Am frühen Abend saß Charlotte im Wohnzimmer dem Sessel ihres Mannes gegenüber allein am Kamin. Jemima und Daniel waren bereits im Bett. Man hörte keinen Laut, außer einem gelegentlichen leisen Knistern des Feuers. Von Zeit zu Zeit nahm sie von dem Stapel, der neben ihr lag, ein weiteres Teil zur Hand, das geflickt werden musste – Kissenbezüge, eine Schürze Jemimas –, doch meistens sah sie einfach ins Kaminfeuer. Zwar fehlte ihr Pitt, aber sie verstand, dass es nötig gewesen war, den Übeltäter, hinter dem er her war, bis nach Frankreich zu verfolgen. Auch ihr früheres Dienstmädchen Gracie fehlte ihr. Sie hatte seit ihrem vierzehnten Lebensjahr gut zehn Jahre bei ihnen im Hause gelebt, war aber inzwischen mit Polizeiwachtmeister Tellman verheiratet, Pitts früherem Untergebenen, der jahrelang unentwegt um sie geworben hatte.
Charlotte nahm die Schürze zur Hand und nähte den aufgegangenen Saum nach, wobei sie kaum hinsah. Immer wieder stieß die Nadel mit leisem Klicken gegen den Fingerhut. Jemima war inzwischen dreizehn Jahre alt und wuchs so rasch, dass man in ihr schon die junge Frau erahnen konnte, die sie bald sein würde. Der knapp drei Jahre jüngere Daniel bemühte sich nach Kräften, die Schwester rasch einzuholen.
Charlotte musste lächeln, als sie an Gracie dachte, wie sie stolz an Pitts Arm in ihrem weißen Hochzeitskleid durch den Mittelgang der Kirche schritt. Tellman hatte mit unübersehbarer Nervosität am Altar gewartet und vor Glück gestrahlt, als sich Gracie vom Arm ihres Brautführers löste. Er musste wohl befürchtet haben, dass er den Tag nie erleben würde.
Was Charlotte vor allem fehlte, war Gracies Munterkeit, ihre völlige Offenheit, die stets lebensbejahende Haltung und der Mut. Nie hatte sich Gracie durch irgendetwas unterkriegen lassen. Ihre Nachfolgerin, Mrs Waterman, eine mürrische Frau in mittleren Jahren, war zwar eine ehrliche Haut und sorgte dafür, dass alles im Hause blitzblank war, schien aber nur glücklich zu sein, wenn sie über etwas jammern konnte. Charlotte hoffte inständig, sie würde sich im Laufe der Zeit fangen und besser fühlen.
Als es unvermittelt an der Wohnzimmertür klopfte, fuhr sie zusammen. Sie hatte wohl die Klingel an der Haustür überhört, denn Mrs Waterman kam mit missmutig verzogenem Gesicht herein und sagte: »Da is’ ’n Herr, Ma’am. Soll ich ’m sag’n, dass Mr Pitt nich’ zu Hause is’?«
Charlotte war verblüfft, und ihr erster Gedanke war, diese Anregung aufzunehmen. Dann meldete sich ihre Neugier. Um diese Tageszeit konnte es sich nur um jemanden handeln, den sie kannte.
»Wer ist denn da, Mrs Waterman?«
»Einer, der ziemlich finster aussieht, Ma’am. Er sagt, er heißt Narraway«, gab sie Auskunft. Dabei senkte sie die Stimme, sei es aus Widerwillen, sei es, um Vertraulichkeit anzudeuten. Vermutlich Ersteres.
»Führen Sie den Herrn herein«, sagte Charlotte rasch und legte den Stapel mit Flickarbeiten auf einen Stuhl hinter dem Sofa, wo man ihn nicht sehen konnte. Mechanisch strich sie sich den Rock glatt und musterte ihre ziemlich lockere Frisur
Mrs Waterman zögerte.
»Führen Sie den Herrn bitte herein«, wiederholte Charlotte mit etwas schärferer Stimme.
»Ich bin in der Küche, falls Se mich brauch’n«, sagte die Haushälterin und verzog dabei den Mund zu etwas, was mit Sicherheit nicht als Lächeln gemeint war. Sie verschwand, und bald darauf trat Narraway ein. Drei Tage zuvor war er Charlotte müde und besorgt erschienen, was allerdings bei ihm nichts Ungewöhnliches war. Jetzt hingegen sah er abgespannt aus, die Augen in seinem schmalen Gesicht lagen tief in ihren Höhlen, und seine Haut schien alle Farbe verloren zu haben.
Bei diesem Anblick befiel Charlotte eine so entsetzliche Angst, dass es ihr den Atem nahm. Bestimmt war er gekommen, ihr zu berichten, dass Pitt etwas zugestoßen war. Alles in ihr wehrte sich dagegen, sich vorzustellen, was er sagen würde.
»Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Sie so spät störe«, begann er. Zwar klang seine Stimme beinahe wie immer, doch hörte sie an dem leichten Zittern darin, welche Mühe es ihn kostete, sie zu beherrschen. Seine Augen waren so dunkel, dass sie im Schein der Lampe schwarz wirkten, doch sonderbarerweise konnte sie den Ausdruck darin mühelos deuten. Er war offenkundig tief verletzt, und in ihm erkannte sie eine Leere, die drei Tage zuvor noch nicht da gewesen war.
Er musste ihre Besorgnis erkannt haben, was nicht weiter verwunderlich war. Mit kläglichem Lächeln sagte er: »Ich habe nichts Neues von Ihrem Mann gehört, doch besteht kein Grund anzunehmen, dass es ihm nicht gutgeht. Wahrscheinlich hat er dort sogar besseres Wetter als wir hier.« Behutsam fuhr er fort: »Allerdings bin ich überzeugt, dass er es langweilig
Sie schluckte. Ihr Mund war völlig ausgetrocknet, und die Erleichterung, die ihren ganzen Körper durchlief, erfüllte sie mit einem Schwindelgefühl. » Was ist es dann?«
Ein Anflug von Belustigung blitzte flüchtig in seinen Augen auf und verschwand gleich wieder. »Ach je, sieht man es mir so deutlich an?«
Zwar überraschte es sie, dass er sich ihr gegenüber so freimütig geäußert hatte wie noch nie zuvor, beinahe so, als seien sie gute alte Bekannte, aber dennoch empfand sie es nicht als unnatürlich.
»Ja«, erwiderte sie. »Ich kann nur sagen, dass Sie entsetzlich aussehen. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Tee oder lieber Whisky? Vorausgesetzt, dass wir welchen im Hause haben. Da bin ich jetzt gar nicht sicher. Der beste ist vermutlich bei Gracies Hochzeit ausgetrunken worden.«
»Ach ja, Gracie.« Diesmal war sein Lächeln ungekünstelt. Eine Spur von Herzlichkeit lag darin, und es veränderte den ganzen Ausdruck seines Gesichts. »Ihr Anblick hier im Haus wird mir fehlen. Mit jedem Zoll ihrer ein Meter fünfzig war sie ein großartiges Geschöpf.«
»Genau genommen waren es nicht einmal ganz ein Meter fünfzig«, berichtigte ihn Charlotte mit Wärme in der Stimme. »Glauben Sie mir, Sie können sie unmöglich so sehr vermissen wie ich.«
»Das höre ich Ihrer Stimme an«, bemerkte er und trat ein wenig näher ans Feuer, obwohl der Abend nicht sonderlich kalt war. »Diese Mrs … Lemon ist Ihnen wohl nicht besonders ans Herz gewachsen?«
»Waterman«, korrigierte sie. »Aber Lemon würde gut passen, denn sie ist meist wirklich so säuerlich wie eine Zitrone. Ich glaube, sie missbilligt mich und was ich tue. Möglicherweise
»Danke, aber ich begnüge mich mit dem Tisch«, sagte er trocken.
Sie setzte sich auf das Sofa, denn es war ihr unbehaglich, am Kamin so nahe bei ihm zu stehen. »Bestimmt sind Sie nicht gekommen, um sich nach den Einzelheiten meines Haushalts zu erkundigen. Selbst wenn Sie Mrs Waterman kennen würden, würde das noch nicht hinreichen, um den Kummer zu erklären, den ich in Ihrem Gesicht lese. Was ist geschehen? « Als sie merkte, dass ihre Hände, die sie fest ineinandergeschlungen im Schoß hielt, schmerzten, zwang sie sich, sie voneinander zu lösen.
Eine kurze Weile hörte man im Raum keinen Laut außer dem Knistern des Feuers. Es war, als habe sich Narraway noch nicht überlegt, was er eigentlich sagen wollte.
Während sie wartete, nahm ihre Besorgnis wieder zu, und ihre Finger schlangen sich erneut ineinander.
Er holte tief Luft, ließ sie wieder entweichen, wandte den Blick zum Kaminfeuer. »Man hat mich meines Postens im Sicherheitsdienst enthoben. Wie es heißt, handelt es sich dabei lediglich um eine vorläufige Maßnahme, aber die Leute werden mit Sicherheit dafür sorgen, dass sie von Dauer sein wird, wenn sie eine Möglichkeit dazu finden.« Er schluckte, als habe er Halsschmerzen, und sah dann zu ihr hin. »Das betrifft insofern auch Sie, als ich keinen Zutritt mehr zu meinem Büro und damit auch keinen Zugang zu den darin befindlichen Unterlagen habe. Ich werde also nicht erfahren, wie sich die Dinge in Frankreich oder wo auch immer entwickeln. An meine Stelle ist Charles Austwick getreten, dem Ihr Mann nicht genehm ist und der ihm nicht traut. Ersteres aus Neid, weil Pitt ihn, obwohl er nach ihm eingestellt wurde, weit
Wie war es möglich, etwas im selben Augenblick zu glauben und für unglaublich zu halten? Charlotte war wie betäubt, so dass es ihr unmöglich war, mit dem Verstand aufzunehmen, was Narraway gesagt hatte. Doch ein Blick in sein Gesicht zeigte ihr, dass es keinen Grund gab, an seinen Worten zu zweifeln. Plötzliches Mitleid mit ihm erfasste sie, und sie wandte sich ab, damit er ihr das nicht anmerkte. Dann ging ihr auf, was er über Pitt und Austwick gesagt hatte, und sie verstand, warum er eigens gekommen war, um sie über die veränderte Situation zu unterrichten.
