DIE EIGENSCHAFTEN DES SOMMERS
So, da habt ihr es.
Jetzt wisst ihr, was Ende 1940 auf die Himmelstraße zukam.
Ich weiß es.
Ihr wisst es.
Liesel Meminger allerdings gehört derzeit noch nicht zum Kreis der Eingeweihten.
Für die Bücherdiebin war dieser Sommer einfach. Er bestand hauptsächlich aus vier Aspekten oder Eigenschaften. Manchmal fragte sie sich, welche der vier die größte Bedeutung hatte.
UND DIE NOMINIERTEN SIND...
1. die nächtliche Lektüre von Das Schulterzucken und der damit verbundene Lesefortschritt
2. die Bücher, die sie auf dem Fußboden in der Bibliothek des Bürgermeisters las
3. Fußballspielen auf der Himmelstraße
4. die Gelegenheit zu einem Diebstahl anderer Art, die sie ergriff
Das Schulterzucken, so entschied sie, war ausgezeichnet. Jede Nacht, wenn sie sich nach ihrem Albtraum wieder beruhigt hatte, überkam sie schon bald die Freude darüber, dass sie wach war und lesen konnte. »Ein paar Seiten?«, fragte Papa, und Liesel nickte. Manchmal beendeten sie das angefangene Kapitel am folgenden Nachmittag, unten im Keller.
Das Problem, das die Obrigkeit mit diesem Buch hatte, war offensichtlich. Die Hauptperson war ein Jude, er war vorteilhaft beschrieben und in ein gutes Licht gesetzt. Unverzeihlich. Er war ein reicher Mann, der es leid war, dass das Leben an ihm vorbeizog – was er mit einem Schulterzucken angesichts der guten und schlechten Zeiten eines Menschenlebens verglich.
Es war Frühsommer in Molching, als Liesel und Papa durch das Buch gingen und der Mann aus dem Buch geschäftlich nach Amsterdam reiste, während draußen der Schnee zitterte. Das Bild gefiel dem Mädchen – der zitternde Schnee. »Genauso sieht er aus, wenn er vom Himmel fällt«, erklärte sie Hans Hubermann. Sie saßen auf dem Bett beisammen, Papa halb schlafend, das Mädchen hellwach.
Manchmal betrachtete sie Papa, wenn er schlief. Sie wusste weniger und zugleich mehr über ihn, als ihnen beiden klar war. Oft hörte sie ihn und Mama streiten, weil er keine Arbeit hatte, oder sich niedergeschlagen darüber unterhalten, dass Hans versucht hatte, seinen Sohn aufzusuchen, nur um festzustellen, dass dieser seine Wohnung bereits verlassen hatte und höchstwahrscheinlich an die Front gezogen war.
»Schlaf gut, Papa«, sagte das Mädchen dann. Sie rutschte um ihn herum, aus dem Bett heraus, um das Licht auszumachen.
Der nächste Aspekt an diesem Sommer war, wie bereits erwähnt, die Bibliothek des Bürgermeisters.
Um uns diese Situation vor Augen zu führen, sollten wir uns einen kühlen Tag Ende Juni betrachten. Rudi war, gelinde gesagt, erbost.
Was dachte sich diese Liesel Meminger dabei, ihm zu erzählen, dass sie heute die Wäsche allein austragen würde? War er etwa nicht gut genug, um sie zu begleiten?
»Hör auf zu jammern, Saukerl«, wies sie ihn zurecht. »Ich fühle mich einfach nicht gut. Außerdem verpasst du sonst das Spiel.«
Er warf einen Blick über die Schulter. »Tja, wenn ich’s recht bedenke...« Ein Schmunzeln überzog sein Gesicht. »Du kannst dich ruhig allein um deine Wäsche kümmern.« Er rannte davon und schloss sich sofort einer der beiden Mannschaften an. Als Liesel das Ende der Himmelstraße erreicht hatte und sich umdrehte, sah sie ihn vor einem der behelfsmäßigen Tore stehen und winken.
»Saukerl«, lachte sie und hob ihre Hand. Sie wusste genau, dass er sie in diesem Augenblick »Saumensch« nannte. Ich denke, näher können Elfjährige der Liebe nicht kommen.
Sie fing an zu rennen, zur Großen Straße und zum Haus des Bürgermeisters.
Sie war schweißgebadet, und zerknitterte Atemzüge erstreckten sich noch immer vor ihr.
Aber sie las.
