KAPITEL 1

»Da ist er!«, rief Gower, so laut er konnte, um den Verkehrslärm zu übertönen. Gerade noch rechtzeitig wandte Pitt den Kopf und sah, wie ein Mann blitzschnell zwischen einer Droschke und den dicht dahinter folgenden Pferden eines Brauereifuhrwerks verschwand. Als Gower ihm folgte, hätten ihn die schweren Tiere um ein Haar zu Fall gebracht und niedergetrampelt.

Geschickt einer Kutsche ausweichend, rannte auch Pitt auf die Straße, musste aber sogleich stehen bleiben, um eine weitere Droschke vorüberzulassen. Als er endlich die andere Straßenseite erreicht hatte, war von dem Mann, den sie verfolgten, nichts zu sehen. Von Gower, der inzwischen zwanzig Schritt Vorsprung hatte, erspähte Pitt nur noch die wehende blonde Mähne. Indem er sich rasch zwischen Müßiggängern, Geschäftsleuten in Nadelstreifen und Hausfrauen, die ihre Einkäufe erledigten, seinen Weg bahnte, gelang es ihm, den Abstand zu Gower bis auf etwa zwölf Schritte zu verringern, und er erhaschte nach einer Weile auch einen flüchtigen Blick auf den Mann, dem sie auf den Fersen waren, sah dessen leuchtend roten Schopf und das grüne Jackett. Gleich darauf war der Flüchtende seinen Blicken wieder entzogen. Gower verschwand um eine Ecke, wobei er kurz die rechte Hand hob, um die Richtung anzuzeigen.

Pitt folgte dem Hinweis sogleich, brauchte aber einige Sekunden, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht in der in tiefem Schatten liegenden langen, schmalen Gasse gewöhnt hatten. Dunkle Streifen liefen über die schmutzigen, nassen Ziegelmauern links und rechts; allem Anschein nach waren Dachrinnen und Fallrohre der Häuser schadhaft.

Lastträger schleppten schwere Säcke und Stoffballen. Fässer, von denen man nicht wusste, was sie enthielten, wurden über das Pflaster gerollt. Überall in den Hauseingängen kauerten Menschen.

Nach wie vor war es Pitt nicht gelungen, Gower einzuholen, der sich seinen Weg mühelos zwischen sämtlichen Hindernissen hindurch zu bahnen schien. Im letzten Augenblick wich Pitt einer fülligen Streichholzverkäuferin aus und bemühte sich, zu seinem Untergebenen aufzuschließen. Zwar war Gower mindestens zehn Jahre jünger als er, kaum älter als dreißig, und war solche Verfolgungsjagden eher gewohnt, doch auf die Spur gekommen waren sie West, dem Mann, den sie jetzt verfolgten, dank der Erfahrung, die Pitt in der Londoner Polizei gesammelt hatte, bevor er in den Sicherheitsdienst übergewechselt war.

Weiter vorn machte die Gasse einen scharfen Knick.

Rasch entschuldigte sich Pitt bei einer alten Frau, die er beim Umrunden der Ecke angestoßen hatte, und schlug dann sofort wieder das scharfe Tempo an. Jetzt konnte er Wests roten Schopf etwa vierzig Schritt vor sich sehen. Ganz offensichtlich strebte der Mann der breiten Hauptstraße entgegen. Sie mussten ihn unbedingt einholen, bevor er dort in der Menschenmenge untertauchen konnte.

Gower war jetzt dicht hinter West und streckte schon eine Hand nach ihm aus. Doch genau in dem Augenblick schlug dieser einen Haken. Gower geriet ins Straucheln, prallte gegen eine Mauer, krümmte sich vor Schmerz und blieb, um Atem ringend, stehen.

Pitt beschleunigte das Tempo noch einmal und holte West in dem Augenblick ein, als dieser in die Hauptstraße einbog, sich dort rücksichtslos seinen Weg durch eine Menschengruppe bahnte und verschwand.

Pitt folgte ihm. Schon an der nächsten Kreuzung sah er den Mann wieder vor sich. Er musste ihn um jeden Preis fassen und achtete jetzt seinerseits auch nicht mehr darauf, ob er jemanden anstieß oder beiseiteschob. West wusste Dinge, die von entscheidender Bedeutung sein konnten. Auf dem ganzen europäischen Kontinent nahm die politische Unruhe rasch zu und äußerte sich immer heftiger. Allenthalben gab es Versuche, im Namen angeblicher Reformen Regierungen zu stürzen und anarchische Zustände zu etablieren, die nach Ansicht ihrer Befürworter eine Art Gleichheit aller vor dem Gesetz gewährleisteten. Manche dieser Neuerer begnügten sich mit Brandreden, während andere zu Dynamit oder Schusswaffen griffen.

Der englische Sicherheitsdienst hatte erfahren, dass ein Anschlag geplant war, doch waren ihm weder die führenden Köpfe bekannt noch – weit gravierender –, wer dabei als Opfer ausersehen war. Diese Angaben sollte West machen, um den Preis seines eigenen Lebens, falls sein Verrat bekannt wurde.

Wo nur zum Teufel steckte Gower? Pitt sah sich im Gewimmel um, um festzustellen, ob er ihn in dem Meer aus Köpfen, steifen Hüten, Mützen und Hauben sah. Er konnte es sich nicht leisten, länger zu warten. Ob Gower sich noch in der Gasse befand, in der er gegen die Mauer geprallt war, womöglich verletzt? Pitt konnte sich das nicht recht vorstellen.

Vor sich erkannte er jetzt erneut West, der eine Lücke im Verkehr nutzte, um auf die andere Straßenseite zu gelangen. Drei Droschken folgten einander in so geringem Abstand, dass es aussichtslos war, sich zwischen ihnen hindurchschlängeln zu wollen. Vor Ungeduld kochend, stand Pitt am Straßenrand. Unmöglich, sich jetzt in den Verkehr zu wagen, zumal

Gleich darauf näherte sich ein Pferdeomnibus, unmittelbar gefolgt von zwei schwer beladenen Fuhrwerken. In der Gegenrichtung blockierten weitere Fuhrwerke und ein Bierkutscher mit seinem Gespann die Straße. In der Zwischenzeit hatte Pitt West vollständig aus den Augen verloren, während sich Gower in Luft aufgelöst zu haben schien.

Kaum entstand eine winzige Lücke im Verkehr, als Pitt im Laufschritt quer über die Straße stürmte, wobei er sich geschickt zwischen den verschiedenen Fahrzeugen hindurchwand, ohne sich um den Zorn der Kutscher zu kümmern, den er damit auf sich zog. Nur um ein Haar verfehlte ihn die scharfe Schnur einer Peitsche. Jemand brüllte ihn an, doch er achtete nicht darauf. Auf der anderen Straßenseite erkannte er einen kurzen Augenblick lang den leuchtenden Schopf Wests, der gerade um eine Ecke in eine weitere schmale Gasse bog.

Pitt stürmte ihm nach, konnte aber nichts von ihm entdecken, als er die Gasse erreichte.

»Haben Sie einen Mann mit roten Haaren gesehen?«, erkundigte er sich bei einem Mann, der belegte Brote verkaufte. »In welche Richtung ist er gegangen?«

»Woll’n Se eins?«, fragte ihn der Mann mit weit geöffneten Augen. »Die sin’ sehr gut, heute Morg’n frisch gemacht. Nur zwei Pennies.«

Mit einem Griff in die Tasche förderte Pitt ein Taschenmesser, ein Taschentuch und einige Geldstücke zutage. Er gab dem Mann eine Drei-Penny-Münze und lehnte das belegte Brot höflich ab. Auch wenn es frisch sein mochte, war er jetzt nicht in der Stimmung, etwas zu essen.

»Wohin?«, fragte er grimmig.

»Da rüber!« Der Mann wies in die dunkle Gasse.

Pitt begann erneut zu rennen. Dabei musste er sorgfältig darauf achten, nicht über den sich überall häufenden Unrat zu stolpern. Eine Ratte rannte zwischen seinen Füßen hindurch, und beinahe wäre er über einen Betrunkenen gestolpert, dessen Beine aus einem Hauseingang ragten. Jemand schlug mit der Faust nach ihm, er wich rasch aus, verlor einen Augenblick lang das Gleichgewicht, sah aber West immer noch vor sich.

Jetzt war der Mann wieder verschwunden, ohne dass Pitt hätte sagen können, wohin. Er versuchte es mit mehreren Nebensträßchen, die Sackgassen waren, sowie mit Höfen, aus denen es ebenfalls nicht weiterging – vergebens. Nach Minuten, die ihm endlos vorkamen, sah er Gowers vertraute Gestalt aus einer Seitenstraße kommen.

Mit den Worten »Hier entlang! Rasch!« fasste Gower ihn so fest am Arm, dass er unwillkürlich keuchte.

Gemeinsam eilten sie weiter, Pitt an den dunklen Mauern entlang über den schadhaften Gehsteig, Gower in der Gosse, so dass seine Stiefel bei jedem Schritt das schmutzige Wasser nur so hochspritzen ließen. Als sie eine Ecke umrundeten, sahen sie, wie am Eingang zu einer Ziegelei ein Mann vor etwas, was am Boden lag, hockte und sich vorbeugte.