Ihr war bewusst, dass er sie beobachtete.
»Es tut mir leid«, sagte er.
Ihr war klar, wofür er gleichsam um Entschuldigung bat. Er hatte dazu beigetragen, dass Pitt in der Dienststelle unbeliebt war, indem er ihn den anderen Mitarbeitern vorgezogen und ihm Aufgaben übertragen hatte, die er ihnen nicht zutraute. Jetzt, da Narraway nicht mehr seine schützende Hand über ihn halten konnte, würde er verwundbar sein. Er hatte nie einen anderen Beruf als den eines Polizeibeamten und danach den eines Beamten im Sicherheitsdienstes ausgeübt. Bei der Polizei hatte man ihn aus seiner Position gedrängt, nachdem er einen langen und durchaus erfolgreichen Kampf gegen den Inneren Kreis geführt hatte, Männer, die hohe Machtpositionen
Sie würden das Haus in der Keppel Street und alle damit verbundenen Annehmlichkeiten aufgeben müssen. Über Mrs Waterman würde sich Charlotte künftig mit Sicherheit nicht mehr zu ärgern brauchen, da sie genötigt sein würde, ihre Fußböden eigenhändig zu schrubben, wenn nicht gar auch noch die anderer Leute. Das würde Pitt noch härter ankommen als sie selbst. Sie konnte sich die Scham auf seinem Gesicht schon vorstellen, die er empfinden würde, weil er nicht in der Lage war, für sie zu sorgen, ihr nicht einmal mehr die bescheidene Behaglichkeit eines eigenen Heims bieten konnte, ganz zu schweigen von dem Luxus, in dem sie aufgewachsen war.
Sie hob den Blick zu Narraway und fragte sich, wie es ihm ergehen mochte. Bisher hatte sie sich nie Gedanken darüber gemacht, ob er auf sein Gehalt angewiesen war oder nicht. Seine Art zu sprechen und sich zu geben, die nahezu gleichgültige Eleganz seiner Kleidung wiesen auf eine Herkunft aus einer gehobenen Gesellschaftsschicht hin, was aber nicht unbedingt gleichbedeutend mit Reichtum war. Nicht einmal alle nachgeborenen Söhne des Hochadels waren finanziell besonders gut gestellt.
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte sie und merkte sogleich, dass er diese Frage als aufdringlich und schmerzlich empfinden konnte. Sicherlich hatte sie kein Anrecht auf eine Antwort. Sie spürte, wie es ihr heiß in die Wangen stieg. Wäre es
»Es entspricht ganz Ihrem Wesen«, gab er freundlich zurück, »sich um mich Sorgen zu machen und gleichzeitig anzunehmen, dass es etwas zu tun gibt.«
Jetzt kam sie sich töricht vor. »Gibt es denn nichts, was man tun könnte?«
Er zögerte. Das Schweigen zwischen ihnen war mit allerlei Erinnerungen und Empfindungen angefüllt. Noch vor drei Tagen war er Pitts mit großer Machtfülle ausgestatteter Vorgesetzter gewesen, und jetzt war von dieser Macht nichts mehr übrig. Ganz davon abgesehen, würde er möglicherweise in einigen Wochen auch kein Einkommen mehr beziehen.
Hatte er Freunde, Menschen, an die er sich wenden konnte, oder würde es ihm sein Stolz verbieten, das zu tun? Sie kannte ihn zwar, seit Pitt in den Sicherheitsdienst eingetreten war, merkte jetzt aber deutlich, wie sehr diese Bekanntschaft an der Oberfläche geblieben war. Wie sah seine Vergangenheit aus, sein Leben außerhalb des Dienstes? Unter Umständen gab es da nicht viel.
Sie wusste, dass sich Pitt beim letzten im Auftrag des Sicherheitsdienstes abgeschlossenen Fall die Feindschaft des Prinzen von Wales zugezogen hatte. Erstreckte sie sich auch auf Narraway? Während sie an die näheren Umstände dachte, wuchs ihre Überzeugung, dass es so sein musste. Wie viele weitere Feinde mochte er haben? Die Menschen schätzten es nicht, wenn anderen private Dinge über sie bekannt waren, wie das bei Narraway der Fall war, und sie vergaßen es ihnen nicht.
Sie sah auf sein von der Lampe erhelltes Gesicht und senkte dann den Blick. Sie war nicht sicher, was sie sagen sollte, doch war ihr klar, dass Stillschweigen weder ihm noch Pitt etwas nützen würde.
»Was werden Sie tun?«, fragte sie erneut.
»Um Pitt zu helfen? Da sind mir die Hände gebunden; ich habe dazu keine Möglichkeiten mehr«, gab er zurück. »Mir sind die näheren Umstände nicht bekannt, und aufs Geratewohl einzugreifen, könnte mehr schaden als nützen.«
»Ich hatte mich mit dieser Frage nicht auf Thomas bezogen, sondern auf Sie.« Sie hatte ihn weder nach dem Grund seiner Amtsenthebung gefragt noch danach, ob er sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, und falls ja, was das war. Mit einem Mal erschien ihr diese Unterlassung als so bedeutend, dass sie Luft holte, um etwas in dieser Richtung zu sagen. Dann aber kam ihr das ungeheuer taktlos vor, so dass sie schwieg.
Das Feuer im Kamin sank in sich zusammen.
Einige Sekunden verstrichen, dann sagte er: »Ich weiß nicht.« Sie konnte sich nicht erinnern, dass seine Stimme je so gezögert hätte. »Ich bin nicht einmal sicher, wer hinter der ganzen Sache steckt. Allerdings habe ich da eine gewisse Vorstellung. Es ist eine ziemlich … üble Geschichte.«
Um Pitts willen musste sie der Sache auf den Grund gehen. »Ist das ein Grund, sich nicht weiter damit zu beschäftigen?«, fragte sie ruhig. »Von selbst kommt das doch sicher nicht in Ordnung.«
Ein Lächeln blitzte auf seinem Gesicht auf. »Nein. Im Übrigen bin ich nicht einmal sicher, ob es überhaupt in Ordnung kommen kann.«
»Möchten Sie eine Tasse Tee?«, fragte sie.
»Wie bitte?«, gab er verblüfft zurück.
»Etwas Besseres habe ich vermutlich nicht«, entschuldigte sie sich. »Aber es ist ungemütlich, wie Sie da am Kamin stehen. Wäre es nicht besser, sich zu setzen?«
Er drehte sich leicht zur Seite und trat nach einem Blick auf die Feuerstelle und die Kaminumrandung einen Schritt zurück. »Ach so, Sie meinen, dass ich dem wärmenden Feuer
»Nein, wohl aber, dass ich einen steifen Hals bekomme, wenn ich den Kopf zur Seite drehen und zu Ihnen aufsehen muss.«
Einen Augenblick lang verschwand der gequälte Ausdruck von seinem Gesicht. »Vielen Dank, aber ich möchte Ihre Mrs … wie auch immer sie heißt, lieber nicht bemühen. Ich kann mich auch ohne Tee setzen, selbst wenn das vielleicht unnatürlich aussieht.«
»Mrs Waterman«, sagte sie.
»Ach ja.«
»Ich wollte ihn selbst machen, immer vorausgesetzt, dass sie mich in die Küche lässt. Sie missbilligt ein solches Verhalten. Ich nehme an, dass Damen der Kreise, für die sie gewöhnlich arbeitet, nicht einmal wissen, wo sich die Küche befindet.«
»Ein gewisser Abstieg für sie«, bemerkte Narraway. »Das kann den Besten von uns widerfahren.«
Er setzte sich, elegant wie immer, schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück, als fühle er sich rundum wohl.
»Meiner Vermutung nach könnte es sich um einen alten Fall in Irland handeln«, begann er, wobei er ihr anfangs in die Augen sah, den Blick aber dann verlegen senkte. »Es sieht ganz so aus, als habe es damit zu tun, dass man einen in jüngster Zeit für uns dort tätigen Informanten umgebracht hat, weil ihn das Geld, das ich ihm angewiesen habe, nicht rechtzeitig erreichte, so dass er nicht vor denen fliehen konnte, die er … verraten hatte.« Er sagte das Wort »verraten« so, als untersuche er mit voller Absicht eine Wunde: seine eigene, nicht die eines anderen.
»Ich hatte die Zahlung auf Umwegen vorgenommen, damit man sie nicht zum Sicherheitsdienst zurückverfolgen konnte,
Zögernd suchte sie nach den passenden Worten, wobei sie ihn aufmerksam ansah. Sie hatte nicht den Eindruck, dass er ihr etwas vorenthalten wollte. Sie wartete. Im Raum herrschte völlige Stille, und auch von draußen drang kein Laut herein, weder von den Kindern, die oben schliefen, noch von Mrs Waterman, die vermutlich noch in der Küche war. Bestimmt würde sie ihr Zimmer nicht aufsuchen, solange der Besucher das Haus nicht verlassen hatte.
»Gerade weil ich dafür gesorgt hatte, die Herkunft des Geldes zu verschleiern, ist es mir jetzt unmöglich, genau festzustellen, was damit geschehen ist«, fuhr er fort. »Für Außenstehende sieht es auf den ersten Blick so aus, als hätte ich es selbst an mich genommen.«
Er beobachtete sie unter gesenkten Lidern. Sie sah, dass flüchtig ein Ausdruck von Besorgnis in seine Augen trat und gleich wieder verschwand. Sie bemühte sich, ein möglichst neutrales Gesicht zu machen. Sie wusste nicht, was sie von ihm denken sollte, konnte sich aber um Pitts willen keine Zweifel erlauben.
