KAPITEL 12

Pitt kehrte in dem Bewusstsein nach Lisson Grove zurück, dass er dort, von Stoker abgesehen, mit keinen Verbündeten rechnen konnte und die Sicherheit der Königin, wenn nicht des gesamten Königshauses, gleichsam allein von ihm abhing. Während er die Stufen emporging und ins Haus trat, spürte er überrascht, wie nahe ihm das ging. Er empfand eine tiefe innere Bindung an die Monarchie. Sie galt nicht der alten Frau, die in einsamer Witwenschaft in einem als »Haus« bezeichneten Palast auf der Isle of Wight die Erinnerungen an den Gatten pflegte, den sie bewundert hatte. Millionen Menschen waren einsam, und viele von ihnen ein Leben lang, außerdem waren die meisten von ihnen arm, oft auch krank, und dennoch ertrugen sie beides tapfer und voll Würde. Sondern sie galt der Verkörperung dessen, was Großbritannien für sein Leben bedeutete.

Für ihn verkörperte die Monarchin außer Großbritanniens Führungsanspruch in der Welt den Gedanken der Einheit, die ein Viertel des Erdballs zusammenhielt und die wichtiger war als alle Unterschiede von Rasse, Religion und äußeren Umständen. Gewiss, in der Gesellschaft gab es unübersehbar Habgier, Überheblichkeit und Eigennutz, aber auch viel Gutes, nämlich Tapferkeit, Großzügigkeit und vor allem Treue. Was

All das hatte mit der Person der Königin so gut wie nichts zu tun, und erst recht nichts mit dem Prinzen von Wales. Der noch nicht lange zurückliegende Mordfall im Buckingham Palast beschäftigte Pitt nach wie vor. Er konnte die rücksichtslose Selbstsucht des Prinzen ebenso wenig vergessen wie dessen Dünkel, der ihn veranlasste, andere Menschen nicht zur Kenntnis zu nehmen, oder den hassvollen Blick, mit dem er ihn nach der Aufklärung des Falles bedacht hatte – und er durfte das auch nicht vergessen. Möglicherweise würde der Prinz schon bald als König Edward VII. herrschen und damit zumindest teilweise Einfluss auf Pitts weitere Laufbahn als Diener der Krone nehmen. Pitt hätte lieber einen Besseren auf dem Thron gesehen, doch hielt er der Krone unabhängig von persönlichen Enttäuschungen die Treue.

Jetzt konzentrierte er all seine Bemühungen darauf, Austwick in Schach zu halten. Wem sollte er trauen? Unmöglich würde er die Aufgabe allein bewältigen können. Gewiss, er hatte mit Lady Vespasia, Narraway und Charlotte Verbündete in diesem Kampf, doch musste er sich zwingen, nicht an sie zu denken. Auf keinen Fall durfte er an die Gefahr denken, der sie ausgesetzt waren. Zu den Belastungen, die Führerschaft mit sich brachte, gehörte, dass man alles Persönliche ausblenden und sein Handeln ganz und gar auf das allgemeine Wohl ausrichten musste.

Auf seinem Weg durch die vertrauten Gänge hätte er fast unwillkürlich sein früheres Büro aufgesucht, in dem jetzt ein anderer arbeitete, und nicht jenes, das Narraway gehört hatte und in das dieser zurückkehren würde, wenn die Krise bewältigt war.

Nachdem er die Tür geschlossen und sich an den Schreibtisch gesetzt hatte, war er froh, Narraways persönliche Gegenstände

Einen Augenblick lang lächelte Pitt, dann wandte er seine Aufmerksamkeit den frisch eingetroffenen Berichten auf seinem Schreibtisch zu. Es waren nur wenige, und sie enthielten unerhebliche Aussagen über Dinge, die ihm zum größten Teil bereits bekannt waren – nichts befand sich darunter, was in irgendeiner Weise etwas an der bedrohlichen Situation geändert hätte.

Er erhob sich und suchte Stoker in dessen Büro auf. Wenn er ihn zu sich riefe, würden die anderen misstrauisch werden. Er brauchte unbedingt jemanden, auf den er sich verlassen konnte, sonst wäre sein Plan von vornherein zum Scheitern verurteilt. Selbst wenn Stoker ihm half, waren die Erfolgsaussichten verzweifelt gering.

»Ja, Sir?«, sagte Stoker, der sich bei Pitts Eintreten erhoben hatte, in fragendem Ton. Er sah ihm ins Gesicht, als wolle er dort ablesen, was er dachte.

Pitt hoffte, dass das nicht so einfach sein würde. Er musste daran denken, wie er mit seinen Versuchen, Narraways Gedanken zu erraten, meist Schiffbruch erlitten hatte.

» Wir wissen, worum es geht«, sagte er ruhig. Geheimniskrämerei hatte keinen Sinn. Während er das sagte, kam er sich vor wie jemand, der auf einer Klippe stand, um von dort in die unbekannte Tiefe zu springen.

»Ja, Sir …« Stoker blieb starr stehen, sein Gesicht war bleich. Er hielt noch das Schriftstück in den Händen, in dem er bei Pitts Eintreten gelesen hatte.

Pitt holte Luft. »Mr Narraway ist aus Irland zurück.« Er erkannte die Erleichterung in Stokers Augen, die zu groß war, als dass dieser sie hätte verbergen können, und fuhr daraufhin mit einer gewissen Beruhigung fort: » Wie es aussieht, haben wir Grund zu der Annahme, dass man bereits begonnen hat, einen umfangreichen gewalttätigen Plan ins Werk zu setzen. Es steht zu befürchten, dass die Leute, deren gemeinsames Auftreten beobachtet wurde, wie beispielsweise Willie Portman, Fenner, Guzman und so weiter, die Absicht haben, in Osborne House gegen Ihre Majestät vorzugehen …«

»Großer Gott im Himmel!«, stieß Stoker hervor. »Die planen doch wohl keinen Königsmord?«

Pitt verzog das Gesicht.

»Dazu dürfte es höchstens unabsichtlich kommen. Wir vermuten, dass die Leute Ihre Majestät als Geisel festhalten, um den Erlass eines Gesetzes zur Abschaffung der Vorrechte des Erbadels im Oberhaus zu erzwingen. Vermutlich würde sie ein solches Gesetz eher unterzeichnen als ihre eigene Abdankungsurkunde …«

Stokers Gesicht war aschfahl. Er sah Pitt an wie eine Erscheinung aus einem Alptraum. Er schluckte zweimal. »Und dann? Wird man sie danach umbringen?«

Pitt hatte ganz bewusst nicht so weit gedacht. Möglicherweise wäre das in der Tat folgerichtig. Die Menschen in Großbritannien wie auch im größten Teil der Welt würden Viktoria als Königin ansehen, solange sie lebte, ganz gleich, was diese oder jene sagen oder tun mochten. Pitt hatte nicht angenommen, dass sich die Situation verschlimmern könnte, aber mit einem Schlag stand diese Möglichkeit vor ihm.

»Ja, es ist denkbar«, stimmte er zu. »Mr Narraway hat mit Lady Vespasia Cumming-Gould Osborne House aufgesucht, wo sie versuchen wollen zu retten, was zu retten ist, bis wir die

Stoker rang sichtlich um Fassung.

»Das aber ist uns erst möglich, wenn wir wissen, auf wen wir uns verlassen können«, fügte Pitt hinzu. »Die Gruppe muss klein bleiben, damit die Sache nicht auffällt. Falls wir mit einem halben Armeekorps da aufkreuzten, würde das die Leute höchstwahrscheinlich zu sofortiger Gewalttat provozieren. Oder sie werden, wenn sie merken, dass sie in die Ecke getrieben sind und nicht entkommen können, danach trachten, sich ihre Freiheit mit dem Leben der Königin zu erkaufen. « Er spürte, wie ihm bei diesen Worten ein Kloß in die Kehle stieg. Er stand im Begriff, den Kampf mit einem Gegner aufzunehmen, über den er so gut wie nichts wusste. Hinzu kam, dass – im Unterschied zu ihm – einige seiner eigenen Leute dessen Geheimnisse kannten. Einen Augenblick lang erfasste ihn Verzweiflung. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Jede Möglichkeit zu handeln schien von vornherein den Keim des Scheiterns in sich zu tragen.

» Wir müssen versuchen, sie mit einer Handvoll gut ausgebildeter Bewaffneter zu überraschen«, sagte Stoker ruhig.

»Ja, das dürfte unsere einzige Hoffnung sein«, gab ihm Pitt Recht. »Aber vorher müssen wir den Verräter hier in Lisson Grove ermitteln und feststellen, wer seine Verbündeten sind, da sonst die Gefahr besteht, dass jede unserer Bemühungen von vornherein sabotiert wird.«

Stokers Hand ballte sich zur Faust. » Wollen Sie damit sagen, dass es mehr als einen gibt?«

»Sie etwa nicht?«

»Ich weiß nicht recht.« Stoker fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich weiß es tatsächlich nicht, und wir haben auch keine Zeit, es herauszubekommen. Das könnte Wochen in Anspruch nehmen.«

»Es muss aber sehr viel schneller gehen«, gab Pitt zurück, zog einen Stuhl heran und setzte sich. » Wir müssen bis heute Abend eine Entscheidung treffen.«

»Und wenn wir uns dabei irren?«, fragte Stoker.