Mit einem Wutschrei stürmte Gower voran, wobei er Pitt in die Quere kam und mit ihm zusammen zu Boden ging. Pitt war rechtzeitig wieder auf den Beinen, um zu sehen, wie sich der Hockende zu ihnen umdrehte, sich rasch aufrichtete und davonlief, als gehe es um sein Leben.

»Großer Gott!«, stieß Gower hervor, der inzwischen wieder auf den Beinen war. »Ihm nach! Ich kenn den Burschen.«

Pitt sah auf den Boden und erkannte das grüne Jackett und das leuchtend rote Haar Wests. Das Blut, das ihm vom Hals über die Brust lief, begann schon eine dunkle Lache auf den Steinen zu bilden. Er konnte unmöglich noch am Leben sein.

Gower jagte bereits dem anderen nach. Pitt folgte ihm und holte ihn diesmal mit seinen langen Beinen ein, bevor er die Straße erreicht hatte. »Wer ist das?«, stieß er atemlos hervor.

»Wrexham!«, gab Gower zurück. »Den haben wir schon seit Wochen im Auge.«

Das war Pitt bekannt, doch er hatte den Mann nie zuvor gesehen, kannte nur den Namen. Aber jetzt war keine Zeit für nähere Erklärungen. Eine Lücke im Verkehr nutzend, eilten er und Gower über die Straße Wrexham nach. Zum Glück war der wegen seiner Größe nicht so ohne weiteres zu übersehen, zumal er trotz des warmen Wetters einen langen hellen Schal trug, der bei jeder Bewegung hinter ihm her flatterte. Flüchtig kam Pitt der Gedanke, dass er ihm womöglich als Waffe diente – es dürfte nicht schwerfallen, jemanden damit zu erwürgen.

Jetzt befanden sie sich auf einem belebten Gehweg, und Wrexham verlangsamte den Schritt. Er schien beinahe gemütlich dahinzuschlendern. War er womöglich so überheblich, dass er glaubte, sie so schnell abgeschüttelt zu haben? Ihm musste bewusst sein, dass sie ihn gesehen hatten, denn bei Gowers Ausruf war er herumgefahren und dann eilig davongelaufen. Vielleicht verließ er sich nun darauf, dass ihn sein betont unauffälliges Dahinschlendern gleichsam unsichtbar machte.

Sie schritten jetzt kräftig in Richtung Stepney und Limehouse nach Osten aus. Wenn sie die Hauptstraße erst einmal hinter sich hatten, würde die Zahl der Passanten deutlich abnehmen.

»Seien Sie vorsichtig, wenn er in eine Gasse einbiegt«, mahnte Pitt. Sie gingen jetzt nebeneinander her wie zwei Geschäftsleute, die sich über etwas unterhielten. »Der Kerl dürfte ein Messer haben. Sonderbar, dass er sich so selbstsicher gibt. Er muss doch wissen, dass wir ihm folgen.«

Gower warf seinem Vorgesetzten einen raschen Blick zu und fragte mit weit geöffneten Augen: »Meinen Sie, der will versuchen, uns um die Ecke zu bringen?«

»Immerhin ist ihm klar, dass wir praktisch gesehen haben, wie er West die Gurgel durchgeschnitten hat«, gab Pitt zurück, darauf bedacht, seine Schritte an Gowers anzupassen. »Mit Sicherheit weiß er, dass der Galgen auf ihn wartet, wenn wir ihn fassen.«

»Ich vermute, dass er einfach abtauchen und sich verstecken will, sobald er den Eindruck hat, dass wir in unserer Aufmerksamkeit nachlassen«, gab Gower zurück. »Wir sollten uns besser dicht hinter ihm halten. Der verschwindet bestimmt sofort, sobald wir ihn auch nur einen Moment aus den Augen verlieren.«

Pitt nickte zustimmend, und sie verringerten den Abstand zu Wrexham, der nach wie vor scheinbar völlig unbekümmert vor ihnen dahinschlenderte, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen.

War es möglich, dass jemand einem anderen die Kehle durchschneiden und wenige Augenblicke darauf mit harmloser Miene inmitten einer Menschenmenge spazieren gehen konnte, ohne sich etwas anmerken zu lassen? Diese Vorstellung ließ Pitt einen Schauer über den Rücken laufen. Was mochte im Kopf eines solchen Menschen vorgehen? An der selbstverständlichen Art, mit der Wrexham dahinflanierte, wies nichts auf Furcht hin und erst recht nichts darauf, dass sich der Mann des brutalen Mordes bewusst war, von dem das Blut noch an seinen Kleidern kleben musste.

Wrexham bewegte sich geschmeidig in der Menschenmenge voran, und zweimal verloren sie ihn aus den Augen.

»Da hinten!«, stieß Gower beim ersten Mal hervor und wies mit der rechten Hand in die Richtung. »Ich gehe nach links.« Dabei sah er nicht vor sich und hätte beinahe einen Fensterputzer

Pitt nahm die andere Richtung. Im Dämmerlicht der Gasse, das ihn überraschte, musste er einen Augenblick lang die Augen schließen. Dann sah er an ihrem Ende eine Bewegung und stürmte hin, doch es war nur ein Bettler, der aus einem Hauseingang geschlurft kam. Leise fluchend rannte Pitt zur Straße zurück und kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass Gower verzweifelt Ausschau nach ihm hielt.

»Da drüben!«, rief er aus und rannte los. Pitt folgte ihm.

Beim zweiten Mal war es Wrexham gelungen, die Straße unmittelbar vor einem Brauereifuhrwerk zu überqueren, und als Pitt und Gower schließlich eine Möglichkeit fanden, ihm zu folgen, war nichts mehr von ihm zu sehen. Es kostete sie über zehn Minuten, sich ihm wieder so weit zu nähern, dass sie normale Schritte machen konnten und es nicht aussah, als verfolgten sie ihn. In der Gegend waren jetzt deutlich weniger Menschen unterwegs, und zwei Männer im Laufschritt hätten sofort Aufsehen erregt, und dann wäre es Wrexham mühelos möglich gewesen, ihnen davonzulaufen, denn der Abstand zwischen ihnen belief sich sicherlich auf fünfzig Schritt.

Mittlerweile hatten sie die Commercial Road East in Stepney erreicht. Wenn Wrexham die Richtung nicht wechselte, würden sie bald in Limehouse sein, in der West India Road gleich am Ufer der Themse. In jener abgelegenen Gegend würde es ihn nicht die geringste Mühe kosten, im Gewirr von Ladekränen, Warenballen, Lagerhäusern, Hafenarbeitern und Schauerleuten unterzutauchen. Sofern er zu einem der Anleger ging, konnte er sich zwischen den vor Anker liegenden Schiffen und Kähnen aller Art unsichtbar machen, bevor Pitt und Gower ihrerseits eins der Fährboote besteigen und ihm folgen konnten.

Als hätte er sie gesehen, beschleunigte Wrexham plötzlich den Schritt, dass sein Schal flog.

Pitt empfand eine gewisse Unruhe. Seine Muskeln schmerzten, und seine Füße brannten trotz seines erstklassigen Schuhwerks. Das war der einzige Luxus an Kleidung, den er sich gönnte, ansonsten war mit ihm rein äußerlich nicht viel Staat zu machen. Nicht einmal vorzüglich geschnittene Jacketts saßen bei ihm richtig, weil er sich stets die Taschen mit allerlei Kleinigkeiten vollstopfte, von denen er annahm, dass er sie irgendwann einmal vielleicht brauchen könnte – Bindfaden, Siegelwachs und dergleichen. Seine Krawatten verrutschten ständig, vielleicht, weil er sie zu locker band. Doch bei seinen Schuhen achtete er nicht nur stets auf erste Qualität, sie waren auch jederzeit bestens gepflegt. Zwar arbeitete er hauptsächlich mit dem Kopf in dem Bemühen, Zusammenhänge zu erkennen, wo andere nichts sahen, doch war ihm bewusst, wie wichtig die Füße für einen Polizeibeamten waren. Manche Gewohnheiten wurde man eben nie los. Bis man ihn aus der Londoner Polizei hinausgedrängt hatte, woraufhin ihm Victor Narraway eine Anstellung beim Sicherheitsdienst angeboten hatte, war er so manche Meile zu Fuß gegangen, so dass er wusste, wie wichtig körperliche Ausdauer und erstklassiges Schuhwerk waren.

Mit einem Mal rannte Wrexham über die schmale Straße und verschwand in der Gun Lane.

»Sicher will er zum Bahnhof von Limehouse!«, rief Gower und wich im letzten Augenblick einem Langholz-Fuhrwerk aus, während er ihm nachstürmte.

Pitt war dicht hinter ihm. Dieser Bahnhof an der Linie nach Blackwall lag weniger als hundert Meter entfernt. Von dort aus konnte der Mann einen Zug in mindestens drei verschiedene Richtungen nehmen und damit in der Riesenstadt London untertauchen, womit er unauffindbar sein würde.

Doch er lief mit laut hallenden Schritten durch die Gun Lane am Bahnhof vorüber, bog links in die Three Colts Street ein und wandte sich dann in Richtung Ropemaker’s Field.

Pitt war so sehr außer Atem, dass er Gower nichts hätte zurufen können. Wozu auch – ohnehin war Wrexham nur noch höchstens fünfzehn Schritt vor ihm. Da sich die drei rasch laufenden Männer näherten, stoben die wenigen Menschen auf dem Gehsteig auseinander. Ganz wie von Pitt befürchtet, strebte Wrexham der Themse zu.