Die Frau des Bürgermeisters, die das Mädchen bereits zum vierten Mal eingelassen hatte, saß am Schreibtisch und sah die Bücher an. Bei ihrem zweiten Besuch hatte sie Liesel die Erlaubnis erteilt, ein Buch herauszuziehen und es durchzublättern. Eins führte zum anderen, bis ein halbes Dutzend Bücher an ihr klebten, entweder unter ihren Arm geklemmt oder auf dem Stapel, der auf ihrer freien Hand in die Höhe kletterte.
Bei dieser Gelegenheit, als Liesel in der kühlen Weite des Raums stand, fing ihr Magen an zu knurren, was bei der stummen, angeschlagenen Frau keinerlei Reaktion auslöste. Wieder war sie in ihren Morgenmantel gekleidet, und ein paar Mal sah sie auch zu dem Mädchen hinüber, aber nie lange. Sie richtete gewöhnlich ihre Aufmerksamkeit auf das, was ihr nahe war, auf das, was fehlte. Das Fenster war weit geöffnet, ein viereckiges Maul, aus dem gelegentlich böige Wellen schwappten.
Liesel saß auf dem Boden. Die Bücher waren um sie herum verstreut.
Nach vierzig Minuten ging sie. Jedes Buch kehrte an seinen Platz zurück.
»Auf Wiedersehen, Frau Hermann.« Die Worte waren wie immer ein Schock. »Danke schön.« Danach nahm sie das Geld für die Wäsche in Empfang und ging. Sie musste über jeden Schritt Rechenschaft ablegen, und so rannte die Bücherdiebin nach Hause.
Der Sommer machte es sich gemütlich, und der Raum voller Bücher wurde wärmer. Mit jedem Besuch, bei dem sie gleichzeitig Wäsche abholte oder ablieferte, kam Liesel der Boden weniger schmerzhaft vor. Sie saß da mit einem kleinen Stapel Bücher neben sich, und in jedem las sie ein paar Absätze, wobei sie versuchte, sich die Worte, die sie nicht kannte, einzuprägen, um später, zu Hause, Papa danach zu fragen. Als sie älter geworden war und über diese Bücher schrieb, konnte sie sich nicht mehr an die Titel erinnern. An keinen einzigen. Wenn sie sie gestohlen hätte, wäre das sicher anders gewesen.
Woran sie sich erinnerte, war, dass in einem der Bilderbücher in ungeschickt geschriebenen Buchstaben ein Name stand.
DER NAME EINES JUNGEN
Johann Hermann
Liesel biss sich auf die Lippe, aber sie konnte nicht lange widerstehen. Auf dem Boden sitzend, drehte sie sich um und schaute auf die Frau im Morgenmantel. »Johann Hermann«, sagte sie. »Wer ist das?«
Die Frau sah zu dem Platz neben Liesel, irgendwo neben ihren Knien.
Liesel entschuldigte sich. »Es tut mir leid. Ich sollte so etwas nicht fragen...« Sie ließ den Satz einen stummen Tod sterben.
Das Gesicht der Frau veränderte sich nicht, aber irgendwie schaffte sie es zu sprechen. »Er ist nicht mehr...«, stammelte sie. »Er war mein...«
EINE ERINNERUNG
O ja, ich erinnere mich an ihn, ganz genau.
Der Himmel war schlammbraun und dick wie Treibsand.
Da war ein junger Mann, eingepackt in Stacheldraht, wie
eine riesige Dornenkrone. Ich wickelte ihn aus und trug ihn
weg. Hoch über der Erde sanken wir gemeinsam auf die
Knie. Es war irgendein Tag, 1918.
»Abgesehen von allem anderen«, sagte sie, »ist er erfroren.« Einen Augenblick lang spielte sie mit ihren Händen, und dann sagte sie noch einmal: »Er ist erfroren, da bin ich mir ganz sicher.«
Die Frau des Bürgermeisters war nur eine aus einer weltumspannenden Brigade. Ihr alle seid ihr schon begegnet, ganz bestimmt. In euren Geschichten, euren Gedichten, auf den Bildschirmen, in die ihr so gerne seht. Sie sind überall, warum also nicht auch hier? Warum nicht hier oben, auf einem hübsch anzusehenden Hügel in einer deutschen Kleinstadt? Der Ort ist zum Leiden ebenso gut wie jeder andere.
