KAPITEL 4

Gracie und Minnie Maude kamen am frühen Abend wieder, begleitet von Tellman, der Minnie Maudes Koffer trug. Er brachte ihn nach oben in das Zimmer, das Gracie vor nicht allzu langer Zeit bewohnt hatte, dann verabschiedeten er und Gracie sich und gingen nach Hause. Minnie Maude packte aus und räumte ein, wobei ihr Jemima half und Daniel aus respektvoller Entfernung zusah. Kleidungsstücke waren Frauensache.

Nachdem sich Charlotte vergewissert hatte, dass alles in Ordnung war, rief sie Großtante Vespasia an, um zu fragen, ob sie sie aufsuchen dürfe. Zu ihrer großen Erleichterung war sie zu Hause.

»Deine Stimme klingt so ernst«, sagte Lady Vespasia. Charlotte verstand sie nur schlecht, weil es in der Leitung knisterte.

»Ja, es gibt viel zu berichten, und ich würde dich gern um Rat fragen – allerdings lieber unter vier Augen als am Telefon. Ein großer Teil davon ist äußerst vertraulich.«

»Dann solltest du am besten zu mir kommen«, gab Lady Vespasia zurück. »Ich schicke dir meine Kutsche. Geht es bei dir gleich? Wir könnten dann miteinander zu Abend essen. Es gibt überbackenen Käsetoast, dazu einen sehr guten Rheinwein

»Wunderbar«, nahm Charlotte die Einladung an. »Ich sehe nur noch nach, ob sich meine neue Haushaltshilfe schon vollständig eingerichtet hat und weiß, was sie den Kindern zu Abend machen soll, dann bin ich zum Aufbruch bereit.«

»Ich dachte, die hättest du schon, seit Gracie geheiratet hat«, rief Lady Vespasia erstaunt aus. »Kann sie denn immer noch nicht selbst entscheiden, was sie kochen soll?«

»Mrs Waterman hat mir gestern Abend gekündigt und ist heute Morgen gegangen«, erläuterte Charlotte. »Gracie hat für mich eine junge Frau gefunden, die sie schon seit Kindertagen kennt, aber sie ist gerade erst angekommen und noch beim Auspacken.«

»Charlotte?« Vespasias Stimme klang besorgt. »Ist etwas Ernsthaftes vorgefallen?«

»Ja. Nun … wir leben alle noch und sind gesund, aber doch, es ist ernst. Ich weiß nicht recht, ob es klug ist, was ich mir vorgenommen habe, oder ob ich es lieber bleiben lassen soll.«

»Und da willst du mich um Rat bitten? Wenn du bereit bist, auf einen anderen Menschen zu hören, muss es sich in der Tat um etwas Ernsthaftes handeln«, sagte Lady Vespasia mit leichtem Spott in der Stimme, der aber lediglich ihre Besorgnis überdecken sollte.

»Genaugenommen«, gestand ihr Charlotte, »habe ich bereits mein Wort gegeben.« Als sie merkte, wie endgültig das klang, fröstelte sie unwillkürlich.

»Ich schicke dir sofort meinen Kutscher«, teilte ihr Lady Vespasia mit. »Wenn Gracie dir die neue Hilfe empfohlen hat, kannst du dich bestimmt auf sie verlassen. Nimm einen Umhang mit, der Abend ist ziemlich kühl.«

»Ja«, sagte Charlotte, verabschiedete sich und hängte den Hörer auf den Haken.

Eine halbe Stunde später klingelte Lady Vespasia Cumming-Goulds Kutscher an der Tür. Charlotte war überzeugt, das Haus unbesorgt verlassen zu können, als sie sah, dass Daniel und Jemima mit Minnie Maude nicht nur schon ein wenig warm geworden zu sein schienen, sondern ihr bereitwillig alle Schränke und Schubladen zeigten und ihr erklärten, was sie enthielten.

Charlotte bat den Kutscher, ein wenig zu warten, und ging noch einmal in die Küche. Einen Augenblick lang sah sie zu, wie Jemima mit ernster Miene Minnie Maude erklärte, in welchem Krug morgens jeweils die Milch geholt wurde und wo sie den Milchmann finden konnte. Daniel trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, weil auch er unbedingt Ratschläge von sich geben wollte, und Minnie Maude lächelte abwechselnd den beiden zu.

»Es kann sein, dass ich ziemlich spät zurückkomme«, unterbrach Charlotte die Unterhaltung der drei. »Sie brauchen nicht auf mich zu warten.«

»Sehr wohl, Ma’ am«, sagte Minnie Maude rasch. »Aber das macht mir nix aus.«

»Danke, es ist wirklich nicht nötig«, teilte ihr Charlotte mit. »Gute Nacht.«

Sie ging hinaus und bestieg die Kutsche für die halbstündige Fahrt zu Lady Vespasias Haus, Gladstone Park. Genaugenommen handelte es sich nicht um einen Park, sondern um einen von blühenden Bäumen umstandenen viereckigen Platz. Unterwegs bemühte sie sich, ihre Gedanken zusammenzunehmen und zu überlegen, auf welche Weise sie Tante Vespasia darlegen wollte, was sie zu tun gedachte.

Das Mädchen führte sie in den in warmen, gedämpften Farben gehaltenen Salon, in dem Lady Vespasia, die sich noch

Lady Vespasia hatte in der höheren Gesellschaft einst nicht nur als schönste Frau ihrer Generation gegolten, sondern zugleich auch als ein Mensch, der mit großer Leidenschaft in solchen Kreisen unerhörte politische Ansichten vertrat. Die Jahre hatten durchaus Spuren in ihren Zügen hinterlassen, ihr Temperament aber eher noch verstärkt. Angesichts ihrer herausgehobenen gesellschaftlichen Stellung und ihrer gesicherten finanziellen Verhältnisse brauchte sie sich nicht darum zu kümmern, was andere von ihr dachten, und so tat sie, was sie für richtig hielt. Kritik mochte schmerzlich sein, doch die Zeit, da sie sich dadurch von etwas hatte abhalten lassen, lag lange zurück.

Anders als bei Charlotte, deren Frisur immer dazu neigte, sich aufzulösen, saß Lady Vespasias silbergraues Haar in vollkommener Weise. Ein hoher Spitzenkragen umschloss ihren Hals, und eine dreireihige Perlenkette schimmerte im Licht der Lampen.

»Wir essen erst in einer Stunde«, teilte sie Charlotte mit, »du hast also Zeit, mir die ganze Geschichte ausführlich zu erzählen. «

Was den Anfang betraf, hatte Charlotte keine Zweifel. »Vor vier Tagen ist Mr Narraway abends in die Keppel Street gekommen, um mir mitzuteilen, dass Thomas und sein Mitarbeiter einen Mann, der nahezu vor ihren Augen einen Mord begangen hatte, bis über den Kanal nach Frankreich verfolgen mussten, ohne vorher jemanden darüber informieren zu können.

Vespasia nickte. »Das war sehr aufmerksam von ihm«, bemerkte sie trocken.

Der spöttische Unterton in ihrer Stimme entging Charlotte nicht, und sie hob fragend den Blick.

»Er hat ein Auge auf dich geworfen, meine Liebe«, erklärte ihr Lady Vespasia mit kaum verhüllter Belustigung. »Aber was hat das mit deiner Hausangestellten zu tun?«

Charlotte sah nacheinander auf die zugezogenen Vorhänge und den Teppich mit dem blassen Blumenmuster. »Er ist gestern Abend noch einmal gekommen«, sagte sie ruhig. »Und sehr viel länger geblieben.«

Mit kaum wahrnehmbar veränderter Stimme sagte Lady Vespasia: »Ach ja?«

Charlotte hob den Blick und sah ihr in die Augen. »Im Sicherheitsdienst scheint es eine Art Verschwörung zu geben, deren Ziel es ist, den Eindruck zu erwecken, als habe Mr Narraway einen ziemlich hohen Geldbetrag unterschlagen.« Als sie Lady Vespasias ungläubigen Blick sah, fügte sie hinzu: »Man hat ihn wegen dieses Vorwurfs von einem Augenblick auf den anderen seines Amtes enthoben.«

»Ach je«, sagte Lady Vespasia. Es klang vieldeutig. »Jetzt verstehe ich, warum du so betroffen bist. Das ist in der Tat eine ernsthafte Geschichte. Victor hat gewiss seine Schwächen, aber Veruntreuung von Geldern gehört nicht dazu. Geld interessiert ihn nicht und bedeutet für ihn daher nicht die geringste Versuchung.«

Charlotte erschien diese Äußerung nicht gerade beruhigend. Welche Schwächen meinte Tante Vespasia da wohl? Sie schien ihn erstaunlich gut zu kennen. Zwar hatte sie sich für

Sie spürte, wie ihre Anspannung nachließ. Lächelnd sagte sie: »Ich hatte ihm das auch nicht zugetraut. Allerdings scheint es in seiner Vergangenheit etwas zu geben, was ihn zutiefst beunruhigt. «

»Das dürfte eine ganze Menge sein«, gab Lady Vespasia mit dem Anflug eines Lächelns zurück. »Er hat viele Facetten, aber nichts liegt ihm mehr am Herzen als seine Arbeit, und auf diesem Gebiet ist er am verwundbarsten.«

»Dann würde er ja wohl selbst nichts tun, um seine Anstellung aufs Spiel zu setzen, nicht wahr?«

»Bestimmt nicht. Offensichtlich ist es jemandem wichtig, ihn aus dem Amt zu drängen und zu erreichen, dass er bei der Regierung Ihrer Majestät jede Glaubwürdigkeit einbüßt. Dafür kann man sich eine ganze Reihe von Gründen denken, und da ich nicht ahne, welcher hier in Frage kommen könnte, weiß ich auch nicht recht, wo ich anfangen soll.«

»Wir müssen ihm helfen.« Es war Charlotte alles andere als recht, mit dieser Bitte an Tante Vespasia heranzutreten, aber Not kannte nun einmal kein Gebot. »Es geht ja nicht nur um ihn, sondern auch um Thomas. Er gilt in Lisson Grove als Mr Narraways Schützling. Wenn Narraway nicht mehr da ist, besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Anstifter dieser Intrige als Nächstes versuchen werden, auch Thomas aus dem Weg zu räumen …«

»Das versteht sich von selbst, du brauchst es mir also nicht ausdrücklich zu erklären, meine Liebe«, fiel ihr Lady Vespasia

»Hättest du Freunde, die …«, setzte Charlotte an.

