, fragte er.

»Natürlich nicht!«, gab sie zurück. »Aber …«

»Dann sei bitte still und lass die Sache auf sich beruhen.« Er schob sie ein wenig weiter in den Laden. Wenn sie sich dagegen gewehrt hätte, wäre der Druck seiner Finger auf ihrem Arm schmerzhaft gewesen. Sie beschloss, ihn später zur Rede zu stellen und ihm klipp und klar zu sagen, was sie von der ganzen Sache hielt.

Die Verkäuferin kehrte mit mehreren Blusen zurück, eine schöner als die andere.

»Wenn die Dame sie anprobieren möchte – dort finden Sie einen dafür vorgesehenen Raum.«

Charlotte dankte ihr und folgte ihr auf dem Fuß. Zwar waren alle Blusen hinreißend, aber am schönsten fand sie eine mit schwarzen und bronzefarbenen Streifen, die ihr so gut passte, als sei sie eigens für sie entworfen und zugeschnitten worden, sowie eine weiße Baumwollbluse mit Spitzenbesatz, Rüschen und Perlmuttknöpfen, die ungeheuer weiblich wirkte. Nicht einmal als junges Mädchen hatte sie sich zu der Zeit, als ihre Mutter versucht hatte, sie mit einem passenden Mann zu verheiraten, so attraktiv gefühlt, beinahe geradezu schön.

Die Versuchung, beide zu kaufen, war zu groß.

Die Verkäuferin kehrte zurück, um zu sehen, ob sich die Kundin entschieden hatte oder sich noch mehr Blusen ansehen wollte.

»Ah«, sagte sie gedehnt. »Das ist genau das Richtige für Sie, es könnte nicht herrlicher sein.«

Charlotte zögerte, während sie die gestreifte Bluse auf ihrem Bügel mit begehrlichen Augen ansah.

»Eine glänzende Wahl. Vielleicht möchten Sie sehen, welche Ihrem Mann besser gefällt?«, regte die Frau an.

Gerade als Charlotte dazu ansetzte, ihr mit vorsichtigen Worten zu erklären, dass Narraway nicht ihr Mann sei, sah sie

Wenn sie ihm nicht vor der Verkäuferin widersprechen und eine für alle peinliche Situation heraufbeschwören wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Sie trat in den Anproberaum zurück, schloss die Tür und zog ihre eigene Alltagsbluse wieder an.

»Das hättest du nicht tun sollen«, sagte sie, kaum, dass sie den Laden verlassen hatten. »Ich habe keine Ahnung, wie ich das je wiedergutmachen könnte.«

Er blieb stehen und sah sie einen Augenblick lang an.

Als sein Ärger schlagartig dahinschwand, musste sie daran denken, wie er sie im Laden angesehen hatte, und mit einem Mal bekam sie Angst.

Er hob die Hand und berührte ihre Wange leicht mit den Fingerspitzen. Es war eine äußerst zärtliche und zugleich intime Geste.

»Indem du mir hilfst, meinen Namen von dem Makel zu befreien«, sagte er. »Das ist mehr als genug.«

Etwas dagegen zu sagen wäre sinnlos und geradezu grausam gewesen, denn damit hätte sie ihn nicht nur gekränkt, sondern überdies auch den Eindruck erweckt, als rechne sie nicht mit einem Erfolg, auf den sie doch beide so dringend angewiesen waren.

»Dann sollten wir uns besser ans Werk machen«, sagte sie, trat einen Schritt von ihm zurück und setzte sich wieder in Bewegung.


Die Gemäldeausstellung war herrlich, doch konnte sich Charlotte nicht recht auf die Bilder konzentrieren. Vermutlich würde

Während sie durch die Ausstellungsräume gingen und Bild für Bild ansahen, beobachtete Charlotte die anderen Frauen. Sie waren genauso gekleidet wie die in London. In dieser Saison verlangte die Mode Ärmel, die an den Unterarmen eng anlagen und an den Schultern breit gepufft waren, während die Röcke unten weit schwangen und ein als »Tournüre« bezeichnetes Gesäßpolster aufwiesen. Das Ganze machte einen außerordentlich weiblichen Eindruck, und die Frauen sahen aus wie voll erblühte große Blumen, wie Magnolienblüten oder Pfingstrosen. Wenn eine Gruppe von ihnen vorüberging und ihre Sonnenschirme über sich hielten, um ihr Gesicht zu schützen, wirkte das von ferne wie eine Blumenrabatte im Wind. So etwas hätte einer der Maler versuchen sollen darzustellen! Vielleicht hatte das der eine oder andere sogar getan, und sie war nur so unaufmerksam gewesen, es nicht zu merken.