Der Punkt ist, dass Ilsa Hermann beschlossen hatte, aus ihrem Leiden einen Triumph zu machen. Als die Qual sich weigerte, von ihr zu lassen, ergab sie sich ihr. Sie hieß sie willkommen.
Sie hätte sich erschießen, sich das Gesicht zerkratzen oder sich anderen grausamen Formen der Selbstverstümmelung hingeben können, aber sie wählte diejenige, die möglicherweise die schwächste von allen war – sie entschied, dass sie wenigstens die Unbequemlichkeit des Wetters ertragen müsse. Liesel hätte wetten können, dass sie sich nur kalte und nasse Sommertage wünschte. Und in dieser Beziehung lebte sie genau am richtigen Ort, meistens jedenfalls.
Als Liesel an diesem Tag das Haus des Bürgermeisters verließ, sagte sie etwas, mit großem Unbehagen. Vier große Worte lieferten sich einen Kampf, sprangen auf ihre Schulter und fielen als unordentliches Quartett vor Ilsa Hermanns Füße. Sie purzelten seitlich von Liesel herab, weil sich das Mädchen unter ihrer Last neigte und sie nicht länger halten konnte. Gemeinsam kauerten sie auf dem Boden, groß und laut und ungeschickt.
VIER GROSSE WORTE
Es tut mir leid.
Wieder betrachtete die Frau des Bürgermeisters den Platz neben dem Mädchen. Ihr Gesicht war so leer wie ein unbeschriebenes Blatt Papier.
»Was denn?«, fragte sie, aber es war zu spät. Das Mädchen hatte den Raum bereits verlassen. Sie war schon fast bei der Haustür. Als sie die Worte hörte, blieb Liesel stehen, aber sie beschloss, nicht zurückzugehen, sondern sich stattdessen geräuschlos aus dem Haus und die Stufen hinab zu entfernen. Sie nahm den Anblick von Molching in sich auf, ehe sie selbst darin versank, und eine Zeit lang bemitleidete sie die Frau des Bürgermeisters.
Manchmal fragte sich Liesel, ob sie die Frau nicht besser in Ruhe lassen sollte, aber Ilsa Hermann war einfach zu interessant und die Anziehungskraft der Bücher zu groß. Früher waren Worte für Liesel nutzlos gewesen, aber jetzt, wenn sie auf dem Fußboden saß und die Frau des Bürgermeisters am Schreibtisch ihres Mannes, verspürte sie ein unwillkürliches Gefühl der Macht. Es kam jedes Mal über sie, wenn sie ein neues Wort entzifferte oder einen Satz zusammentrug.
Sie war ein Mädchen.
In Deutschland, unter Hitler.
Wie passend, dass sie die Macht der Worte entdeckte.
Und wie schrecklich (und doch so erregend!) würde es etliche Monate später sein, wenn sie die Macht dieser neuen Entdeckung in dem Augenblick freisetzte, in dem die Frau des Bürgermeisters sie im Stich ließ. Wie schnell sollte das Mitleid von ihr weichen, und wie schnell sollte es sich in etwas völlig anderes verwandeln!
Aber jetzt, im Sommer 1940, konnte sie nicht sehen, was vor ihr lag, in mehr als einer Hinsicht. Jetzt kannte sie eine trauererfüllte Frau mit einem Raum voller Bücher, den sie gerne aufsuchte. Das war alles. Dies war der zweite Teil ihres Sommerlebens.
Der dritte Teil wurde – Gott sei Dank – mit leichterem Herzen gelebt: Fußball auf der Himmelstraße.
Ich will euch ein Bild malen:
Füße kratzen auf der Straße.
Der Sturm von jugendlichem Atem.
Gebrüllte Worte: »Hier! Hierher! Scheiße!«
Das Aufprallen und Schaben des Balls auf Asphalt.
Sie alle waren da, in der Himmelstraße, genauso wie der Klang der Entschuldigungen, während der Sommer voranschritt.
Die Entschuldigungen gehörten Liesel Meminger.
Geschenkt wurden sie Tommi Müller.
Anfang Juli gelang es ihr endlich, ihn davon zu überzeugen, dass sie ihn nicht umbringen wollte. Seit den Prügeln, die er im letzten November von ihr bezogen hatte, hatte Tommi Angst, sich in ihrer Nähe aufzuhalten. Während der Fußballspiele auf der Himmelstraße hielt er sich stets von ihr fern. »Man kann nie wissen, wann sie einen Anfall kriegt«, erklärte er Rudi im Vertrauen, halb zuckend, halb sprechend.