»Sie haben Feinde«, sagte sie.
Er entspannte sich kaum wahrnehmbar. Genau genommen sah man es lediglich an der leichten Veränderung in der Art, wie sich der Stoff seines Jacketts an den Schultern spannte. Er war nicht besonders groß oder breitschultrig, ein durchschnittlich großer schlanker, drahtiger Mann. Sie sah, dass seine Hände, die auf den Knien lagen, schön waren. Das war ihr früher nie aufgefallen.
»Ja«, erwiderte er. »So ist es. Zweifellos sogar eine ganze Reihe. Ich hatte geglaubt, hinreichende Vorkehrungen dagegen getroffen zu haben, dass sie mir schaden könnten. Dabei scheine ich etwas Wichtiges übersehen zu haben.«
»Oder es handelt sich um jemanden, den Sie nicht verdächtigt hatten«, ergänzte sie.
»Auch das ist möglich«, stimmte er zu. »Ich halte es aber für wahrscheinlicher, dass ein alter Feind eine Machtfülle gewonnen hat, die ich nicht vorausgesehen habe.«
»Denken Sie an einen Bestimmten?« Sie beugte sich leicht vor. Die Frage war zwar indiskret, aber sie musste es wissen. Pitt befand sich in Frankreich und war darauf angewiesen, dass man ihm den Rücken freihielt. Bestimmt ahnte er nichts davon, dass sein Vorgesetzter nicht mehr im Amt war.
»Ja.« Die Antwort schien ihm schwerzufallen.
Sie wartete wieder.
Er beugte sich vor und legte ein großes Holzscheit auf das Feuer. »Der Fall reicht zwanzig Jahre in die Vergangenheit zurück. « Seine Stimme klang rau, und er musste sich räuspern, bevor er fortfahren konnte. »Die Leute, die damit zu tun hatten, sind inzwischen alle tot, bis auf einen.«
Sie hatte keine Vorstellung, wovon er sprach, doch schien die Vergangenheit sie eingeholt zu haben.
»Einer lebt also noch?«, fasste sie nach. »Wissen Sie das, oder ist das lediglich eine Vermutung?«
»Ich weiß, dass Kate und Sean tot sind«, sagte er so leise, dass es sie Mühe kostete, die Worte zu hören. »Ich nehme an, dass Cormac noch lebt. Er dürfte nicht einmal sechzig sein.«
»Aber warum hätte er so lange warten sollen?«
»Das weiß ich nicht«, gab er zu.
Sie sah ihn aufmerksam an, wie er in Pitts Sessel ihr gegenüber saß. Er fühlte sich sichtlich unbehaglich, machte aber keine Anstalten zu gehen und versuchte auch nicht, sich ihr gegenüber zu verteidigen.
»Dennoch nehmen Sie an, dass er Sie hinreichend hasst, um Ihren Untergang zu planen und ins Werk zu setzen?«, fuhr sie fort.
Sie sah seinem Gesicht an, dass sich die Gedanken hinter seiner Stirn jagten, konnte aber nicht erraten, worum es dabei ging.
»Ja. Ich zweifle nicht im Geringsten daran. Er hat allen Grund dazu.«
Überrascht und zugleich voll Mitleid begriff sie, dass er sich für etwas schämte, was geschehen war. Zugleich hoffte sie, nie zu erfahren, worum es dabei ging.
»Was werden Sie unternehmen?«, fragte sie. »Sie müssen kämpfen.«
Er lächelte. Ihr war klar, dass er annahm, sie mache sich Sorgen, weil er nicht weiterhin seine schützende Hand über Pitt halten könnte. Das stimmte zwar, war aber nicht alles, und das hatte auch nicht den Ausschlag für ihre Äußerung gegeben.
Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. »Wenn Sie einige Stunden Ihre Wunden geleckt haben, sollten Sie Ihre Kräfte zusammennehmen und überlegen, was Sie tun wollen.«
Jetzt lächelte er richtig und legte einen natürlichen Humor an den Tag, den sie an ihm noch nicht kannte. »Sprechen Sie so mit Ihren Kindern, wenn sie hingefallen sind und sich die Knie aufgeschürft haben?«, fragte er. »Müssen sie nach einer mitfühlenden Umarmung gleich wieder aufstehen? Ich bin nicht vom Pferd gefallen, sondern in Ungnade, und ich sehe kein Möglichkeit, mich aus dieser Situation zu befreien.«
Ihr Gesicht war noch röter als zuvor. »Heißt das, Sie haben keine Vorstellung, was Sie tun können?«
Er stand auf und strich sich das Jackett auf den Schultern glatt. »Doch. Ich werde nach Irland fahren und versuchen, Cormac O’Neil aufzustöbern. Ich hoffe, auf diese Weise beweisen zu können, dass er dahintersteckt, und meinen Namen reinzuwaschen. Ich werde dafür sorgen, dass Croxdale alles zurücknimmt, was er gesagt hat. Jedenfalls hoffe ich, dass ich das schaffe.«
Sie stand ebenfalls auf. »Gibt es jemanden, dem Sie vertrauen und der Ihnen helfen kann?«
»Nein.« Nur dies eine schlichte Wort. Seine Einsamkeit ließ sich förmlich mit Händen greifen. Dann war es vorüber, als sei ihm Selbstmitleid widerwärtig. »Nicht hier«, fügte er hinzu. »Aber vielleicht finde ich in Irland jemanden.«
Ihr war klar, dass er die Unwahrheit sagte, um zu vertuschen, was ihm herausgerutscht war.
»Ich komme mit«, sagte sie spontan. »Mir können Sie vertrauen, weil wir dieselben Interessen verfolgen.«
Seine Stimme klang vor Verblüffung angespannt, als wage er nicht, ihr zu glauben. »Meinen Sie?«
»Selbstverständlich«, sagte sie und hielt ihre Antwort für vielleicht überstürzt, obwohl sie zugleich sicher wusste, dass es sich so verhielt. »Außer Ihnen hat Thomas im Sicherheitsdienst keinen Freund. Das Überleben meiner Familie könnte davon abhängen, dass Sie imstande sind, Ihre Schuldlosigkeit zu beweisen.«
Auch ihm stieg eine heiße Röte in die Wangen, die aber unter Umständen auf das erneut aufgeflammte Feuer im Kamin zurückging. »Und was könnten Sie tun?«, fragte er.
»Mich umsehen und umhören, Leute fragen, Orte aufsuchen, an denen gesehen zu werden Sie nicht riskieren dürfen, weil man Sie erkennen könnte. Ich bin eine ziemlich gute Kriminalistin – jedenfalls war ich das, als Thomas noch bei der Polizei gearbeitet hat und seine Fälle keiner so strengen Geheimhaltung unterlagen. Zumindest dürfte ich sehr viel besser sein als nichts.«
Er schlug die Augen nieder und wandte sich ab. »Ich könnte das unmöglich zulassen.«
»Ich habe Sie nicht um Ihre Erlaubnis gebeten«, gab sie zurück. »Aber natürlich wäre es deutlich angenehmer, Ihr Einverständnis zu haben«, fügte sie hinzu.
Er gab keine Antwort. Es war das erste Mal, dass sie ihn so unsicher sah. Sogar als sie vor längerer Zeit entsetzt bemerkt hatte, dass er sie anziehend fand, hatte zwischen ihnen stets eine gewisse Distanz bestanden. Er war Pitts Vorgesetzter, klug, hart und allem Anschein nach unverwundbar: ein Mann, der jederzeit Herr der Situation war und so manches wusste, wovon andere nichts ahnten. Jetzt wirkte er unentschlossen, verletzlich, und er beherrschte die Situation ebenso wenig wie sie.
»Sie und ich haben ein und dasselbe Ziel«, begann sie. »Wir müssen feststellen, wer hinter dieser Intrige steht, und ihr ein Ende bereiten. Es geht um unser beider Überleben. Sofern Sie annehmen sollten, dass ich nicht kämpfen kann oder werde, weil ich eine Frau bin, sind Sie weniger klug, als ich gedacht hätte, und das kann ich mir offen gestanden nicht vorstellen. Vermutlich haben Sie einen anderen Grund. Entweder ist Ihnen Ihr Stolz wichtiger als Ihr Überleben, oder Sie haben Angst, ich könnte etwas entdecken, irgendeine Unwahrheit, die nicht ans Licht kommen soll. Was mich betrifft, ist mir das Überleben wichtiger als mein Stolz.« Sie holte tief Luft. »Und für den Fall, dass ich Ihnen behilflich sein könnte, würden Sie mir nichts schulden, weder moralisch noch sonstwie. Mir ist wichtig, was mit Ihnen geschieht. Ich würde es nicht gern sehen, wenn man Sie zugrunde richtete, denn Sie haben meinem Mann unter die Arme gegriffen, als er dringend darauf angewiesen war. Weit wichtiger aber ist im Augenblick, dass ich mitkommen will, um meine Familie zu retten.«
»Jedes Mal, wenn ich glaube, etwas über Sie zu wissen, überraschen Sie mich«, bemerkte er. »Nur gut, dass Sie nicht mehr der feinen Gesellschaft angehören – die würde Sie nie überleben. Deren Angehörige sind eine so unverblümte Offenheit nicht gewöhnt und würden gar nicht wissen, was sie mit Ihnen anfangen sollten.«
»Um die brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wenn es nicht anders geht, kann ich ebenso gut heucheln wie andere auch«, gab sie zurück. »Ich begleite Sie nach Irland. Sie müssen der Sache an Ort und Stelle nachgehen und können das nicht allein, weil zu viele Menschen dort Sie bereits kennen. Sie haben es selbst gesagt. Aber ich brauche einen guten Vorwand, um eine gemeinsame Reise mit Ihnen zu rechtfertigen, weil wir sonst einen noch größeren Skandal heraufbeschwören würden. Darf ich für diese Unternehmung Ihre Schwester sein?«
»Wir sehen uns aber doch nicht im Geringsten ähnlich«, sagte er mit schiefem Lächeln.