»Da mir das Motiv unbekannt ist und ich nicht weiß, wer dahintersteckt«, gab Lady Vespasia zur Antwort, bevor Charlotte ihre Frage beenden konnte, »wüsste ich nicht, wem ich in diesem Zusammenhang vertrauen könnte.«

»Victor … Mr Narraway …« Charlotte spürte, wie ihr eine leichte Hitze ins Gesicht stieg. »… vermutet, dass es mit einem Fall in Irland zu tun haben könnte, der zwanzig Jahre zurückliegt und für den sich jemand an ihm rächen möchte. Mehr hat er mir darüber nicht gesagt, daher nehme ich an, dass ihm die Sache unangenehm ist.«

»Zweifellos.« Einen kurzen Augenblick lang blitzte ein Funke Humor in Lady Vespasia Augen auf. »Zwanzig Jahre soll das zurückliegen? Warum dann die Rache erst jetzt? Zwar sind die Iren dafür bekannt, dass sie einen Groll ebenso wenig vergessen wie einen Gefallen, den man ihnen schuldet, aber sie pflegen mit der Abrechnung nicht zu warten, wenn es nicht unbedingt sein muss.«

»Könnte hier nicht jemand nach dem Grundsatz handeln: ›Rache ist ein Gericht, das man am besten kalt genießt‹?«, gab Charlotte zu bedenken.

»Gewiss, meine Liebe. Aber in diesem Fall wäre sie nicht kalt, sondern steif gefroren. Meiner Vermutung nach steckt mehr dahinter als persönliche Rache, doch weiß ich natürlich nicht, was das sein könnte. Aber was hat das Ganze damit zu tun, dass dich deine Hausangestellte verlassen hat? Kann es sein, dass du … vergessen … hast, mir das zu sagen?«

Charlotte fühlte sich unbehaglich. Wäre Tante Vespasia weniger zartfühlend oder weniger besorgt gewesen, hätte diese Mahnung sie entrüstet.

»Ach so, ja … Mr Narraway ist nach Einbruch der Dunkelheit gekommen, und da das, was wir zu besprechen hatten, aus verständlichen Gründen nicht für fremde Ohren bestimmt war, hat er die Wohnzimmertür geschlossen. Ich habe den Eindruck, dass mich Mrs Waterman … für eine Frau … von zweifelhafter Tugend gehalten hat. Deshalb hat sie erklärt, es sei ihr nicht möglich, länger in einem Haus zu bleiben, dessen Herrin sich mit ›anstößigen Dingen‹ abgibt, wie sie sich auszudrücken beliebte.«

»In dem Fall wird sie bei ihrer nächsten Stellensuche keine große Auswahl haben«, sagte Lady Vespasia. » Vor allem dann nicht, wenn sie solche Maßstäbe auch an den Hausherrn anlegt. «

»Davon hat sie nichts gesagt.« Charlotte biss sich auf die Lippe, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken. »Doch hätte sie bestimmt vor Entrüstung das Haus noch zur selben Stunde verlassen, auf die Gefahr hin, sich am späten Abend mit ihrem Koffer in der Hand allein auf der Straße wiederzufinden, wenn sie gewusst hätte, dass ich Mr Narraway versprochen habe, ihn nach Irland zu begleiten, um ihn bei der Aufdeckung der Wahrheit nach Kräften zu unterstützen. Ich muss es ihm ermöglichen, seinen Namen reinzuwaschen, denn die Leute, die ihm das eingebrockt haben, sind zwangsläufig auch Thomas’ Feinde. Ohne Narraway in Lisson Grove wäre er ihnen hilflos ausgeliefert – und was würden wir dann tun?«

Lady Vespasia schwieg eine Weile. »Gib acht, was du tust, Charlotte«, sagte sie mit ernster Stimme. »Ich weiß nicht, ob dir klar ist, wie gefährlich das werden kann.«

Charlotte ballte die Fäuste. » Was soll ich denn deiner Ansicht nach tun? Untätig hier in London herumsitzen, während man Mr Narraway voll Heimtücke zugrunde richtet, und dann darauf warten, dass Thomas sein Schicksal teilt? Im besten

Lady Vespasia streckte ihre Hand über den Tisch aus und berührte ganz sacht Charlottes Fingerspitzen. »Dasselbe wie du, meine Liebe. Nur bedeutet das nicht zwangsläufig, dass deine Entscheidung klug ist. Es ist einfach die einzige, mit der du leben kannst.«

Das Mädchen klopfte und teilte mit, dass im Frühstückszimmer gedeckt sei. Zierliche Mahagonimöbel aus dem 18. Jahrhundert schimmerten dunkel vor goldgelb tapezierten Wänden, so dass es aussah, als äßen sie im Licht des Sonnenuntergangs, obwohl die Vorhänge auch hier zugezogen waren und das einzige Licht von den Gaskandelabern an den Wänden kam.

Erst als sie in den Salon zurückgekehrt waren und sicher sein durften, dass man sie nicht stören würde, wandten sie sich erneut ihrer ernsthaften Unterhaltung zu.

»Du darfst in Irland keinen Augenblick vergessen, wo du bist«, mahnte Lady Vespasia. »Nimm vor allem nicht an, dass es dort zugeht wie hier in England. Die Leute da sind außerstande, die Vergangenheit auch nur einen Augenblick lang zu vergessen. Genieße, was sich dir bietet, aber sei ständig auf der Hut. Man sagt, wer mit dem Teufel essen will, muss einen langen Löffel haben. Das gilt sinngemäß auch dort: Um mit den Iren zurechtzukommen, muss man all seine geistigen Kräfte zusammennehmen. Die bringen es fertig und seifen jeden ein, der nicht aufpasst.«

»Ich werde nicht vergessen, warum ich dort bin«, versprach Charlotte.

»Und auch nicht, dass Victor Irland sehr gut kennt und die Iren ihn kennen?«, fügte Lady Vespasia hinzu. »Du solltest weder seine Intelligenz noch seine Verletzlichkeit unterschätzen. Übrigens hast du mir noch gar nicht gesagt, auf welche Weise du das Unternehmen so durchführen willst, dass sein guter Ruf nicht noch mehr beschädigt und deiner nicht zugrunde gerichtet wird. Ich nehme jedenfalls nicht an, dass dich deine Angst und dein Widerwille gegen das ihm angetane Unrecht in dieser Hinsicht blind gemacht haben?« In ihrer Stimme lag keinerlei Kritik, sondern lediglich Sorge.

Charlotte spürte, wie ihr das Blut heiß ins Gesicht stieg. »Selbstverständlich habe ich daran gedacht. Eine Gesellschafterin kann ich nicht mitnehmen, denn ich habe keine, und ohnehin würde mir das Geld für ihre Reisekosten fehlen, sofern ich eine hätte. Ich werde mich als Mr Narraways Schwester ausgeben, genauer gesagt, als seine Halbschwester. Damit dürfte die Sache ja wohl hinreichend schicklich sein.«

Ein leichtes Lächeln umspielte Lady Vespasias Mundwinkel. »Dann solltest du aber besser aufhören, ihn als ›Mr Narraway‹ anzureden, und seinen Vornamen benutzen, wenn du kein Aufsehen erregen willst.« Sie zögerte. »Vielleicht tust du das ja bereits?«

Charlotte sah ihr in die silbergrauen Augen, ohne sich dazu zu äußern.


Früh am nächsten Morgen kam Narraway in einer Droschke. Als Charlotte die Tür öffnete, zögerte er nur einen winzigen Augenblick, fragte aber nicht, ob sie es sich anders überlegt habe. Vielleicht wollte er ihr keine Gelegenheit geben, in ihrem Entschluss wankend zu werden. Sein Gesicht war düster, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen, als habe er schon lange nicht mehr richtig geschlafen. Nachdem er den Droschkenkutscher aufgefordert hatte, ihr Gepäck aufzuladen,

»Nein, vielen Dank, das habe ich bereits getan«, gab sie zurück. »Außerdem sind mir lange Abschiede zuwider. Ich bin zum Aufbruch bereit.«

Er nickte und folgte ihr über den schmalen Weg, half ihr in die Droschke und ging dann hinten um diese herum, um ebenfalls darin Platz zu nehmen. Offensichtlich hatte er dem Kutscher das Fahrtziel schon genannt.

Charlotte hatte sich bereits entschieden, ihm nicht mitzuteilen, dass sie bei Lady Vespasia gewesen war; auch sagte sie kein Wort über Mrs Watermans Verdächtigungen. Das wäre nur peinlich gewesen, so, als sehe auch sie selbst in der Reise etwas, was über deren eigentlichen Zweck hinausging. Der bloße Gedanke ließ ihr die Röte ins Gesicht steigen.

»Vielleicht möchten Sie mir etwas über Dublin erzählen«, schlug sie vor. »Ich war noch nie dort, und mir ist bewusst, dass ich so gut wie nichts darüber weiß, außer, dass es sich um die Hauptstadt Irlands handelt.«

Aus irgendeinem Grund schien ihn das zu belustigen.

»Unterwegs wird genug Zeit dafür sein, denn obwohl wir den Schnellzug benutzen, haben wir nicht nur eine lange Fahrt bis zur Küste, sondern auch noch die mit der Fähre vor uns. Zum Glück ist die Wettervorhersage günstig. Ich hoffe nur, dass sie stimmt, denn wenn die Irische See rau ist, kann die Überfahrt außerordentlich unangenehm werden. Ich werde also unterwegs reichlich Gelegenheit haben, Ihnen alles zu sagen, was ich weiß, angefangen mit der Zeit von 7500 vor Christi Geburt bis heute.«

Es verblüffte sie zu hören, dass die Stadt so alt sein sollte, doch dachte sie nicht daran, ihm zu zeigen, dass es ihm so leicht gelungen war, sie zu beeindrucken. So sagte sie lediglich: »Ach, tatsächlich? Und liegt das daran, dass unsere Reise

»Genau genommen gibt es zwischen der Zeit um 7500 und dem Auftauchen der Kelten dort im Jahre 700 vor Christi Geburt eine große Lücke«, gab er mit einem Lächeln zurück. »Danach ist ebenfalls nicht sonderlich viel passiert, bis ein gewisser Patricius im Jahre 432 nach Christi Geburt dorthin gelangt ist, Apostel und Patron der Iren, den sie gewöhnlich St. Patrick nennen.«

»Wir können also acht Jahrtausende kommentarlos überspringen«, folgerte sie. »Danach gibt es aber doch sicherlich genauere Einzelheiten?«

»Wie wäre es mit der Errichtung der St. Patrick geweihten Kathedrale im Jahre 1192?«, schlug er vor. »Es sei denn, Sie wollen etwas über die Wikinger wissen – da müsste ich selbst erst nachlesen. Auf jeden Fall waren sie keine Iren und zählen deshalb nicht.«

»Sind Sie Ire, Mr Narraway?«, fragte sie plötzlich. Vielleicht war das aufdringlich von ihr, und solange er Pitts Vorgesetzter war, hätte sie eine solche Frage nie zu stellen gewagt, doch jetzt sprachen sie miteinander beinah von Gleich zu Gleich, und vielleicht konnte es für sie wichtig sein, es zu wissen. Mit seinen dunklen Augen, den dunklen Haaren und der Haut, die nicht annähernd so hell war die anderer Briten, konnte er ohne weiteres aus Irland stammen.