»Das dürfen wir nicht«, erwiderte ihm Pitt. »Es sei denn, Sie wollen, dass es erneut durch einen Mord zur Gründung einer Republik kommt und die Menschen künftig in Angst leben müssen. Als Erstes wollen wir feststellen, wer für die Intrige verantwortlich ist, mit deren Hilfe man Narraway aus dem Amt gedrängt und dafür gesorgt hat, dass eine Beziehung zu Irland hergestellt wurde, damit er in einem irischen Gefängnis festsaß, während hier der Plan ausgeführt wurde.«

Stoker holte tief Luft. »Ja, Sir. Dann sollten wir besser gleich anfangen. Ich sage das nicht gern, aber wir müssen jeden, mit dem Gower zusammengearbeitet hat, genau unter die Lupe nehmen. Bestimmt hängt mit der Sache auch zusammen, dass man Sie von hier weggelockt hat.«

»Natürlich«, stimmte Pitt zu. »Aber Gower hat mit mir zusammengearbeitet, und ich habe Mr Narraway unterstanden.«

»Jedenfalls hat es für uns alle so ausgesehen, als hätte er mit Ihnen zusammengearbeitet«, sagte Stoker nachdenklich »In Wahrheit muss es sich aber anders verhalten haben. Ich werde mir Gowers Unterlagen aus der Personalabteilung beschaffen. Wir müssen unbedingt wissen, mit wem er zusammen war, bevor man ihn Ihnen zugeteilt hat. Oder wissen Sie das zufällig?«

»Ich weiß nur, was er gesagt hat«, gab Pitt mit schiefem Lächeln zurück. »Ich würde gern mehr darüber erfahren. Es dürfte das Beste sein, sich jeden Einzelnen der hier Beschäftigten einmal genauestens anzusehen.«

Sie verbrachten den Rest des Tages damit, alle Personalunterlagen des vergangenen Jahres durchzugehen, wobei sie darauf achten mussten, dass niemand ihren Beweggrund dafür durchschaute.

» Was suchen Sie genau, Sir?«, erkundigte sich ein Mitarbeiter der Personalabteilung hilfsbereit. »Vielleicht kann ich es finden. Ich kenne mich mit den Unterlagen ziemlich gut aus.«

Pitt hatte sich seine Antwort gut überlegt. »Eine üble Sache, die sich Narraway da geleistet hat«, sagte er mit finsterer Miene. »Ich möchte absolut sicher sein, dass es nicht noch mehr in der Art gibt, aber auch wirklich gar nichts, damit wir nicht noch einmal in eine solche Situation geraten.«

Mit weit geöffneten Augen schluckte der Mann. »Dazu kommt es bestimmt nicht noch einmal, Sir.«

»Das haben wir ursprünglich auch angenommen«, teilte ihm Pitt mit. »Ich möchte mich aber nicht auf Vermutungen stützen, sondern es wissen.«

»Ja, Sir. Selbstverständlich, Sir. Kann ich etwas tun … oder …« Er biss sich auf die Lippe. »Ich verstehe, Sir. Natürlich können Sie keinem von uns hier trauen.«

Pitt lächelte trübselig. »Es ist mir durchaus recht, wenn Sie mir helfen, Wilson. Ich muss Ihnen allen trauen, und ebenso müssen Sie mir vertrauen. Schließlich hat Narraway, und nicht einer der ihm unterstellten Mitarbeiter, das Geld unterschlagen. Aber ich muss wissen, ob ihm jemand dabei zur Hand gegangen ist und, falls ja, wer das war und ob es möglicherweise noch andere mit ähnlichen Vorstellungen gibt.«

Wilson straffte sich. »Ja, Sir. Dürfen das auch andere erfahren? «

»Einstweilen besser nicht.« Es war Pitt bewusst, dass er damit ein Risiko einging, aber die Zeit wurde knapp, und falls er den Mann bei einer Unwahrheit ertappte, würde ihm das zumindest zeigen, wo er stand. Möglicherweise war Angst ein verlässlicherer Verbündeter als Zurückhaltung, zumindest, solange sie im Geheimen wirkte.

Ihm war die ganze Situation zutiefst zuwider. Bei der Polizei hatte er zumindest immer gewusst, dass alle seine Mitarbeiter

Am späteren Nachmittag war klar, wie die Verbindung zwischen Gower und Austwick ausgesehen hatte. Sie stießen mehr durch Zufall als durch Nachdenken darauf.

»Hier.« Stoker hielt ihm ein Blatt Papier mit einer darauf gekritzelten Anmerkung hin.

Pitt las sie. Es war offenbar eine Notiz, die ein Mann für sich selbst geschrieben hatte und in der es hieß, dass er Austwick in einem Herrenklub aufsuchen und ihm etwas berichten müsse.

»Ist das von Bedeutung?«, fragte er unsicher. »Es hat nichts mit Sozialisten oder irgendeiner Art von Gewalttat oder Umsturz zu tun.«

»Schon«, sagte Stoker, »aber sehen Sie sich das mal an.« Er gab ihm ein weiteres Blatt, auf dessen unterem Rand in der gleichen Handschrift etwas vermerkt war.

Habe Gower die Mitteilung über Hibbert gegeben, damit dieser sie im Hyde Club an Austwick weiterleitet. Der Fall ist erledigt.

Pitt wusste, dass es sich bei dem Hyde Club um einen äußerst exklusiven Herrenklub im Londoner West End handelte. Er hob den Blick und sah Stoker an. » Wie zum Teufel konnte jemand wie Gower Zutritt zum Hyde Club bekommen?«

»Das habe ich schon erkundet, Sir. Austwick hat ihn empfohlen und für ihn gebürgt. Das kann nur heißen, dass die beiden sehr gut miteinander bekannt waren.«

»Dann wollen wir uns einmal alle Fälle, die Gower und Austwick bearbeitet haben, gründlich ansehen«, schloss Pitt.

» Wir wissen doch schon, auf welche Weise sie in Verbindung gestanden haben.«

»Aber nicht, wer noch mit in der Sache steckt«, gab Pitt zurück. »Es müssen mehr als zwei sein. Das hier gibt uns einen guten Ansatzpunkt. Machen Sie weiter. Wir dürfen auf keinen Fall etwas übersehen.«

Stoker gehorchte schweigend. Er konzentrierte sich auf Gower, während sich Pitt mit allen Unterlagen beschäftigte, die er über Austwick finden konnte.

Gegen elf Uhr abends waren beide völlig erschöpft. Pitt hatte Kopfschmerzen, seine Augen brannten. Ihm war klar, dass es Stoker nicht anders ging.

Er legte das Blatt Papier auf den Tisch, das er gelesen hatte, bis ihm die Schrift vor den Augen verschwamm.

»Irgendwelche Ergebnisse?«, fragte er.

»Ein paar von diesen Briefen hier lassen mich vermuten, dass ihm Sir Gerald Croxdale dicht auf den Fersen war, Sir. Er hat offenbar kurz davor gestanden, ihm auf die Schliche zu kommen«, gab Stoker zurück. »Ich könnte mir denken, dass Austwick deswegen früher zugeschlagen hat, als ursprünglich geplant. Es war für alle ein ziemlicher Schock, dass er Narraway ausmanövriert hat – damit konnte er die Aufmerksamkeit von sich selbst ablenken.«

»Außerdem hat er dadurch die ganze Abteilung in die Hand bekommen«, fügte Pitt hinzu. »Zwar nicht lange, aber vielleicht hat die Zeit gereicht.« Das letzte Blatt, das er gelesen hatte, war ein Bericht von Austwick an Croxdale, doch er dachte an etwas völlig anderes.

Stoker wartete.

»Glauben Sie, dass Austwick der Mann an der Spitze ist?«, fragte er. »Ist er wirklich so viel klüger, als wir angenommen haben? Oder zumindest klüger, als ich angenommen habe?«

Stoker sah unglücklich drein. »Das glaube ich nicht, Sir. Ich habe nicht den Eindruck, dass er die Entscheidungen trifft. Ich habe viele von Mr Narraways Berichten gelesen – die sind

Genau diesen Eindruck hatte Pitt gehabt: Der Mann schien bei jeder Entscheidung zu zögern, als müsse er zuvor alles mit jemandem abstimmen, der die Fäden in der Hand hielt.

Aber wenn ihm Croxdale fast auf die Schliche gekommen wäre, wieso dann Narraway nicht?

» Wem können wir vertrauen?«, fragte Pitt erneut. »Wir müssen eine kleine Streitmacht auf die Beine stellen, aber auf keinen Fall mehr als zwei Dutzend Männer. Wenn es mehr wären, würden die Leute Lunte wittern. Bestimmt achten die genau auf jede Bewegung in der Umgebung des Palasts auf der Insel.«

Stoker schrieb einige Namen auf ein Blatt Papier und schob es Pitt hin.

»Die sind in Ordnung«, sagte er ruhig.

Pitt ging die Liste durch, strich drei Namen durch und fügte zwei weitere hinzu. »Jetzt müssen wir Croxdale informieren und Austwick festnehmen lassen.« Er erhob sich und spürte, wie sich seine Muskeln verkrampften. Er hatte ganz vergessen, wie lange er vorgebeugt dagesessen und Dokument um Dokument gelesen hatte.

»Ja, Sir. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig.«

» Wir brauchen zwar einen bewaffneten Trupp, können aber den Landsitz der Königin auf keinen Fall ohne Rückendeckung durch den Minister stürmen, ganz gleich, wie gut die Gründe sind, die dafür sprechen. Aber keine Sorge, was wir


Die Geiselnehmer, die auch Charlotte, Lady Vespasia und Narraway im behaglichen Salon der Königin festhielten, gestatteten von Zeit zu Zeit einer verängstigten Hofdame den Zutritt, damit sie der Königin zur Hand gehen konnte. Einer der Wächter, der etwas zu essen brachte, ließ die Geiseln nicht einmal aus den Augen, wenn sie ihre Notdurft verrichten mussten.