»Dann eben Ihre Halbschwester, falls man fragt«, schlug sie vor.
»Natürlich haben Sie Recht«, räumte er ein. Seine Stimme klang müde. Jeglicher Anflug von Unernst war daraus verschwunden. Die Sache hatte ihn bis ins Mark getroffen, und ihm war bewusst, dass es töricht wäre, die einzige Hilfe zurückzuweisen, die man ihm angeboten hatte. »Aber Sie werden auf mich hören und tun, was ich Ihnen sage. Ich kann es mir nicht leisten, meine Zeit oder Kraft damit zu vergeuden, dass ich mich um Sie kümmern oder mir um Sie Sorgen machen muss. Sind wir uns in dem Punkt einig?«
»Unbedingt. Ich will niemandem etwas beweisen, sondern möchte, dass Sie Ihr Ziel erreichen.«
»Dann werde ich Sie übermorgen Vormittag um acht Uhr hier abholen und mit Ihnen zum Bahnhof fahren. Nehmen Sie Kleidung mit, die sich für lange Fußmärsche eignet, aber auch solche für Besuche in der Stadt und zumindest ein Abendkleid, für den Fall, dass wir ins Theater gehen sollten. Dublin ist für seine Theater berühmt. Aber nur einen Koffer.«
»Ich werde bereit sein.«
Er zögerte einen Augenblick, stieß dann die Luft aus und sagte: »Danke.«
Nach seinem Weggang kehrte Charlotte ins Wohnzimmer zurück. Gleich darauf klopfte es an der Tür.
»Herein«, sagte sie, bereit, der Haushälterin zu danken, weil sie eigens aufgeblieben war, ihr zu sagen, dass sie sie nicht mehr brauche und sie zu Bett gehen könne.
Mrs Waterman kam herein, schloss die Tür hinter sich und blieb stocksteif davor stehen. Ihr Gesicht hatte so gut wie alle Farbe verloren und trug den Ausdruck äußerster Missbilligung. Man hätte glauben können, dass sie einen verstopften Abfluss entdeckt hatte.
»Ich bedaure Ihn’n sag’n zu müss’n, Mrs Pitt«, begann sie, bevor Charlotte Gelegenheit gehabt hatte, den Mund aufzutun, »dass ich in Ihrem Haus unmöglich länger bleiben kann. Mein Gewissen lässt das nich zu.«
Charlotte war verblüfft. »Wovon sprechen Sie? Sie haben doch nichts Unrechtes getan.«
Mrs Waterman sagte naserümpfend: »Ich geb ja gerne zu, dass ich meine Fehler un’ Schwächen hab, wie wir alle. Aber ich war immer achtbar, Mrs Pitt. Niemand hätte mir je was and’res nachsag’n könn’n.«
»Das hat ja auch niemand getan.« Charlotte wusste nach wie vor nicht, worauf die Frau hinauswollte. »Niemand hat so etwas auch nur angedeutet.«
»Un’ so soll das auch bleib’n, falls Se mich versteh’n.« Mrs Waterman straffte die Schultern noch ein wenig mehr. »Daher geh ich gleich morg’n früh. Ich bedauer das, denn vermutlich wird das auch für Sie schwer werd’n, aber ich muss an mein’n gut’n Nam’n denk’n.«
»Wovon reden Sie eigentlich?« Allmählich wurde Charlotte ärgerlich. Mrs Waterman war nicht besonders angenehm im Umgang, aber im Laufe der Zeit würden sie beide vielleicht
»Sie können nicht gehen«, sagte sie aufgebracht. »Sollten Sie es dennoch tun, würde ich mich außerstande sehen, Ihnen eine Empfehlung auszustellen.« Letzteres war eine deutliche Drohung, denn ohne eine solche Empfehlung fanden Hausangestellte nicht leicht eine neue Beschäftigung. Solchen, die nicht nachweisen konnten, dass sie ihre vorige Stellung im Einvernehmen mit der Herrschaft aufgegeben hatten, trat man allgemein mit äußerstem Misstrauen gegenüber.
Mrs Waterman zeigte sich davon nicht im Geringsten beeindruckt. »Ich bin gar nich’ sicher, Ma’am, ob mir ’ne Empfehlung
Es kam Charlotte vor, als habe man sie geohrfeigt. »Nein, ich verstehe nicht, was Sie meinen. Ich habe im Gegenteil nicht die geringste Ahnung, wovon Sie reden«, sagte sie mit Schärfe in der Stimme.
»Ich sag das nich’ gerne«, gab Mrs Waterman mit widerwillig verzogenem Gesicht zurück. »Aber ich war noch nie bei Herrschaft’n in Anstellung, wo der Hausherr einfach so un’ ohne Gepäck für längere Zeit verschwindet und die gnä’ge Frau am spät’n Abend ’nen fremd’n Mann alleine empfängt. Das gehört sich nich’, Ma’am, und mehr hab ich dazu nich’ zu sag’n. Da, wo so anstößige Sach’n passier’n, kann ich nich’ bleib’n.«
Charlotte war verblüfft. Die Frau warf ihr vor, sich anstößig zu verhalten! Sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg, und ärgerte sich über sich selbst. Das würde Mrs Waterman nicht etwa als Zeichen des Zorns deuten, sondern als Beweis für Charlottes schlechtes Gewissen. »Mr Pitt musste in einer dringenden Angelegenheit, über die Sie nichts zu wissen brauchen, nach Frankreich und hatte keine Zeit, vorher nach Hause zu kommen, um einen Koffer zu packen. Mr Narraway, sein Vorgesetzter in der Regierungsbehörde, für die er tätig ist, war hier, um mir das mitzuteilen, damit ich mir keine Sorgen mache. Sofern Ihnen das ›anstößig‹ erscheint, wie Sie sich auszudrücken belieben, spielt sich das ausschließlich in Ihrem Kopf ab.«
»Ganz, wie Se mein’n, Ma’am«, gab Mrs Waterman zurück, den Blick nach wie vor unverwandt auf Charlotte geheftet. »Un’ warum is’ er dann noch mal gekomm’n? Hat’m Mr Pitt ’ne Mitteilung gemacht statt Ihn’n, wo Se doch vermutlich seine Ehefrau sind?«
Am liebsten hätte Charlotte sie für diese Unverfrorenheit ins Gesicht geschlagen. Sie fühlte sich entsetzlich und kam
»Mrs Waterman, Mr Narraway ist gekommen, um mir weitere Mitteilungen über die Arbeit meines Mannes zu machen, die Sie nichts angehen. Im Übrigen kann ich mir nicht vorstellen, warum Sie der Ansicht sind, dass ich Ihnen dafür in irgendeiner Weise Rechenschaft ablegen müsste. Die Aufgabe, die Mr Pitt im Auftrag Ihrer Majestät ausführt, verlangt bisweilen ein hohes Maß an Diskretion, weshalb er nicht mit mir darüber spricht, und das ist auch völlig in Ordnung. Ich habe nicht die Absicht, Ihnen mehr darüber zu sagen. Sofern Sie es für richtig halten, schlecht über die Situation oder über mich zu denken, kann ich Sie nicht daran hindern, denn das ist dann Ausdruck Ihres Wesens …«
Jetzt wurde Mrs Watermans Gesicht flammend rot. »Versuch’n Se bloß nich’, die Sache großspurig und mit glatt’n Wort’n zu vertusch’n«, sagte sie im Ton eines bitteren Vorwurfs. »Ich weiß, wie’n Mann aussieht, der auf ’ne Frau scharf is’.«
Charlotte lag die sarkastische Frage auf der Zunge, bei welcher Gelegenheit Mrs Waterman je einen solchen Mann gesehen haben wollte. Doch wäre das möglicherweise unnötig grausam, war doch Mrs Waterman trotz der ihr aus reiner Höflichkeit zugebilligten Anrede »Mrs« vor dem Namen genau das, was Charlottes Großmutter eine »versauerte alte Jungfer« zu nennen pflegte.
»Offensichtlich verfügen Sie über eine äußerst lebhafte und offen gesagt auch etwas ordinäre Vorstellungskraft, Mrs Waterman«, gab sie kalt zurück. »Da ich es mir nicht leisten kann,
»Sehr wohl, Ma’ am.« Mrs Waterman wandte sich der Tür zu.
»Noch eins, Mrs Waterman!«
»Ja, Ma’am.«
»Ich werde Dritten gegenüber nichts über Sie sagen, weder Gutes noch Schlechtes. Daher scheint es mir angebracht, dass Sie mir diesen Gefallen auch Ihrerseits durch Stillschweigen vergelten. Ich darf Ihnen versichern, dass es Ihnen nicht gut bekommen würde, wenn Sie sich nicht daran hielten.«
Mrs Waterman hob leicht die Brauen.
Charlotte lächelte mit eiskalten Augen. »Dienstboten, die sich in einem Hause abschätzig über ihre Herrschaft äußern, werden das auch im nächsten tun. Das ist allen, die Personal beschäftigen, sehr wohl bekannt. Gute Nacht.«
Mrs Waterman schloss die Tür, ohne ihr zu antworten.
Charlotte ging ans Telefon, um Emily anzurufen und sie zu bitten, ihr möglichst umgehend eine Aushilfe zu schicken. Es überraschte sie ein wenig zu sehen, dass ihre Hand zitterte, als sie nach dem Hörer griff, um ihn vom Haken zu nehmen.
Als sich die Vermittlung meldete, nannte sie ihr Emilys Nummer.
Die Verbindung wurde hergestellt, und es klingelte einige Male am anderen Ende, bis der Butler abnahm.
»Bei Mr Radley. Was darf ich für Sie tun?«, fragte er höflich.