Er zuckte leicht zusammen. »Wie förmlich Sie sind – Sie klingen fast wie Ihre Mutter. Ich bin ebenso englisch wie Sie, wenn man von einer irischen Urgroßmutter absieht. Warum fragen Sie?«

»Weil Sie sich in der Geschichte des Landes so gut auskennen«, gab sie zurück. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn ihre Frage hatte mehr damit zu tun, dass sie feststellen wollte, wem seine Loyalität galt. Außerdem konnte das womöglich

»Solches Wissen gehört zu meinen Aufgaben«, sagte er ruhig. »Besser gesagt, es gehörte dazu. Möchten Sie etwas über die Fehde hören, die den König von Leinster veranlasste, Heinrich II. von England zu bitten, er möge ein Heer zu seiner Unterstützung entsenden?«

»Ist das interessant?«

»An der Spitze dieses Heeres stand der als Strongbow bekannte Richard de Clare. Er hat sich mit der Erbtochter des irischen Provinzialkönigs vermählt und wurde im Jahre 1171 selbst König, womit die Anglo-Normannen die Herrschaft über Irland in die Hand bekamen. Im Jahre 1205 haben sie damit begonnen, die Burg von Dublin zu bauen. ›Silken‹ Thomas ist im Jahre 1534 an die Spitze einer Revolte gegen Heinrich VIII. getreten und in diesem Kampf unterlegen. Sehen Sie allmählich ein Muster?«

»Selbstverständlich. Verbrennen die Iren also heutzutage alljährlich eine Strohpuppe, die den König von Leinster darstellen soll?«

Er lachte kurz und scharf. »Davon habe ich nie etwas gesehen, aber der Gedanke ist nicht schlecht. So, wir sind am Bahnhof. Ich werde mich um einen Gepäckträger kümmern. Wir unterhalten uns im Zug weiter.«

Noch während er das sagte, hielt die Droschke an, und Narraway sprang leichtfüßig hinaus. Mit seiner gebieterischen Haltung erregte er binnen Sekunden die Aufmerksamkeit eines Gepäckträgers, der das Gepäck auf seinen Karren lud. Er entlohnte den Droschkenkutscher und trat dann mit Charlotte in die riesige Halle des Bahnhofs von Paddington, von wo aus die Züge der Gesellschaft Great Western Rail nach Holyhead in Nordwales fuhren. Das Dach, das sich mit seinen

Narraway nahm Charlottes Arm. Es war ein sonderbares Gefühl, und sie wollte sich im ersten Augenblick dagegen sträuben, doch dann fiel ihr ein, wie töricht das wäre. Falls sie sich in der ungeheuren Menschenmenge aus den Augen verlören, würden sie einander möglicherweise erst nach Abfahrt des Zuges wieder finden. Er hatte die Fahrkarten und wusste sicherlich, zu welchem Bahnsteig sie mussten.

Sie kamen an Gruppen von Menschen vorüber, die Wiedersehen feierten oder Abschied voneinander nahmen. Immer wieder übertönten zischender Dampf und sich mit lautem Knall schließende Waggontüren alles andere. Auf den schrillen Pfiff eines Schaffners hin setzte sich eine der riesigen Lokomotiven in Bewegung und verließ den Bahnhof.

Erst nachdem Narraway und Charlotte ihr Abteil gefunden und darin Platz genommen hatten, setzten sie ihr Gespräch fort. Mit seinem höflichen und sogar zuvorkommenden Verhalten ihr gegenüber konnte er sie nicht über seine innere Anspannung hinwegtäuschen. So gut wie nie hielt er seine Hände ruhig, und immer wieder richtete er seine Blicke hierhin und dorthin, als wolle er sich die Gesichter der Menschen um ihn herum einprägen.

Charlotte sah es als ihre Aufgabe an, die lange Fahrt nach Holyhead so angenehm wie möglich zu gestalten, doch wollte sie zugleich von ihm erfahren, was genau er von ihr erwartete.

Sie nahm an, dass sie ziemlich steif wirkte, wie sie so mit im Schoß gefalteten Händen in vorbildlich aufrechter Haltung auf der ziemlich unbequemen Bank im Abteil saß. Zwar gefiel

»Danke für Ihre Ausführungen über die frühe irische Geschichte«, begann sie und kam sich dabei unbeholfen und ungeschickt vor. »Aber ich muss mehr über die Angelegenheit wissen, der wir nachspüren wollen, weil ich sonst bestimmt Wichtiges nicht erkenne, wenn ich etwas darüber höre. Ich kann mir unmöglich alles merken, was gesagt wird, um es Ihnen dann Wort für Wort zu berichten.«

»Selbstverständlich nicht.« Ganz offensichtlich war er bemüht, ein ernstes Gesicht zu machen, was ihm aber nicht ganz gelang. »Ich werde Ihnen so viel sagen, wie ich kann. Sie werden aber verstehen, dass es da nach wie vor den einen oder anderen heiklen Punkt gibt … ich meine, politisch gesehen.«

Sie sah ihn aufmerksam an und begriff, dass das, worauf er damit anspielte, auch für ihn persönlich schmerzlich war. Er erkannte, dass sie das gemerkt hatte, und lächelte. Der Spott, der darin lag, galt in erster Linie ihm selbst.

»Vielleicht könnten Sie mir etwas über die politische Lage im Lande sagen«, regte sie an. »Zumindest, soweit sie allgemein bekannt ist – jedenfalls den Menschen, die sich dafür interessieren«, fügte sie hinzu. Jetzt war die Reihe an ihr, sich ein wenig selbst zu verspotten. »Zu meiner Schande muss ich sagen, dass ich mich zu jener Zeit mehr mit Kleidern und Gesellschaftsklatsch als mit Politik beschäftigt habe.« Damals war sie seiner Schätzung nach um die fünfzehn Jahre alt gewesen. »Und natürlich mit der Frage, wen ich wohl eines Tages heiraten würde.«

»Verständlich. Ein Thema, das die meisten von uns von Zeit zu Zeit beschäftigt.« Er nickte. »Es genügt, wenn Sie über den politischen Hintergrund wissen, dass die Iren, wie bereits seit langer Zeit, unüberhörbar nach Selbstbestimmung verlangen. Verschiedene britische Premierminister haben schon früher versucht, sie im Unterhaus durchzusetzen, was einigen von ihnen großen Ärger bereitet und andere das Amt gekostet hat. Hier geht es um die Zeit des aufsehenerregenden Aufstiegs von Charles Stewart Parnell. Dieser Mann hat sich im Jahre 1877 an die Spitze der Partei gestellt, die sich für die Selbstbestimmung der Iren einsetzte.«

»Den Namen habe ich schon einmal gehört.«

»Kann ich mir denken, wahrscheinlich wegen seines skandalösen Verhältnisses zu Katie O’Shea, das ihm letzten Endes politisch gesehen den Hals gebrochen hat. Aber das war sehr viel später.«

»Bestand zwischen Parnell und den Ereignissen um die Familie O’Neil irgendein Zusammenhang?«

»In keiner Weise, jedenfalls nicht unmittelbar. Aber die Hoffnung, die das Auftreten eines neuen leidenschaftlichen Anführers erweckt, lag in der Luft. Endlich, so nahm man allgemein an, würde Irland unabhängig, und das machte alles anders als zuvor.« Er richtete den Blick aus dem Fenster, durch

»Und das mussten wir verhindern?«, fragte sie.

»Ich denke, dass es darauf hinauslief, ja. Uns erschien es notwendig, um den Frieden zu bewahren. Die Dinge ändern sich fortwährend, und da muss man darauf achten, dass man nicht die Kontrolle über die Art verliert, wie sie sich entwickeln, damit sie nicht aus dem Ruder laufen. Es hat keinen Sinn, zahllose Menschenleben zu opfern, nur um die eine Tyrannei gegen eine andere einzutauschen.«

»Mir gegenüber brauchen Sie das nicht zu rechtfertigen«, teilte sie ihm mit. »Mir sind diese Gedanken durchaus vertraut. Ich würde nur gern etwas mehr über die Familie O’Neil erfahren, damit ich verstehen kann, warum einer von ihnen Sie persönlich so sehr hasst, dass Sie noch zwanzig Jahre später annehmen, er habe dafür gesorgt, dass man Ihnen ein Verbrechen anlastet, das Sie nicht begangen haben. Was für eine Art Mensch war er? Warum hat er damit so lange gewartet? «

Narraway wandte sich ihr erneut zu. Er sprach zögernd. »Cormac O’Neil? Er hat gut ausgesehen, war ein sehr kräftiger Mann, der genauso leicht lachte wie ärgerlich wurde, doch seine Wut blieb gewöhnlich an der Oberfläche und war rasch vergessen. Ein Mann, der ausgesprochen treu zu Irland und zu seiner Familie hielt und seinem Bruder Sean sehr nahestand.« Er lächelte. »Die beiden haben sich fortwährend wie die Besenbinder in den Haaren gelegen. Aber wehe, ein Außenstehender trat dazwischen – dann haben sie sich gemeinsam auf ihn gestürzt, dass die Fetzen flogen.«

»Wie alt war er damals?«, fragte sie und versuchte sich den Mann vorzustellen.

»An die vierzig«, gab er zurück.

Sie fragte sich, ob er das aus den Akten hatte oder mit Cormac O’Neil gut genug bekannt gewesen war, dass sie solche Dinge voneinander wussten. Sie meinte, tiefreichende und vielschichtige persönliche Empfindungen an Narraway wahrzunehmen, und gewann immer mehr den Eindruck, dass hinter dem Ganzen weit mehr steckte als ein Einsatz des Sicherheitsdienstes. Sicherlich würde er ihr immer nur sagen, was unumgänglich war.

Sie musste sich daran erinnern, dass er alles verloren hatte, was ihm etwas bedeutete, nicht auf materieller Ebene – in diesem Punkt stimmte sie Lady Vespasias Ansicht zu, dass ihm derlei nichts bedeutete. Aber er hatte sein Ziel im Leben verloren, das er mit all seiner Leidenschaft und Energie verfolgt und das geradezu sein Wesen ausgemacht hatte. Am meisten hatte ihn wohl verletzt, dass man ihn an dieser Stelle so tief getroffen hatte.

»Stammen die O’Neils aus einer alten Familie?«, fuhr sie fort. »Wo haben die Leute gelebt und wie?«

Wieder sah er aus dem Fenster zur Sonne hin. »Cormac hatte Landbesitz südlich von Dublin – in Slane. Ein interessanter Ort. Ob die Familie alt war? Gehen wir nicht alle auf Adam zurück?«

Ihr war klar, dass er damit ihrer Frage auswich.

»Er scheint uns sein Erbe aber nicht allen zu gleichen Teilen hinterlassen zu haben«, gab sie zurück.