Die Teegesellschaft im Hause Pearse erinnerte sie unwillkürlich an die »Morgenbesuche«, zu denen sie ihre Mutter in der Zeit vor ihrer Eheschließung begleitet hatte und die in Wahrheit stets am Nachmittag stattfanden. So gesittet sich alle der anwesenden Damen verhielten und so sehr sie jedes der ungeschriebenen Gesetze beachteten, dienten die höflichen Bemerkungen, die ausgetauscht wurden, in Wahrheit als Vorwand für Klatsch und spitze Bemerkungen.

»Wie gefällt es Ihnen bei uns in Dublin, Mrs Pitt?«, erkundigte sich Talulla Lawless höflich. »Nehmen Sie doch ein Gurkensandwich.

»Vielen Dank«, nahm Charlotte an. Ihr wäre gar nichts anderes übriggeblieben, selbst wenn sie Gurkensandwiches auf den Tod nicht hätte ausstehen können. »Die Stadt beeindruckt mich, und das würde wohl auch jedem anderen so gehen.«

»Ach, ich weiß nicht«, gab Talulla zurück. »Manche halten uns für ziemlich provinziell und unkultiviert.« Sie lächelte. »Aber vielleicht sagt Ihnen gerade das zu?« Damit ließ sie offen, ob Charlotte Dublin als eine Art Sommerfrische nach den Zwängen der Londoner Gesellschaft empfand oder selbst provinziell und unkultiviert war.

Sie erwiderte das Lächeln, ohne die geringste Wärme hineinzulegen. »Entweder war es diesen Leuten nicht ernst damit, oder aber, falls doch, ist Ihnen möglicherweise die Raffinesse Ihrer Wortwahl entgangen«, gab sie zurück. »Ich halte Sie ehrlich gesagt für alles andere als einfältig«, setzte sie noch eins drauf.

Talulla lachte klirrend. »Sie schmeicheln uns, Mrs Pitt. Es ist doch Mrs? Ich hoffe, dass ich keinen entsetzlichen Fehler begangen habe.«

»Machen Sie sich in dieser Hinsicht keine Sorgen, Miss Lawless«, gab Charlotte zurück. »Es ist weit von einem entsetzlichen Fehler entfernt, und wäre es einer, was nicht der Fall ist, ließe sich der ganz leicht wiedergutmachen. Es wäre wunderbar, wenn man alle Fehler so einfach aus der Welt schaffen könnte.«

»Ach je«, heuchelte Talulla Bestürzung. »Wie viel aufregender Ihr Leben in London sein muss als unseres hier. Ich finde das faszinierend.«

Nach kurzem Zögern entschloss sich Charlotte mitzuspielen. »Ich weiß, dass die Menschen dazu neigen, bei anderen

»Mir war gar nicht bekannt, dass Sie so großen Einfluss haben«, gab Talulla trocken zurück. »Da sollte ich wohl besser auf meine Worte achten.« Auf ihren Zügen mischten sich Spott und Ärger.

Charlotte senkte den Blick zu Boden. »Anscheinend habe ich etwas Unpassendes gesagt und dabei eine empfindliche Stelle getroffen. Das tut mir leid, und ich versichere Ihnen, dass es nicht meiner Absicht entsprach.«

»Ich habe ganz den Eindruck, dass vieles von dem, was Sie tun, unabsichtlich geschieht und anderen Schmerzen verursacht«, blaffte Talulla.

Seide raschelte, als zwei andere Damen unbehaglich berührt herübersahen. Eine von ihnen holte Luft, als wolle sie sich dazu äußern, dann aber sah sie lediglich schweigend zu Talulla hin.

»Ja, und bei Ihnen verhält es sich genau umgekehrt, Miss Lawless«, gab Charlotte zurück. »Ich will gern glauben, dass hinter jedem Wort, dass Sie sagen, eine bestimmte Absicht steckt.«

Man hörte, wie eine der Damen die Luft noch schärfer einsog. Eine andere kicherte nervös.

»Noch eine Tasse Tee, Mrs Pitt?«, erkundigte sich Dolina Pearse mit leicht zitternder Stimme. Es war unmöglich zu sagen, ob sie ein Lachen oder Tränen unterdrückte.

Charlotte hielt ihr die Tasse hin. »Vielen Dank. Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Seien Sie nicht albern«, sagte Talulla mit Schärfe. »Das ist doch bloß Tee!«

»Die Engländer haben auf alles eine Antwort«, sagte Dolina Pearse. »Nicht wahr, Mrs Pitt?«

»Sie würden sich wundern, was man mit Tee alles anstellen kann, wenn er heiß genug ist«, gab Charlotte zurück und sah ihr dabei in die Augen.

»Am besten siedend heiß«, murmelte Dolina.


Nach dem Abendessen erstattete Charlotte Narraway Bericht über den Verlauf der Teegesellschaft. Sie saßen allein in Mrs Hogans Salon, dessen Türen zu dem kleinen Garten hin offen standen. Der Abend war mild, und die Wolken, die am nahezu vollen Mond vorüberzogen, warfen dunkle Schatten. In wortlosem Einverständnis standen sie auf und traten in die laue Luft hinaus unter die Bäume.