»Hier spricht Mrs Pitt. Es tut mir leid, Sie so spät zu stören. Bei uns ist eine Art Notfall eingetreten«, sagte Charlotte entschuldigend. »Dürfte ich bitte mit Mrs Radley sprechen?«
»Ich bedaure außerordentlich, Mrs Pitt«, gab er zurück, »Mr und Mrs Radley befinden sich auf einer Reise nach Paris und werden erst am Wochenende zurück erwartet. Könnte ich etwas für Sie tun?«
Eine Art Panik überfiel Charlotte. An wen sonst konnte sie sich um Hilfe wenden? Ihre Mutter war mit ihrem zweiten Mann Joshua, einem Schauspieler, nach Schottland gereist, weil dieser ein Engagement am Theater von Edinburgh hatte.
»Nein, vielen Dank«, sagte sie ein wenig atemlos. »Ich denke, dass ich eine andere Lösung finden kann. Vielen Dank für Ihre Mühe. Gute Nacht.« Sie hängte rasch auf, bevor er etwas sagen konnte.
Sie stand im stillen Wohnzimmer vor dem Kamin, in dem die letzte Glut verlosch, weil sie keine weiteren Scheite aufgelegt hatte. Unbedingt musste sie bis zum Abend des kommenden Tages jemanden finden, der sich um Daniel und Jemima kümmerte, weil sie sonst Narraway nicht begleiten konnte. In dem Fall aber hätte sie keine Möglichkeit, ihm zu helfen, und er würde in Dublin allein sein, durch den Umstand behindert, dass ihn seine Feinde dort kannten. Sein Aussehen und Auftreten waren so auffällig, dass man ihn auch nach zwanzig Jahren kaum vergessen haben dürfte. Ganz davon abgesehen vergaß Hass nie, ganz gleich, ob zwanzig oder fünfzig Jahre vergingen. Bisweilen wurde er sogar von einer Generation zur nächsten weitergegeben, ein Vermächtnis, so schlimm wie die Veranlagung zu einer Erbkrankheit.
Über den Mordfall im Buckingham Palace hatte Pitt ihr damals nur wenig gesagt, doch wusste sie, hauptsächlich durch Dinge, die er ausgelassen hatte, dass seine Lösung des Falles den Prinzen von Wales sehr verärgert hatte, weil dabei dessen
Wenn der Prinz von Wales auf Jahre hinaus Pitt seine Feindschaft spüren ließ, würde es diesem nicht im Geringsten nützen, dass ihn die Königin einige Minuten lang zu schätzen gewusst hatte.
Dass Narraway von Anfang an seine schützende Hand über Pitt gehalten und ihn de facto zu seinem Stellvertreter gemacht hatte, während offiziell Austwick diese Position bekleidete, hatte zu Missgunst und hin und wieder auch zu Befürchtungen geführt. Jetzt, da Narraway nicht mehr im Amt war, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis man auch Pitt auf einen unbedeutenden Posten abschob, wenn man ihn nicht gar entließ oder – was noch schlimmer wäre – dafür sorgte, dass er einen »Unfall« hatte.
Dann kam ihr ein anderer unangenehmer und noch hässlicherer Gedanke. Sofern Narraway, wie er sagte, schuldlos war, hatte jemand mit voller Absicht Beweismaterial gefälscht, um ihn als schuldig hinzustellen. Nichts würde diese Leute daran hindern, mit Pitt ebenso zu verfahren. Es war sogar durchaus möglich, dass er bereits in die Sache verwickelt war. Dann würde er in die Falle gehen, sobald er aus Frankreich zurückkehrte. Nur ein Dummkopf würde ihm genug Zeit lassen, eine Verteidigungslinie aufzubauen oder gar Beweise für seine Schuldlosigkeit und damit gleichzeitig für die Schuld der Gegenseite zu sammeln.
Was nur mochte der Grund für all das sein? Wollte sich wirklich jemand an Narraway für einen Fall aus früheren Zeiten rächen, oder war jenen Leuten bekannt, dass er etwas über
Jetzt aber musste sie eine Frau finden, die sich während ihrer Abwesenheit um die beiden Kinder kümmerte. Der Teufel mochte Mrs Waterman holen – das dumme Geschöpf!
Charlotte war so müde, dass sie recht gut schlief, doch gleich nach dem Aufwachen fiel ihr am nächsten Morgen alles mit einem Schlag wieder ein. Während sie im Nachthemd im Schlafzimmer stand, ging sie in Gedanken durch, was zu tun war. Dass sie das Frühstück selbst machen musste, störte sie nicht weiter. Daran war sie gewöhnt, denn sie hatte das in den Anfängen ihrer Ehe stets getan. Vor allem musste sie dafür sorgen, dass Mrs Waterman das Haus verließ und den beiden Kindern zumindest in etwa erklären, was geschehen war. Bei Jemima war das möglicherweise nicht so schwierig, denn sie war mit ihren dreizehn Jahren schon recht verständig, doch wie würde der zehnjährige Daniel die Sache aufnehmen, und wie konnte sie erreichen, dass er ihr glaubte? Sie musste unbedingt dafür sorgen, dass er nicht auf den Gedanken kam, er könne schuld an der Situation sein.
Vor allem aber musste sie sich der eigentlichen Aufgabe des Tages zuwenden. Wo nur konnte sie eine zuverlässige Frau finden, der sie die Kinder anvertrauen konnte, und zwar sofort? Das machte ihr große Sorgen, und die Furcht vor einem Fehlschlag ließ sie frösteln.
Sie musste unbedingt die Reise nach Irland antreten, musste um eine Zukunft kämpfen, in der Pitt es nicht nötig hatte, auf der Suche nach einer geeigneten Arbeit von Ort zu Ort zu ziehen,
So zitternd, wie sie nun dastand, würde sie nichts erreichen. Also konnte sie sich ebenso gut anziehen, während sie ihre Möglichkeiten erwog. Eine weiße Bluse und ein einfacher brauner Rock dürften das Richtige sein, immerhin standen ihr Haushaltspflichten bevor.
Als sie nach unten ging, wartete Mrs Waterman bereits in der Diele; ihr Koffer stand an der Haustür. Beinahe hätte Charlotte Mitleid mit ihr empfunden, aber diese Anwandlung ging vorüber. Es gab viel zu viel zu tun, als dass sie hätte weich werden können, selbst wenn Mrs Waterman das gewollt hätte. Das hier war nichts als eine Unannehmlichkeit – die Katastrophen reckten ihr Haupt erst am Horizont.
»Guten Morgen, Mrs Waterman«, sagte sie höflich. »Ich finde es bedauerlich, dass Sie es für richtig halten, uns zu verlassen, aber so, wie die Dinge liegen, dürfte das die beste Lösung sein. Sicherlich werden Sie verstehen, dass ich mich kurz fasse. Ich muss bis heute Abend Ersatz für Sie finden und hoffe für Sie, dass Sie bald eine passende Anstellung bekommen. Guten Tag.«
»Das schaff ich bestimmt, Ma’am«, gab Mrs Waterman mit so viel Überzeugung in der Stimme zurück, dass in Charlotte der Verdacht aufkeimte, die Frau habe bereits eine Anstellung in Aussicht. Es kam durchaus vor, dass Hausangestellte, insbesondere Köchinnen, einen Vorwand suchten, um kündigen zu können, damit sie eine Stelle antreten konnten, die ihnen lieber war oder günstiger erschien.
»Ja, das denke ich mir, dass Sie auf die Füße fallen werden«, sagte Charlotte eine Spur schroff.
Mrs Waterman warf ihr einen kalten Blick zu, holte Luft, um etwas zu antworten, unterließ es dann aber und öffnete die Haustür. Sie zerrte ihren offenbar sehr schweren Koffer nach draußen und trat dann auf den Bürgersteig, um einer Droschke zu winken.
Charlotte schloss die Tür, als Jemima herunterkam. Das Mädchen wuchs rasch und würde bestimmt so groß werden wie ihre Mutter. Nach den allmählich weiblicher werdenden Formen ihres Körpers und der Sicherheit zu urteilen, mit der sie sich zu bewegen begann, würde es nicht mehr lange dauern, bis sie eine erwachsene Frau war.
»Wo will Mrs Waterman denn hin?«, fragte sie. »Es ist Frühstückszeit. «
Um den heißen Brei herumzureden war sinnlos. »Sie geht«, gab Charlotte gelassen zurück.
»Um diese Tageszeit?« Jemima hob die Brauen, die genauso elegant geschwungen waren wie die ihrer Mutter.
»Ja, die andere Möglichkeit wäre gestern Abend gewesen«, gab Charlotte zurück.
»Hat sie etwa gestohlen?« Jemima hatte jetzt die unterste Stufe erreicht. »Das kann ich mir von der überhaupt nicht vorstellen. Die könnte sich doch nie wieder im Spiegel ansehen. Aber wenn ich es mir recht überlege, tut sie das vielleicht sowieso nie, weil er dann zerspringen würde.«
»Boshafte Äußerungen dieser Art sind äußerst ungehörig«, sagte Charlotte mit Schärfe. »Nicht ich habe ihr gekündigt, sondern sie mir«, fügte sie hinzu. »Leider ist es ein ausgesprochen ungünstiger Augenblick dafür …«
Inzwischen war Daniel am oberen Treppenabsatz aufgetaucht. Er wollte gerade das Geländer herunterrutschen, als er seine Mutter sah und stattdessen mit betont würdigen
»Geht Mrs Waterman weg?«, fragte er mit hoffnungsvoller Stimme.
»Sie ist bereits fort«, gab seine Mutter zurück.
»Juhu! Kommt Gracie jetzt wieder?«
»Natürlich nicht«, sagte Jemima in tadelndem Ton. »Sie ist jetzt verheiratet, da muss sie zu Hause bleiben und sich um ihren Mann kümmern. Wir bekommen sicher jemand anders, nicht wahr, Mama?«
»Ja. Und sobald wir gefrühstückt haben und ihr in der Schule seid, werde ich mich nach einer passenden Person umsehen.«
»Wo?«, erkundigte sich Daniel neugierig, während er ihr durch den Gang in die Küche folgte, in der alles vor Sauberkeit blitzte. Zwar hatte Mrs Waterman sie in einwandfreiem Zustand hinterlassen, aber nicht das Geringste für das Frühstück vorbereitet. Sie hatte nicht einmal den Herd ausgeräumt oder gar Feuer gemacht. Er war gerade noch handwarm, und so würde es eine ganze Weile dauern, bis die nötigen Handgriffe erledigt waren, um ihn für ein warmes Frühstück heiß genug zu bekommen – auf jeden Fall so lange, dass die Zeit dafür nicht gereicht hätte, bevor die Kinder in die Schule mussten. Selbst für die Zubereitung von Tee und das Rösten von Toast wurde der Herd gebraucht.