Zu Liesels Verteidigung muss gesagt werden, dass sie ihre Versuche, ihn zu beruhigen, nie aufgab. Sie war enttäuscht, dass es ihr zwar gelungen war, mit Ludwig Schmeikl Frieden zu schließen, aber nicht mit dem unschuldigen Tommi Müller. Er duckte sich immer noch leicht, wenn er sie sah.
»Wie hätte ich wissen sollen, dass du mich mit deinem Lächeln ermutigen wolltest?«, fragte sie ihn zum wiederholten Mal.
Sie löste ihn sogar ein paar Mal freiwillig im Tor ab, bis alle in der Mannschaft ihn anflehten, wieder seine Position als Torwart zu beziehen.
»Geh wieder ins Tor!«, befahl ihm ein Junge namens Harald Mollenhauer schließlich. »Du kannst doch überhaupt nicht Fußball spielen!« Kurz zuvor hatte Tommi ihn umgerannt, als Harald gerade ein Tor schießen wollte. Er hätte sich zu gerne einen Elfmeter gegeben, aber leider waren Tommi und er in derselben Mannschaft.
Liesel kam aus dem Tor, und es endete jedes Mal damit, dass sie gegen Rudi spielen musste. Sie rempelten sich an, brachten sich gegenseitig zu Fall und beschimpften sich lautstark. Rudis Kommentar lautete: »Diesmal kommt sie damit nicht durch, das dämliche Saumensch. Arschgrobbler. Nie und nimmer.« Er schien es zu genießen, Liesel einen Arschkratzer zu nennen. Ein Kindheitsvergnügen.
Ein weiteres solches Vergnügen war das Stehlen. Teil vier des Sommers 1940.
Es gab viele Dinge, die Rudi und Liesel miteinander teilten, aber das Stehlen schweißte ihre Freundschaft endgültig zusammen. Es ergab sich bei einer passenden Gelegenheit, getrieben von einem machtvollen Umstand – Rudis Hunger. Der Junge war ständig hinter etwas zu essen her.
Ein Problem war die Rationierung, ein weiteres die Tatsache, dass das Geschäft seines Vaters in letzter Zeit nicht besonders gut lief. (Die jüdischen Konkurrenten waren beseitigt worden, die jüdischen Kunden allerdings auch.) Die Steiners kratzten mühsam jeden Pfennig zusammen, um über die Runden zu kommen. Liesel hätte ihm etwas von sich abgegeben, aber auch im Haushalt der Hubermanns herrschte kein Überfluss. Mama kochte meistens Erbsensuppe. Sie bereitete sie am Sonntagabend zu – und nicht nur für eine oder zwei Mahlzeiten. Sie kochte eine derartige Menge an Erbsensuppe, dass sie bis zum folgenden Samstag reichte. Und am Sonntag kochte sie neue. Erbsensuppe, Brot, manchmal eine kleine Portion Kartoffeln oder Fleisch. Man aß den Teller leer, verlangte keinen Nachschlag und beklagte sich nicht.
Am Anfang unternahmen sie etwas, um den Hunger zu vergessen.
Wenn Rudi Fußball spielte, war er nicht hungrig. Ebenso wenig, wenn sie die Fahrräder von Rudis Bruder und Schwester nahmen und damit zu Alex Steiners Laden fuhren oder Liesels Papa besuchten, wenn er gerade Arbeit hatte. Hans Hubermann setzte sich dann zu ihnen und erzählte ihnen im letzten Licht des Nachmittags Witze.
Mit der Ankunft einiger weniger heißer Tage kam eine neue Möglichkeit zur Ablenkung: Liesel wollte in der Amper schwimmen lernen. Das Wasser war immer noch ein bisschen zu kalt zum Schwimmen, aber sie gingen trotzdem hinein.
»Komm schon«, lockte Rudi. »Genau hier. Hier ist es nicht so tief.« Liesel konnte das riesige, tiefe Loch, in das sie watete, nicht sehen und sank geradewegs auf den Grund des Flusses. Wie ein Hund paddelnd, rettete sie ihr Leben, obwohl sie an dem Schwall Wasser, den sie geschluckt hatte, beinahe erstickt wäre.
»Du Saukerl«, schimpfte sie, als sie am Flussufer zusammenbrach.