Die Unterhaltung im großen Salon von Osborne House war gestelzt, denn in Gegenwart der Königin fühlte sich niemand imstande, unbefangen und natürlich zu sprechen. Charlotte sah zu der alten Dame hin. Auf diese geringe Entfernung und ohne die durch eine förmliche Situation erzeugte Distanz kam sie ihr vor wie ihre eigene Großmutter, eine alte Dame, die sie über die Jahre hinweg geliebt, gehasst, gefürchtet und später vor allem bemitleidet hatte. Als Kind hatte sie nie gewagt, etwas zu sagen, was sich als ungezogen auslegen ließ, doch im Laufe der Jahre hatte ihre Wut sowohl die Angst als auch den Respekt hinweggefegt, und sie hatte offen gesagt, was sie dachte. In jüngster Zeit hatte sie schreckliche Geheimnisse über ihre Großmutter erfahren, woraufhin sich ihr Abscheu in Mitgefühl verwandelt hatte.

Jetzt sah sie zu der kleinen, fülligen Dame von Mitte siebzig hinüber, deren Haut deutlich ihr Alter zeigte und deren dünne Haare unter ihrem Spitzenhäubchen kaum zu sehen waren. Über ein halbes Jahrhundert lang saß sie jetzt schon auf Englands Thron, doch niedergedrückt hatte sie nicht die damit verbundene Verantwortung, sondern die bittere Last der Einsamkeit, die ihre Witwenschaft mit sich gebracht hatte. In den Augen der Welt hingegen war sie die glanzvolle Königin, Kaiserin

Während sie aus den Fenstern eines der Obergeschosse von Osborne House im langsam abnehmenden Licht des hereinbrechenden Abends den Blick über Felder und Bäume schweifen ließ, war sie nichts als eine müde alte Frau, die über Dienstpersonal und Untertanen verfügte, aber niemanden hatte, mit dem sie von Gleich zu Gleich verkehren konnte. Wahrscheinlich würde sie nie erfahren, ob irgendjemand sie auch nur angesehen hätte, wenn sie eine gewöhnliche Sterbliche gewesen wäre. Die Einsamkeit, in der sie lebte, war unvorstellbar.

Würden die Männer sie töten, die im Vestibül mit ihren Schusswaffen gewalttätigen Träumen von Gerechtigkeit für Menschen nachhingen, die nie und nimmer gewollt hätten, dass man sie um diesen Preis erkaufte? Falls ja, würde sie das sonderlich beunruhigen? Eine Kugel ins Herz, und sie könnte endlich zu ihrem geliebten Albert heimkehren.

Würde man auch die übrigen umbringen: Narraway, Lady Vespasia und sie selbst, Charlotte? Und was war mit der Dienerschaft? Oder sahen die Geiselnehmer in ihnen gewöhnliche Menschen wie andere auch? Charlotte war überzeugt, dass die Diener sich selbst ganz anders sahen.

Sie hatte eine ganze Weile ruhig in einem Sessel am anderen Ende des großen Raums gesessen. Einem plötzlichen Impuls folgend, stand sie auf und trat ans Fenster. Sie hielt sich zwei Schritte von der Königin entfernt, denn neben sie zu treten wäre ungehörig gewesen. Vielleicht galt es sogar als ungehörig, überhaupt dort zu stehen, aber nun war sie einmal da.

Der Blick, der sich ihr bot, war herrlich. Sie konnte sogar sehen, wie sich in der Ferne das Sonnenlicht im Wasser des Ärmelkanals brach.

Das grelle Licht zeigte unbarmherzig jede Linie im Gesicht der Königin: die Spuren, die Müdigkeit, Kummer und Übellaunigkeit dort hinterlassen hatten, vielleicht auch die mit dem Gefühl der Einsamkeit verbundene Seelenqual. Ob sie Angst hatte?

»Es ist herrlich, Ma’am«, sagte sie leise.

»Wo wohnen Sie?«, fragte die Königin.

»In London, in der Keppel Street, Ma’am.«

»Gefällt es Ihnen da?«

»Ich habe mein Leben lang in London gewohnt, aber ich denke, dass es mir weniger gut gefallen würde, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, mir als Wohnort eine Stelle auszusuchen, wo ich so etwas wie das hier sehen und statt des Verkehrslärms nur den Wind in den Baumkronen hören könnte.«

»Können Sie als Krankenschwester denn nicht auf dem Lande arbeiten?«, fragte die Königin, nach wie vor den Blick geradeaus vor sich gerichtet.

Charlotte zögerte. Das war doch sicher der richtige Augenblick, ihr die Wahrheit zu sagen? Aber nein, es war nur Geplauder. Die Königin machte sich nicht das Geringste daraus, wo Charlotte wohnte. Es war völlig unerheblich, was sie zur Antwort gab. Wenn sie ohnehin alle erschossen werden sollten, auf welche Art von Antwort kam es da noch an? Eine aufrichtige? Nein, eine gütige.

Sie wandte sich um und warf rasch einen Blick zu Lady Vespasia hinüber.

Diese nickte.

Charlotte trat einen halben Schritt näher auf die Königin zu. »Nein, Ma’am. Ich muss Ihnen gestehen, dass ich keine Krankenschwester bin. Ich habe das dem Mann an der Tür nur gesagt, damit man mich einließ.«

Die Königin wandte ihr das Gesicht zu und sah sie mit kalten Augen an. »Und warum?«

Charlotte merkte, dass ihr Mund ausgedörrt war. Sie musste sich die Lippen mit der Zunge befeuchten, bevor sie sprechen konnte. »Mein Mann arbeitet für den Sicherheitsdienst, Ma’am. Gestern ist er dahintergekommen, was die Männer hier im Hause vorhaben. Er ist nach London zurückgekehrt, um Hilfe unter denen zu suchen, denen wir vertrauen können. Lady Vespasia, Mr Narraway und ich sind gekommen, um Sie, wie wir hofften, rechtzeitig zu warnen. Offensichtlich sind wir zu spät gekommen, aber jetzt, da wir hier sind, werden wir alles tun, was in unseren Kräften steht, um Ihnen zu helfen.«

Die Königin zwinkerte. »Sie haben gewusst, dass die … Kreaturen hier sind?«, fragte sie ungläubig.

»Ja, Ma’am. Als wir ankamen, ist Lady Vespasia aufgefallen, dass ein Mann, der so tat, als sei er Gärtner, den Petunien die Triebe abgehackt hat – das würde kein richtiger Gärtner tun.«

Die Königin sah an Charlotte vorüber zu Lady Vespasia hin, die nach wie vor auf der anderen Seite des Raumes saß.

»Das stimmt, Ma’am«, beantwortete diese die unausgesprochene Frage der Königin.

Jetzt griff Narraway ein. Er trat vor, machte eine angedeutete Verbeugung, die nichts weiter war als ein leichtes Neigen des Kopfes. »Die Männer sind gewalttätig, Ma’am, und wir sind überzeugt, dass sie alle erblichen Vorrechte des Adels in ganz Europa abschaffen wollen …«

»Alle erblichen Vorrechte«, unterbrach sie ihn. »Wollen Sie damit etwa sagen …«, sie stockte, »… wie in Frankreich?« Sie war erbleicht, was vermuten ließ, dass sie an die Guillotine und die Hinrichtung des französischen Königs und seiner Familie dachte.

»Nicht auf diese gewaltsame Weise, Ma’am«, erklärte Narraway. » Wir nehmen an, dass sie von Ihnen die Unterzeichung

»Nie und nimmer!«, sagte sie mit Nachdruck. Dann schluckte sie. »Es macht mir nichts aus zu sterben, falls die Leute es darauf abgesehen haben. Aber sie sollen meinen Hofstaat verschonen. Sie waren mir alle treu und haben es nicht verdient, dass man ihnen ihren Dienst auf diese Weise vergilt. Manche von ihnen sind noch jung … Können Sie erreichen … dass man sie … in Frieden lässt?«

» Wenn Sie gestatten, Ma’am, werde ich versuchen, die Sache so lange hinauszuzögern, bis Hilfe kommt«, gab er zurück.

» Warum schickt der Sicherheitsdienst nicht das Militär oder zumindest die Polizei?«, fragte sie.

»Es besteht die Gefahr, dass die Leute zur Gewalttat greifen, wenn sie merken, dass man Ihnen mit einem großen Aufgebot zu Hilfe kommt«, erläuterte er. »Sie sind schrecklich nervös und fürchten ein Scheitern ihres Vorhabens, weil sie wissen, dass dann der Galgen auf sie wartet. Wir dürfen sie auf keinen Fall in Panik versetzen, sondern müssen unbedingt so unauffällig vorgehen, dass sie nichts davon merken. Alles muss ganz normal aussehen, bis es für die Leute zu spät ist, Gewalt anzuwenden.«

»Ich verstehe«, sagte sie gefasst. »Ich hatte mich für mutig gehalten, als ich vorhin sagte: ›Hier sterben wir.‹ Es sieht ganz so aus, als hätte ich damit mehr Recht gehabt, als mir bewusst war. Auf jeden Fall werde ich hier in diesem Raum bleiben, in dem ich früher so glücklich war.« Sie sah aus dem Fenster. » Was meinen Sie, ist es im Himmel so, Mr … wie war Ihr Name noch?«

»Narraway, Ma’am. Ja, das ist gut möglich. Jedenfalls hoffe ich das.«

»Reden Sie mir nicht nach dem Mund!«, fuhr sie ihn an.