»Seine finanziellen Mittel erlaubten es ihm, sich mehr oder weniger auf die Verwaltung seines Vermögens zu beschränken. Er und Sean besaßen gemeinsam auch eine Brauerei. Sicher wissen Sie, dass das Wasser des Flusses Liffey für seine besondere Weichheit bekannt ist. Bier lässt sich überall auf der Welt brauen, doch hat keins den ganz besonderen Geschmack des mit Liffey-Wasser gebrauten. Aber Sie wollten wissen, wie die beiden waren.«

»Ja. Müsste ich den Mann nicht für Sie aufspüren? Wenn er Sie so sehr hasst, wie Sie annehmen, wird er Ihnen doch bestimmt nichts sagen, was Ihnen weiterhilft.«

Sein Gesicht verfinsterte sich. »Für den Fall, dass tatsächlich Cormac dahintersteckt, hat er sich die Sache sehr sorgfältig ausgedacht, und er muss über Mulhare und die ganze Operation rundum informiert gewesen sein: die Zusicherung des Geldes und die Höhe des Betrags, den Grund dafür, dass es auf so komplizierte Weise ausbezahlt wurde, und wahrscheinlich auch darüber, dass es Mulhare das Leben kosten würde, wenn es nicht wie vereinbart an diesen weitergegeben wurde.«

Sie hatte nicht die Absicht, noch einmal zu sagen, wie sehr sie mit ihm fühlte und wie verhasst ihr die ganze Geschichte war. Es gab dem, was sie bereits gesagt hatte, nichts hinzuzufügen. »Und er müsste auch eine Möglichkeit gehabt haben, dafür zu sorgen, dass ihn jemand in Lisson Grove dabei unterstützte. «

Er zuckte zusammen. »Ja. Darüber habe ich viel nachgedacht. « Jetzt war sein Gesicht voll Düsterkeit. »Ich habe alle Stücke des Puzzles zusammengesetzt, die ich kenne: Mulhares Verbindungen, was ich unternommen habe, um unter allen Umständen zu verhindern, dass die wahre Herkunft des Geldes bekannt werden konnte, alle Freunde und Feinde, die ich mir im Laufe der Zeit dort gemacht habe, wo das passiert ist. Alles weist auf O’Neil hin.«

»Aber warum sollte jemand in Lisson Grove bereit gewesen sein, den Mann bei seiner Handlungsweise zu unterstützen?«, fragte sie. Ihr war klar, dass diese Frage ebenso schmerzhaft war wie das Herausholen winziger Steinchen aus einem aufgeschürften Knie oder Ellbogen, nur dass sie weit tiefer reichte als eine solche Wunde. Unwillkürlich trat ihr das Bild vor Augen, wie Daniel mit schmutzigen und blutigen Beinen auf

»Dafür gibt es viele Gründe«, gab Narraway zurück. »Eine Arbeit wie die meine kann niemand erledigen, ohne sich Feinde zu machen. Man erfährt Dinge über andere Menschen, die man weit lieber nicht wüsste. Aber das ist ein Luxus, auf den man in dem Augenblick verzichtet, da man die Verantwortung übernimmt.«

»Das ist mir bekannt«, erwiderte sie ihm.

Seine Augen wanderten ein wenig hin und her. »Tatsächlich? Woher wissen Sie das, Charlotte?«

Sie erkannte die Falle und vermied sie. »Nicht von Thomas. Seit er beim Sicherheitsdienst ist, spricht er nicht mehr über seine Arbeit. Außerdem nehme ich an, dass man so komplizierte Dinge einem Außenstehenden nicht erklären kann.«

Er sah sie jetzt aufmerksam an. Seine Augen waren so dunkel, dass es ihr schwerfiel, darin irgendeinen Ausdruck zu erkennen. Die Linien seines Gesichts zeigten alle Gefühle, die er im Laufe der Jahre empfunden hatte: Besorgnis, Freude und Kummer.

»Meine älteste Schwester ist vor vielen Jahren ermordet worden, wie eine ganze Reihe anderer junger Frauen«, erklärte sie. »Niemand wusste, wer dahintersteckte. Diese Mordserie hat im ganzen Land Aufsehen erregt, und wir alle haben uns über den wahren Hintergrund getäuscht. Aber im Laufe der Nachforschungen hat jeder von uns eine Menge Dinge über sich und die jeweils anderen erfahren, von denen wir besser nie Kenntnis erlangt hätten. So etwas kann man nicht vergessen.

Sie sah ihn an und erkannte neben der Überraschung auf seinen Zügen auch eine Freundlichkeit, die sie verlegen machte. Die einzige Möglichkeit, das Unbehagen zu überspielen, bestand darin weiterzureden.

»Später, nachdem ich Thomas geheiratet hatte, habe ich mich an der Aufklärung einer ganzen Reihe seiner Fälle beteiligt, vor allem, wenn es um Angehörige der höheren Schichten ging. Ich hatte den Vorteil, ihnen von Gleich zu Gleich gegenübertreten und dabei Dinge in Erfahrung bringen zu können, die er nie im Leben herausbekommen hätte. Man hört ganz nebenbei, was getratscht wird – der Klatsch macht ja einen großen Teil des gesellschaftlichen Lebens aus. Wer etwas erfahren möchte und dabei klug vorgeht, das, was einer sagt, mit dem vergleicht, was andere gesagt haben, unauffällig Fragen stellt und Antworten auswertet, erhält auf jeden Fall Kenntnis von so manch Betrüblichem aus dem Privatleben anderer, was ihn nicht im Geringsten angeht, und er bekommt auch mit, wo diese Menschen verletzlich sind. Mitgefühl wie Enttäuschung kann weit schmerzhafter sein, als man es sich vorstellt, bis man es am eigenen Leibe erfahren hat.«

Er nickte kaum merklich. Ihm war klar, dass es für ihn keinen Grund gab, etwas dazu zu sagen.

Eine Weile saßen sie schweigend da. Das rhythmische Rattern der Räder war angenehm, beinahe einlullend. Die letzten Tage waren schwierig und anstrengend gewesen, und als sie merkte, dass sie einzunicken begann, fuhr sie mit einem Ruck hoch. Hoffentlich hatte sie nicht mit halb offenem Mund in ihrem Sitz gehangen!

Nach wie vor hatte sie nicht die geringste Vorstellung davon, auf welche Weise sie Narraway helfen konnte.

»Wissen Sie, wer Sie in Lisson Grove verraten hat?«, fragte sie.

Er beantwortete ihre Frage umgehend, als habe er geradezu darauf gewartet.

»Nein«, gab er zu. »Ich habe mehrere Möglichkeiten erwogen. Bei Licht besehen, sind die Einzigen, von denen ich sicher bin, dass sie es nicht gewesen sein können, Ihr Mann und ein gewisser Stoker. Während ich darüber nachgedacht habe, ist mir überhaupt erst aufgegangen, wie stümperhaft ich mich verhalten haben muss, dass mir kein Verdacht gekommen ist. Ich habe meinen Blick immer nur nach außen gerichtet, auf die Feinde, von denen ich wusste. In unserem Beruf hätte ich aber auch hinter mich blicken müssen.«

Sie widersprach nicht. Jeder Versuch, ihn zu trösten, wäre nur allzu durchsichtig gewesen und möglicherweise auch als herablassend empfunden worden.

»Das heißt, wir dürfen gegenwärtig im Sicherheitsdienst niemandem trauen, mit Ausnahme dieses Mannes namens Stoker«, folgerte sie. »In dem Fall wird uns wohl in der Tat nichts anderes übrigbleiben, als uns auf Irland zu konzentrieren. Warum hasst Cormac O’Neil Sie eigentlich so sehr? Wenn ich etwas in Erfahrung bringen soll, muss ich unbedingt die Hintergründe kennen.«

Diesmal wich er ihrem Blick nicht aus, doch sie hörte das Zögern in seiner Stimme. Es war ganz offensichtlich, dass er ihr die gewünschte Auskunft nur gab, weil ihm keine andere Wahl blieb. »Ich hatte erfahren, dass er einen Aufstand plante, und habe diesen verhindert, und zwar, indem ich seine Schwägerin, Seans Frau, auf meine Seite gezogen und die Angaben, die sie mir gemacht hat, genutzt habe, um seine Leute festnehmen zu lassen, woraufhin sie zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden.«

»Ich verstehe.«

»Nein, Sie verstehen nicht«, sagte er rasch mit gepresster Stimme. »Ich habe auch nicht die Absicht, Ihnen mehr zu sagen. Jedenfalls hat Sean seine Frau deswegen umgebracht und ist für diese Tat zum Strang verurteilt worden. Das kann Cormac mir nicht vergeben. Wenn es einfach ein Kampf gewesen wäre, hätte er den Sieg unserer Seite als Kriegsglück angesehen. Damals hätte er mich dafür vielleicht gehasst, aber inzwischen wäre das längst vergessen, wie das so geht, wenn Schlachten lange genug zurückliegen. Aber Sean und Kate sind immer noch tot. Ihr haftet nach wie vor der Makel einer Verräterin und ihm der eines Mörders an. Ich weiß nicht, warum O’Neil so lange gewartet hat – das ist das Einzige, was ich an der ganzen Geschichte nicht verstehe.«

»Vielleicht spielt es auch keine Rolle«, sagte sie düster. Es war eine tragische und auch äußerst hässliche Geschichte, und sie war überzeugt, dass er sie ihr nur in ganz groben Zügen berichtet hatte, möglicherweise, um Geheimnisse des Sicherheitsdienstes zu wahren. Doch eigentlich war sie überzeugt, dass er sich für seinen Anteil an diesen Vorfällen schämte.

»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte sie.

»Ich denke, dass ich nach wie vor Freunde in Dublin habe«, gab er zur Antwort. »Da ich keine Möglichkeit habe, selbst an Cormac heranzutreten, brauche ich jemanden, auf den ich mich verlassen kann. Es muss ein Mensch sein, der völlig unbeteiligt wirkt und in keiner Weise mit mir in Verbindung zu stehen scheint. Ich kann mich nicht einmal mit Ihnen irgendwo zeigen, sonst würde man Sie sofort mit Argwohn betrachten. Beschaffen Sie mir die Fakten; ich kann sie dann zusammensetzen. « Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, unterließ es dann aber.

»Haben Sie Sorge, dass ich unter Umständen nicht erkennen kann, was wichtig ist?«, fragte sie. »Oder dass ich es mir nicht merke und Ihnen falsch berichte?«

»Nein. Mir ist durchaus klar, dass Sie zu beidem imstande sind.«

»Wirklich?« Sie war überrascht.

Er lächelte flüchtig. »Sie haben mir gesagt, dass Sie Pitt geholfen haben, als er bei der Polizei war, als ob Sie der Ansicht wären, dass ich das nicht wüsste.«

»Ich hatte den Eindruck, dass Ihnen die Sache mit meiner Schwester Sarah nicht bekannt war«, gab sie zurück. »Oder war es mehr Takt als Wahrheitsliebe, dass Sie nichts dazu gesagt haben?«

In seine Augen trat ein gekränkter Blick, der sogleich wieder verschwand. »Es war die Wahrheit. Aber vielleicht habe ich diesen Kommentar verdient. Das meiste über Sie habe ich von Vespasia erfahren. Sie hat Sarah mit keiner Silbe erwähnt, vielleicht aus Feingefühl. Und ich brauchte das ja auch nicht zu wissen.«

»Aber das andere mussten Sie wissen?«, fragte sie ungläubig.