Nur mit Mühe unterdrückte Charlotte den in ihr aufsteigenden Zorn. Wenn sie einen Wunsch frei gehabt hätte, außer dem, dass Pitt wieder zu Hause wäre, hätte sie sich Gracie zurückgewünscht. Allein schon deren Munterkeit, Offenheit und Entschlossenheit, sich durch nichts und niemanden unterkriegen zu lassen, würde alles leichter machen.
Aber sie war nun einmal nicht da, und Charlotte freute sich für Gracie, dass sich für diese endlich der Traum von einem eigenen Zuhause erfüllt hatte.
»Es tut mir leid«, sagte sie zu Daniel und Jemima, »aber auf etwas Warmes werden wir alle bis heute Abend warten müssen. Heute Morgen gibt es nur Brot mit Konfitüre und ein Glas Milch.« Ohne auf eine Antwort der beiden zu warten, ging sie in die Speisekammer, um Milch, Butter und Konfitüre zu holen. Dabei versuchte sie sich zurechtzulegen, mit welchen Worten sie ihnen mitteilen wollte, dass sie sie für eine Weile verlassen und nach Irland gehen musste. Allerdings hing das davon ab, dass sie jemanden fand, auf den in jeder Hinsicht Verlass war. Wo aber sollte sie in einem halben Tag einen solchen Menschen finden? Sie würde gründlich überlegen müssen. Im allerschlimmsten Fall konnte sie die Kinder zu Emily bringen und deren Dienstboten bitten, sich um sie zu kümmern, bis sie selbst aus Irland oder Pitt aus Frankreich zurückkam – oder Emily aus Paris.
Sie kehrte mit Milch, Butter und Konfitüre zurück und stellte alles auf den Tisch. Während Jemima die Messer und die Konfitürelöffel auflegte, stellte Daniel für jeden ein Glas hin. Mit einem Mal spürte Charlotte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Wie hatte sie auch nur eine Sekunde lang erwägen können, die beiden in der Obhut der alles missbilligenden Mrs Waterman zurückzulassen? Warum nur musste Emily ausgerechnet jetzt fort sein, wo sie sie so dringend brauchte?
Sie ging an die Brottrommel, öffnete sie, nahm den Laib heraus und legte ihn zusammen mit dem Brotmesser auf das Schneidebrett.
»Danke«, sagte sie, als das letzte Glas auf dem Tisch stand. »Ich weiß, dass es ein bisschen früh ist, aber wir sollten gleich anfangen. Ich hätte eher aufstehen und Feuer im Herd machen müssen, denn ich habe ja gewusst, dass Mrs Waterman fortgeht. Ich habe einfach nicht daran gedacht. Es tut mir leid.« Sie schnitt drei Scheiben Brot ab, jeder nahm eine, bestrich sie mit Butter und wählte seine Lieblingskonfitüre: Jemima
»Warum ist sie denn gegangen, Mama?«, fragte Daniel.
Dies eine Mal unterließ Charlotte es, ihn zu ermahnen, nicht mit vollem Mund zu sprechen. Seine Frage verdiente zwar eine aufrichtige Antwort – aber wie viel würde er verstehen? Er sah sie aufmerksam mit seinen grauen Augen an, die genau wie die seines Vaters waren. Jemima wartete ebenfalls, das Brot halb zum Mund geführt. Vielleicht war die reine Wahrheit, knapp und furchtlos erzählt, die einzige Möglichkeit, um später nicht lügen zu müssen. Wenn sie je merkten, dass ihnen ihre Mutter die Unwahrheit gesagt hatte, wäre ihr Vertrauen wohl selbst dann dahin, wenn sie die Gründe dafür verstanden.
»Weil er wollte, dass wir uns keine Sorgen darüber machten, dass euer Vater nicht nach Hause kam, war Mr Narraway neulich abends hier, um mir zu sagen, dass euer Vater nach Frankreich musste, ohne uns das vorher mitteilen zu können.«
»Das hast du uns doch schon gesagt«, fiel ihr Jemima ins Wort. »Aber warum ist Mrs Waterman gegangen?«
»Mr Narraway war gestern Abend noch einmal hier, und zwar ziemlich spät. Er ist eine Weile geblieben, weil man ihm übel mitgespielt hat. Man hat ihm die Schuld für etwas gegeben, was er nicht getan hat, und jetzt ist er nicht mehr der Vorgesetzte eures Vaters. Weil das ziemlich wichtig ist, hat er es mir gesagt.«
Jemima zog die Stirn kraus. »Das verstehe ich nicht. Was hat das mit Mrs Waterman zu tun? Ist sie gegangen, weil wir sie nicht mehr bezahlen können?«
»Natürlich nicht deshalb«, sagte Charlotte rasch, obwohl das möglicherweise für die Zukunft nicht mehr unbedingt
»Warum nicht?« Daniel legte das Brot aus der Hand und sah zu ihr her. »Hätte er es dir nicht sagen sollen? Und woher wusste sie das überhaupt? Ist sie auch bei der Polizei?«
Pitt hatte es für richtig gehalten, seinen Kindern nicht zu erklären, worin der Unterschied zwischen der Polizei und dem Sicherheitsdienst bestand. Während Erstere Verbrechen aufdeckte, hatte man Letzteren ins Leben gerufen, um Gewalttaten, Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit und Fälle von Hochverrat zu bekämpfen. Aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um Daniel das nun darzulegen.
»Nein«, sagte sie. »Damit hat sie nicht das Geringste zu tun. Sie war der Ansicht, dass ich nach Einbruch der Dunkelheit keinen fremden Mann hätte ins Haus lassen dürfen, während euer Vater nicht da ist. Sie hat gesagt, das gehöre sich nicht und sie könne nicht in einem Haus bleiben, wo sich die Hausherrin nicht jederzeit tadelfrei aufführt. Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass es sich um einen Notfall handelte, aber sie hat mir nicht geglaubt.« Wäre Charlotte nicht mit noch dringenderen Problemen beschäftigt gewesen, hätte das nach wie vor an ihr genagt.
Daniel sah weiterhin verständnislos drein, aber es war deutlich zu sehen, dass Jemima begriffen hatte.
Sie schlug sich sofort auf die Seite der Mutter. »Wenn die impertinente Person nicht von sich aus gegangen wäre, hättest du sie unbedingt vor die Tür setzen müssen.« »Impertinent« war ihr neues Lieblingswort, wenn es darum ging, jemanden herabzusetzen.
»Das stimmt«, gab ihr Charlotte Recht. Eigentlich hatte sie den beiden sagen wollen, dass sie auf jeden Fall nach Irland musste, unterließ es aber einstweilen. Vielleicht war es besser, diese Dinge eines nach dem anderen anzusprechen. Es gab
Er gab sie ihr. »Und was passiert jetzt mit Mr Narraway? Hilft Papa ihm?«
»Das kann er nicht«, gab ihm Jemima zu verstehen. »Er ist doch in Frankreich.« Sie sah fragend zu ihrer Mutter hin, in der Hoffnung, dass diese sie unterstützte, wenn sie Recht hatte.
»Wer dann?«, ließ Daniel nicht locker.
Charlotte holte tief Luft. »Ich, wenn mir etwas einfällt, was ich tun kann. Jetzt frühstückt bitte zu Ende, damit ich euch verabschieden und danach anfangen kann, mich um einen Ersatz für Mrs Waterman zu kümmern.«
Doch als sie sich eine Schürze umgebunden hatte und sich vor den Herd kniete, um die Asche auszuräumen und alles für ein frisches Feuer vorzubereiten, das sie nach ihrer Rückkehr entzünden würde, kam ihr die Aufgabe, eine neue Haushaltshilfe zu finden, nicht annähernd so einfach vor, wie sie das Daniel und Jemima gegenüber hingestellt hatte. Sie wollte nicht nur eine Hausangestellte haben, die kochte und putzte, sondern eine absolut zuverlässige und umgängliche Frau, die wusste, was zu tun war, mit wem man Verbindung aufnehmen musste, wenn die Situation es erforderte, und die das auch tun würde.
Wen könnten die Kinder um Hilfe bitten, wenn sie in Irland wäre? War es überhaupt richtig, dorthin zu reisen? Was war vorrangig? Sollte sie die neue Kraft, vorausgesetzt, sie fand eine, bitten, Großtante Vespasia anzurufen, falls sie Hilfe brauchte? Genau genommen waren sie nicht miteinander verwandt, denn Vespasia war die Großtante von Emilys erstem Mann Lord Ashworth gewesen, doch hatte sich schon bald ein tiefes Vertrauensverhältnis zwischen ihnen entwickelt. Trotz
Bei Widrigkeiten solcher Art hatte sich Gracie stets der Situation gewachsen gezeigt.
Charlotte erhob sich, wusch sich die Hände in nahezu kaltem Wasser und nahm die Schürze ab. Das war es: sie würde Gracie um Rat fragen. Es war mehr oder weniger ein Akt der Verzweiflung, ihr junges Glück so früh zu stören, aber es handelte sich ja auch um eine verzweifelte Situation. Gebe der Himmel, dass Gracie zu Hause war.
Es war keine sehr lange Fahrt mit dem Pferdeomnibus zu dem kleinen Haus aus rotem Ziegelstein, dessen ganzes Erdgeschoss Gracie und Tellman für sich hatten, so dass sie auch den Vorgarten nutzen konnten. Für ein so junges Paar war das durchaus beachtlich, allerdings war Tellman auch zwölf Jahre älter als Gracie und hatte sich seine Beförderung zum Polizeiwachtmeister hart erarbeitet. Pitt bedauerte nach wie vor, sich nicht mehr auf seine Dienste stützen zu können.
