DIE TÜR ZUM DIEBSTAHL

Sie blieb auf den Treppenstufen und wartete auf Papa, schaute der fliehenden Asche zu und betrachtete die Bücherleichen. Alles war traurig. Orangefarbene und rote Glut sah aus wie verschmähte Bonbons, und die meisten Menschen waren gegangen. Sie hatte Frau Lindner gehen sehen (sehr zufrieden) und Pfiffikus (mit weißen Haaren, einer Nazi-Uniform, den üblichen vergammelten Schuhen und einem triumphierenden Pfeifen). Jetzt wurde nur noch aufgeräumt, und schon bald würde sich niemand mehr vorstellen können, dass dies alles überhaupt passiert war.

Aber man konnte es riechen.


»Hier bist du.«

Hans Hubermann kam zum Fuß der Treppe.

»Hallo, Papa.«

»Wir wollten uns doch vor dem Rathaus treffen.«

»Entschuldige, Papa.«

Er setzte sich neben sie und halbierte seine Größe auf dem Stein. Dann nahm er eine Strähne von Liesels Haar und schob sie ihr sanft hinters Ohr. »Liesel, was ist los?«

Eine Zeit lang sagte sie gar nichts. Sie stellte Überlegungen an, obwohl sie alles bereits wusste. Ein elfjähriges Mädchen ist vieles, aber nicht dumm.

EINE ADDITION


das Wort »Kommunist« + ein großes Freudenfeuer


+ eine Sammlung von toten Briefen + das Leid ihrer Mutter


+ der Tod ihres Bruders = der Führer


Der Führer.

Er war also das »sie«, über das Hans und Rosa Hubermann an jenem Abend sprachen, als sie das erste Mal an ihre Mutter geschrieben hatte. Sie wusste die Antwort bereits, aber sie musste die Frage dennoch stellen.

»Ist meine Mutter ein Kommunist?« Augen geradeaus. »Sie haben sie immer Sachen gefragt, bevor ich hierherkam.«

Hans rückte ein bisschen nach vorn und erbaute das Fundament einer Lüge. »Ich weiß nicht, ich habe deine Mutter nicht kennengelernt.«

»Hat der Führer sie geholt?«

Die Frage überraschte sie beide, und sie zwang Papa auf die Füße. Er schaute auf die Männer mit den braunen Hemden, die den Ascheberg mit Schaufeln bearbeiteten. Er hörte, wie sie in ihn hineinhackten. Eine weitere Lüge erwuchs in seinem Mund, aber es war ihm nicht möglich, sie hinauszulassen. Er sagte: »Das kann schon sein, ja.«

»Ich wusste es.« Die Worte wurden auf die Stufen geschleudert, und Liesel spürte, wie ein Brei aus Wut heiß in ihrem Bauch brodelte. »Ich hasse den Führer«, sagte sie. »Ich hasse ihn.«

Und Hans Hubermann?

Was sagte er?

Was tat er?

Beugte er sich hinunter und umarmte seine Pflegetochter, wie er es gerne getan hätte? Erklärte er ihr, dass es ihm leidtat, was passiert war?

Nicht im Mindesten.

Er kniff die Augen zusammen. Dann öffnete er sie. Und schlug Liesel Meminger mitten ins Gesicht.

»Sag das nie wieder!« Seine Stimme war leise, aber scharf.

Das zitternde Mädchen sackte auf den Stufen zusammen, und er setzte sich neben sie und verbarg sein Gesicht in den Händen. Es wäre leicht zu behaupten, dass er nur ein großer Mann war, der ungelenk und erschüttert auf den Stufen unterhalb einer Kirche saß, aber so war es nicht. Damals hatte Liesel keine Ahnung, dass ihr Pflegevater Hans Hubermann sich dem gefährlichsten Dilemma gegenübersah, das einem deutschen Bürger begegnen konnte. Nicht nur das – er trug dieses Dilemma schon seit fast einem Jahr mit sich herum.

»Papa?«

Die Überraschung in ihrer Stimme wollte sie vorantreiben, aber gleichzeitig wurde sie davon gelähmt. Sie wollte rennen, aber sie konnte nicht. Sie ertrug es, wenn sie von Nonnen und von Rosa geohrfeigt wurde, aber eine Watschen von Papa tat ungleich mehr weh. Seine Hände hatten sein Gesicht losgelassen, und er fand die Entschlossenheit, erneut zu sprechen.

»Das kannst du bei uns daheim sagen«, flüsterte er und schaute mit ernstem Blick auf Liesels Wange. »Aber sag es niemals auf der Straße, in der Schule oder beim JM. Niemals!« Er stellte sich vor sie hin, presste ihr mit seinen Händen die Oberarme an den Körper und hob sie hoch. Er schüttelte sie. »Hast du mich verstanden?«

Mit weit aufgerissenen Augen nickte Liesel zum Zeichen ihres Begreifens.

Die Szene sollte sich als Generalprobe zu einem Vortrag erweisen, den Hans Hubermann noch zu halten hätte, wenn später im Jahr, an einem frühen Novembermorgen, all seine schlimmsten Befürchtungen leibhaftig werden und in der Himmelstraße vor ihm stehen sollten.

»Gut.« Er stellte sie auf die Füße. »Und jetzt üben wir...« Am Fuß der Stufen straffte sich Papas Gestalt, und er reckte den Arm in die Höhe. Exakt in einem Winkel von fünfundvierzig Grad. »Heil Hitler.«

Auch Liesel stand auf und hob den Arm. Mit vollkommenem Elend in der Stimme wiederholte sie: »Heil Hitler.« Es war ein merkwürdiger Anblick – ein elfjähriges Mädchen, das vor einer Kirchentreppe stand und versuchte, nicht zu weinen, während sie dem Führer salutierte und im Hintergrund, über Papas Schultern hinweg, die Stimmen auf den dunklen Haufen einschlugen und -hackten.


»Sind wir immer noch Freunde?«

Etwa eine Viertelstunde später hielt Papa einen Olivenzweig in Form von Papier und Tabak in seiner Hand, aus der Ration, die er kürzlich erhalten hatte. Wortlos und mit düsterem Blick griff Liesel danach und rollte ihm eine Zigarette.

Eine Weile saßen sie nebeneinander.

Rauch kletterte über Papas Schulter.

Nach weiteren zehn Minuten sollte sich eine Tür, die zum Diebstahl führte, einen Spaltbreit öffnen, und Liesel Meminger würde sie noch etwas weiter aufstoßen und sich hindurchzwängen.




ZWEI FRAGEN


Würde sich die Tür hinter ihr wieder schließen?


Oder war sie willens, sie wieder hinauszulassen?


Liesel sollte herausfinden, dass ein guter Dieb über mehrere Eigenschaften verfügen musste.

Verstohlenheit. Nervenstärke. Schnelligkeit.

Wichtiger noch als diese drei Dinge war allerdings eine weitere Voraussetzung.

Glück.


Wisst ihr was?

Vergesst die zehn Minuten.

Die Tür öffnet sich genau jetzt.

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