»Falls Gott Engländer ist, Ma’am, ist es sicher so«, gab er trocken zurück.

Sie wandte sich ihm zu, sah ihn aufmerksam eine Weile an und lächelte dann.

Er verneigte sich erneut, wandte sich dann ab und ging zur Tür.

Von dort aus sah er einen der beiden Bewaffneten auf halber Treppe.

Der Mann musste die Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen haben, denn er fuhr herum und riss sein Gewehr hoch.

Narraway blieb stehen. Von Fotos des Sicherheitsdienstes her wusste er, dass es sich bei dem Mann um Gallagher handelte, schwieg aber. Falls jemand merkte, wer er war, bestand die Möglichkeit, dass man ihn gleich an Ort und Stelle erschoss.

»Gehen Sie wieder da rein!«, befahl Gallagher.

Narraway blieb stehen. » Was wollen Sie?«, fragte er. » Worauf warten Sie? Geht es um Geld?«

Gallagher schnaubte verächtlich. » Wofür halten Sie uns – für gemeine Diebe? Reicht Ihre Vorstellungskraft nicht weiter? Leute wie Sie können immer nur an das eine denken, Geld, Besitz, immer mehr Geld. Sie glauben, dass es auf nichts anderes als Besitz und Macht ankommt.«

»Und was glauben Sie?«, fragte Narraway mit betont gleichmütiger Stimme.

»Gehen Sie wieder da rein!« Gallagher wies mit dem Gewehrlauf auf die Tür des Salons.

Wieder reagierte Narraway nicht. »Sie halten Ihre Majestät als Geisel, also wollen Sie etwas. Was?«

»Das sagen wir, wenn es so weit ist. Und jetzt rein da mit Ihnen, wenn Sie nicht umgelegt werden wollen.«

Narraway gehorchte zögernd. Er hatte in Gallaghers Stimme einen Anflug von Furcht erkannt, und seine nervösen Bewegungen zeigten, dass er innerlich so unter Spannung stand wie eine straff aufgezogene Stahlfeder. Er spielte um den höchsten Einsatz, den er sich vorstellen konnte, und das hier war die einzige Gelegenheit, die er und die anderen Männer hatten. Wenn sie diese Partie nicht gewannen, würden sie alles verlieren.

Als Narraway in den großen Salon zurückgekehrt war und die Tür geschlossen hatte, sah ihn Lady Vespasia an. »Die Leute hier sind nur Ausführende. Sie warten auf eine Entscheidung von weiter oben«, sagte er rasch. » Vermutlich wird irgendjemand eine Proklamation oder dergleichen bringen und verlangen, dass Ihre Majestät sie unterzeichnet.« Er biss die Zähne zusammen. »Es kann sein, dass wir eine ganze Weile hierbleiben müssen. Wahrscheinlich hat man die Sache dem Premierminister unterbreitet, und sie verhandeln gerade im Kabinett darüber. Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren, dafür sorgen, dass die Leute nichts Unbedachtes tun, und sie nach Möglichkeit sogar in ihrer Ansicht bestärken, dass sie Aussicht auf Erfolg haben. Falls sie etwas anderes annehmen, müssen wir damit rechnen, dass sie uns alle umbringen, denn sie haben nichts zu verlieren.« Er sah, dass Lady Vespasia bleich wurde. »Es tut mir leid. Es wäre mir lieber gewesen, das nicht sagen zu müssen, aber ich allein habe keine Möglichkeit, etwas zu unternehmen. Jeder von uns muss die Ruhe bewahren – auch die Dienerschaft. Ich wünschte, ich könnte hinausgehen und ihnen das klarmachen. Unter Umständen geraten alle in Panik, wenn nur ein Einziger die Nerven verliert.«

Lady Vespasia stand auf. Sie schien ein wenig zu schwanken. »Dann werde ich mir den Verrückten auf der Treppe einmal vornehmen und ihn bitten, dass er mir erlaubt, mit der Dienerschaft zu reden. Vielleicht bist du so freundlich, mir bei dem Versuch zu helfen, ihn von dieser Notwendigkeit

Narraway nahm ihren Arm und wandte sich der Königin zu: »Ma’am, Lady Vespasia wird mit Ihrer Dienerschaft sprechen. Es ist äußerst wichtig, dass niemand die Nerven verliert oder übereilt handelt. Ich werde versuchen, die Männer, die uns hier festhalten, dazu zu bringen, dass man ihr das in unser aller Interesse erlaubt. Ich fürchte, dass wir es hier noch eine Weile aushalten müssen.«

»Danke.« Auch wenn die Königin das in erster Linie zu Lady Vespasia sagte, galt der Dank auch Narraway.

»Vielleicht könnte die Dienerschaft alle Anwesenden mit Essen versorgen?«, regte Charlotte an. »Es ist einfacher, wenn man etwas zu tun hat.«

»Glänzender Gedanke«, stimmte ihr Lady Vespasia zu. »Komm, Victor. Wenn die Leute auch nur einen Funken Verstand haben, werden sie einsehen, dass das ein ausgesprochen kluger Einfall ist.«

Sie gingen zur Tür, und er hielt sie ihr auf.

Charlotte sah den beiden mit klopfendem Herzen nach. Sie spürte, wie sich in ihr alles verkrampfte. Sie wandte sich der Königin zu, die sie mit furchtsamen Augen ansah.

Von draußen hörte man keinen Laut … Kein Schuss fiel.


Kurz vor Mitternacht fuhren Pitt und Stoker in einer Droschke zum Haus Sir Gerald Croxdales, um ihm die wichtigsten Beweise für Austwicks Beteiligung an der Manipulation des Geldtransfers vorzulegen, die zu Mulhares Tod geführt hatte und mit deren Hilfe man erreicht hatte, dass Narraway der Veruntreuung von Geldern bezichtigt wurde. Außerdem befanden sich unter den Papieren Berichte über die führenden sozialistischen Revolutionäre, die auf gewaltsame Weise Regierungen, die sie als Unterdrücker-Regimes betrachteten, zu stürzen beabsichtigten

Selbstverständlich enthielt Pitts Aktentasche auch die Liste mit den Namen der ihm inzwischen bekannten Verräter innerhalb des Sicherheitsdienstes.

Sie mussten nahezu fünf Minuten klingeln und klopfen, bis sie hörten, dass an der Haustür die Riegel zurückgeschoben wurden. Ein verschlafener Lakai, der einen Mantel über dem Nachthemd trug, öffnete.

»Sie wünschen, Sir?«, fragte er zurückhaltend.

Pitt wies sich und Stoker aus. »Es handelt sich um einen außerordentlich dringenden Notfall«, sagte er mit Nachdruck. »Das Land ist in Gefahr. Würden Sie bitte den Minister umgehend wecken?«

Der Ton, in dem er das sagte, ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um eine Anweisung und keinesfalls um eine Bitte handelte.

Der Lakai führte die Besucher ins Empfangszimmer. Gut zehn Minuten später tauchte Croxdale notdürftig angekleidet auf. Sein Gesicht war von tiefer Besorgnis erfüllt. Sobald er die Tür geschlossen hatte, fragte er, wobei er den Blick zwischen Pitt und Stoker hin und her wandern ließ: » Was gibt es, meine Herren?«

Angesichts der knappen Zeit beschränkte sich Pitt auf die allernötigsten Erklärungen. » Wir sind den Bewegungen des Geldes, das auf Narraways Konto gelandet ist, auf die Spur gekommen«, sagte er knapp. »Charles Austwick steckt dahinter, und damit trägt er letztlich nicht nur die Verantwortung für den Mord an Mulhare, sondern auch dafür, dass Gower unseren Informanten West getötet hat. Noch weit wichtiger aber ist, dass wir auch hinter die Motive der beiden gekommen sind. Austwick ist ausschließlich deshalb an die Spitze

Verblüfft fragte Croxdale: »Was wollen die denn in drei Teufels Namen da?«

»Osborne House«, gab Pitt knapp zurück.

»Großer Gott im Himmel! Die Königin!« Croxdales Stimme klang erstickt. »Sind Sie Ihrer Sache sicher? Niemand würde doch … aber warum? Das ergibt keinerlei Sinn. Eine solche Tat würde die ganze Welt gegen diese Leute aufbringen.« Er winkte ab und schüttelte den Kopf, als wolle er die Vorstellung als absurd abtun.