Rudi hielt sich wohlweislich außerhalb ihrer Reichweite auf. Er hatte erlebt, was sie mit Ludwig Schmeikl angestellt hatte. »Was willst du? Jetzt kannst du doch schwimmen, oder nicht?«
Seine Bemerkung heiterte sie nicht im Mindesten auf. Mit klatschnassen Haaren, die ihr am Gesicht klebten, und rotztriefender Nase marschierte sie davon.
Er rief ihr nach: »Heißt das, ich kriege keinen Kuss dafür, dass ich’s dir beigebracht habe?«
»Saukerl!«
So eine Frechheit!
Es war unausweichlich.
Die deprimierende Erbsensuppe und Rudis Hunger trieben sie schließlich zum Diebstahl. Sie schlossen sich einer Gruppe von Jugendlichen an, die von den Bauern stahlen. Obsträuber. Es war nach einem Fußballspiel, als Liesel und Rudi erkannten, wie vorteilhaft es war, beide Augen offen zu halten. Sie saßen auf Rudis Eingangstreppe und sahen Fritz Hammer einen Apfel essen. Es war ein Klarapfel, eine Apfelsorte, die im Juli und August reif wird, und er sah in der Hand des Jungen einfach herrlich aus. Drei oder vier weitere beulten sichtbar seine Jackentaschen aus. Liesel und Rudi schlenderten näher.
»Woher hast du die?«, wollte Rudi wissen.
Der Junge grinste nur und sagte: »Pst!« Dann blieb er stehen. Er zog einen Apfel aus seiner Jacke und warf ihn Rudi zu. »Nur anschauen«, warnte er. »Nicht reinbeißen.«
Das nächste Mal, als sie den Jungen dieselbe Jacke tragen sahen – an einem Tag, an dem es eigentlich zu warm dafür war -, folgten sie ihm. Er führte sie die Amper flussaufwärts, in die Nähe der Stelle, wo Liesel manchmal mit ihrem Papa gesessen und lesen gelernt hatte. Dort wartete eine Gruppe von fünf Jungen, einer davon schlaksig, die anderen klein und drahtig.
Zu dieser Zeit gab es in Molching einige solcher Gruppen, in denen die Mitglieder manchmal erst sechs Jahre alt waren. Der Anführer dieses Haufens hier war ein nicht unfreundlicher fünfzehnjähriger Krimineller namens Arthur Berg. Er schaute sich um und sah die beiden Kinder aus dem Hintergrund treten. »Und?«, fragte er.
»Ich bin am Verhungern«, gab Rudi zurück.
»Und er ist schnell«, ergänzte Liesel.
Berg schaute sie an. »Ich kann mich nicht erinnern, dich um deine Meinung gebeten zu haben.« Er war ein hochgewachsener Junge mit einem langen Hals. Hier und da hatten sich auf seinem Gesicht Pickelhaufen zusammengerottet. »Aber ich mag dich.« Er war, wie gesagt, ganz freundlich, auf eine clevercharmante, halbwüchsige Art. »Ist das nicht die, die deinem Bruder eine Abreibung verpasst hat, Anderl?« Die Schulhofkeilerei hatte in Windeseile die Runde gemacht. Ein solches Ereignis überwindet alle Altersunterschiede. Ein anderer Junge – einer von den kleinen, drahtigen, mit zotteligem blondem Haar und eisfarbener Haut – schaute zu ihnen hinüber. »Ich glaube schon.«
Rudi bestätigte dies. »Sie ist es.«
Andi Schmeikl kam herbei und musterte Liesel von oben bis unten.
Sein Gesicht war nachdenklich, doch dann verzog es sich zu einem breiten Grinsen. »Gut gemacht, Kleine.« Er versetzte ihr sogar einen Schlag auf die Wirbelsäule und traf eine Kante ihres Schulterblattes. »Ich hätte dafür Prügel bezogen.«
Arthur war neben Rudi getreten. »Und du bist der mit der Jesse-Owens-Sache, stimmt’s?«
Rudi nickte.
»Du bist eindeutig ein Idiot«, sagte Arthur, »aber die Art von Idiot, die wir mögen. Kommt mit.«
Sie waren aufgenommen.
Als sie den Bauernhof erreichten, bekamen Liesel und Rudi einen Sack zugeworfen. Arthur Berg hatte eine Tasche aus Sackleinen dabei. Er fuhr mit der Hand durch die zarten Strähnen seines Haars. »Habt ihr schon mal was gestohlen?«
»Klar«, brüstete sich Rudi. »Schon oft.« Er spielte seine Rolle nicht sehr überzeugend.