»Selbstverständlich. Sie gehören zu Pitts Leben. Ich musste genau wissen, wie weit ich mich auf Sie verlassen konnte. Allerdings kann ich Ihnen angesichts meiner gegenwärtigen Lage keine Vorwürfe machen, wenn Sie meine diesbezüglichen Fähigkeiten anzweifeln.«

»Das klingt wie Selbstmitleid«, sagte sie mit Schärfe in der Stimme. »Ich habe keine Kritik an Ihnen geübt, und das weder, weil sich das so gehört, noch aus Mitgefühl. Wir können uns keine dieser beiden Haltungen leisten, sofern sie die Wahrheit verhüllen. Wir sind darauf angewiesen, einander bedingungslos zu trauen. Das Vergehen besteht im Verrat, nicht im Verratenwerden.«

»Wirklich gut, dass Sie keinen Mann aus den höheren Kreisen geheiratet haben«, gab er zurück. »Sie hätten das nicht überlebt – vielleicht aber hätte es auch die feine Gesellschaft nicht

Sie war nicht sicher, ob er über sie spottete, sich verteidigte oder beides.

»Sie haben also meine Unterstützung akzeptiert, weil Sie überzeugt sind, dass ich imstande bin zu tun, was Sie von mir erwarten«, schloss sie.

»Aber nein. Ich habe es getan, weil Sie so darauf bestanden haben. Ganz davon abgesehen hatte ich ohnehin keine Wahl, da Stoker der einzige andere Mensch ist, dem ich traue, und er hat sich nicht dazu erbötig gemacht.«

»Touchée«, sagte sie gelassen.

Sie schwiegen eine ganze Weile, und als sie das Gespräch wieder aufnahmen, drehte es sich um Unterschiede zwischen der feinen Gesellschaft in London und in Dublin. Er schilderte ihr das Leben in der irischen Hauptstadt und deren Umland, Patronatsfeste, Festspiele und andere Gelegenheiten, bei denen die Iren feierten, mit so großer Lebhaftigkeit, dass sie sich zu freuen begann, all das bald mit eigenen Augen sehen zu dürfen.

In Holyhead stiegen sie auf die Fähre um und suchten nach einer kurzen Mahlzeit ihre Kabinen auf. Zwar würde die Fähre schon vor Morgengrauen in Kingstown, dem Hafen von Dublin, anlegen, doch brauchten die Passagiere nicht sogleich an Land zu gehen, sondern durften ausschlafen und in Ruhe frühstücken.


Nach der Ausschiffung in Kingstown konzentrierte sich Charlotte so sehr darauf, weder Narraway noch den Gepäckträger aus den Augen zu verlieren, dass sie nicht dazu kam, ihre Umgebung zur Kenntnis zu nehmen. Bei der Fahrt in die Stadt, die gerade erwachte, sah sie, wie sich die vom Regen

Er schien ziemlich genau zu wissen, in welchem Teil der Stadt er eine Unterkunft für sie beide suchen wollte, denn er hatte dem Droschkenkutscher exakte Anweisungen gegeben, ohne ihr Näheres zu sagen. Während er hinaussah, beobachtete sie sein Gesicht, auf dem im scharfen Licht des frühen Morgens noch die kleinsten Fältchen um Mund und Augen zu sehen waren. Das ließ ihn älter und weit weniger selbstsicher erscheinen als sonst.

Sie fragte sich, woran er sich wohl erinnern mochte, während er den Blick durch die ihm sicherlich vertrauten Straßen gleiten ließ. Ein wie großer Teil der Leidenschaft oder des Kummers in seinem Leben mochte sich hier abgespielt haben? Sie war froh, das nicht zu wissen, und schon der bloße Gedanke daran kam ihr vor wie ein unerlaubtes Eindringen in seine Privatsphäre. Es wäre ihr recht, das nie zu erfahren.

Sie musste an Daniel und Jemima denken und hoffte, dass Minnie Maude gut mit allem zurechtkam. Es hatte so ausgesehen, als ob die Kinder sie gut leiden könnten. Zweifellos war die junge Frau ihrer Aufgabe gewachsen, sonst hätte Gracie sie kaum empfohlen. So sehr sie Gracie ihr Glück gönnte, so sehr fehlte sie ihr bei Gelegenheiten wie dieser.

Gleich darauf verbot sie sich diesen lachhaften Gedanken. Eine Zeit wie diese hatte es nie zuvor gegeben. Alle früheren Fälle und Abenteuer hatten sich in London oder in der näheren Umgebung der Stadt abgespielt, hier aber fuhr sie in einem fremden Land mit Victor Narraway auf der Suche nach einer Unterkunft durch die Straßen. Da brauchte sie sich wirklich nicht über Mrs Watermans Entrüstung zu wundern. Vielleicht hatte die Frau damit ja durchaus Recht gehabt. Charlotte hatte weder eine Vorstellung davon, wo sie sich befand, noch davon, auf welche Weise sie Narraway oder auch ihrem Mann helfen konnte.

Pitt war in Frankreich, hatte nicht einmal ein frisches Hemd, Socken oder Wäsche zum Wechseln mit und verfolgte jemanden, dem es nichts ausmachte, einem Mann am helllichten Tag die Kehle durchzuschneiden, so dass er verblutete und liegenblieb wie ein Sack Abfall. Zwar hatte Narraway ihm Geld geschickt, aber würde er damit auskommen? Ganz davon abgesehen war er auf Unterstützung angewiesen, auf Informationen, möglicherweise auch auf die Mitwirkung der französischen Polizei. Würde der Mann, der in Lisson Grove an Narraways Stelle getreten war, für all das sorgen? Verhielt er sich seinen Untergebenen gegenüber loyal – und war er seiner Aufgabe überhaupt gewachsen?

Schlimmer noch war der Gedanke, dass er nahezu mit Sicherheit auch Pitts Feind war, wenn es sich bei ihm um einen Feind Narraways handelte. Da Pitt von den Vorgängen in London nichts wusste, würde er seine Berichte weiterhin so abfassen, als ob sie für Narraway bestimmt seien.

Sie wandte sich von ihm ab und sah hinaus. Die Fahrt ging vorüber an hübschen Häusern aus dem 18. Jahrhundert und ab und zu auch an öffentlichen Gebäuden und Kirchen von klassischer Eleganz. Von Zeit zu Zeit erhaschte sie einen Blick auf den Liffey, der sich nicht so sehr zu winden schien wie die Themse.

Die Pferdebahnen sahen denen in London recht ähnlich, und in den stilleren Seitenstraßen peitschten Kinder Kreisel oder vergnügten sich mit Seilhüpfen.

Zweimal setzte sie an, um zu fragen, wohin sie fuhren, unterließ es aber, als sie die Anspannung und Konzentration auf Narraways Zügen erkannte.

Schließlich hielten sie vor einem Haus in der Molesworth Street im Südosten der Stadt an.

»Augenblick«, sagte Narraway, der plötzlich wieder ansprechbar schien, »ich bin gleich wieder da.« Ohne auf ihre Erwiderung zu warten, stieg er aus, ging auf das nächstgelegene Haus zu und klopfte kräftig an dessen Tür. Schon bald öffnete eine Frau in mittleren Jahren, die eine weiße Schürze trug und die Haare in einem Knoten auf dem Kopf zusammengefasst hatte. Nachdem Narraway etwas zu ihr gesagt hatte, bat sie ihn herein und schloss die Tür hinter ihm.

Mit einem Mal merkte Charlotte, dass sie fror und schrecklich müde war. Sie hatte schlecht geschlafen, teils wegen der Enge der Kabine und der ständigen Bewegung des Fährschiffs, vor allem aber, weil ihr zu Bewusstsein gekommen war, wie überstürzt sie gehandelt hatte. Während sie jetzt dort wartete, wäre sie gern an jedem anderen Ort als jenem gewesen. Vermutlich würde Pitt fuchsteufelswild sein, sobald er davon erfuhr. Und wenn er nun nach Hause zurückkehrte und die Kinder allein in der Obhut eines Mädchens vorfand, das er nie zuvor gesehen hatte? Sie würden ihm mitteilen, dass Charlotte mit Narraway nach Irland gereist war, ohne ihm den Grund dafür sagen zu können!

Sie fröstelte, als Narraway zurückkehrte, erst mit dem Kutscher sprach und dann das Wort an sie richtete.

»Hier bekommen wir ruhige und saubere Zimmer. Es ist ein durch und durch achtbares Haus, und wir werden hier niemandes Aufmerksamkeit erregen. Sobald wir uns eingerichtet

»Bitte warten Sie auf mich«, fuhr er fort. »Sie können sich unterdessen gern ausruhen. Vielleicht haben wir heute Abend eine Menge zu tun. Bedauerlicherweise dürfen wir keine Zeit verlieren.«

Er hielt ihr den Arm hin, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein, und sah ihr fragend in die Augen. Offensichtlich war er um sie besorgt, doch war sie froh, dass er nichts weiter sagte. Alles Nötige war gesagt worden. Augenblicke des Zweifels waren unvermeidlich, vielleicht sogar solche, in denen sie vom unausbleiblichen Fehlschlag ihres ganz und gar verantwortungslosen Unternehmens überzeugt war. Solche Augenblicke galt es mit möglichst viel Seelenstärke und möglichst wenig Jammern zu ertragen. Auf jeden Fall musste sie bedenken, dass man seine und nicht ihre berufliche Existenz zugrunde gerichtet hatte und er derjenige war, der letztlich die Konsequenzen auf sich nehmen musste. Er war derjenige, den man der Veruntreuung von Geldern und des Verrats beschuldigte – gegen sie würde niemand solche Vorwürfe erheben.

Aber natürlich bestand eine große Wahrscheinlichkeit, dass man Pitt mit in die Sache hineinziehen würde.

»Danke«, sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln und sah dann zu dem Haus hin. »Es sieht sehr angenehm aus.«

Nach kurzem Zögern ging er etwas zuversichtlicher vor ihr auf die Haustür zu. Als die Pensionswirtin öffnete, stellte er ihr

»Guten Tag, Ma’am«, sagte Mrs Hogan mit munterer Stimme. »Willkommen in Dublin. Es ist eine schöne Stadt.«

»Danke, Mrs Hogan. Ich freue mich schon richtig darauf«, gab Charlotte zurück.


Narraway verließ die Pension nahezu augenblicklich. Charlotte begann ihren Koffer auszupacken und die Falten der wenigen Kleidungsstücke zu glätten, die sie mitgebracht hatte. Nur ein Kleid eignete sich für formelle Anlässe, aber sie hatte schon vor einiger Zeit beschlossen, die Gewohnheit der bekannten Schauspielerin Lillie Langtry zu übernehmen und es bei jedem Anlass mit anderen Accessoires zu verändern. Um die Aufmerksamkeit der Menschen davon abzulenken, dass es sich jedesmal um ein und dasselbe Kleid handelte, hatte sie Ohrringe, eine Halskette aus Hämatit und Bergkristall sowie eine schwarze und eine weiße Spitzenmantille mitgebracht. Immerhin saß das Kleid bemerkenswert gut. Frauen würden zweifellos trotzdem merken, dass sie bei jeder Gelegenheit dasselbe Kleid trug, aber mit etwas Glück würden Männer lediglich sehen, dass sie gut darin aussah.