»Man hat nicht die Absicht, sie zu töten«, teilte ihm Pitt mit. »Jedenfalls nicht gleich, unter Umständen auch gar nicht.«

»Was dann?« Croxdale musterte ihn, als habe er ihn noch nie richtig gesehen. »Sind Sie sicher, dass Sie wissen, wovon Sie da reden?«

»Ja, Sir«, gab Pitt fest zurück. Es überraschte ihn nicht, dass Croxdale seine Worte anzweifelte. Wenn er nicht selbst die Beweise gesehen hätte, hätte er das ebenso wenig geglaubt wie der Minister. » Wir haben den Weg des für Mulhare bestimmten Geldes verfolgt. Seine Informationen waren äußerst wertvoll. Er hatte uns mitgeteilt, wo wir Nathaniel Byrne finden konnten, eine der treibenden Kräfte hinter mehreren Bombenanschlägen in Irland und London. Selbst im Sicherheitsdienst wusste das so gut wie niemand. Einer der wenigen, die davon Kenntnis hatten, war Austwick. Narraway hatte das Geld angewiesen, damit sich Mulhare der Rache seiner Landsleute entziehen konnte. Diese Gegenleistung für die Information hatte er zur Bedingung gemacht.«

» Von der ganzen Sache habe ich nichts gewusst!«, sagte Croxdale scharf. »Aber warum sollte Austwick so etwas tun? Hat er etwas für sich selbst abgezweigt?«

»Nein. Er wollte Narraway aus dem Sicherheitsdienst hinausdrängen und auch mich, für den Fall, dass ich hinreichend über Narraways Aktionen informiert war, um mir die Geschichte zusammenzureimen.«

» Was gibt es da zusammenzureimen?«, fuhr ihn Croxdale an. »Sie haben noch gar nichts richtig erklärt, Mann. Und was soll das Ganze mit dem Vorgehen von Sozialisten gegen die Königin zu tun haben?«

» Wir haben es hier mit wahnsinnig gewordenen Idealisten zu tun«, gab Pitt zurück. »Sie wollen die Königin als Geisel nehmen, um zu erreichen, dass das Oberhaus abgeschafft wird, und vermutlich auch, dass sie anschließend abdankt. Dem auf diese Weise erreichten Ende der Herrschaft durch erbliche Privilegien soll wohl eine Republik folgen, die ausschließlich durch gewählte Volksvertreter regiert wird.«

»Großer Gott.« Croxdale ließ sich in den nächsten Sessel sinken. Sein Gesicht war aschfahl, seine Hände zitterten. »Sind Sie wirklich ganz sicher? Ohne hieb- und stichfeste Beweise kann ich nicht tätig werden. Wenn ich Militär nach Osborne House in Marsch setzen soll, muss ich mich hundertprozentig darauf verlassen können, dass das gerechtfertigt ist – besser gesagt, ich muss genau wissen, dass es das Einzige ist, was ich tun kann. Falls Sie sich irren, lande ich im Tower und schließlich auf dem Richtblock.«

»Narraway befindet sich bereits in Osborne House, Sir«, teilte ihm Pitt mit.

»Was?« Croxdale fuhr überrascht hoch. »Narraway in …« Er hielt inne und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Können Sie beweisen, was Sie mir hier vortragen, Pitt – ja oder nein? Ich muss das dem Premierminister erklären, bevor

»Gewiss, Sir.« Pitt wies auf die Aktentasche. »Hier habe ich alles Nötige: Berichte, Anweisungen, Briefe. Man muss ein wenig kombinieren, aber es ist alles da.«

»Und Sie haben nicht die geringsten Zweifel? Gott im Himmel, Mann, wenn Sie sich irren, sorge ich dafür, dass Sie mit mir zusammen untergehen!« Croxdale stand auf. »Ich leite alles Erforderliche in die Wege. Ganz offensichtlich gibt es keine Zeit zu vergeuden.« Er ging langsam hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Stoker, der sich während der ganzen Unterhaltung nicht von der Stelle gerührt hatte, runzelte die Brauen.

»Was gibt es?«, fragte Pitt.

Stoker schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht recht, Sir.«

Pitt hielt nach wie vor die Tasche mit den Dokumenten in der Hand. Warum hatte Croxdale sie nicht zu sehen verlangt, warum war er sie nicht zumindest flüchtig durchgegangen? Wieso hatte er die Beweise nicht sehen wollen, wo es doch immerhin um die Möglichkeit von Hochverrat innerhalb des Sicherheitsdienstes ging und er zuvor selbst von Narraways Schuld überzeugt gewesen war? Es war allgemein bekannt, dass Pitt unverrückbar auf Narraways Seite stand. Pitt hätte an Croxdales Stelle mehr Misstrauen an den Tag gelegt.

»Glauben Sie, dass er Austwick von vornherein verdächtigt hat?«, fragte Stoker.

» Wessen? Wenn Austwick in die Manipulation der Überweisung verwickelt war, die man Narraway in die Schuhe geschoben hat, ist er auch am Anschlag auf die Königin beteiligt. Falls Croxdale davon wusste, steckt er auch mit den Leuten

Dann fiel ihm etwas ein: Croxdale hatte gesagt, er habe nicht gewusst, dass Austwick das Geld für Mulhare auf den Weg gebracht habe – dabei hatte er diese Anweisung gegenzeichnen müssen. Bei einem so hohen Betrag genügte eine einzige Unterschrift nicht.

Pitt wandte sich an Stoker. »Er schafft sich jetzt Austwick vom Hals und schiebt ihm die ganze Schuld zu«, sagte er. »Und dann geht es gegen die Königin.«

Im Lampenlicht erkannte er das Entsetzen in Stokers Augen. Ihm war klar, dass er ebenso aussehen musste. Konnte das stimmen? Falls sie sich irrten, würde das ihrer beider Ende bedeuten – falls sie aber Recht hatten und nichts unternahmen, würde es das Ende des Landes bedeuten.

Pitt nickte.

Stoker ging zur Tür und öffnete sie, wobei er den Knauf nur millimeterweise drehte, damit das Schnappschloss kein Geräusch verursachte. Pitt folgte ihm lautlos. Am anderen Ende des Vestibüls war die Tür zum Arbeitszimmer des Ministers angelehnt, und ein Lichtstrahl fiel durch den Spalt auf den dunklen Boden.

» Warten Sie, bis er herauskommt«, flüsterte Stoker. »Ich gehe auf die andere Seite und stelle mich neben die Tür. Sie lenken seine Aufmerksamkeit auf sich, und dann packe ich ihn von hinten. Stellen Sie sich darauf ein, dass er sich wehren wird.«

Pitts Herz schlug so heftig, dass er überzeugt war, diese Bewegung teile sich seinem ganzen Körper mit. War ihm seine Beförderung auf den Posten des Dienststellenleiters zu Kopf gestiegen, und stand er jetzt im Begriff, das Unüberlegteste zu

Und wenn nun Stoker der Verräter war und Pitt mit voller Absicht in diese Falle lockte? Wenn er in Austwicks Auftrag arbeitete und jetzt den einzigen Mann festnahm, der ihnen noch im Weg stand?

War das Ganze womöglich ein abgekartetes Spiel mit dem Ziel, den Sicherheitsdienst zugrunde zu richten, ihn jeglicher Glaubwürdigkeit zu berauben, so dass man ihn abschaffen konnte?

Er erstarrte.

Stoker schlich auf Zehenspitzen durch das Vestibül und blieb, kaum als Schatten wahrnehmbar, im Rahmen der Tür neben dem Arbeitszimmer stehen, so dass ihm Croxdale den Rücken zukehren würde, wenn er herauskam, um mit Pitt zu sprechen.

Die Sekunden schlichen dahin.

Telefonierte Croxdale da drin mit dem Premierminister? Was konnte er ihm dabei sagen? Würde er ihn persönlich aufsuchen müssen, um die Erlaubnis zu erwirken, Osborne House mit einem Trupp Bewaffneter zu entsetzen? Nein – hier handelte es sich um einen Notfall. Es gab keine Zeit für langes Hin und Her oder große Erklärungen. Stand er im Begriff, Austwicks Festnahme zu veranlassen?

Die Tür zum Arbeitszimmer bewegte sich, und Croxdale trat heraus. Jetzt musste Pitt handeln, während der Minister durch das unbeleuchtete Vestibül auf das Empfangszimmer zuging.

Er trat vor. »Sir Gerald, Austwick ist nicht der Anführer des geplanten Anschlags.«

Croxdale blieb stehen. » Was zum Teufel soll das? Falls jemand anders dahintersteckt, warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?«

» Weil ich es da noch nicht wusste«, gab Pitt unumwunden zurück.

Croxdales Gesicht war wegen der Dunkelheit nicht zu erkennen. »Und jetzt wissen Sie es?«, fragte er leise. War das Ungläubigkeit, oder hatte er endlich begriffen?

»Ja.«

Lautlos schlich sich Stoker bis auf einen Schritt an Croxdale heran, wobei er darauf bedacht war, keinen Schatten zu werfen.

»So, so. Und wer soll das sein?«, fragte Croxdale.

»Sie.«

Völliges Schweigen trat ein.

Croxdale war ein breitschultriger, schwerer Mann. Pitt fragte sich, ob er und Stoker imstande sein würden, ihn zu überwältigen, falls er sich wehrte und nach dem Lakaien rief, der sich sicher irgendwo in der Nähe bereithielt – hoffentlich in der Küche, denn um ihn dort zu erreichen, würde man nach ihm läuten müssen.

»Sie haben einen Fehler begangen«, teilte ihm Pitt mit, allein schon, damit Croxdale es nicht hörte, falls Stoker doch irgendein Geräusch verursachte.

»Tatsächlich? Und welchen?« Croxdales Stimme klang nicht beunruhigt. Binnen Sekunden hatte er seine Haltung wiedergefunden.

»Der Betrag, den Sie an Mulhare gezahlt haben.«

»Das war er wert. Er hat uns Byrne ausgeliefert«, gab Croxdale zurück. In seiner Stimme lag unverhohlene Verachtung. »Falls Sie Ihr Aufgabengebiet kennen würden, wäre Ihnen das bewusst.«

»Das kenne ich gut«, gab Pitt zurück und sah Croxdale unverwandt an, damit sich dieser auf keinen Fall umdrehte und

»Ja, und?«, fragte Croxdale. »Dagegen ist nichts einzuwenden, denn sie war rechtmäßig.«

»Sie hat dazu gedient, Narraway auszubooten – und Sie hatten gesagt, dass Sie nichts davon wüssten«, erinnerte ihn Pitt.

Croxdale nahm die Hände aus den Taschen. In der Linken hielt er eine kleine Pistole. Während er sie hob und in Anschlag brachte, brach sich ein schmaler Lichtstrahl darin, der hinter Pitts Rücken aus dem Empfangszimmer ins Vestibül fiel.