Liesel war präziser. »Ich habe zwei Bücher gestohlen«, woraufhin Arthur drei Mal kurz schnaubend lachte. Seine Pickel wanderten dabei über sein Gesicht.
»Bücher kann man nicht essen, Süße.«
Sie begutachteten die Apfelbäume, die in langen, kurvigen Reihen standen. Arthur Berg gab die Befehle. »Erstens«, sagte er. »Verfangt euch nicht im Zaun. Wenn euch das passiert, bleibt ihr zurück. Kapiert?« Alle nickten oder sagten Ja. »Zweitens: Einer klettert in den Baum, der andere bleibt unten. Einer muss die Äpfel ja aufsammeln.« Er rieb sich die Hände. Offensichtlich genoss er das alles. »Drittens: Wenn ihr jemanden kommen seht, schreit ihr so laut, dass selbst die Toten wach werden – und dann nichts wie weg. Alles klar?«
»Alles klar!«, erklang es im Chor.
ZWEI NEU ERNANNTE APFELDIEBE IN GEFLÜSTERTEM GESPRÄCH
»Liesel, bist du sicher? Willst du immer noch mitmachen?«
»Schau dir mal den Stacheldraht an, Rudi.
Der ist so hoch!«
»Nein, nein, guck mal: Du wirfst einfach den Sack drüber.
Siehst du? So machen es die anderen auch.«
»Also gut.«
»Dann komm jetzt!«
»Ich kann nicht.« Zögern. »Rudi, ich...«
»Beweg dich, Saumensch!«
Er schob sie auf den Zaun zu, warf den leeren Sack über den Stacheldraht, und sie kletterten hinüber und liefen dann den anderen hinterher. Rudi steuerte den am nächsten stehenden Baum an, kletterte hinauf und fing an, die Äpfel hinunterzuwerfen. Liesel stand unten und steckte sie in den Sack. Als er voll war, standen sie vor einem weiteren Problem.
»Wie kommen wir jetzt wieder über den Zaun?«
Die Antwort bekamen sie von Arthur Berg, der direkt neben einem Zaunpfosten hinüberkletterte. »Der Draht ist hier straffer«, bemerkte er. Rudi deutete auf Liesel. Er warf den Sack hinüber, schob Liesel über den Zaun und landete kurze Zeit später neben ihr, auf einem Berg von Äpfeln, die aus dem Sack gerollt waren.
Neben ihnen standen die langen Beine von Arthur Berg. Er amüsierte sich.
»Nicht schlecht«, landete die Stimme von oben zwischen ihnen. »Gar nicht schlecht.«
Nachdem sie zum Fluss zurückgekehrt waren, nahm er Liesel und Rudi den Sack ab und gab ihnen insgesamt ein Dutzend Äpfel, die sie untereinander aufteilen sollten.
»Gute Arbeit«, lautete sein abschließender Kommentar zu der Sache.
Bevor sie an diesem Nachmittag nach Hause gingen, aßen Liesel und Rudi jeweils sechs Äpfel in einer halben Stunde. Zunächst spielten sie mit dem Gedanken, das Obst mit ihren Familien zu teilen, aber das erschien ihnen zu gefährlich. Sie waren nicht gerade erpicht darauf, erklären zu müssen, woher sie die Äpfel hatten. Liesel überlegte, ob sie nicht wenigstens Papa einweihen sollte, doch er sollte nicht glauben, dass er eine Gewohnheitsverbrecherin an seinem Busen nährte. Und so aß sie.
Am Ufer, wo sie Schwimmen gelernt hatte, wurde jeder einzelne Apfel verspeist. Sie waren eine solche Schlemmerei nicht gewohnt, und ihnen war klar, dass ihnen wahrscheinlich schlecht werden würde.
Sie aßen trotzdem.
»Saumensch!«, schimpfte Mama am Abend. »Warum musst du denn kotzen?«
»Vielleicht liegt es an der Erbsensuppe«, sagte Liesel.
»Bestimmt«, erklärte Papa. Er saß wieder am Fenster. »Woran denn sonst? Mir ist auch schon ganz übel.«
»Wer hat dich denn gefragt, Saukerl?« Schnell wandte sie sich wieder dem kotzenden Saumensch zu. »Na? Sag schon. Nun rede schon, du Dreckschwein.«
Und Liesel?
Sie sagte nichts.
Die Äpfel, dachte sie glücklich, die Äpfel, und sie erbrach sich ein weiteres Mal, der guten Ordnung halber.