Während sie es ebenso wie das Kostüm mit zwei Röcken und ein Kleid aus dünnerem Stoff in den Schrank hängte, musste sie unwillkürlich an die Zeit denken, als Pitt noch bei der Polizei war und sie zusammen mit ihrer Schwester Emily versucht hatte, ihm bei seinen Ermittlungen zu helfen, insbesondere dann, wenn die Verbrechensopfer den gehobenen Schichten der Gesellschaft angehörten, in denen sie und Emily ungehindert verkehren konnten, während dem Polizeibeamten Pitt Einblick lediglich als Außenstehendem gewährt wurde – und so jemandem gegenüber verhielten sich die Menschen unnatürlich und mit äußerster Zurückhaltung.

Diese Verbrechen waren jeweils das Ergebnis menschlicher Leidenschaft und gelegentlich gesellschaftlicher Unbill gewesen, aber nie mit Staatsgeheimnissen verbunden. Für Pitt hatte es keinen Grund gegeben, nicht offen mit ihr darüber zu sprechen und ihre Kenntnisse von den Zusammenhängen und den Verhaltensweisen der Angehörigen jener Gesellschaftsschicht nicht zu nutzen, die sich so sehr von der seinen unterschied, dass er nicht ohne weiteres zu erfassen vermochte, wie er einzuschätzen hatte, was sie taten und sagten. Ganz besonders galt das natürlich für die Damen der Gesellschaft.

Fast immer war es um eine menschliche Tragödie gegangen, und bisweilen war es dabei zu gefährlichen Situationen gekommen. Charlotte hatte häufig Zorn über Ungerechtigkeiten empfunden und Mitgefühl für Menschen aufgebracht, deren Handlungsweise auf einer Gefühlsverwirrung beruhte. Dennoch hatte sie dies Abenteuer, an dem Kopf und Herz gleichermaßen beteiligt waren, sehr geschätzt, zumal es dabei um eine Sache gegangen war, für die zu kämpfen sich lohnte. Sie hatte sich dabei nie gelangweilt und auch nie die innere Leere empfunden, die sich einstellte, wenn man im Leben kein Ziel hatte, an das man unverbrüchlich glaubte.

Sie verteilte ihre Toilettenartikel auf der Frisierkommode und der Ablage des freundlichen Badezimmers, das sie sich mit einem anderen weiblichen Pensionsgast teilte. Dann zog sie Rock und Bluse aus, nahm die Haarnadeln heraus und legte sich im Unterrock auf das Bett.

Als es an der Tür klopfte, fuhr sie hoch. Sie musste wohl eingeschlafen sein. Verwirrt sah sie die Möbel, die Gaslampen an den Wänden und die Fenster an – nichts davon war ihr vertraut. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wo sie war, doch dann fiel es ihr ein, und sie stand so rasch auf, dass sie dabei die Decke vom Bett herunterzog.

»Wer ist da?«, fragte sie.

»Victor«, sagte er leise. Immerhin war es möglich, dass Mrs Hogan besonders feine Ohren hatte, und er wollte auf jeden Fall die Täuschung aufrechterhalten, dass es sich bei ihnen beiden um Halbgeschwister handelte.

»Ach je.« Sie sah an sich herab, wie sie im Unterrock dastand. »Einen Augenblick bitte«, sagte sie. Zwar konnte sie unmöglich binnen kürzester Zeit ihre Haare wieder ordentlich feststecken, aber auf jeden Fall musste sie sich vollständig anziehen. Mit einem Mal war sie wegen ihres Aussehens befangen. Sie schlüpfte rasch in Rock und Bluse, warf sich dann die Kostümjacke über, knöpfte sie in der Eile falsch zu und musste wieder von vorn anfangen. Sicherlich fragte er sich, während er auf dem Gang vor dem Zimmer wartete, warum sie so lange brauchen mochte.

»Ich komme gleich«, sagte sie, fuhr sich rasch mit der Bürste über die Haare und öffnete dann die Tür.

Trotz seiner Erschöpfung musterte er sie mit einem belustigten Lächeln. Möglicherweise lag darin auch eine Anerkennung ihrer Weiblichkeit, die sie lieber nicht zur Kenntnis nahm. Sie war keine ausgesprochene Schönheit – jedenfalls nicht im landläufigen Sinne –, aber eine bemerkenswert gut aussehende Frau mit vollem Haar, glatter weicher Haut und ausgeprägten weiblichen Formen.

»Du bist heute zu einer Abendgesellschaft eingeladen«, sagte er, kaum dass er ins Zimmer getreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Und zwar im Haus von John und Bridget Tyrone, mit denen ich noch nicht zusammenzutreffen wage. Mein Freund Fiachra McDaid begleitet dich. Ich kenne ihn schon lange, und er wird dich mit ausgesuchter Höflichkeit behandeln. Gehst du bitte hin?«

»Selbstverständlich«, sagte sie sogleich, sowohl, um sich festzulegen, bevor ihre Vorsicht sie mahnte, es lieber nicht zu tun, als auch, um ihn zu beruhigen. »Erzähl mir etwas über

Die Hände in den Taschen, lehnte er am Türrahmen. Er sah völlig entspannt aus, völlig anders als der, den sie bisher ausschließlich im Zusammenhang mit seinen Berufspflichten kennengelernt hatte. Sie stellte sich flüchtig vor, wie er vor zwanzig Jahren gewesen sein musste: ein kluger Mann, der niemanden nah an sich heranließ und dessen Gefühle man nicht recht einschätzen konnte. Allerdings fühlten sich manche Frauen gerade davon unwiderstehlich angezogen. Sie selbst hatte mehrere von dieser Art Frau kennengelernt, die sich davon weit mehr verlocken ließen als von der Aussicht auf eine gute Heirat – einen Mann mit einem Adelstitel oder viel Geld.

Während sie auf seine Antwort wartete, war sie sich ihres Reisekostüms und ihres unfrisierten Haares bewusst.

»Mein Vater hat deine Mutter geheiratet, nachdem die meine gestorben war«, begann er.

Sie hörte aufmerksam zu, um sich genau einzuprägen, was er sagte, damit sie beide jederzeit dieselbe Geschichte erzählen konnten.

»Als du geboren wurdest«, fuhr er fort, »habe ich schon in Cambridge studiert. Deshalb wissen wir so wenig voneinander. Mein Vater stammt aus Buckinghamshire, kann aber ohne weiteres nach London gezogen sein, so dass du einfach sagen kannst, wo du aufgewachsen bist und wo du dich auskennst.

»Was hat er gemacht – ich meine, unser Vater?«, fragte sie. Das Ganze war so unwirklich und geradezu lächerlich, aber ihr war klar, dass es wichtig war und von entscheidender Bedeutung sein konnte.

»Er hatte Grundbesitz in Buckinghamshire und hat in jungen Jahren bei der Kolonialarmee in Indien gedient. Ich habe ihn nicht besonders gut gekannt, du brauchst also auch nicht mehr über ihn zu wissen.«

Sie hörte den Ton des Bedauerns in seiner Stimme, einen gewissen Zorn über das, was ihm in der Jugend entgangen sein mochte, doch das war rasch verflogen. »Er ist schon länger tot. Was deine Mutter betrifft, kannst du dich an die Wahrheit halten. Du und ich haben einander erst kürzlich näher kennengelernt und wollen unsere Bekanntschaft auf dieser Reise vertiefen.« Ein undeutbarer Ausdruck trat in seine Augen und verschwand wieder.

»Aber warum ausgerechnet Irland?«, fragte sie. »Danach wird man mich doch bestimmt fragen.«

»Meine Mutter war Irin«, gab er zurück.

»Tatsächlich?«, fragte sie überrascht, da er es zuvor abgestritten hatte, irischer Abkunft zu sein. Er hatte ihr doch gesagt, eine seiner Urgroßmütter sei Irin gewesen.

»Natürlich nicht«, fuhr er mit breitem Lächeln fort, »aber sie lebt nicht mehr und wird sich nicht beschweren.«

Sie empfand ein sonderbares Mitgefühl und begriff seine große Einsamkeit.

»Ich verstehe«, sagte sie ruhig. »Und was ist mit den Verwandten, die ich suche? Wieso bleibe ich einfach hier in Dublin, ohne etwas zu unternehmen, um sie zu finden? Warum suche ich sie überhaupt?«

»Vielleicht solltest du diesen Punkt besser streichen«, gab er zurück. »Du willst einfach Dublin kennenlernen. Ich habe dir so viel darüber berichtet, und wir haben uns diesen Vorwand ausgedacht, um einen Grund für die Reise hierher zu haben. Die Leute sind sicher gern bereit, das zu glauben, denn es wird ihnen schmeicheln. Dublin ist eine herrliche Stadt und von einzigartigem Zauber.«

Sie erhob keine Einwände, hatte aber das Gefühl, dass sie nicht weiterkommen würden, wenn sie keine Fragen stellte. Höfliches Interesse ließ sich einfach beiseite wischen und erforderte nicht mehr als ebenso höfliche wie unergiebige Antworten.


Charlotte nahm ihren Umhang, und sie verließen Mrs Hogans Haus, um in der angenehmen Atmosphäre des Frühlingsabends den knappen Kilometer bis zum Anwesen von Fiachra McDaid zu Fuß und schweigend zurückzulegen.

Narraway klopfte an die mit Schnitzereien verzierte Mahagonitür, die ein eleganter Mann in einem dunkelgrünen Samtjackett nahezu sogleich öffnete. Er war ziemlich groß und um die Leibesmitte herum recht rundlich. Im Schein der Lampe an der Haustür wirkten seine Züge trübsinnig, doch sobald er Narraway erkannte, leuchtete sein Gesicht in einer Weise auf, die ihn auf verblüffende Weise anziehend erscheinen ließ. Sein Alter ließ sich nur schwer schätzen, aber da sein schwarzes Haar an den Schläfen weiße Strähnen aufwies, nahm Charlotte an, dass er an die fünfzig sein musste.

»Victor!«, sagte er munter und ergriff Narraways Hand, um sie kräftig zu schütteln. »Das Telefon ist zwar eine großartige Erfindung, lässt aber gegenüber einer persönlichen Begegnung viel zu wünschen übrig.« Er wandte sich Charlotte zu. »Und Sie sind bestimmt Mrs Pitt, die zum ersten Mal die Königin unserer Städte besucht. Ich heiße Sie willkommen. Es wird

Die Räume waren elegant eingerichtet, ganz im Stil des frühen 19. Jahrhunderts. So hätte es ohne weiteres auch in einer guten Wohngegend Londons aussehen können, vielleicht mit Ausnahme einiger der Bilder an den Wänden und der eigenartigen silbernen Pokale auf dem Kaminsims. Sie fand die kleinen Unterschiede interessant und hätte gern alles genauer in Augenschein genommen, doch wäre ein solches Verhalten unhöflich gewesen, da der Mann nicht wissen würde, ob sie die Dinge bewunderte oder kritisch beäugte.

»Sie müssen unbedingt ins Theater gehen«, fuhr Fiachra McDaid fort und sah Charlotte an. Ihr war klar, dass er sie aufmerksam musterte, obwohl er sich bemühte, das beiläufig aussehen zu lassen.

Er bot ihr ein Glas Sherry an, an dem sie lediglich nippte. Sie hatte nur wenig gegessen und musste einen klaren Kopf bewahren.