Am Ende von Ropemaker’s Field ging es nach rechts in die Narrow Street. Von dort waren es nur wenige Schritte bis zum Ufer. Vom Wasser wehte eine kräftige Brise herüber, die nach Salz und Schlamm roch. Es herrschte Ebbe. Ein halbes Dutzend Möwen kreisten träge über einigen Lastkähnen.

Wrexham war immer noch vor ihnen. Allmählich wurden seine Bewegungen langsamer, seine Kräfte schienen nachzulassen. Er lief am Eingang zum Limehouse Cut vorüber, ganz offensichtlich waren die Kidney Stairs sein Ziel, an deren Fuß unter Umständen ein Fährboot abfahrbereit lag. Falls nicht, würde er das sehen, bevor er hinablief, und einfach zu einer der beiden nächsten steinernen Treppen rennen, die zum Fluss hinabführten, bevor sich die Straße wieder in Richtung Broad Street von ihm entfernte. Außer diesen dreien gab es noch weitere Treppen an den Shadwell Docks. An jeder von ihnen konnte er seine Verfolger ohne weiteres abschütteln, falls es ihm gelang, in ein abfahrbereites Boot zu springen.

Gower wies auf den Fluss. »Zur Treppe!«, rief er und rang im nächsten Augenblick nach Luft. Er machte eine weit ausholende Armbewegung, dann lief er weiter, einige Schritte vor Pitt.

Pitt sah einen Fährmann, der sein Boot dem Ufer entgegenruderte. Er würde die Treppe kurz nach Wrexhams Eintreffen dort erreichen. Damit wäre es Pitt und Gower möglich,

Wrexham erreichte die Treppe und eilte sie hinab, wobei er verschwand, als sei er in ein Loch gefallen. Siegesgewissheit erfüllte Pitt. Das Fährboot war noch knapp zwanzig Meter von der Treppe entfernt. Gower stieß einen Triumphschrei aus und riss jubelnd eine Hand hoch.

Als sie das obere Ende der Treppe erreichten, sahen sie, wie sich ein Fährboot aus dem Schatten der Ufermauer löste. Wrexham saß im Heck. Sie waren einander so nahe, dass sie das höhnische Lächeln auf seinen Zügen sehen konnten, als er sich halb zu ihnen umwandte. Dann drehte er sich wieder dem Fährmann zu und wies ans andere Ufer.

Pitt stürmte die Treppe so eilig hinab, dass er auf den nassen Steinen ausglitt und das Gleichgewicht nur mit Mühe halten konnte. Er winkte dem anderen Fährboot zu, das sie hatten näher kommen sehen. »Hierher! Schnell!«, rief er.

Auch Gower rief. Seine Stimme klang verzweifelt.

Der Fährmann beschleunigte das Tempo und legte sich mit voller Kraft in die Riemen, so dass er schon nach wenigen Sekunden anlegen konnte.

»Steigen Sie ein«, sagte er munter. »Wohin?«

»Hinter dem Boot da her!«, keuchte Gower, der fast an seinem eigenen Atem erstickte, und wies auf das andere Boot. »Sie bekommen zwei Shilling zusätzlich, wenn Sie es einholen, bevor der Mann da drin einen Fuß auf die Treppe am Horseferry-Anleger setzen kann.«

Pitt sprang hinter ihm ins Boot und setzte sich sofort hin, damit der Fährmann losrudern konnte. »Er will nicht zum Horseferry-Anleger«, sagte er, »sondern quer über den Fluss. Sehen Sie nur!«

»Etwa zum Lavender Dock?«, fragte Gower mit finsterer Miene und setzte sich neben Pitt. »Was zum Kuckuck kann er da wollen?«

»Das ist der kürzeste Weg ans andere Ufer«, gab Pitt zur Antwort. »Von da läuft er zur Rotherhithe Street und weiter.«

»Wohin?«

»Wahrscheinlich zum nächsten Bahnhof. Oder er mischt sich unter die Leute, dann ist er uns ebenfalls entkommen.«

Der Fährmann legte sich ins Zeug und verringerte allmählich den Abstand zu dem Boot vor ihnen.

Sobald sie die vor Anker liegenden Schiffe hinter sich gelassen hatten, war der Weg vor ihnen trotz regen Verkehrs frei von größeren Hindernissen. Erst etwa fünfzig Meter weiter flussabwärts näherte sich ein Schleppzug, der gegen den Ebbstrom ankämpfte. Der Wind wurde kälter. Unwillkürlich kauerte sich Pitt zusammen und schlug den Kragen hoch. Es kam ihm vor, als seien Stunden vergangen, seit er und Gower auf dem Hof der Ziegelei gesehen hatten, wie sich Wrexham über Wests blutbedeckte Leiche beugte, doch vermutlich war es kaum mehr als eineinhalb Stunden her. Durch Wests Tod waren sie um ihre Informationen über die Hintergründe des Anschlags, die diesem bekannt gewesen waren, gekommen.

Pitt dachte daran, wie er bei seiner letzten Besprechung mit Narraway in dessen Büro gesessen hatte. Im Licht der strahlend durch das Fenster auf die Stapel von Büchern und Papieren fallenden Sonne war zu sehen gewesen, dass sich Narraways nahezu schwarzes Haar stellenweise allmählich grau färbte. Mit großem Ernst hatte er erläutert, wie bedrohlich die Lage sei, und auf das allenthalben zu spürende Bestreben hingewiesen, Europas Imperialismus zu reformieren, erforderlichenfalls mit Gewalt. Dabei gehe es längst nicht mehr nur um einen Sprengstoffanschlag hier und da oder gelegentlichen Mord, nein, man munkele von Plänen, die eine oder andere Regierung

»Es besteht gar kein Zweifel, dass sich so manches ändern muss«, hatte Narraway nicht ohne Bitterkeit hinzugefügt. »Nur ein Dummkopf würde bestreiten, dass es Ungerechtigkeiten auf der Welt gibt. Aber was diese Leute planen, läuft auf Anarchie hinaus. Gott allein weiß, wie weit diese Seuche schon um sich gegriffen hat. Unbestreitbar hat sie Frankreich, Deutschland und Italien erreicht, und wie man hört, zeigen sich inzwischen auch hier bei uns in England erste Hinweise darauf. Halb Europa hat 1848 verrücktgespielt, doch war alles schon ein paar Jahre später vorbei. Man hat die Barrikaden niedergerissen, die Reformen rückgängig gemacht, und schon bald saßen die früheren Tyrannen wieder so fest im Sattel wie zuvor, und es ging weiter, als sei nie etwas geschehen.«

Pitt hatte in den nahezu schwarzen Augen seines Vorgesetzten eine so tiefe Trauer erkannt, wie er sie bei diesem Mann nie für möglich gehalten hätte. Verblüfft hatte er begriffen, dass Narraway das Scheitern dieser Träume bedauerte, womöglich noch mehr als den Tod der von Leidenschaft und Idealismus angetriebenen Männer und Frauen, die im guten Glauben ihr Leben geopfert hatten, um sie zu verwirklichen.

Dann jedoch hatte Narraway den Kopf geschüttelt, als wolle er sich selbst zur Ordnung rufen. »Aber heute haben wir es mit ganz anderen Leuten zu tun, Pitt. Sicher werden sie auf die Dauer Erfolg haben, allerdings nicht, wenn sie auf Gewalt setzen. So gehen wir hier in England nicht vor. Bei uns ergeben sich Veränderungen mit der Zeit, Schritt für Schritt. Wir werden dahin gelangen, aber nicht mit Feuer und Schwert.«

Der Wind ließ nach, das Wasser glättete sich.

Es war nicht mehr weit bis zum Südufer der Themse. Sie mussten eine Entscheidung treffen. Gower sah ihn erwartungsvoll an.

Das Boot, in dem Wrexham saß, hatte beinahe das Lavender Dock erreicht.

»Bestimmt will der irgendwo hin«, sagte Gower mit Nachdruck. »Sollen wir ihn uns jetzt packen, Sir – oder abwarten und zusehen, wohin er uns führt? Wenn wir jetzt zuschlagen, erfahren wir voraussichtlich nicht, wer hinter der Sache steckt. Der redet bestimmt nicht – wozu sollte er? Wir waren praktisch Zeugen, wie er West umgebracht hat, und ihm ist klar, dass er dafür hängen wird.« Er wartete mit gerunzelten Brauen.

»Glauben Sie, dass es uns gelingt, ihn nicht aus den Augen zu verlieren?«, fragte Pitt.

»Unbedingt«, sagte Gower, ohne zu zögern.

»Schön.« Pitt hatte seine Entscheidung getroffen. »Dann halten wir uns erst einmal zurück. Wenn es nötig ist, trennen wir uns, um ihm auf den Fersen zu bleiben.«

Sie ließen ihr Boot warten, bis Wrexham die schmale Treppe zum Ufer emporgestiegen und beinahe verschwunden war. Dann folgten sie ihm, wobei sie darauf achteten, sich in einer gewissen Entfernung zu halten. Manchmal gingen sie gemeinsam, öfter aber ließen sie so viel Abstand zwischen sich, dass ein Außenstehender sie für einander Unbekannte gehalten hätte, die zufällig in dieselbe Richtung gingen, ohne etwas miteinander zu tun zu haben.