Pitt drehte sich rasch um, als stehe Stoker hinter ihm. Im selben Augenblick hob dieser ein Bein und trat Croxdale gezielt gegen den linken Ellbogen.

Die Waffe flog durch die Luft. Pitt streckte sich, und es gelang ihm, sie zu fangen. Blitzschnell fuhr Croxdale zu Stoker herum, verdrehte ihm den Arm, so dass er zu Boden sank, und nahm ihn in den Würgegriff.

»Geben Sie mir die Pistole zurück, wenn Sie nicht wollen, dass ich ihm das Genick breche«, stieß Croxdale mit sich beinahe überschlagender Stimme hervor.

Pitt zweifelte keine Sekunde daran, dass er diese Drohung wahrmachen würde. Die Maske war gefallen: Croxdale hatte nichts mehr zu verlieren. Mit Sicherheit würde Stoker den Würgegriff nicht lange durchhalten, und so blieb Pitt keine Wahl. Noch befand sich Stoker halb seitlich von Croxdale, wurde aber von ihm immer mehr herübergezogen. Es würde nur noch wenige Augenblicke dauern, bis Stoker bewusstlos war, dann konnte Croxdale ihn nach Belieben als lebenden Schutzschild benutzen.

Pitt zielte auf Croxdales Kopf und traf. Das überraschte ihn selbst, nicht wegen der Entfernung, denn die war gering, wohl aber, weil er noch nie zuvor auf einen Menschen geschossen hatte.

Croxdale stürzte rücklings zu Boden. Von Blutspritzern bedeckt, sank Stoker taumelnd neben ihn. Pitt ließ die Waffe fallen, ergriff seine Hand und zog ihn auf die Füße.

Stoker sah zu der Pistole hin.

»Lassen Sie sie liegen!«, sagte Pitt, der verblüfft feststellte, dass seine Stimme fast völlig normal klang. »Der Minister hat sich erschossen, als er gemerkt hat, dass wir Beweise für seinen Hochverrat besitzen. Wir wussten nicht, dass er eine Waffe hatte, und konnten ihn daher nicht daran hindern.« Jetzt zitterte er doch, und es kostete ihn seine ganze Selbstbeherrschung, sich auf den Beinen zu halten. » Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?«, fuhr er mit einem Mal Stoker an. »Er hätte Sie glatt umgebracht!«

Keuchend rieb sich Stoker den Hals. »Ich weiß«, gab er mit rauer Stimme zurück. »Nur gut, dass Sie geschossen haben, sonst läge jetzt ich dort tot am Boden. Danke, Sir.«

Gerade als ihm Pitt mitteilen wollte, dass es ausgesprochen dumm von ihm gewesen sei, sich von Croxdale auf diese Weise packen zu lassen, kam ihm die plötzliche Erkenntnis, dass er das mit voller Absicht getan hatte. Er hatte das eigene Leben ganz bewusst aufs Spiel gesetzt, um zu erreichen, dass Pitt auf Croxdale schoss. Er musterte Stoker mit einem Blick, als sehe er ihn zum ersten Mal.

» Was hätten wir sonst gegen ihn ausrichten können, Sir?«, fragte Stoker pragmatisch. »Hätten wir ihn etwa fesseln sollen? Dann hätten ihn seine Dienstboten gefunden und befreit. Hätten wir ihn in einer Droschke mitnehmen oder einer von uns hierbleiben und ihn bewachen sollen?«

»Sie haben Recht!«, schnitt ihm Pitt das Wort ab. »Jetzt aber müssen wir so schnell wie möglich zur Isle of Wight, um

Dann kam ihm ein weiterer Gedanke. »Für den Fall, dass er Austwicks Festnahme veranlasst hat – wohin hat er ihn da wohl in der Eile bringen lassen?«

»Austwick?« Stoker begriff nicht.

»Ja. Wo mag der jetzt sein? Wie lässt sich feststellen, wo er wohnt? Oder wissen Sie es?«

»In Kensington, Sir, nicht weit von hier«, gab Stoker zur Antwort. »Falls Croxdale überhaupt jemanden angerufen hat, dann die Polizei von Kensington.«

»Sofern er es nicht getan hat, werden wir das jetzt tun«, sagte Pitt, der inzwischen eine genaue Vorstellung davon hatte, wie er weiter vorgehen musste. »Vorwärts, es eilt. Wir wissen nicht, wen Croxdale angerufen hat – auf keinen Fall war es der Premierminister.« Er ging auf das Arbeitszimmer zu.

»Sir!«, sagte Stoker verwirrt.

Pitt wandte sich zu ihm um. »Falls einer der Dienstboten herunterkommt, sagen Sie ihm, dass sich Sir Gerald erschossen hat. Tun Sie alles, was Sie können, um dafür zu sorgen, dass es glaubhaft aussieht. Ich rufe die Polizeiwache von Kensington an.« Da er keine Zeit hatte, lange nach der Nummer zu suchen, nahm er den Hörer ab und teilte der Vermittlung mit, dass er dringend eine Nummer brauche. Vielleicht hatte Croxdale es ja ebenso getan. Als sich die Polizei meldete, stellte

»Sind Sie sicher, dass Sie die richtige Nummer gewählt haben, Sir?«, sagte der Polizeibeamte in zweifelndem Ton. »Hier hat niemand angerufen.«

»Aber Mr Austwick wohnt doch in Ihrem Bezirk?«, fragte Pitt mit einem plötzlichen flauen Gefühl im Magen.

»Ja, Sir.«

»Dann wollen wir uns vergewissern, dass ihm keine Gefahr droht. Wie lautet seine Adresse?«

Der Mann zögerte einen Augenblick und nannte sie dann. » Wir können gern selbst Leute hinschicken, Sir. Sie verstehen, wir wissen ja nicht wirklich, wer Sie sind.«

»Gut. Tun Sie das«, stimmte Pitt zu. » Wir kommen, sobald wir eine Droschke aufgetrieben haben.« Er hängte den Hörer wieder auf und ging zu Stoker ins Vestibül, der unruhig von einem Fuß auf den anderen trat.

» Wir brauchen eine Droschke«, sagte Pitt.

»Da werden wir bis zur Hauptstraße gehen müssen«, gab Stoker zur Antwort, öffnete die Tür und verließ das Haus, unübersehbar erleichtert. Sie schritten so rasch aus, wie sie konnten, ohne zu rennen.

Es dauerte einige Minuten, bis sie eine Droschke fanden. Dem Kutscher nannten sie Austwicks Anschrift und forderten ihn auf, so schnell wie möglich zu fahren. » Was haben Sie mit Austwick vor, Sir?«, erkundigte sich Stoker. Er musste die Stimme heben, um sich über dem Hufgetrappel und dem Rattern der Räder auf dem Kopfsteinpflaster verständlich zu machen.

»Er soll uns helfen«, gab Pitt zurück. »Da er die Leute nach Osborne House in Marsch gesetzt hat, ist er auch der Einzige,

»Meinen Sie denn, dass er das tut?«, fragte Stoker.

»Es ist unsere Aufgabe, ihn dazu zu überreden«, stieß Pitt grimmig hervor. »Croxdale ist tot, aber Narraway lebt. Ich bezweifle, dass die Königin selbst unter Lebensgefahr etwas unterschreiben würde, was die Macht oder die Würde der Krone einschränken könnte.«

Stoker gab keine Antwort, doch Pitt sah im Licht der nächsten Straßenlaterne, an der sie vorüberkamen, dass er lächelte.

Vor Austwicks Haus standen mehrere Polizeibeamte, die sich unauffällig im Schatten hielten.

Pitt und Stoker zeigten ihre Dienstmarken.

»Wie können wir Ihnen behilflich sein, Sir?«, erkundigte sich ein Wachtmeister diensteifrig.

Pitt traf seine Entscheidung umgehend. » Wir holen uns Mr Austwick und fahren alle miteinander, so schnell es geht, nach Portsmouth.«

Der Wachtmeister sah verwirrt drein.

»Rufen Sie von Austwicks Apparat aus am Bahnhof an, dass man den Nachtzug warten lässt«, teilte ihm Pitt mit. »Wir müssen unbedingt vor morgen früh auf der Isle of Wight sein.«

Zackig gab der Beamte zurück: »Verstanden, Sir. Ich … ich kümmere mich sofort darum.«

Mit einem Lächeln dankte ihm Pitt. Dann nickte er Stoker zu. Sie klopften so lange an Austwicks Haustür, bis ein schlaftrunkener Lakai im Nachthemd öffnete. Bevor er etwas sagen konnte, forderte Pitt ihn auf, beiseitezutreten. Der Mann sah die Polizeibeamten hinter Pitt und Stoker und befolgte die

» Was zum Teufel wird hier gespielt?«, erkundigte er sich aufgebracht. »Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist, Mann?«

Pitt warf einen Blick auf die Standuhr ihm gegenüber. »Gleich Viertel vor zwei«, sagte er. »Und wir müssen vor Tagesanbruch in Portsmouth sein.«

Austwick erbleichte, was selbst im schlecht beleuchteten Vestibül deutlich zu sehen war. Sofern Pitt noch einen Beweis dafür gebraucht hätte, dass der Mann Croxdales Plan kannte, hätte die unübersehbare Angst auf Austwicks Gesicht diesen geliefert.