»Natürlich«, gab sie mit einem Lächeln zurück. »Die anderen Damen in London würden mich sicherlich sonderbar ansehen, wenn ich in Dublin gewesen wäre, ohne ins Theater zu gehen.« Nicht ohne Befriedigung sah sie einen Augenblick Verwirrung in seinen Augen. Es war eine unbedeutende Bemerkung gewesen, wie eine Frau sie wohl machte, der mehr daran lag, was andere von ihr hielten, als sie von sich selbst – und mit solchen Menschen würde sich Narraway freiwillig nicht umgeben. Was mochte er diesem Mann über sie gesagt haben? Und was wusste McDaid über Narraway? Sie war sicher,

Der Ausdruck in McDaids Augen, der nur flüchtig aufgeblitzt war, hatte ihr gezeigt, dass es eine ganze Menge sein musste. Sie lächelte, nicht, um ihn zu umgarnen, sondern aus Belustigung.

Er sah das Lächeln und verstand es. Ja, offensichtlich wusste er eine ganze Menge über Narraway.

»Ich nehme an, dass man dort alle interessanten Menschen trifft«, sagte sie.

»So ist es«, bestätigte er mit einem Nicken. »Und eine ganze Anzahl von ihnen wird heute bei der Abendgesellschaft der Tyrones anwesend sein. Es wird mir ein Vergnügen sein, sie Ihnen vorzustellen. Von hier ist es nur eine kurze Fahrt dorthin. Da es aber spät werden wird und zu weit ist, um zu Fuß in die Molesworth Street zurückzukehren, werde ich mir erlauben, Sie anschließend in meiner Kutsche nach Hause zu bringen.«

»Das klingt sehr gut.« Zu Narraway gewandt, fragte sie: »Sehe ich dich morgen zum Frühstück? Sagen wir, gegen acht?«

Er lächelte. »Ich nehme an, dass es dir lieber sein wird, wenn ich neun Uhr sage«, gab er zur Antwort.


Auf dem Weg zum Haus ihrer Gastgeber unterhielten sich Charlotte und ihr Begleiter ausschließlich über belanglose Dinge. In erster Linie nannte ihr McDaid die Namen der Straßen, durch die sie fuhren, und erwähnte einige der Größen, die dort gelebt hatten. Manche der Namen hatte sie noch nie gehört, und obwohl sie das nicht sagte, nahm sie an, dass er es vermutete. Mitunter flocht er ein »Wie Sie sicher wissen« ein und teilte ihr dann etwas mit, wovon sie nicht die geringste Ahnung gehabt hatte.

Das Haus des Ehepaars Tyrone war größer als das McDaids. In der aufwendig gestalteten Eingangshalle führten zu beiden Seiten geschwungene Treppen nach oben, die sich über der Tür zum ersten Empfangssalon zu einer Galerie vereinigten. Links hinter dem Salon lag das Esszimmer, in dem für über zwanzig Personen gedeckt war.

Mit einem Mal begriff Charlotte, dass sie eine privilegierte Außenseiterin war, die man im Gegenzug für einen erwiesenen Gefallen oder zum Ausgleich einer bestehenden Schuld eingeladen hatte. Als sie und McDaid eintrafen, waren bereits über ein Dutzend Gäste da, Herren in Abendgarderobe und Damen, welche die gleichen Farben trugen, die man auch bei einer entsprechenden Abendgesellschaft in London hätte sehen können. Der Unterschied lag in der energiegeladenen Atmosphäre im Raum, in den ausholenden Handbewegungen und darin, dass die Anwesenden mit eindeutig nicht auf die englische Standardaussprache hin gedrillten melodiösen Stimmen sprachen.

Sie wurde der Gastgeberin Bridget Tyrone vorgestellt, einer gut aussehenden Frau mit blendend weißen Zähnen. Ihr herrliches, kaum gebändigtes kastanienfarbenes Haar schien sich ihren Bemühungen, es zu frisieren, auf die gleiche Weise entzogen zu haben, wie Herbstlaub im Wind davonweht.

»Mrs Pitt ist gekommen, um sich Dublin anzusehen«, teilte ihr McDaid mit. »Wo könnte man da besser beginnen als bei Ihnen?«

»Aha, Neugier also führt Sie hierher?«, fragte John Tyrone, der neben seiner Gattin stand, ein Mann mit dunklen Haaren und leuchtend blauen Augen.

Da Charlotte in der Frage einen Vorwurf zu spüren glaubte, ergriff sie die Gelegenheit und erläuterte mit einem Lächeln, von dem sie hoffte, dass es warm wirkte: »Sagen wir: Interesse. Einige Verwandte aus der Familie meiner Mutter stammen

»Ich hätte es mir denken sollen!«, sagte Bridget sogleich. »Sieh dir doch nur die Haare an, John! Das ist ein typisch irischer Farbton, nicht wahr? Wie hießen sie denn?«

Charlotte überlegte rasch. Sie musste sich etwas ausdenken, zugleich aber auch dafür sorgen, dass es der Wahrheit so nahe wie möglich kam, damit sie später nicht vergaß, was sie gesagt hatte oder sich gar widersprach. Außerdem musste es für Narraways und ihr Vorhaben nützlich sein. Alles, was sie unternahm, würde sich als sinnlos erweisen, wenn sie nichts über die Vergangenheit erfuhr. Bridget Tyrone wartete mit weit geöffneten Augen auf ihre Antwort.

Charlottes Großmutter hatte Christine Owen geheißen, und so sagte sie mit der gleichen Gelassenheit, die sie empfunden hätte, wenn sie in einen Wildwasserfluss hätte springen müssen: »Christina O’Neil.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Ihr kam der entsetzliche Gedanke, dass es möglicherweise einen Menschen dieses Namens gab, den diese Leute kannten. Wie um Himmels willen würde sie aus der Sache herauskommen, falls es sich so verhielt?

»O’Neil«, wiederholte Bridget. »Hier in der Gegend gibt es viele O’Neils. Bestimmt werden Sie jemanden finden, der sie gekannt hat, außer natürlich, wenn die Leute das Land während der großen Hungersnot verlassen haben. Gott allein weiß, wie viele das gewesen sein mögen. Kommen Sie, ich möchte Sie unseren anderen Gästen vorstellen.«

Charlotte begleitete sie folgsam und wurde einem der Paare nach dem anderen vorgestellt. Sie gab sich Mühe, sich ihr unbekannte Namen einzuprägen, etwas halbwegs Intelligentes zu

Erneut brachte sie die Sprache auf ihre erfundene Großmutter.

»Ach, tatsächlich?«, sagte Talulla Lawless überrascht und hob die schmalen schwarzen Brauen über ihren wunderbaren großen leuchtenden Augen, die zwischen Blau und Grün zu changieren schienen, kaum, dass Charlotte – die nun entschlossen war, nach dem Motto »Wenn schon, denn schon« ihr Ziel zu verfolgen – den Namen genannt hatte. »Sie scheinen sie gerngehabt zu haben«, fuhr Talulla fort. Sie war so schlank, dass sie fast knochig wirkte.

Charlotte dachte an die einzige ihrer beiden Großmütter, die sie kennengelernt und als brummig und streitsüchtig in Erinnerung hatte. »Sie hat mir herrliche Geschichten erzählt«, fantasierte sie drauflos. »Es kann gut sein, dass sie ein bisschen übertrieben waren, aber man hat in ihnen die Wahrheit des Herzens gespürt, auch wenn die Ereignisse, von denen sie berichtet hat, nicht unbedingt alle der Wirklichkeit entsprochen haben mögen.«

Talulla tauschte einen kurzen Blick mit einem blonden Mann namens Phelim O’Conor, und das so rasch, dass Charlotte es kaum mitbekam.

»Sollte ich mich irren?«, fragte Charlotte entschuldigend.

»Aber nein«, versicherte ihr Talulla. »Das liegt wohl lange zurück.«

»Ja, sicher zwanzig Jahre. Sie hat oft an einen Vetter geschrieben, vielleicht aber auch an die Frau des Vetters. Die

»Vor zwanzig Jahren«, sagte Phelim O’Conor gedehnt. »Damals gab es hier viel Ärger. Aber davon werden Sie in London wohl nichts mitbekommen haben. Möglicherweise hat Ihre Großmutter die Sache mit Charles Stewart Parnell, Gott sei seiner Seele gnädig, als romantisch empfunden. Das ist manchmal so mit dem Kummer anderer Menschen.« Sein Gesicht wirkte glatt, nahezu unschuldig, aber in seiner Stimme lag eine unauslotbare Schwärze.

»Entschuldigung«, sagte Charlotte. »Ich wollte an nichts Schmerzliches rühren. Hätte ich vielleicht lieber nicht fragen sollen?« Sie ließ den Blick zwischen Phelim und Talulla hin und her wandern.

Phelim zuckte kaum merklich die Achseln. »Zweifellos werden Sie ohnehin davon erfahren. Sollte die Frau Ihres Vetters Kate O’Neil gewesen sein, lebt sie nicht mehr, Gott möge ihr verzeihen …«

»Wie kannst du das sagen?«, stieß Talulla zwischen fest zusammengebissenen Zähnen hervor. »Zwanzig Jahre sind nichts! Ein Augenzwinkern in der leidvollen Geschichte unseres Landes. «

Charlotte bemühte sich, möglichst verwirrt und zugleich schuldbewusst dreinzublicken. Tatsächlich bekam sie allmählich ein wenig Angst. Offenbar hatte Phelim mit seiner Äußerung bei Talulla einen empfindlichen Nerv getroffen, denn anders ließ sich deren unverhüllte Wut nicht erklären.

»Seither hat es neues Blut und neue Tränen gegeben«, gab er, an Talulla gewandt, zurück. »Außerdem waren neue Aufgaben

Eigentlich hätte Charlottes gute Kinderstube verlangt, dass sie um Entschuldigung bat und sich zurückzog, damit die beiden auf ihre eigene Weise mit ihren Erinnerungen fertigwerden konnten. Doch sie dachte an Pitt, der allein in Frankreich festsaß, während es jetzt in Lisson Grove nur noch Feinde Narraways gab, die ohne weiteres auch seine Feinde sein konnten. In dieser Situation konnte sie sich den Luxus der guten Kinderstube nicht leisten.

»Gibt es da etwa eine Tragödie, von der meine Großmutter nichts wusste?«, fragte sie betont unschuldig. »Es tut mir leid, wenn ich an alte Wunden oder Ungerechtigkeiten gerührt haben sollte. Das war gewiss nicht meine Absicht. Sollte das der Fall sein, bitte ich um Entschuldigung.«

Talulla sah sie mit unverhohlener Erbarmungslosigkeit an. Ihre sonst bleichen Wangen waren leicht gerötet. »Für den Fall, dass Kate O’Neil die angeheiratete Kusine Ihrer Großmutter war, ist sie auf einen Engländer hereingefallen, der als Vertreter der Regierung der Königin hier im Lande war. Er ist um sie herumscharwenzelt und hat sie durch allerlei Schmeichelreden dazu gebracht, ihm die Geheimnisse ihres Volkes zu verraten. Anschließend hat er sie denen überlassen, deren Vertrauen sie missbraucht hatte, und die haben sie umgebracht.«

O’Conor zuckte zusammen. »Ich denke, sie hat ihn geliebt. Die Liebe kann jeden von uns zum Narren machen«, sagte er.