Wrexham schien inzwischen so sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein, dass er sich kein einziges Mal umsah. Vielleicht nahm er an, dass es ihm gelungen war, seine Verfolger abzuschütteln. Angesichts des dichten Verkehrs auf der Themse war ihm wohl nicht aufgefallen, dass gleich nach seinem Boot ein weiteres den Fluss überquert hatte. Sie konnten von Glück sagen, dass sie ihn nicht aus den Augen verloren hatten.

Am Bahnhof drängten sich mindestens zwei Dutzend Menschen vor dem Fahrkartenschalter.

»Sollten wir nicht vorsichtshalber Karten für die ganze Strecke lösen, Sir?«, sagte Gower. »Es wäre nicht gut, wenn wir unterwegs einem Schaffner auffielen, weil wir nicht bezahlt haben.«

Pitt sah ihn zurechtweisend an, unterdrückte aber die scharfe Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag.

»’tschuldigung«, murmelte Gower und lächelte verlegen.

Auf dem Bahnsteig hielten sie sich dicht in der Nähe einer Gruppe Wartender. Keiner der beiden sprach, als wenn sie nichts miteinander zu tun hätten. Dabei schien diese Vorsichtsmaßnahme unnötig zu sein, denn Wrexham sah kaum zu ihnen oder einem der anderen Wartenden hin.

Der erste Zug fuhr in Richtung Norden, und die meisten der Menschen auf dem Bahnsteig stiegen ein. Pitt wünschte, dass er eine Zeitung hätte, um sich dahinter zu verstecken. Er hätte vorher daran denken sollen.

»Ich glaube, da kommt der nächste Zug«, sagte Gower im Flüsterton, den Kopf in die Richtung gewandt, aus der er kommen musste. Seine Haare standen gerade ab, wo er sich mit den Fingern hindurchgefahren war. »Vermutlich fährt der nach Southampton. Unter Umständen müssen wir umsteigen …« Was er danach sagte, ging im Lärm der Lokomotive unter, die, dichte Dampfwolken ausstoßend, einfuhr. Die Türen der Waggons öffneten sich, und zahlreiche Fahrgäste stiegen aus.

Pitt bemühte sich, Wrexham nicht aus den Augen zu verlieren. Er wartete mit dem Einsteigen bis zum letzten Augenblick für den Fall, dass dieser den Zug wieder verließ, um die Verfolger abzuschütteln. Er und Gower stiegen in den Waggon hinter ihm.

»Wir ahnen nicht, wohin er will«, sagte Gower mit finsterer Miene. »Am besten geht einer von uns unterwegs an jedem

»Guter Gedanke«, stimmte ihm Pitt zu.

»Glauben Sie, dass West wirklich etwas für uns hatte?«, fuhr Gower fort. »Wrexham könnte ihn ja aus irgendeinem anderen Grund umgebracht haben. Vielleicht hatten sie Streit? Diese revolutionären Typen sind ziemlich hitzig. Verrat innerhalb der Gruppe? Streit um die Führung?« Mit seinen blauen Augen sah er so angespannt zu Pitt hin, als wolle er dessen Gedanken lesen.

»Da bin ich ganz sicher«, gab dieser gelassen zurück. Ihm als dem deutlich Ranghöheren oblag es, die Entscheidungen zu treffen. Gower hatte kein Recht, ihm da hineinzureden. Angesichts der Situation, in der sie sich befanden, vermochte ihn dieser Gedanke nicht so recht zu trösten. Unwillkürlich musste er daran denken, wie sicher sich Narraway gewesen war, dass ein Unternehmen geplant war, im Vergleich zu dem die Bombenanschläge der jüngsten Zeit, zu denen es hier und da gekommen war, harmlos erscheinen würden. Dabei waren die durchaus spektakulär gewesen. So hatte ein französischer Anarchist im Februar des Vorjahres, 1894, das Königliche Observatorium in Greenwich mit einer Höllenmaschine in die Luft zu jagen versucht, was ihm zum Glück misslungen war. Im Juni hatte ein italienischer Anarchist namens Santo Caserio den französischen Präsidenten Carnot erstochen und war im August dafür hingerichtet worden. Unmittelbar vor Weihnachten hatte man den französischen Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus wegen angeblichen Hochverrats vor Gericht gestellt und ihn wenige Wochen darauf zu lebenslänglicher Verbannung auf die Teufelsinsel verurteilt. Allerdings stellte sich im Laufe der Zeit heraus, dass es sich dabei um einen auf Vorurteile und Hetze gegründeten Skandal gehandelt hatte. Überall lagen Zorn und Ungewissheit in der Luft.

Wrexham zu folgen war zweifellos riskant, doch wenn sie ihn festnahmen und dadurch nicht mehr herausfänden, wäre das eine Art Niederlage.

»Wir bleiben dran«, gab Pitt zurück. »Haben Sie genug Geld, um noch einmal eine Fahrkarte zu lösen, falls wir uns trennen müssen, damit wir ihn ganz bestimmt nicht aus den Augen verlieren?«

Gower zählte seinen Barbestand. »Sofern er nicht bis Schottland fährt, reicht es, Sir. Hoffentlich will er da nicht hin.« Er verzog das Gesicht zu einem kläglichen Lächeln. »Wissen Sie, dass die da im Februar minus 45 Grad hatten – die niedrigste Temperatur, die man je auf den Britischen Inseln gemessen hat? Wenn der Bursche da eine Bombe zünden würde, um ein wärmendes Feuer in Gang zu setzen, könnte man ihm das kaum übel nehmen.«

»Das war im Februar«, gab Pitt zu bedenken. »Inzwischen haben wir April. Hier kommt gerade ein Bahnhof. Ich steige rasch aus und halte Ausschau. Beim nächsten Mal sind Sie an der Reihe.«

»Ja, Sir.«

Pitt öffnete die Tür. Kaum hatte er einen Fuß auf den Boden gesetzt, als er Wrexham aussteigen und auf die andere Seite des Bahnsteigs rennen sah, wo ein Zug nach Southampton abfahrbereit stand. Pitt wandte sich um, um Gower ein Zeichen zu machen, doch der stand bereits neben ihm. Gemeinsam gingen sie ebenfalls hinüber, wobei sie sich bemühten, auf keinen Fall den Eindruck zu erwecken, als sei es ihnen eilig. Sie setzten sich einander gegenüber, um sicher zu sein, dass einer von ihnen Wrexham sehen würde, falls er rasch wieder ausstieg, um nach London zurückzufahren.

Doch der Mann schien nicht im Traum an die Möglichkeit zu denken, dass man ihm folgte. Er wirkte völlig unbefangen. Seinem Gesichtsausdruck nach hätte man annehmen können,

»Ein unfassbar kaltblütiger Schweinehund!«, stieß er mit plötzlichem Zorn hervor.

Ein Mann in Nadelstreifen, der ihm gegenübersaß, ließ seine Zeitung sinken und sah ihn angewidert an, dann raschelte er betont mit dem Blatt und setzte seine Lektüre fort.

Gower lächelte. »Das kann man wohl sagen«, gab er ruhig zurück. »Wir müssen äußerst wachsam sein.«

Bei jedem Halt des Zuges vergewisserten sie sich, dass Wrexham nicht ausstieg, bis sie schließlich Southampton erreichten. Er schien nach wie vor nicht im Geringsten mit der Möglichkeit zu rechnen, dass man ihm folgte.

Verwirrt sah Gower zu Pitt hin. »Was kann der nur hier wollen?«, fragte er. Sie eilten den Bahnsteig entlang, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, und folgten ihm nach der Sperre bis auf die Straße.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Er bestieg einen Pferdeomnibus zum Hafen, und Pitt und Gower mussten rennen, um noch im letzten Augenblick auf die Plattform springen zu können. Dabei wäre Pitt fast mit Wrexham zusammengestoßen, der dort stehen geblieben war. Rasch wandte er den Kopf beiseite, als habe er soeben einen Bekannten entdeckt. Betont vermied er es, zu Gower hinüberzusehen. Sie mussten vorsichtiger sein, auch wenn keiner von ihnen für sich genommen besonders auffällig war. Gower war ziemlich hochgewachsen, schlank und trug sein hellblondes Haar recht lang. Das und sein vergleichsweise knochiges Gesicht würde sich einem aufmerksamen Beobachter einprägen. Pitt war größer als er, etwas schlaksig, und seine dunklen Haare sahen

Jemand musste sich in Gedanken schon sehr mit anderen Dingen beschäftigen, um nicht zu merken, dass die beiden Männer erst in London und jetzt auch in Southampton zusammen gewesen waren. Da dieser Gedanke Pitt beunruhigte, ging er in das Innere des Omnibusses, um möglichst weit von Gower entfernt zu sein, und tat so, als betrachte er interessiert das Leben und Treiben auf den Straßen, durch die sie kamen.

Wie er mehr oder weniger vermutet hatte, fuhr Wrexham bis zum Hafen. Ohne ein Wort zu Gower zu sagen, folgte ihm Pitt mit großem Abstand. Er hatte Gower nur einen kurzen Blick zugeworfen und verließ sich darauf, dass sich dieser, so gut es ging, außer Sichtweite hielt.