»Das Spiel ist aus«, sagte Pitt. »Croxdale hat sich erschossen, als wir ihm eröffnet haben, dass wir seinen Plan kennen. Narraway ist aus Irland zurück und befindet sich bei der Königin in Osborne House. Sie haben die Wahl, Austwick: Wir können Sie an Ort und Stelle festnehmen, dann werden Sie wegen Hochverrats vor Gericht gestellt. In dem Fall wird man Sie hängen, und Ihre Angehörigen werden ihres Lebens nicht mehr froh. Noch Ihre Enkel, falls Sie welche haben, müssten sich Ihres Namens schämen.« Er erkannte das Entsetzen auf Austwicks Zügen, konnte sich aber kein Mitgefühl leisten. »Die andere Möglichkeit besteht darin, dass Sie mit uns kommen und Ihre Leute aus Osborne House zurückrufen«, fuhr er fort. »Sie haben zwei Minuten Zeit, sich zu entscheiden. Wollen Sie als geächteter Verräter am Galgen enden – oder uns begleiten und als Held leben oder sterben?«

Austwick brachte kein Wort heraus. Er war sichtlich vor Angst wie gelähmt.

»Schön«, sagte Pitt entschlossen. »Sie kommen also mit. Das habe ich mir gleich gedacht. Wir nehmen den Nachtzug nach Portsmouth. Beeilen Sie sich.«

Stoker fasste Austwick mit festem Griff am Arm, und sie traten in die Nacht hinaus.

Sie mussten ihn halb in die wartende Droschke heben, dann nahmen sie links und rechts von ihm Platz. Der Polizeiwachtmeister und ein weiterer uniformierter Beamter folgten in einer zweiten Droschke, bereit, erforderlichenfalls die Straße freizumachen.

Schweigend ging es im gestreckten Galopp der Themse und dem an ihrem Südufer gelegenen Bahnhof entgegen, wo sie den Postzug nach Portsmouth nehmen wollten. Pitt merkte, dass er unwillkürlich die Hände zu Fäusten geballt hatte. Sein ganzer Körper schmerzte vor Anspannung, weil er nicht wusste, ob der Zug wirklich warten würde. Der Beamte hatte von Austwicks Haus aus auf der eigenen Wache angerufen, damit die Kollegen die Leute bei der Bahn instruierten. Wenn nun der Bahnhofsvorsteher der Nachtschicht ihm nicht geglaubt oder nicht begriffen hatte, wie dringend die Sache war? Was, wenn der Mann einer solchen Krisensituation nicht gewachsen war?

Weiter ging es durch nahezu verlassene Straßen, über die Themsebrücke von Battersea, dann scharf nach Westen durch die High Street. In einem Augenblick fürchtete er, dass sie zu langsam fuhren, und im nächsten, wenn die Droschke in rasender Fahrt eine Kurve nahm, dass sie zu schnell fuhr und umstürzen würde.

Am Bahnhof sprangen sie hinaus, und Pitt bezahlte dem Kutscher viel zu viel, weil er es sich nicht leisten konnte, auf das Wechselgeld zu warten. Sie stürmten im Laufschritt in die Halle und zerrten Austwick mit. Der Polizeiwachtmeister wies seine Dienstmarke vor und rief dem Bahnhofsvorsteher zu, er solle ihnen den Weg zum Zug nach Portsmouth zeigen.

Der Mann gehorchte bereitwillig, doch mit unübersehbarem Unbehagen. Als er voller Mitleid Austwicks aschfahles Gesicht

Die Lokomotive stand schon unter Dampf. Ein sichtlich ungeduldiger Schaffner wartete neben der offenen Tür seines Dienstabteils, die Trillerpfeife an den Lippen.

Pitt dankte dem Polizeiwachtmeister und dessen Männern von ganzem Herzen. Er nahm sich vor, ihn zur Beförderung vorzuschlagen, immer vorausgesetzt, er überlebte die Nacht und sein Ruf war danach so, dass sich seine Empfehlung positiv auswirken konnte.

Kaum waren sie eingestiegen, als der Schaffner abpfiff. Die Lokomotive ruckte an wie ein Pferd, das sein Reiter nur mühsam hatte zurückhalten können.

Der Schaffner, ein kleiner Mann mit leuchtend blauen Augen, sah zweifelnd zu Pitt hin und sagte: »Ich hoffe nur, dass der Aufwand die Mühe wert ist. Sie werden Erklärungen abgeben müssen, junger Mann. Ist Ihnen klar, dass Sie uns volle zehn Minuten haben warten lassen?« Er warf einen Blick auf seine Taschenuhr und steckte sie wieder ein. »Elf«, korrigierte er sich. »Dieser Zug befördert die königliche Post. Nichts und niemand hält ihn auf, kein Regen, keine Überschwemmung und auch kein Gewitter. Und dann stehen wir für Leute wie Sie däumchendrehend auf dem Bahnhof herum.«

»Danke«, sagte Pitt ein wenig außer Atem.

Der Schaffner sah ihn an. »Nun … wenn sich einer zu benehmen weiß, ist das gut und schön, aber trotzdem kann man die königliche Post nicht so mir nichts, dir nichts warten lassen. Solange ich dafür zuständig bin, gehört sie der Königin. «

Pitt holte Luft, um ihm zu antworten, doch dann ging ihm auf, wie paradox die Situation war. Er lächelte und schwieg.

Er ging mit Stoker und Austwick nach hinten, wo sie sich setzten. Stoker ließ Austwick keine Sekunde aus den Augen,

Pitt überlegte schweigend, wie sie nach ihrer Ankunft in Portsmouth am besten vorgehen konnten. Auf jeden Fall würden sie ein Boot requirieren müssen, ganz gleich, was für eins, um auf die Insel übersetzen zu können.

Er war nach wie vor tief in Gedanken versunken, als der Zug nach etwa einer Viertelstunde die Fahrt verlangsamte und schließlich mit einem mächtigen Dampfstoß stehen blieb. Pitt fuhr hoch und suchte den Schaffner in seinem Dienstabteil auf.

» Was ist los?«, fragte er. » Warum halten wir an? Wo sind wir?«

» Wir laden Post aus, was sonst?«, sagte der Schaffner mit ausgesuchter Geduld. »Das ist unsere Aufgabe. Gehen Sie wieder an Ihren Platz und verhalten Sie sich ruhig, Sir. Wir fahren weiter, wenn es so weit ist.«

» Wo halten Sie denn noch an?«, fragte Pitt mit einer Stimme, die lauter und herrischer war, als er beabsichtigt hatte. Die Situation zerrte unverkennbar an seinen Nerven.

Der Schaffner stand stocksteif vor ihm und sagte mit finsterer Miene: »Überall da, wo wir Post aufnehmen oder ausladen müssen, Sir. Wie ich schon gesagt habe, das ist unsere Aufgabe. Gehen Sie einfach wieder an Ihren Platz, Sir.«

Pitt nahm seine Dienstmarke heraus und hielt sie dem Mann unter die Nase. »Wir sind in einem äußerst dringenden Notfall unterwegs. Ich handele im Auftrag der Königin und muss vor Sonnenaufgang auf der Isle of Wight sein. Laden Sie die Post auf dem Rückweg aus, oder lassen Sie sie vom nächsten Zug aufnehmen, der durchkommt.«

Der Mann sah Pitt mit einer Mischung aus Stolz und Abscheu an. »Auch ich handele im Auftrag der Königin, Sir, denn ich befördere die königliche Post. Sie kommen nach Portsmouth, wenn wir mit unserer Arbeit fertig sind. Wie ich schon

Pitt spürte, wie unbeherrschter Zorn in ihm aufstieg und er Lust bekam, den Mann zu ohrfeigen. Das aber wäre ungerecht gewesen, denn er tat nur seine Pflicht. Er hatte keine Vorstellung, wer Pitt war, außer irgendeine Art Polizeibeamter.

Durfte er ihm auch nur einen Teil der Wahrheit enthüllen? Nein. Man würde ihn für geistesgestört halten. Er konnte nichts beweisen und würde das Ganze mit einem solchen Vorgehen nur noch mehr verzögern. Voll Entsetzen kam ihm die Erinnerung an seine letzte Bahnfahrt und deren schauerliches Ende. Unwillkürlich trat ihm das Bild eines zerschmetterten Körpers am Bahndamm vor Augen. Gott sei Dank hatte er Gower wenigstens nicht in diesem Zustand gesehen.

Er kehrte an seinen Platz zurück und setzte sich wieder.

»Sir«, sagte Stoker.

»Wir halten an jedem Bahnhof an«, sagte Pitt, bemüht, seine Stimme gleichmütig klingen zu lassen. »Ohne ihm die Wahrheit zu sagen, kann ich ihn nicht dazu bringen, das nicht zu tun.« Mit schiefem Lächeln fügte er hinzu: »Der Zug befördert die königliche Post, und der darf nichts im Wege stehen.«

Stoker setzte an, als wolle er etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. Es kostete Pitt nicht die geringste Mühe, alles, was er empfand, auf seinem Gesicht abzulesen.

Die Fahrt ging quälend langsam voran. Keiner sprach mehr ein Wort, bis der Zug schließlich im Bahnhof von Portsmouth anhielt. Inzwischen begann der Himmel sich im Osten hell zu färben. Austwick machte ihnen keine Schwierigkeiten, während sie durch die noch nahezu verlassen daliegenden Straßen zum Hafen gingen, wo sie ein großes Ruderboot fanden, mit dem sie übersetzen konnten.

Die See war kabbelig, und eine kräftige Brise wehte. Unter diesen Bedingungen zu rudern war Schwerarbeit, und sie mussten sich mächtig in die Riemen legen, um voranzukommen.