»Sicher!«, stieß Talulla hervor. »Aber der Schweinehund hat sie eben nicht geliebt. Das wäre ihr auch klargeworden, wenn sie nur einen Tropfen treues irisches Blut in den Adern gehabt hätte. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihm seine Geheimnisse entlockt und ihm dann ein Messer zwischen die Rippen gejagt. Schon möglich, dass er die Gabe besaß, Leuten schön zu tun, aber er war nun mal der Feind ihres Volkes, und das muss

»Sie müssen sie entschuldigen«, sagte O’Conor betrübt. »Man könnte glauben, dass sie den Mann selbst geliebt hat, dabei ist das Ganze zwanzig Jahre her. Ich werde unbedingt daran denken müssen, nie mit ihr zu flirten, denn wenn sie auf meinen Charme hereinfiele, würde ich möglicherweise eines Tages mit einem Messer zwischen den Rippen aufwachen.« Er zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich würde sie aber gar nicht erst darauf hereinfallen.« Er sagte nichts weiter, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht sprach Bände.

Mit einem Lächeln, das so plötzlich kam, wie die Sonne im Frühling den Regen vertreibt, erzählte er ihr von dem Ort, an dem er zur Welt gekommen war, und von der Kleinstadt weiter im Norden, in der er aufgewachsen war, wie auch von seiner ersten Reise nach Dublin, die er im Alter von sechs Jahren unternommen hatte.

»Ich war sicher, dass Dublin der herrlichste Ort war, den ich je gesehen hatte«, sagte er und lächelte versonnen. »Eine Straße nach der anderen voller Gebäude, von denen jedes ohne weiteres der Palast eines Königs hätte sein können. Und manche dieser Straßen waren so breit, dass es für ein Kind eine Reise zu sein schien, sie zu überqueren.«

Mit einem Mal war Talullas so unvermittelt aufgebrochener Hass nichts weiter als ein kleiner Verstoß gegen das gute Betragen und ebenso rasch vergessen, als hätte jemand versehentlich einen Gast mit dem Ellbogen angestoßen und dabei dessen Wein verschüttet.

Aber Charlotte vergaß nichts davon. O’Conors plötzliche Charmeoffensive ging ebenso sehr auf den Wunsch zurück, etwas zu verbergen, wie auf seine unverkennbare Liebe zu seiner

Die Gesellschaft nahm ihren Fortgang. Die Speisen waren köstlich, und der Wein floss in Strömen. Man lachte viel, es gab geistreiche Gespräche und im Verlauf des späteren Abends auch Musik. Über all dem aber vergaß Charlotte weder die aufgewühlten Gefühle noch den Hass, derer sie Zeugin geworden war.

Während McDaid sie in seiner Kutsche zurückbrachte, gab sie trotz seiner vorsichtigen Nachfragen nichts preis und sagte lediglich, wie sehr sie die Gastfreundschaft des Ehepaars Tyrone genossen hatte.

»Und kannte jemand Ihre angeheiratete Kusine?«, erkundigte er sich. »In Bezug auf solche Dinge ist Dublin eine Kleinstadt, fast wie ein Dorf.«

»Ich glaube nicht«, gab sie in munterem Ton zurück. »Vielleicht finde ich ja später noch einen Hinweis auf sie. Immerhin ist O’Neil kein seltener Name. Genau genommen ist es auch nicht besonders wichtig.«

»Was diesen Punkt angeht, wage ich zu behaupten, dass unser Freund Victor das bezweifeln würde«, sagte er ganz offen. »Ich hatte den Eindruck, dass ihm das durchaus wichtig war. Meinen Sie, dass ich mich da irren könnte?«

Zum ersten Mal an jenem Abend sagte sie die volle Wahrheit. »Ich glaube, Sie kennen ihn weit besser als ich, Mr McDaid. Wir sind uns lediglich in bestimmten Situationen begegnet, und damit bekommt man kein vollständiges Bild von einem Menschen, finden Sie nicht auch?«

Da es in der Kutsche dunkel war, konnte sie seinem Gesicht nicht ansehen, was er darüber dachte.

»Trotzdem habe ich den unabweisbaren Eindruck, dass er Sie gut leiden kann, Mrs Pitt«, gab er zurück. »Was meinen Sie, irre ich mich damit ebenfalls?«

»Ich halte mich mit dem, was ich meine, gern zurück, Mr McDaid … oder besser gesagt, ich äußere mich nicht gern darüber«, gab sie zurück. Während sie das sagte, jagten sich ihre Gedanken. Sie versuchte sich zu erinnern, was Phelim O’Conor über Narraway gesagt hatte, und fragte sich, wie gut sie ihn wirklich kannte. Immer mehr nahm ihre Überzeugung zu, dass sich Talulla mit ihrer Darstellung von Kate O’Neils Verrat auf Narraway bezogen hatte. Diesen doppelten Verrat an ihrem Land und ihrem Gatten hatte Kate aus Liebe zu einem Mann begangen, der sie benutzt und dann zugelassen hatte, dass sie dafür ermordet wurde.

Bestimmt war das noch nicht die ganze Geschichte; es musste mehr dahinterstecken. Aber machte das die Tragödie und das Widerwärtige besser? Narraway hatte gesagt, Cormac O’Neil habe sich rächen wollen. Die einzige Frage, die in diesem Zusammenhang von Interesse war, lautete, warum er damit zwanzig Jahre gewartet hatte.

Pitt hatte stets volles Vertrauen zu Narraway gehabt, das wusste sie ohne den geringsten Zweifel. Sie wusste aber auch, dass er den meisten Menschen positiv gegenüberstand, auch wenn ihm klar war, dass sie ein komplexes Wesen hatten, zu Feigheit, Habgier und Gewalttat fähig waren. Ob er je etwas von der Düsternis in Narraway erkannt hatte, etwas von dem Menschen, der sich hinter dem Kämpfer gegen die Feinde des Landes versteckte? Die beiden waren denkbar verschieden. Wo der eine auf seinen Instinkt vertraute, verließ sich der andere ausschließlich auf seinen scharfen Verstand. Pitt konnte sich in andere Menschen hineindenken,

Aber er wusste auch, was Dankbarkeit war. Narraway hatte ihm zu einer Zeit, da er dringend darauf angewiesen war, ein Ziel im Leben, Würde und die Möglichkeit gegeben, seine Familie zu ernähren. Das würde er ihm nie vergessen.

War unter Umständen auch er ein wenig zu vertrauensselig?

Mit einem Lächeln erinnerte sie sich an seine Enttäuschung über die Niedertracht des Prinzen von Wales. Sie hatte gespürt, wie sehr er sich da für einen Mann geschämt hatte, von dem er mehr erwartet hätte. Er hatte mehr an das von dessen hoher Berufung unablösbare Ehrgefühl geglaubt als der Prinz selbst. Dafür liebte sie Pitt aufrichtig, denn sie verstand ihn ganz und gar.

Nie und nimmer hätte sich Narraway auf diese Weise täuschen lassen; er hätte von dem Prinzen mehr oder weniger genau das Verhalten erwartet, das dieser schließlich auch an den Tag gelegt hatte, und persönlich verletzt hätte er sich deshalb auf keinen Fall gefühlt.

Ob er sich überhaupt je verletzt gefühlt hatte?

War es denkbar, dass er Kate O’Neil geliebt und sie dennoch für seine Zwecke benutzt hatte? Das entsprach nicht Charlottes Verständnis von Liebe.

Aber möglicherweise hatte er stets seine Pflicht an die erste Stelle gesetzt. Unter Umständen empfand er gerade jetzt zum ersten Mal im Leben einen tief reichenden Schmerz, über den er nicht hinwegkam und der darauf zurückging, dass man ihm das Einzige genommen hatte, was ihm wichtig war: seine Arbeit, die für ihn mehr oder weniger gleichbedeutend mit seiner Identität war.

Warum nur um Himmels willen fuhr sie hier an der Seite eines Mannes, den sie vor dem heutigen Abend noch nie gesehen hatte, durch die finsteren Straßen einer fremden Stadt, ging unvernünftige Risiken ein, tischte anderen Leuten Lügengeschichten auf, um einem Mann zu helfen, den sie selbst kaum kannte? Warum schmerzte sie so sehr, was er verloren hatte?

Die Antwort war einfach – weil sie sich vorstellen konnte, wie sie sich in seiner Situation fühlen würde. Aber er war nicht wie sie. Sie dachte daran, dass ihm an ihr lag, denn das hatte sie in Augenblicken, in denen er seine Gefühle nicht wie sonst beherrscht hatte, an seinem Gesicht erkannt. Sie hatte seine Einsamkeit gesehen, seine Sehnsucht nach einer Liebe, die ihm nur lästig sein würde, wenn man sie ihm schenkte.

»Ich habe gehört, dass Ihnen Talulla Lawless eine Probe ihres Temperaments geliefert hat«, unterbrach McDaid ihre Gedanken. »Das tut mir leid. Sie ist tief verletzt und sieht keinen Grund, daraus einen Hehl zu machen. Aber daran tragen Sie keine Schuld. In jedem Krieg sind Opfer zu beklagen, und unter ihnen ist die Zahl der Unschuldigen, die es zufällig trifft, häufig ebenso hoch wie die der Schuldigen.«

Sie wandte sich ihm zu und sah im Schein der Laterne eines Wagens, der ihnen entgegenkam, ein trübseliges Lächeln auf seinem Gesicht. Dann hüllte ihn wieder die Dunkelheit ein, und sie war sich seiner Gegenwart lediglich aufgrund seiner leisen Stimme sowie des Geruchs von Tabak bewusst.

»Natürlich«, stimmte sie ihm zu.

In der Molesworth Street hielt die Kutsche an.

»Vielen Dank, Mr McDaid«, sagte sie gänzlich gefasst. »Es war äußerst zuvorkommend von Ihnen, mich einzuladen und zu begleiten. Die Gastfreundschaft der Menschen in Dublin ist genau so, wie man es mir berichtet hat, und Sie dürfen mir glauben, dass das ein hohes Lob ist.«

»Wir haben gerade erst angefangen«, gab er mit Wärme zurück. »Grüßen Sie Victor von mir, und sagen Sie ihm, dass wir auf dem eingeschlagenen Weg weitergehen werden. Ich werde nicht ruhen, bis ich Sie davon überzeugt habe, dass Dublin die schönste Stadt der Welt ist und die Iren die besten Menschen. – Das sind wir selbstverständlich trotz unserer Schwierigkeiten und unserer Leidenschaftlichkeit. Man kann uns nicht hassen, müssen Sie wissen.« Im Schein der Lampe sah sie, dass er seine Worte mit einem fröhlichen Lächeln begleitete.

»Jedenfalls nicht auf die Weise, wie Sie uns hassen«, stimmte sie freundlich zu. »Aber wir haben auch keinen Grund dazu. Gute Nacht, Mr McDaid.«

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