Wrexham löste eine Fahrkarte für die Überfahrt nach Saint Malo an der französischen Küste. Pitt tat es ihm gleich, wobei er inständig hoffte, dass auch Gower genug Geld für die Kanalfähre hatte. Schlimmer aber als die Aussicht, Wrexham in Frankreich auf sich allein gestellt verfolgen zu müssen, war die Sorge, ihn ganz und gar aus den Augen zu verlieren.

Er ging an Bord der kleinen Dampffähre Laura. Dort blieb er an der Reling stehen, ohne die Laufplanke aus den Augen zu lassen. Einerseits wollte er sehen, ob auch Gower an Bord kam, vor allem aber sicher sein, dass Wrexham nicht wieder an Land ging. Falls ihm die Anwesenheit seiner Verfolger aufgefallen war, würde es ihm ein Leichtes sein, kurz vor dem Ablegen von Bord zu gehen und mit dem nächsten Zug nach London zurückzukehren, während Pitt und Gower gleichsam auf der Fähre gefangen waren.

An die Reling gelehnt, genoss Pitt den kräftigen salzigen Wind, der ihm über das Gesicht strich. Als er Schritte hinter

Gower stand einen Meter von ihm entfernt und fragte lächelnd: »Haben Sie etwa befürchtet, ich wollte Sie über Bord stoßen?«

Pitt schluckte seinen aufkeimenden Zorn herunter. »So nah am Ufer eigentlich nicht«, gab er zurück. »Wenn wir in der Mitte des Kanals sind, werde ich mich mehr vorsehen.«

Gower lachte. »Klingt vernünftig, Sir. Wenn wir ihm weiter folgen, bekommen wir sicher eine klare Vorstellung davon, mit wem er drüben auf dem Kontinent Kontakt hat. Vielleicht erfahren wir sogar, was die Leute im Schilde führen. «

Auch wenn Pitt das bezweifelte, blieb ihnen einstweilen nichts anderes übrig, als abzuwarten. »Möglich. Aber man darf uns auf keinen Fall zusammen sehen. Wir haben großes Glück gehabt, dass er uns bisher nicht erkannt hat. Wahrscheinlich wären wir ihm längst aufgefallen, wenn er nicht so unglaublich hochnäsig wäre.«

Mit einem Schlag war Gower vollkommen ernst und sagte mit finsterem Gesicht: »Vermutlich ist für ihn, was auch immer er beabsichtigt, so wichtig, dass er an nichts anderes denken kann. Er hat wohl angenommen, dass er uns in Ropemaker’s Field abgeschüttelt hat. Immerhin waren wir im Zug in einem anderen Waggon als er.«

»Schon. Aber er muss uns gesehen haben, als wir ihn verfolgt haben. Immerhin ist er gerannt«, gab Pitt zu bedenken. »Wenn doch zumindest einer von uns beiden eine Jacke zum Wechseln da hätte. Aber wenn wir sie auszögen, würden wir jetzt im April auf dem Wasser noch mehr auffallen.« Er sah nachdenklich zu Gower hin. Ihre Kleidergröße war annähernd gleich. Wenn sie ihre Jacken tauschten, würde das ihr Aussehen zumindest ein wenig verändern.

Als hätte dieser Pitts Gedanken gelesen, zog er sich die Jacke aus, hielt sie ihm hin und nahm die Pitts entgegen. Als Pitt sie anzog, merkte er, dass Gowers Jacke ein wenig spannte, während diesem die seine ein wenig lose um die Schultern hing.

Mit schiefem Lächeln räumte Gower Pitts Taschen aus und gab ihm sein Notizbuch, Taschentuch, Bleistift, Kleingeld, die Brieftasche sowie allerlei Krimskrams.

Pitt hielt es mit Gowers Habseligkeiten ebenso.

Spöttisch salutierend, sagte Gower: » Wir sehen uns in Saint Malo«, machte auf dem Absatz kehrt und ging, ohne einen Blick zurück, mit leicht schwankenden Schritten davon. Nach einer Weile blieb er stehen, drehte sich noch einmal um und sagte lächelnd: »Ich an Ihrer Stelle würde mich von der Reling fernhalten, Sir.«

Pitt hob grüßend die Hand und sah weiter aufmerksam zur Laufplanke hin.


So kurz nach der Tagundnachtgleiche wurde es noch ziemlich früh dunkel. Kaum hatte die Fähre bei Sonnenuntergang abgelegt, fühlte sich der Wind auf dem Wasser empfindlich kalt an. Es hatte keinen Sinn, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wo Wrexham sein mochte, oder ihn gar überwachen zu wollen. Falls er sich auf der Fähre mit jemandem traf, würden sie es erst merken, wenn sie ihn ganz aus der Nähe sahen, und selbst dann konnte es sich ohne weiteres um ein beiläufiges Gespräch zwischen Zufallsbekannten handeln. Es dürfte am besten sein, sich eine Sitzgelegenheit zu suchen und ein wenig zu schlafen. Immerhin hatten sie einen langen und anstrengenden Tag hinter sich.

Während Pitt langsam eindämmerte, kam ihm voll Bedauern zu Bewusstsein, dass er nicht einmal die Möglichkeit gehabt hatte, seine Frau Charlotte zu informieren, so dass diese nicht wusste, dass er an jenem und möglicherweise auch

Nun würde er ihn von Saint Malo aus in einem Telegramm um Geld bitten und ihm zumindest so viel mitteilen müssen, dass er die Situation in etwa einschätzen konnte. Zweifellos hatte man die Leiche des armen West inzwischen gefunden, aber vermutlich würde die Polizei keinen Grund sehen, dem Sicherheitsdienst davon Mitteilung zu machen. Andererseits war Pitt überzeugt, dass Narraway im Laufe der Zeit von selbst hinter die Zusammenhänge kommen würde, denn er schien überall Zuträger zu haben. Ob er auch daran denken würde, Charlotte zu informieren?

Jetzt bedauerte Pitt, dass er nicht dafür gesorgt hatte, sie rechtzeitig in Kenntnis zu setzen. Zumindest hätte er von Southampton aus anrufen können. Dazu hätte er allerdings die Fähre noch einmal verlassen müssen, was mit der Gefahr verbunden gewesen wäre, Wrexhams Fährte zu verlieren.

Er wagte nicht, sich offen auf dem Schiff zu zeigen. Er fragte sich, wer auf Gower warten und sich Sorgen um ihn machen würde. Ihm kam der überraschende Gedanke, dass er nicht einmal wusste, ob der Mann verheiratet war oder noch bei seinen Eltern lebte.

Bevor er endgültig einschlief, versuchte er sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass er im Dienst auch schon früher

Mit einem Mal fuhr er hoch und setzte sich aufrecht hin, weil ihm das Bild vor Augen getreten war, wie West mit zur Seite hängendem Kopf dagelegen hatte, während das Blut auf die Steine des Ziegeleihofs gelaufen war, so dass sein Geruch die Luft erfüllte.

»Entschuldigung«, sagte der Steward mechanisch, während er dem Mann neben Pitt ein Glas Bier gab. »Darf ich Ihnen etwas bringen? Ein belegtes Brot?«

Pitt, der seit zwölf Stunden nichts gegessen hatte, überfiel mit einem Mal das Bewusstsein entsetzlichen Hungers. Kein Wunder, dass er nicht schlafen konnte.

»Ja, gern, danke«, sagte er. »Bringen Sie mir doch bitte zwei und dazu ein Glas Apfelwein.«

»Gern. Mit Roastbeef, Sir? Wäre Ihnen das recht?«

»Ja, das wäre mir recht. Um wie viel Uhr legen wir in Saint Malo an?«

»Gegen fünf, Sir. Aber die Passagiere dürfen bis sieben Uhr an Bord bleiben.«

»Vielen Dank.« Innerlich stöhnte Pitt auf. Das bedeutete, dass er und Gower schon ab fünf Uhr wach sein und die Augen offenhalten mussten, damit Wrexham ihnen nicht entkam. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass er sich entschloss, die Fähre gleich nach der Ankunft zu verlassen, um den nächsten Zug nach Paris zu nehmen. Wenn ihm das gelang, wäre das eine Katastrophe, und um sie zu verhindern, würden sie die ganze Nacht nicht richtig schlafen können, um keinesfalls den Zeitpunkt der Ankunft zu verpassen. Da Pitt auf eine längere Abwesenheit von zu Hause nicht eingestellt gewesen war, hatte er selbstverständlich auch keinen Wecker bei sich.

»Bringen Sie mir besser gleich zwei Gläser Apfelwein«, sagte er mit schiefem Lächeln. Ob Gower dasselbe bestellen würde? Er hatte keine Vorstellung davon, wo sich sein Mitarbeiter befand, und wollte auch niemandes Aufmerksamkeit auf sich lenken, indem er sich nach ihm umsah. Vielleicht später. Wrexham konnte mit Sicherheit so tief und so lange schlafen, wie er wollte. Einen Menschen wie ihn quälten bestimmt keine durch ein schlechtes Gewissen verursachten Alpträume.


Pitt schlief mit Unterbrechungen. Voll Unruhe sah er Gower über das Deck auf sich zukommen, als sich die Fähre langsam in den Hafen von Saint Malo schob. Zwar war es noch dunkel, doch dank des sternklaren Himmels konnte man den Umriss der mittelalterlichen Befestigungsanlagen erkennen. Die Mauer war sicher mindestens fünfzehn, wenn nicht achtzehn Meter hoch, und in Abständen erhoben sich hier und da gewaltige Türme, die einst wohl Bogenschützen verteidigt hatten. Vielleicht hatten auch Männer in Rüstungen von dem einen oder anderen dieser Türme Kessel voll siedendem Öl über jeden ausgegossen, der den tapferen oder törichten Versuch unternommen hatte, die Mauern mit Hilfe von Sturmleitern zu erklimmen. Pitt kam sich vor wie bei einer Zeitreise in die Vergangenheit.