Mit angehaltenem Atem klopfte Charlotte an die Haustür. Falls Gracie nicht zu Hause war, wüsste sie nicht, an wen sie sich als Nächstes wenden sollte.
Doch die Tür öffnete sich, und Gracie stand vor ihr. Sie trug ihre eleganten Schnürschuhe und endlich ein Kleid, das
»Mrs Pitt! Se sind gekomm’n, um mich zu besuch’n! Samuel is’ nich’ da, der is’ schon zur Arbeit, aber komm’ Se doch rein, ich mach uns ’ne Tasse Tee.« Sie öffnete die Tür, so weit es ging, und trat einen Schritt zurück.
Charlotte nahm die Einladung an und zwang sich, erst einmal an Gracies neues Heim, ihren Stolz und ihr Glück zu denken, statt mit ihrem Anliegen herauszuplatzen. Durch den Gang, dessen Linoleumboden auf Hochglanz gebohnert war, folgte sie ihr in die kleine nach hinten hinaus liegende Küche. Auch dort war alles blitzblank und roch trotz der frühen Morgenstunde frisch nach Zitrone und Kernseife. Das Feuer im Herd brannte, und auf dem Fensterbrett standen Formen mit gründlich geknetetem Brotteig, der aufgehen sollte, bevor Gracie sie in die Backröhre schob.
Sie zog den Wasserkessel auf die Ringe, stellte eine Teekanne mit Tassen auf den Tisch und holte dann Milch aus der Speisekammer.
»Ich hab Kuch’n im Haus, wenn Se woll’n«, bot sie an. »Aber vielleicht hätt’n Se lieber Toast mit Konfitüre?«
»Ehrlich gesagt wäre mir ein Stück Kuchen am liebsten, falls es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Charlotte. »Ich habe schon eine ganze Weile keinen guten Kuchen mehr gegessen. Da Mrs Waterman nichts vom Kuchenbacken hielt, waren die Ergebnisse dementsprechend, wenn sie doch einen machte. Was sie buk, lag wie Blei im Magen.«
Gracie nahm den Kuchen aus dem Schrank und stellte Teller auf den Tisch. Charlotte musste lächeln, als sie sah, dass alles am Tellerregal genau so war wie in der Keppel Street, wo sich Gracie so lange um den Haushalt gekümmert hatte: Die
»Is’ se denn weg?«, fragte Gracie besorgt.
»Mrs Waterman? Ja, leider. Sie hat gestern Abend gekündigt und ist gleich gegangen. Genauer gesagt, hat sie gestern am späten Abend gekündigt und stand heute am frühen Morgen mit ihrem Koffer in der Diele, als ich herunterkam.«
Gracie war sichtlich verblüfft. Sie stellte den Kuchen auf den Tisch und sah dann Charlotte betrübt an. »Was hat se denn gemacht? Se ham se doch nie und nimmer ohne Grund vor de Tür gesetzt?«
»Ich habe sie überhaupt nicht vor die Tür gesetzt«, gab Charlotte zurück. »Sie hat mir wirklich gekündigt, einfach so …«
»So was kann se doch nich’ mach’n.« Gracie unterstrich ihre Worte mit einer Handbewegung, die deutlich zeigte, wie sehr sie diesen Gedanken missbilligte. »So kriegt die doch nie ’ne neue Stellung, jed’nfalls keine vernünftige.«
»Es ist viel geschehen«, sagte Charlotte ruhig.
Gracie setzte sich ihr gegenüber und beugte sich ein wenig vor. Ihr Gesicht war von einem Augenblick auf den anderen bleich geworden. »Mr Pitt fehlt doch nix …?«, fragte sie. Charlotte hörte, dass in Gracies Stimme mit einem Mal Besorgnis mitschwang.
»Nein«, beeilte sie sich, ihr zu versichern. Das hätte sie gleich sagen müssen, damit Gracie gar nicht erst auf solche Gedanken kam. »Er ist dienstlich in Frankreich und kann erst zurückkommen, wenn der Fall abgeschlossen ist. Man hat Mr Narraway durch eine Intrige aus dem Amt entfernt, und das kann auch für Mr Pitt sehr schwerwiegende Auswirkungen haben.« Gracie die Wahrheit vorzuenthalten hatte keinen Sinn, und ganz davon abgesehen wäre es ihr gegenüber auch
Gracie war entsetzt. »Das is gemein!«
»Er nimmt an, dass ein alter Feind dahintersteckt. Möglicherweise macht der gemeinsame Sache mit einem neuen, der auf seinen Posten scharf ist«, teilte ihr Charlotte mit. »Mr Pitt weiß nichts davon und verlässt sich darauf, dass Mr Narraway tut, was er kann, um ihn von hier aus bei seiner Aufgabe zu unterstützen. Er ahnt nicht, dass er jetzt auf einen anderen angewiesen ist, der möglicherweise nicht so unverbrüchlich zu ihm steht wie Mr Narraway.«
»Un’ was mach’n wir da?«, erkundigte sich Gracie sofort.
Eine plötzliche Dankbarkeit erfüllte Charlotte angesichts Gracies unwandelbarer Treue. Sie spürte, wie ihr warm ums Herz wurde und ihr die Tränen in die Augen traten. Doch das war nicht der richtige Augenblick, um sich ihren Gefühlen hinzugeben.
»Mr Narraway vermutet, dass das Ganze mit einem Fall zu tun hat, den man ihm vor zwanzig Jahren in Irland übertragen hatte. Deshalb will er dort hinreisen, um seinen Feind aufzuspüren, damit er versuchen kann, seine Schuldlosigkeit zu beweisen. «
»Aber kann er das alleine? Mr Pitt is’ nich’ da un’ kann ’m nich’ helf ’n«, gab Gracie zu bedenken. »Kennt der Feind ’n denn nich’, oder rechnet er womöglich nich’ damit, dass er kommt?« Die freudige Röte, die ihr Gesicht beim Anblick Charlottes überzogen hatte, war dahin. »Das wär doch dumm. Se müss’n ’m sag’n, dass er sich das gut überleg’n soll!«
»Ich muss ihm helfen, Gracie. Die Leute im Sicherheitsdienst, die ihn in diese Situation gebracht haben, sind auch Mr Pitts Feinde, und deswegen müssen wir um unser aller willen dafür sorgen, dass er sein Ziel erreicht.«
»Se woll’n nach Irland? Se woll’n ’m helf’n …« Gracie streckte die Hand aus, als wolle sie diese auf Charlottes Hand legen, die auf dem Tisch ruhte, zog sie aber dann verlegen wieder zurück. Auch wenn sie nicht mehr Charlottes Dienstmädchen war, würde sie sich mit einer solchen Geste trotz all der Jahre, die sie mit ihr unter ein und demselben Dach gelebt hatte, zu viel herausnehmen. Sie holte tief Luft. »Ja, das müss’n Se unbedingt tun.«
»Es ist auch meine feste Absicht«, versicherte ihr Charlotte. »Aber um die Reise unternehmen zu können, muss ich eine Frau finden, die Mrs Watermans Aufgabe übernimmt, denn sie hat mich heute Morgen voll moralischer Entrüstung verlassen, weil Mr Narraway nach Einbruch der Dunkelheit mit mir allein im Wohnzimmer war.«
Wechselnde Empfindungen traten auf Gracies Züge. Zorn, Empörung, Ungehaltenheit, aber auch eine gewisse Belustigung.
»So ’ne blöde alte Schachtel!«, sagte sie mit Nachdruck und voll Abscheu. »Man sollte nich glaub’n, was für ’ne versaute Fantasie manche von den verdorrt’n alt’n Jungfern ha’m. Aber Mr Narraway kann Se tatsächlich gut leid’n.« Einen Augenblick lang ließ ein Lächeln ihre Augen leuchten, war aber sogleich wieder verschwunden. Als sie noch für Charlotte gearbeitet hatte, hätte sie das wohl nicht zu sagen gewagt, aber jetzt war sie eine achtbare Ehefrau und befand sich in der unübersehbar liebevoll gepflegten Küche ihrer eigenen Wohnung. Sie hätte nicht einmal mit der Königin tauschen wollen – und sie hatte der Königin von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, was nicht viele von sich sagen konnten.
»Meine Schwester Emily ist verreist und meine Mutter ebenfalls«, erklärte Charlotte ihr mit betrübter Stimme. »Ich brauche unbedingt eine Betreuerin für Jemima und Daniel, denn ich kann die beiden unmöglich allein lassen. Aber wo soll ich so rasch eine finden, der ich voll und ganz vertrauen kann? Wer kann mir so eine Frau rückhaltlos empfehlen?«
Gracie schwieg lange. Charlotte, der aufging, dass sie da eigentlich eine unmögliche Frage gestellt hatte, sagte rasch: »Entschuldigung, das war ungehörig.«
Der Kessel auf dem Herd begann zu pfeifen, ein Zeichen, dass das Wasser anfing zu sieden. Gracie stand auf, nahm ein Tuch, um sich nicht die Hand zu verbrennen, und zog ihn von den Ringen zur Seite. Sie gab ein wenig dampfendes Wasser in die Kanne, um sie vorzuwärmen, schwenkte sie aus und brühte den Tee auf. Dann stellte sie die heiße Kanne vorsichtig auf einen Metalluntersetzer und setzte sich wieder.
»Ich«, sagte sie.
Charlotte zwinkerte. »Wie bitte?«
»Ich wüsste da jemand. Minnie Maude Mudway. Wir kenn’ uns aus Spitalfields, aus der Zeit, bevor ich zu Ihn’n gekomm’n bin. Se hat dicht bei dem Haus gewohnt, wo ich auch war, gleich um de Ecke, ’n paar Straß’n weiter. Man hat ihr’n Onkel umgebracht, und ich hab ihr geholf ’n rauszukrieg’n, wer’s war. Wiss’n Se noch?«
Charlotte war verwirrt und versuchte vergeblich, sich zu erinnern.