»Mehr habe ich nicht erfahren«, erklärte sie schließlich. »Außer, dass man uns nach wie vor nicht ausstehen kann. Aber wie könnten wir auch etwas anderes erwarten? Im Theater hat mir Mr McDaid etwas über O’Neil gesagt. Ich denke, es wäre an der Zeit, die Karten offen auf den Tisch zu legen – nicht, weil ich wissen möchte, was geschehen ist, sondern, weil ich es wissen muss

Er schwieg lange. Sie spürte deutlich seine Nähe, wie er da halb im Schatten eines Baumes einen Schritt weit von ihr entfernt stand. Obwohl schlank und nur wenig größer als sie, vermittelte er den Eindruck von großer Körperkraft, als bestehe er ausschließlich aus Muskeln, Sehnen und Knochen und als sei alles Weiche im Laufe der Jahre von ihm abgefallen. Sie unterließ es, ihm ins Gesicht zu sehen, teils, um nicht in seine Privatsphäre einzudringen, teils, weil sie den Ausdruck darauf lieber nicht sehen wollte. Das würde es ihnen beiden einfacher machen und es ihnen ermöglichen, nach der

»Ich kann dir nicht alles sagen«, begann er schließlich. »Die Iren hatten einen ziemlich weitreichenden Aufstand geplant, den wir verhindern mussten.«

»Und auf welche Weise?«, fragte sie ohne Umschweife.

Wieder gab er keine Antwort. Sie fragte sich, wie weit seine Geheimnistuerei damit zusammenhing, dass er sie schützen wollte, und wie weit damit, dass er sich der Rolle schämte, die er bei der Sache gespielt hatte, ganz gleich, ob er Grund dazu hatte oder nicht.

Warum nur stand sie zitternd hier unter den Bäumen? Wovor hatte sie denn Angst? Etwa vor Victor Narraway? Sie war bisher noch nicht auf den Gedanken gekommen, dass er sie verletzen könnte, sondern hatte eher die umgekehrte Befürchtung. Vielleicht war das lachhaft. Sofern er Kate O’Neil wirklich geliebt hatte und dennoch fähig gewesen war, sie seinem Land zuliebe zu opfern, würde er etwas Ähnliches bei Charlotte ohne weiteres ebenfalls fertigbringen. Es war denkbar, dass sie eins der zufälligen Opfer wurde, von denen Fiachra McDaid gesprochen hatte – ein Teil des Preises, der zu zahlen war. Sie war Pitts Gattin, und Narraway hatte auf seine Weise zu Pitt gehalten. Inzwischen war sie fest davon überzeugt, dass er in sie verliebt war. Wie aber konnte sie nur so naiv sein anzunehmen, das werde in seinen Augen an der Sache, der er diente, auch nur das Geringste ändern?

Wie Kate O’Neil wohl ausgesehen haben mochte? Wie alt war sie gewesen? Hatte sie Narraway geliebt und damit nicht nur ihr Land verraten, sondern auch ihren Mann betrogen? Wie verzweifelt sie in dem Fall geliebt haben musste! Eigentlich hätte Charlotte sie dafür verachten müssen, doch empfand sie nichts als Mitleid und die Überzeugung, dass auch sie in eine vergleichbare Situation hätte geraten können. Hätte sie

Was für törichte Vorstellungen das waren!

»Du hast dich Kate O’Neils für deine Zwecke bedient, nicht wahr?«, fragte sie.

»Ja.« Seine Stimme war kaum lauter als das leise Rascheln des Nachtwinds im Laub, so dass sie das Wort kaum hören konnte. Sie zweifelte nicht im Geringsten daran, dass er sich seiner Handlungsweise schämte, und trotzdem hatte er sich nicht davon abhalten lassen. Zum Glück hatte er sie jetzt wenigstens nicht belogen.

Aber war dieser lange zurückliegende Fall tatsächlich der Grund für den konstruierten Vorwurf, den man ihm jetzt machte, er habe Geld unterschlagen?

Was war ihnen bei ihren Beobachtungen entgangen?

Was tat Pitt in Frankreich?

Hatte es seine Ordnung, dass sie und Narraway jetzt in Irland waren? Oder hatte jemand, der die Verletzlichkeit des Mannes nur allzu gut kannte, diesen stets so brillant intrigierenden Ränkeschmied überlistet – ging es in Wahrheit um etwas gänzlich anderes?

Sie wandte sich wortlos um und ging die wenigen Schritte zurück in Mrs Hogans Salon. Es gab nichts mehr zu sagen, jedenfalls nicht dort im sanften Nachtwind, der die Düfte des Gartens mit sich trug.

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