Der Anblick hatte ihn so in seinen Bann geschlagen, dass ihn erst Gowers Stimme in die Wirklichkeit zurückholte.

»Sie sind doch wach?«, fragte er.

»Ich weiß es selbst nicht genau«, gab Pitt zurück. »Das Ganze kommt mir wie ein Traum vor.«

»Haben Sie geschlafen?«

»Ein bisschen. Und Sie?«

Gower zuckte die Achseln. »Nicht viel. Ich hatte zu große Sorge, dass er uns entkommen könnte. Glauben Sie, dass er versucht, den ersten Zug nach Paris zu nehmen?«

Das war eine durchaus berechtigte Frage. Die Weltstadt Paris war eine Brutstätte von Lehren der verschiedensten Art, von teils absurden und teils verwirklichbaren Träumen. Eine ideale Begegnungsstätte für Menschen, deren Ziel es war, die Welt zu verändern. Paris war Schauplatz der beiden großen Revolutionen der letzten hundert Jahre gewesen: Bei der ersten hatte dort die Guillotine entsetzlich gewütet, es waren aber auch Träume verwirklicht worden, die die Welt verändert hatten. Ihm kamen die Namen Marat, Danton, Robespierre und Charlotte Corday in Erinnerung. Die zweite, die des Jahres 1848, war blutig niedergeschlagen worden und hatte so gut wie keine Spuren hinterlassen.

»Wahrscheinlich«, gab Pitt zurück. »Aber er könnte unterwegs an jedem beliebigen Bahnhof aussteigen.« Ihm kam der Gedanke, dass es äußerst schwierig sein dürfte, jemandem in Paris auf den Fersen zu bleiben. Sollten sie den Mann vielleicht doch festnehmen, solange noch Gelegenheit dazu war? Im Eifer der Verfolgung hatten sie es am Vortag für klug gehalten zu sehen, wohin er sich wandte und, wichtiger noch, wen er treffen würde. Jetzt, durchgefroren, müde, hungrig und mit steifen Gliedern, sah Pitt das als weit weniger vernünftig an. Wahrscheinlich war es sogar sinnlos.

»Es dürfte das Beste sein, ihn festzunehmen und mit zurück zu nehmen«, sagte er.

»Dann müssen wir das aber noch hier auf der Fähre tun. Auf französischem Boden sind wir dazu nicht berechtigt. Vermutlich würde sich der Kapitän ohnehin fragen, warum wir das nicht gleich in Southampton getan haben«, gab Gower zu bedenken. Seine Stimme klang eindringlich, sein Gesicht war ernst. »Ich spreche ziemlich gut Französisch, Sir. Und ich habe noch genug Geld. Wir könnten Mister Narraway ein Telegramm schicken, dass er uns in Paris jemanden zur Unterstützung beigeben soll. Dann wären wir nicht mehr nur zu zweit.

Pitt wandte sich ihm zu, konnte sein Gesicht aber im schwachen Licht kaum erkennen. »Falls er sich sofort nach Paris aufmacht, bleibt uns keine Zeit, ein Telegramm zu schicken«, gab er zu bedenken. » Wir müssen ihm beide folgen. Mir ist ohnehin rätselhaft, wieso er uns nicht längst bemerkt hat.« Dieser Gedanke hatte ihm bereits die ganze Nacht keine Ruhe gelassen. Gower und er waren nicht nur ziemlich groß, in Saint Malo würden sie als Engländer auch unter all den Franzosen hervorstechen – durch ihre Sprache wie auch durch den Schnitt ihrer Kleidung. Es schien ihm unmöglich, dass sie Wrexham im hellen Licht des Tages nicht sogleich auffallen würden.

»Ich denke, wir sollten ihn festnehmen«, sagte er. Jetzt bedauerte er, das nicht schon am Vortag getan zu haben. »Angesichts dessen, dass ihm der Strang sicher ist, findet er sich ja vielleicht bereit zu reden.«

»Gerade deshalb hat er dabei nichts zu gewinnen«, hielt ihm Gower entgegen.

Pitt machte ein finsteres Gesicht. »Bestimmt würde Narraway etwas einfallen, wenn die Aussage des Mannes eine Ausnahme rechtfertigt.«

»Es ist natürlich ohne weiteres möglich, dass Wrexham gar nicht zum Bahnhof will«, sagte Gower rasch und beugte sich ein wenig vor. » Wir haben die ganze Zeit angenommen, dass er nach Paris will. Und wenn nicht? Vielleicht will er in Saint Malo jemanden treffen. Warum sollte er sonst dahin fahren? Falls er nach Paris wollte, wäre es viel einfacher für ihn gewesen, die Fähre von Dover nach Calais zu nehmen und von da mit der Bahn weiterzufahren. Allem Anschein nach weiß er nach wie vor nicht, dass wir unverändert hinter ihm her sind. Wir sollten zumindest mal abwarten.«

Pitt ließ sich von diesem Vorschlag überzeugen. Möglicherweise war dieses Vorgehen ja am sinnvollsten. »Aber falls er doch zum Bahnhof geht, packen wir ihn uns – das heißt, wenn es uns möglich ist. Wenn er um Hilfe schreit und behauptet, dass man ihn entführen will, könnten wir das Gegenteil nicht beweisen.«

»Sie wollen doch nicht aufgeben?«, fragte Gower. In seiner Stimme schwang Enttäuschung mit. Außerdem glaubte Pitt auch eine Spur Herablassung darin zu hören.

»Nein«, sagte er entschlossen. Dem Sicherheitsdienst ging es nicht in erster Linie um die Ahndung von Straftaten – er sah seine Hauptaufgabe darin, Hoch- und Landesverrat, umstürzlerische Bewegungen und Gewalttaten zu verhindern. Wests Leben hatten sie nicht retten können. »Nein«, wiederholte er, »ganz bestimmt nicht.«


Als sie die Fähre verließen, fiel es ihnen im Licht des allmählich heller werdenden Morgens nicht schwer, Wrexham in der Menschenmenge zu erkennen und ihm zu folgen. Er ging nicht zum Bahnhof, wie Pitt befürchtet hatte, sondern wandte sich der Altstadt mit ihrer großartigen Mauer zu. Wenn sie nicht damit hätten rechnen müssen, ihn aus den Augen zu verlieren, hätte sich Pitt gern mehr Zeit genommen, die mächtige Anlage genauer zu betrachten, während sie die Stadt durch ein Tor von so eindrucksvoller Durchfahrtsbreite betraten, dass mehrere Fuhrwerke darin nebeneinander Platz hatten. In den kreuz und quer verlaufenden Gassen der Altstadt fiel ihm auf, dass vor den Haustüren keine Stufen waren, sondern ihre Schwellen auf einer Ebene mit dem Straßenpflaster lagen. Hohe Mauern aus einförmig grauschwarzem Stein ragten vier oder fünf Stockwerke hoch auf. Das Ganze war von einer strengen Schönheit, die er gern näher erkundet hätte; es kam ihm vor, als hätten diese wenigen Schritte sie weit in die Vergangenheit

Auf keinen Fall durften sie die Verbindung zu Wrexham abreißen lassen. Ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen, schritt dieser rasch aus, als wisse er genau, wohin er wollte. Wenn sie ihn auch nur wenige Sekunden aus den Augen ließen, konnte er ihnen entkommen, indem er einfach in eins der Häuser an der Straße huschte.

Etwa eine Viertelstunde später, sie waren ziemlich weit nach Süden gegangen, blieb er unvermittelt stehen. Er klopfte an die Tür eines großen Hauses dicht hinter einem kleinen gepflasterten Platz mit einem mickrigen Baum in der Mitte und wurde schon bald eingelassen.

Während Pitt und Gower nahezu eine volle Stunde warteten, ob Wrexham wieder herauskam, gingen sie auf und ab, um kein Aufsehen zu erregen. Neidvoll stellte Pitt sich vor, wie Wrexham drinnen ausführlich frühstückte, sich wusch, rasierte und umzog. Als er Gower diese Vermutung mitteilte, verdrehte jener die Augen und sagte: »Manchmal ist es wirklich angenehmer, der Schurke zu sein. Auch ich könnte ein ordentliches Frühstück mit Schinkenspeck, Eiern, Würstchen, Bratkartoffeln, frischem Toast mit Orangenmarmelade und eine ordentliche Kanne Tee vertragen.« Mit einem freudlosen Grinsen fügte er hinzu: »Entschuldigung, aber ich leide nicht gern allein.«

»Das tun Sie auch nicht!«, gab Pitt nicht ohne Mitgefühl zurück. » Wir werden uns auf jeden Fall erst einmal stärken, bevor wir Narraway ein Telegramm schicken und dann feststellen, wer im Haus Nummer sieben wohnt.« Er ließ den Blick an der Wand hochwandern. »Rue Saint Martin.«

»Bestimmt gibt es hier nur heißen Kaffee und frisches Brot«, teilte ihm Gower mit. »Falls wir Glück haben, auch noch Aprikosenkonfitüre.