»Se sind damals als Maria auf ’m Esel geritt’n, für das Kripp’n-spiel«, versuchte Gracie Charlottes Erinnerung aufzufrischen. »Damals war Minnie Maude acht, aber jetz’ is se erwachs’n. Auf Minnie is’ Verlass, die gibt nie auf. Ich such se für Sie. Un’ ich geh auch selber jed’n Tag inne Keppel Street un’ seh nach, ob alles in Ordnung is’.«
Nachdenklich ließ Charlotte ihren Blick zwischen Gracies kleinem ernsthaftem Gesicht, der sacht vor sich hin dampfenden Teekanne und dem selbstgebackenen Kuchen mit den vielen Rosinen darin hin und her wandern.
»Danke«, sagte sie leise. »Das wäre wunderbar. Wenn Sie jeden Tag hingehen, brauche ich mir keine Sorgen zu machen. «
Mit zufriedenem Lächeln fragte Gracie: »Woll’n Se ’n Stück Kuch’n?«
»Ja, gern.«
Bereits um drei Uhr am Nachmittag hatte Charlotte ihren Koffer gepackt, damit sie am nächsten Morgen mit Narraway den Zug besteigen konnte, falls alles wie geplant ablief. Sie war unruhig und konnte sich auf nichts richtig konzentrieren. Sie wollte das Gemüse für das Abendessen putzen, vergaß, was sie hatte auf den Tisch bringen wollen, dann fiel ihr noch etwas ein, was sie unbedingt einpacken musste. Zweimal glaubte sie jemanden an der Tür zu hören, doch als sie nachsah, war niemand da. Dreimal kontrollierte sie, ob die Kinder ihre Hausaufgaben machten.
Endlich ertönte das Klopfen, dessen Rhythmus ihr so vertraut war. Sogleich wandte sie sich um und rannte fast zur Tür, um zu öffnen.
Neben Gracie, die so strahlend lächelte, dass es ihr ganzes Gesicht erhellte, stand eine schlanke junge Frau, eine gute Handbreit größer als sie, der es offenbar nicht recht gelingen wollte, ihre widerspenstige Haarpracht zu bändigen. Obwohl Gracies Begleiterin ziemlich nervös zu sein schien, fiel Charlotte sogleich die Klugheit in deren Augen auf.
»Das is’ Minnie Maude«, verkündete Gracie mit einer Stimme wie ein Zauberkünstler, der ein Kaninchen aus dem Zylinderhut zieht.
Minnie Maude machte einen leicht ungelenken Knicks. Unübersehbar war sie im Knicksen nicht sonderlich geübt.
Charlotte konnte ein Lächeln nicht unterdrücken – es hatte nicht das Geringste mit Belustigung zu tun, sondern war Ausdruck ihrer Erleichterung. »Schön, dass Sie da sind, Minnie Maude. Kommen Sie bitte herein. Ich nehme an, dass Gracie Ihnen meine Lage bereits geschildert hat, und so können Sie sich denken, wie froh ich bin, Sie zu sehen.« Sie öffnete die Tür ein Stück weiter, wandte sich um und ging den Besucherinnen voraus in die Küche – erstens, weil es dort wärmer war, und zweitens, weil die Minnie Maudes Reich sein würde, falls sie die Stellung antrat.
»Bitte nehmen Sie Platz«, forderte sie die beiden auf. »Möchten Sie eine Tasse Tee?« Es war eine rhetorische Frage, denn Besucher bekamen immer Tee.
»Ich mach ihn«, sagte Gracie.
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, entgegnete ihr Charlotte. »Sie arbeiten hier nicht, sondern sind mein Gast.« Als sie den verblüfften Ausdruck auf Gracies Gesicht sah, fügte sie »bitte« hinzu.
Gracie setzte sich. Sie schien sich unbehaglich zu fühlen.
Charlotte machte sich an die Zubereitung des Tees. Da sie keinen Kuchen hatte, schnitt sie Brot in hauchdünne Scheiben, die sie mit Butter bestrich und mit dünnen Scheiben von Gurke und hartgekochtem Ei belegte. Selbstverständlich wäre auch Konfitüre im Hause gewesen, allerdings war es dafür ein wenig zu früh am Nachmittag.
»Gracie hat mir gesagt, dass Sie beide einander schon lange kennen«, begann Charlotte, während sie so beschäftigt war.
»Ja, Ma’am, seit ich acht war«, gab Minnie Maude zurück. »Se hat mir geholf’n, wie man mein’n Onkel Alf umgebracht un’ Charlie geklaut hat.« Sie holte tief Luft, als wolle sie noch mehr sagen, unterließ es aber.
Da Charlotte mit dem Rücken zum Tisch stand, konnten die beiden jungen Frauen ihr Lächeln nicht sehen. Sie stellte sich vor, wie Gracie ihre Freundin angewiesen hatte, möglichst nur auf die Fragen zu antworten, die man ihr stellte.
»Hat sie Ihnen auch gesagt, dass mein Mann im Sicherheitsdienst tätig ist?«, fragte sie. »Dabei handelt es sich um eine Art Polizei, deren Aufgabe es ist zu verhindern, dass Menschen Unruhe im Lande schüren oder zum Aufstand aufrufen. «
»Ja, Ma’am. Se hat auch gesagt, dass er der beste Kriminaler von ganz England is’«, gab Minnie Maude zurück. Die Begeisterung und Bewunderung in ihrer Stimme waren nicht zu überhören.
Charlotte brachte den Teller mit Broten von der Anrichte und stellte ihn auf den Tisch.
»Das ist wohl ein wenig übertrieben, aber er ist wirklich gut«, erwiderte sie. »Im Augenblick befindet er sich wegen einer unvorhergesehenen Wendung eines Falles im Ausland. Meine bisherige Haushaltshilfe hat mir Knall auf Fall gekündigt, weil sie etwas missverstanden hat und der Ansicht war, nicht länger hierbleiben zu können. Ich muss morgen wegen einer weiteren Schwierigkeit, die ebenfalls nicht vorherzusehen war, sehr früh zu einer längeren Reise aufbrechen.« Was sie sagte, klang sogar in ihren eigenen Ohren sonderbar.
»Gewiss, Ma’am.« Minnie Maude nickte ernsthaft. »Gracie sagt, es geht um ’n sehr wichtig’n Herrn, vor dem se große Achtung hat. Se sagt, dass ’m jemand was anhäng’n will, was er nich’ gemacht hat, un’ Se woll’n ’m helf ’n, weil sich das so gehört.«
Charlotte entspannte sich ein wenig. »Genau so ist es. Bedauerlicherweise geschehen bei uns im Hause von Zeit zu Zeit unerwartete Dinge. Aber für Sie besteht nicht die geringste Gefahr. Andererseits ist Ihre Aufgabe mit einem hohen Maß
»Ja, Ma’am. Ich war schon mal bei Herrschaft’n im Dienst, aber die sin’ gestorb’n un’ ich hab noch keine neue Stelle gefund’n. Gracie hat gesagt, se will jed’n Tag vorbeikomm’n un’ seh’n, ob alles in Ordnung is’.« Bei diesen Worten sah Minnie Maude Charlotte unverwandt und mit leicht ängstlichem Gesicht an.
Diese richtete den Blick auf Gracie und erkannte die Zuversicht in ihren Augen. Da sie neben ihr saß, sah sie auch, dass sie ihre kleinen Hände fest im Schoß ineinandergeschlungen hatte. Sie traf ihre Entscheidung.
»In dem Fall würde ich Sie gern mit sofortiger Wirkung als Hausmädchen einstellen, Minnie Maude. Es tut mir leid, dass die Sache so sehr eilt. Daher, wie auch zum Ausgleich dafür, dass Sie ausgerechnet in der ersten Zeit allein sein werden, die in einer neuen Stellung immer die schwierigste ist, gebe ich Ihnen für den ersten Monat das doppelte Gehalt.«
Minnie Maude schluckte. »Viel’n Dank, Ma’am.«
»Nachher werde ich Ihnen Jemima und Daniel vorstellen. Normalerweise sind es brave Kinder, die Ihnen als einer Freundin Gracies sicher von Anfang an wohlgesonnen sein werden. Jemima weiß von fast allem im Hause, wo es sich befindet, und wird Ihnen gern helfen, wenn Sie sie darum bitten. Wahrscheinlich wird sie sogar stolz darauf sein. Aber lassen Sie ihr keine Ungezogenheiten durchgehen. Das gilt natürlich auch für Daniel. Vermutlich wird er es probieren, einfach, um zu sehen, wie weit er bei Ihnen gehen kann. Zeigen Sie ihm bitte in einem solchen Fall unverzüglich seine Grenzen auf.«
Da das Wasser inzwischen heiß war, goss sie den Tee auf und stellte die Kanne auf den Tisch. Während er zog, sprach sie einige weitere Dinge in Bezug auf den Haushalt an, die
»Ich lasse Ihnen eine Liste unserer Lieferanten hier und schreibe die Preise dazu, obwohl ich vermute, dass Sie sich da auskennen. Aber möglicherweise versuchen die Leute aufzuschlagen, wenn sie annehmen, dass Sie nicht wissen, wie viel ich üblicherweise bezahle.« Anschließend teilte sie ihr Daniels und Jemimas Lieblingsgerichte mit und erklärte, welche Gemüsesorten sie vermutlich abzulehnen versuchen würden. »Und machen Sie ihnen Reispudding«, sagte sie zum Schluss, »aber höchstens zweimal die Woche. Es soll etwas Besonderes bleiben.«
»Mit Muskat?«, fragte Minnie Maude.
Charlotte warf einen Blick zu Gracie hinüber, dann lächelte sie entspannt und zufrieden. »Ganz genau. Ich glaube, Sie werden gut miteinander auskommen.«