Schließlich erreichten sie einen Landesteg, machten das Boot fest und eilten dann sogleich Osborne House entgegen, das von ferne über die Wipfel der noch kahlen Bäume hinweg zu erkennen war. Sie schritten so rasch aus, wie sie konnten, denn weit und breit sahen sie niemanden, von dem sie ein Transportmittel hätten mieten oder sich leihen können.

Die Sonne stand schon über dem Horizont, als sie die Grenze des Anwesens erreichten. Die wellige Parklandschaft und der grandiose Palast lagen schlafend vor ihnen. Nichts außer Vogelgezwitscher unterbrach die Stille um sie herum.

Einen Augenblick lang beschlichen Pitt entsetzliche Zweifel. War das Ganze nichts als ein ganz und gar unwirklicher ungeheuerlicher Alptraum? Hatten sie womöglich alles falsch verstanden? Stand er im Begriff, bei der Königin hereinzuplatzen und sich endgültig zum Narren zu machen?

Stoker schritt weiterhin kräftig aus, wobei er Austwick nach wie vor fest am Arm hielt.

In dem ganzen Gebäude rührte sich nichts. Sicherlich aber gab es dort doch selbst dann irgendeine Art Wache, wenn sich Pitt die ganze Verschwörung nur eingebildet haben sollte?

Als sie das Tor erreichten, trat ein Mann vor. Er trug eine Livree, die ihm mehr um die Glieder schlotterte, als dass sie ordentlich saß. Zwar nahm er eine Art Habachtstellung ein, doch merkte man, dass er kein Soldat war. In seinen Augen blitzte Überheblichkeit.

»Se könn’n hier nich’ rein«, teilte er ihnen kurz angebunden mit. »Das gehört der Königin. Se dürf ’n es sich gerne von auß’n anseh’n, aber kein’n Schritt weiter, verstand’n?«

Pitt kannte das Gesicht des Mannes. Er versuchte sich an den Namen zu erinnern, doch er fiel ihm nicht ein. Er war so

»Das geht in Ordnung, McLeish«, sagte dieser mit leicht zitternder und ein wenig belegter Stimme. »Die Herren gehören zu mir. Wir müssen hinein.«

Der Mann zögerte.

»Und zwar so schnell wie möglich«, fügte Pitt hinzu. »Hinter uns kommen noch mehr. In einer oder zwei Stunden ist alles vorbei.«

»Na schön«, sagte McLeish, wandte sich auf dem Absatz um und ging ihnen voraus.

»Fragen Sie ihn nach der Königin«, zischte Pitt Austwick zu. »Machen Sie jetzt bloß nicht schlapp. Gehängt zu werden ist kein schöner Tod.«

Da Austwick strauchelte, riss Stoker ihn hoch.

Austwick räusperte sich. »Geht es der Königin gut? Ich meine … ist sie in der Lage, Schriftstücke zu unterzeichnen?«

»Selbstverständlich«, gab McLeish munter zur Antwort. »Übrig’ns sin’ da gestern drei Leute aufgetaucht, ’n Mann un’ zwei Frauen. Uns is’ nix andres übriggeblieb’n, wie se reinzulass’n, weil se sonst imstande gewes’n wär’n, Alarm zu schlag’n. Aber die mach’n kein’n Ärger. Alles läuft best’ns.«

Jetzt hatten sie fast den Eingang zum Palast erreicht.

Austwick zögerte.

Die Sonne schickte ihre Strahlen durch eine Lücke zwischen den Bäumen. Aus dem Gebäude hörte man kein Lebenszeichen, keinen Laut, aber vermutlich dämpften die mächtigen Flügel des Portals alle Geräusche.

Jemand musste sie beobachtet haben, denn das Portal öffnete sich, und ein breitschultriger Mann mit einer Schrotflinte über der Schulter stellte sich ihnen in den Weg.

Mit hoch erhobenem Kopf trat Austwick vor. Anfangs wirkte seine Stimme ein wenig brüchig, wurde aber immer fester.

»Guten Morgen, Portman. Ich heiße Charles Austwick und vertrete Sir Gerald Croxdale sowie alle Sozialisten unseres Landes.«

»Höchste Zeit, dass Sie kommen!«, sagte Portman, und es klang wie ein Verweis. »Haben Sie die Dokumente?«

»Wir bringen sie der Königin«, sagte Pitt rasch. »Lassen Sie uns ein. Es ist fast vorbei.« Er bemühte sich, eine gewisse Erregung in seine Stimme zu legen.

Portman lächelte. »In Ordnung.« Er hob den Arm, über dem die Flinte hing, zu einem Siegesgruß.

Stoker trat vor und versetzte ihm einen Schlag, in den er sein ganzes Gewicht legte. Er traf ihn in den Solarplexus, so dass der Mann rückwärts ins Innere des Gebäudes taumelte. Dort krümmte er sich vor Schmerzen, wobei seine Flinte zu Boden fiel. Sofort griff Stoker danach und hob sie auf.

Austwick stand wie gelähmt.

Als sich Pitt daranmachte, die Treppe emporzusteigen, kam ein weiterer Mann mit schussbereiter Waffe aus dem Dienstbotentrakt. In diesem Augenblick tauchte Narraway auf dem Treppenabsatz auf und versetzte ihm einen so heftigen Hieb, dass er mit dem Gesicht voran die Treppe hinabstürzte, wobei er seine Waffe losließ. Mit gebrochenem Genick blieb er am Fuß der Treppe liegen.

Der Mann im Vestibül hob die Waffe auf und richtete sie auf Pitt. Austwick, der das wohl nicht gesehen hatte, trat vor ihn, und im selben Augenblick hallte ein Schuss, woraufhin Austwick langsam zu Boden sank, wo sich eine riesige Blutlache bildete.

Stoker feuerte auf den Mann, der geschossen hatte.

Jetzt kam Narraway nach unten und nahm dem am Boden liegenden Mann die Waffe ab.

»Es sind noch fünf weitere da«, sagte er gelassen. » Wir wollen zusehen, ob wir sie ohne weiteres Blutvergießen festnehmen können.«

Pitt sah Narraway an. Zwar schien dieser vollständig Herr der Lage zu sein, doch sah er elend aus, und seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Seine Stimme klang, als müsse er sie mit aller ihm zu Gebote stehenden Willenskraft beherrschen.

Pitt wandte den Blick zu Stoker und nickte ihm zu.

»Ja, Sir«, sagte dieser gehorsam und machte sich auf den Weg zum Dienstbotentrakt.

Narraway sah Pitt an. Auf seine Züge trat ein leichtes Lächeln, doch in seinen Augen lag eine Wärme, die Pitt dort noch nie gesehen hatte, nicht einmal bei ihren größten Triumphen. » Wollen Sie nach oben gehen und Ihrer Majestät mitteilen, dass die Ordnung wiederhergestellt ist?«, fragte er. »Sie braucht keine Papiere zu unterzeichnen.«

»Geht es Ihnen … gut ?«, fragte Pitt. Er merkte überrascht, wie sehr ihm daran lag.

»Ja, vielen Dank«, gab Narraway zurück. »Aber noch ist die ganze Sache nicht ausgestanden. Ist der da am Boden etwa Charles Austwick?«

»Ja. Ich denke, es dürfte für alle das Beste sein, wenn wir sagen, dass er sein Leben für unser Land gegeben hat.«

»Er hat also an der Spitze dieser verdammten Verschwörung gestanden«, stieß Narraway zwischen den Zähnen hervor.

»Eigentlich nicht«, teilte ihm Pitt mit. »Der wirkliche Verräter saß in Westminster. Die treibende Kraft war Croxdale.«

Verblüfft sah ihn Narraway an. »Sind Sie sicher?«

»Ganz und gar. Er hat es mehr oder weniger selbst zugegeben.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Tot. Ich denke, wir sagen, dass er sich das Leben genommen hat.« Pitt merkte, dass er am ganzen Leibe zitterte. Er versuchte es zu unterdrücken, doch gelang es ihm nicht.

»Es stimmt also nicht?«

»Ich habe ihn erschossen. Er stand im Begriff, Stoker das Genick zu brechen.« Pitt ging weiter nach oben, an Narraway vorüber.

»Ich verstehe«, sagte dieser langsam. Er lächelte zufrieden. »Da hat Croxdale Sie wohl unterschätzt, was?«

Pitt merkte, dass er errötete. Peinlich berührt, wandte er sich ab und ging weiter nach oben. Dort klopfte er an die Tür zum großen Salon.

»Herein«, gebot eine leise Stimme.

Er drehte den Knauf und trat ein. Die Königin stand mitten im Raum zwischen Charlotte und Lady Vespasia. Beim Anblick der Gruppe übermannte Pitt die Rührung so sehr, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Seine Kehle war wie zugeschnürt, so dass er kaum herausbrachte, was er sagen wollte.

»Eure Majestät.« Er räusperte sich. »Es freut mich, Ihnen mitteilen zu können, dass sich Osborne House aufs Neue in den Händen derer befindet, denen es gehört. Es wird keine weiteren Schwierigkeiten geben. Trotzdem würde ich empfehlen, sich einstweilen weiter in diesem Raum aufzuhalten, weil noch dies und jenes aufgeräumt werden muss.«

Lady Vespasias Gesicht strahlte vor Erleichterung. Alle Mattigkeit war von ihr abgefallen.

Charlotte lächelte ihm zu, zu glücklich und zu stolz, als dass sie auch nur ein Wort hätte sagen können.

»Danke, Mr Pitt«, sagte Königin Viktoria mit leicht heiser klingender Stimme. » Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet und werden das nicht vergessen.«

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