»Sie meinen, wir brauchen nicht einmal mit durchwachsenem Speck mit Spiegelei zu hoffen?«, erkundigte sich Pitt ungläubig.

»Vielleicht gibt es ein Omelette.«

»Das ist nicht dasselbe!«, sagte Pitt. Man hörte ihm die Enttäuschung an.

»Hier ist nichts wie bei uns«, gab ihm Gower Recht. »Ich glaube, die machen das mit Absicht.«

Nachdem sie weitere zehn Minuten gewartet hatten, ohne dass Wrexham aufgetaucht wäre, gingen sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Aus einer Bar drang der verlockende Geruch nach Kaffee und frischem Brot.

Gower sah fragend zu Pitt hin.

»Unbedingt«, stimmte dieser zu.

Wie von Gower vorausgesagt, gab es hausgemachte Aprikosenkonfitüre. Außerdem ungesalzene Butter, kalten Schinken und anderen Aufschnitt sowie hartgekochte Eier. Als sie sich nach ihrem Frühstück erhoben, war Pitt mehr als zufrieden. Gower hatte sich beim patron nach dem Weg zum Postamt erkundigt und gleichzeitig wie nebenbei einfließen lassen, dass sie nach einer Unterkunft suchten und wissen wollten, ob sich so etwas im Haus Nummer sieben in der Rue Saint Martin finden lasse – jemand habe ihnen das gesagt.

Pitt wartete. Der gutgelaunte Ausdruck, mit dem Gower die Bar verließ und neben ihm einherschritt, zeigte ihm, dass die Auskunft zu dessen Zufriedenheit ausgefallen war.

»Das Haus gehört einem unserer Landsleute namens Frobisher«, sagte er mit einem Lächeln. »Der patron hält ihn für einen etwas seltsamen Vogel. Er sagte, der Mann schwimmt in Geld und ist exzentrisch. Wahrscheinlich stellen sich die Leute hier einen Engländer der Oberschicht so vor wie den. Er patron erklärt, dass die in keiner Weise sein Fall sind. Er sagt, es seien subversive Elemente. Allerdings nehme ich an, dass er ziemlich konservative Vorstellungen hat. Seiner Ansicht nach würde uns Madame Germaines Etablissement mehr zusagen, und er hat mir gleich die Adresse gegeben.« Gower schien außerordentlich zufrieden mit sich zu sein. Pitt, der sich dieser Einschätzung nur anschließen konnte, lobte ihn: »Sie haben wirklich gute Arbeit geleistet.«

»Danke, Sir.« Gower ging mit federndem Schritt und begann sogar recht melodiös ein Liedchen zu pfeifen.

»Jetzt aber telegrafieren wir erst einmal nach London und versuchen dann festzustellen, ob diese Madame Germaine etwas für uns hat«, fuhr Pitt fort.

Am Postamt setzte er ein Telegramm an Narraway auf. »Sind in Saint Malo. Bekannte, über die wir gern mehr erfahren würden. Brauchen Geld. Bitte schnellstens ans hiesige Postamt schicken. Melden uns wieder.«

Bis die Antwort kam, empfahl es sich, sparsam mit dem wenigen Geld umzugehen, das sie hatten. Auf jeden Fall würden sie Madame Germaines Haus aufsuchen, in der Hoffnung, dass sie ein freies Zimmer für sie hatte.

»Das kann eine ganze Weile dauern«, sagte Gower nachdenklich. »Hoffentlich erwartet Mister Narraway nicht, dass wir unter einer Hecke schlafen. Im August würde mich das nicht weiter stören, aber im April ist es nachts ziemlich kalt.«

Pitt machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Ihre Aufgabe würde nicht nur zeitraubend sein, sondern vermutlich auch recht langweilig. Er dachte an sein Zuhause und die beiden Kinder Jemima und Daniel. Er vermisste sie, vor allem aber Charlotte, den Klang ihrer Stimme, ihr Lachen, die Art, wie sie ihn ansah. Obwohl sie bereits seit vierzehn Jahren verheiratet waren, überraschte es ihn immer wieder, dass sie es nie bereut hatte, für ihn ihr Leben in der gehobenen Londoner Gesellschaft aufgegeben zu haben. Immerhin war damit nicht nur eine erhebliche finanzielle Sicherheit verbunden gewesen, die sie von klein auf gewöhnt war, sondern sie hatte auch eine ganze Reihe von Vorrechten gehabt sowie eine Kutsche und Dienstboten, hatte an großen Empfängen und rauschenden Bällen teilnehmen können.

Statt eine Vernunftehe einzugehen, wie in solchen Kreisen üblich, hatte sie aus Liebe geheiratet und ihm das auf mancherlei Weise deutlich gemacht. Sie sprachen nie darüber, dass sie damit alle Vorzüge ihres früheren Daseins gegen ein zweckbestimmtes und auf andere Weise interessantes Leben eingetauscht hatte, denn das wäre taktlos gewesen. Häufig hatte sie inoffiziell an seinen Fällen mitgearbeitet und sich dabei als ausgesprochen anstellig und einfallsreich erwiesen. Seit er für den Sicherheitsdienst arbeitete, kam das weniger häufig vor, da ein großer Teil seiner Aufträge strenger Geheimhaltung unterlag.

Ob er wagen durfte, auch ihr ein Telegramm zu schicken? In dieser fremden Welt, einer Straße in Frankreich, die so gänzlich anders roch und klang als Straßen zu Hause, umgeben von einer Sprache, die er so gut wie nicht verstand, sehnte er sich nach dem Vertrauten. Doch das Telegramm an Narraway war an eine nichtssagende Adresse gegangen, der Wrexham nichts würde entnehmen können, falls er sich danach erkundigte. Um mit Charlotte Verbindung aufzunehmen, würde

»Ja, so machen wir es«, sagte er zu Gower. »Anschließend werden wir versuchen, unauffällig möglichst viel über diesen Frobisher in Erfahrung zu bringen.«


Das Haus Nummer sieben in der Rue St. Martin ließ sich mühelos überwachen, denn es stand nahe der zur Seeseite hin hoch aufragenden Stadtmauer, und keine fünfzig Schritt von ihm entfernt führte eine Treppe zum Rundweg auf dieser Mauer. Von dort aus hatte man einen herrlichen Blick auf die See und den sich ständig verändernden Horizont, wo Boote mit geschwellten Segeln gegen den Wind kreuzten. Da am Rande der Bucht eine Vielzahl malerischer Felsen aufragte, mussten die Segler darauf achten, sich von ihnen fernzuhalten. Während Pitt und Gower miteinander redeten, war es ganz natürlich, dass sie sich von Zeit zu Zeit auf die Ellbogen stützten und auf die Straße und den Platz mit dem Haus Nummer sieben hinabsahen. Das ermöglichte es ihnen, auf unauffällige Weise festzustellen, wer da kam und ging.

Gleich am Nachmittag suchte Pitt noch einmal das Postamt auf. Dort lag bereits eine Geldanweisung über einen Betrag, der ihnen mindestens für zwei Wochen reichen würde, sowie ein Telegramm von Narraway, das keinen Hinweis auf West oder auf Informationen enthielt, die Narraway möglicherweise über ihn bekommen hatte. Doch damit hatte Pitt auch nicht gerechnet. Auf dem Rückweg zu dem kleinen Platz

Den Blick auf das Wechselspiel des Lichts auf den Wellen gerichtet, sagte Pitt mit leiser Stimme: » Wir haben eine Antwort auf unser Telegramm und auch Geld bekommen. Angesichts der Höhe des Betrages scheint unser Vorgesetzter zu erwarten, dass wir hier am Ort möglichst viel in Erfahrung bringen.«

»Das hatte ich mir gedacht.«

Auch Gower sah Pitt nicht an und bewegte beim Sprechen die Lippen so gut wie gar nicht. So wie er sich entspannt an die von der Sonne gewärmten Steine der Mauer lehnte, hätte man glauben können, er werde jeden Augenblick einschlafen. »Da unten hat sich inzwischen was getan. Ein Mann ist rausgekommen, dunkle Haare, französisch gekleidet. Zwei sind reingegangen.« Seine Stimmhöhe stieg ein wenig an, während er fortfuhr: »Einen von denen hab ich erkannt: Pieter Linsky. Ich bin mir ganz sicher. Er hat nicht nur ein unverkennbares Gesicht, sondern hinkt auch, seit er in Lille bei dem Versuch, nach einem Anschlag zu fliehen, angeschossen wurde. Ich nehme an, dass der andere Jacob Meister war. Das ist allerdings eher eine Vermutung.«

Pitt spannte sich an. Die Namen waren ihm bekannt. Beide Männer waren an sozialistischen Machenschaften auf dem ganzen europäischen Kontinent beteiligt, reisten von Land zu Land und schürten Aufruhr, wo sie konnten. Sie organisierten Demonstrationen, Streiks und sogar Aufstände. Angeblich geschah all das im Namen der von ihnen geforderten Reformen,

Pitt stieß die Luft aus. Es klang wie ein Seufzer. »Ich nehme an, dass Sie sich in Bezug auf Meister trotz Ihrer Einschränkung ziemlich sicher sind?«

Ohne sich zu rühren, sagte Gower, der nach wie vor in die Sonne lächelte, wobei sich seine Brust kaum hob und senkte, während er atmete: »Ja, Sir, durchaus. Bestimmt besteht da ein Zusammenhang mit dem, was West uns sagen wollte. Dass die beiden trotz ihrer gegensätzlichen Positionen gemeinsame Sache machen, kann nur bedeuten, dass etwas ganz Großes im Gange ist.«

Pitt widersprach nicht. Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war er, dass sie es hier mit den ersten Vorboten des Sturms zu tun hatten, den Narraway hatte heraufkommen sehen und der über Europa losbrechen würde, wenn sie es nicht verhinderten.

» Wir behalten die Leute im Auge«, sagte Pitt ruhig und bemühte sich, ebenfalls den Eindruck zu erwecken, als genieße er angenehm entspannt die Sonne. »Achten Sie darauf, mit wem sie sonst noch Kontakt aufnehmen.«

Gower lächelte. » Wir werden vorsichtig sein müssen. Was führen die Ihrer Ansicht nach im Schilde?«

Schweigend überlegte Pitt, während er unter halb gesenkten Lidern die farbig gestrichene Holztür von Nummer sieben beobachtete. Allerlei Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Angesichts dessen, dass die Leute so viele Männer zu brauchen schienen, hielt er einen Mordanschlag auf eine einzelne Person für weniger wahrscheinlich als einen Generalstreik – wenn die Leute nicht gar eine Reihe von Bombenattentaten planten. Bisher waren Mordanschläge stets durch einen einzelnen Täter erfolgt, der bereit war, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Aber … wer war besonders verwundbar? Wessen Tod würde dauerhafte Veränderungen bewirken?

»Ob Streiks geplant sind?«, unterbrach Gower Pitts Erwägungen. »Wenn die in ganz Europa ausgerufen würden, ließe sich damit die Industrie in die Knie zwingen.«

»Möglich«, stimmte Pitt zu. Seine Gedanken wandten sich den großen Werft- und Industriestädten im Norden Englands zu. Auch die Kohlengruben nahe Durham, in Yorkshire oder Wales kamen in Frage. Dort hatte es früher schon Streiks gegeben, die aber stets beendet worden waren, nachdem die Arbeiter und ihre Familien längere Zeit unter dem fehlenden Einkommen gelitten hatten.

»Demonstrationen?«, fuhr Gower fort. » Wenn Tausende an den richtigen Stellen gleichzeitig auf die Straße gehen, könnten sie den Verkehr zum Erliegen bringen oder auch ein bedeutendes gesellschaftliches Ereignis wie beispielsweise das Pferderennen von Epsom verhindern.«

Pitt stellte sich vor, mit welcher Wut und Enttäuschung die Rennbegeisterten, wie empört die Angehörigen der Oberschicht auf die Unverfrorenheit derer reagieren würden, die ihnen den Besuch dieser von ihnen als äußerst wichtig erachteten Veranstaltung unmöglich machten.

Unwillkürlich trat ein Lächeln auf seine Züge, doch darin lag Bitterkeit. Auch wenn er nie den Kreisen jener angehört hatte, die dem »Zeitvertreib der Könige« huldigten, war er im Verlauf seiner Tätigkeit bei der Polizei mit einer ganzen Reihe von ihnen in Berührung gekommen. Er kannte ihre Leidenschaften und ihre Schwächen, hatte gesehen, dass manche von ihnen außerordentlichen Mut an den Tag legten, wusste aber auch, dass in ihren Augen Menschen, die nicht ihrer Schicht angehörten, einfach nicht zu existieren schienen. Wer sie dazu bringen wollte, etwas Bestimmtes zu tun, würde das mit Sicherheit nicht erreichen, indem er ihnen gewaltsam eins der wichtigsten Ereignisse in ihrem Kalender vorenthielt. Vermutlich war das auch längst jedem bewusst, der ernsthaft auf Revolution aus war.

Wodurch aber konnte man dann Veränderungen bewirken?

Gower machte ihn mit einer Geste darauf aufmerksam, dass er ihm noch nicht geantwortet hatte.

»Meister würde vielleicht so vorgehen«, sagte Pitt, »aber nicht Linsky. Der greift zu gewalttätigeren und wirksameren Mitteln.«

Gower überlief sichtlich ein leichter Schauder. »Es wäre mir lieber, Sie hätten das nicht gesagt. Es verdirbt einem die Freude an der Vorstellung, eine oder zwei Wochen in der Sonne zu verbringen, französisch zu essen und den Frauen beim Einkaufen zuzusehen. Haben Sie die Kleine aus Nummer sechzehn gesehen, die Rothaarige?«

»Ehrlich gesagt habe ich weniger auf ihre Haarfarbe geachtet«, gab Pitt mit breitem Lächeln zurück.

Gower lachte. »Ich auch nicht in erster Linie. Aprikosenkonfitüre finde ich übrigens gar nicht schlecht. Was sagen Sie? Und der Kaffee! Sicher würde mir eine anständige Tasse Tee auf die Dauer fehlen, aber so weit ist es noch nicht.« Er

Die respektvolle Anrede »Sir« erinnerte Pitt daran, dass er als der Höherrangige die Verantwortung trug. Bei diesem Gedanken fuhr er innerlich zusammen. Es gab Dutzende von Möglichkeiten, und manche davon konnten durchaus schwerwiegende Folgen haben. In jüngster Zeit war auch in Großbritannien eine beträchtliche Zunahme an politischer Aktivität auf der linken Seite des Spektrums zu verzeichnen gewesen. Zwar waren deren Vertreter verglichen mit ihren gewalttätigen Gesinnungsgenossen auf dem europäischen Festland harmlos, doch musste das nicht unbedingt so bleiben. Nachdem James Keir Hardie in Schottland bei seiner Kandidatur für das Unterhaus die Wahl verloren hatte, war er vor drei Jahren erneut angetreten. Da er bei dieser Gelegenheit auf einen Wahlkreis unmittelbar außerhalb Londons gesetzt hatte, in dem überwiegend Arbeiter wohnten, hatte er Erfolg gehabt und war als erster Abgeordneter der Labour-Partei ins Parlament eingezogen. Pitt kannte ihn nicht persönlich, aber Charlottes Schwager Jack, der im Unterhaus saß, hatte gesagt, der Mann sei gar nicht so übel, nur vertrete er eben einige politische Ansichten, die er nicht teile.

Gower sah nach wie vor erwartungsvoll zu Pitt hin.

»Ich denke eher an eine konzertierte Aktion mit dem Ziel, einen Machtwechsel herbeizuführen«, sagte dieser bedächtig.

»Machtwechsel?«, fragte Gower zweifelnd. »Ist das eine Beschönigung für den Sturz der Regierung?«

»Möglicherweise«, gab ihm Pitt zur Antwort, und während er das sagte, merkte er, wie sehr er diese Möglichkeit fürchtete. »Außerdem hängt damit die Abschaffung ererbter

»Sprengstoffattentäter?«, fragte Gower im Flüsterton. Jeder Anflug von Fröhlichkeit war dahin. »So wie am Anfang des 17. Jahrhunderts, als man versucht hat, das Parlamentsgebäude mit Schwarzpulver in die Luft zu jagen?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie das funktionieren soll«, gab Pitt zurück. »Damit würden sie doch alle gegen sich aufbringen. Wir Engländer mögen es nicht, wenn man etwas mit Gewalt durchzusetzen versucht. Da müssen sie schon sehr viel klüger vorgehen.«

Gower schluckte. »Was dann?«, fragte er leise.

»Etwas, was die Macht endgültig zerschlägt. Ein Wandel, der so tiefgreifend ist, dass er sich nicht rückgängig machen lässt.« Schon während er die Worte sagte, ängstigte ihn diese Vorstellung. Etwas Gewalttätiges und Fremdartiges stand bevor. Möglicherweise waren er und sein Untergebener die Einzigen, die das verhindern konnten.

Jetzt stieß auch Gower die Luft so aus, dass es wie ein Seufzen klang. Sein Gesicht war bleich. Pitt warf ihm einen Seitenblick zu, während er nach wie vor so tat, als genieße er die Sonne und beobachte die Segelboote im Hafen. Er und Gower würden sich ganz und gar aufeinander verlassen müssen. Die vor ihnen liegende Aufgabe war anstrengend und erforderte einen langen Atem. Auf keinen Fall durften sie sich auch nur den kleinsten Hinweis entgehen lassen, denn jede noch so unbedeutend scheinende Spur konnte wichtig sein. Sie würden nachts frieren, oft nichts zu essen bekommen, ständig müde sein und zahlreiche Unannehmlichkeiten auf sich nehmen müssen. Vor allem aber mussten sie dafür sorgen, dass sie niemandem auffielen. Nur gut, dass Gower Humor hatte und nicht dazu neigte, die Dinge schwerzunehmen. Es gab im Sicherheitsdienst eine ganze Reihe von Männern,

»Jetzt kommt Linsky heraus!« Gower spannte sich an und zwang sich dann förmlich, erneut eine entspannte Haltung einzunehmen, als interessiere ihn dieser Mann mit der Adlernase, der fliehenden Stirn und den strähnigen Haaren nicht mehr als der Bäcker, der Briefträger oder irgendein beliebiger Feriengast auf der Straße.

Pitt richtete sich auf, steckte lässig die Hände in die Taschen und machte sich daran, die Treppe hinabzugehen, um dem Mann zu folgen.

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