DER AUSTAUSCH VON ALBTRÄUMEN
Max Vandenburg versprach, nie mehr in Liesels Zimmer zu schlafen. Was hatte er sich an jenem ersten Abend bloß dabei gedacht? Allein die Vorstellung ließ ihn erschauern.
Er begründete sein Verhalten damit, dass er bei seiner Ankunft derart verwirrt war, dass er nicht darüber hatte nachdenken können. Soweit es ihn betraf, war der Keller der einzig geeignete Ort für ihn. In Kälte und Einsamkeit? Natürlich. Er war ein Jude, und wenn es einen Ort gab, an dem er existieren durfte, dann war es ein Keller oder ein ähnlich verborgenes Refugium, das ihm das Überleben sicherte.
»Es tut mir leid«, sagte er, auf der Kellertreppe stehend, zu Hans und Rosa. »Von nun an werde ich da unten bleiben. Sie werden mich nicht hören oder sehen. Ich werde keinen Lärm machen.«
Hans und Rosa, noch tief in ihrem Dilemma gefangen, widersprachen nicht, nicht einmal angesichts der eisigen Temperaturen im Keller. Sie brachten Decken hinunter und füllten das Kerosin in der Lampe nach. Rosa gestand ein, dass sie nicht viel zu essen hatten, woraufhin Max sie bat, ihm nur Reste zu bringen, und auch nur dann, wenn niemand anderes sie mehr haben wollte.
»Na, na«, wiegelte Rosa ab. »Ich werde Sie so gut füttern, wie ich eben kann.«
Sie zerrten auch die Matratze von dem zweiten Bett aus Liesels Zimmer in den Keller und brachten stattdessen einen Haufen Lumpen nach oben. Ein guter Tausch.
Hans und Max legten die Matratze hinter die Treppe und errichteten an der Seite eine Wand aus Lumpen, mit denen Hans bei seiner Arbeit immer die Zimmer auslegte, damit keine Farbspritzer auf den Boden tropften. Der Haufen war hoch genug, um den gesamten dreieckigen Zugangsbereich zu verdecken, und wenn Max mehr Luft brauchte, konnte er ihn leicht verschieben.
Papa entschuldigte sich. »Ziemlich erbärmlich, ich weiß.«
»Besser als nichts«, versicherte ihm Max. »Besser als alles, was mir zusteht … Vielen Dank.«
Nachdem er ein paar weitere Farbtöpfe und -eimer strategisch günstig positioniert hatte, war Hans der Meinung, dass man das Arrangement gut für eine Ansammlung von Gerümpel halten konnte, das man in der Ecke aufgehäuft hatte, damit es nicht im Weg war. Das einzige Problem war, dass irgendjemand lediglich ein paar Eimer wegstellen und ein oder zwei Lumpen wegnehmen musste, um den Juden dahinter zu entdecken.
»Hoffen wir, dass es reicht«, sagte er.
»Es muss reichen.« Max kroch hinein. Wieder sagte er: »Vielen Dank.«
Vielen Dank.
Für Max Vandenburg waren dies die beiden jämmerlichsten Worte, die er zu sagen imstande war, dichtauf gefolgt von Es tut mir leid. Er wurde permanent von dem Verlangen heimgesucht, das eine oder das andere auszusprechen, angefeuert von einem Übermaß an Schuldgefühl.
Wie oft in diesen ersten Stunden des Wachseins wäre er am liebsten aus dem Keller gelaufen, hätte das Haus am liebsten verlassen? Bestimmt hundert Mal.
Aber jedes Mal war es nur ein kurzes Aufflackern.
Was die Sache nur noch schlimmer machte.
Er wollte hinausgehen – mein Gott, er wollte es so sehr (zumindest wollte er es wollen) -, aber er wusste, er würde es nicht tun. Es war ganz ähnlich wie damals in Stuttgart, als er seine Familie verließ, unter dem Schleier der augenscheinlichen Loyalität.
Um zu leben.
Leben war Leben.
Der Preis dafür waren Schuld und Scham.
Während der ersten Tage, die Max im Keller verbrachte, hatte Liesel nichts mit ihm zu tun. Sie verleugnete seine Existenz. Sein raschelndes Haar, seine kalten, glitschigen Finger.
Sein gequältes Äußeres.
Mama und Papa.
Zwischen ihnen standen eine kaum zu ertragende Schwere und jede Menge nicht getroffener Entscheidungen.
Sie überlegten, ob sie ihn irgendwo anders hinbringen konnten.
»Aber wohin?«
Keine Antwort.
In dieser Situation waren sie freundlos und gelähmt. Max Vandenburg konnte sonst nirgends hin. Es war an ihnen. Hans und Rosa Hubermann. Liesel hatte nie erlebt, dass sie einander so viel ansahen, noch dazu mit derart feierlichen Blicken.
Sie waren es, die das Essen in den Keller brachten und dafür sorgten, dass Max einen leeren Farbeimer als Toilette benutzte. Den Inhalt des Eimers entsorgte Hans Hubermann so vorsichtig wie möglich. Rosa brachte Max auch ein paar Eimer mit heißem Wasser, damit er sich waschen konnte. Der Jude war schmutzig.
Jedes Mal, wenn Liesel das Haus verließ, erwartete sie draußen vor der Haustür ein Berg aus kalter Novemberluft.
Nieselregen kam spatenweise aus dem Himmel.
Totes Laub war auf der Erde zusammengesunken.
Schon bald war die Bücherdiebin an der Reihe, den Keller aufzusuchen. Sie mussten sie fast dazu zwingen.
Behutsam ging sie die Stufen hinab. Sie wusste, dass keine Worte nötig waren. Das Schaben ihrer Füße reichte aus, um ihn aufzuschrecken.
In der Mitte des Kellers blieb sie stehen und wartete. Sie fühlte sich, als würde sie mitten auf einem weiten, dunklen Feld stehen. Hinter der Garbe aus geernteten Lumpen ging die Sonne unter.
Max kam heraus, Mein Kampf in der Hand. Bei seiner Ankunft hatte er Hans angeboten, ihm das Buch zurückzugeben, aber der sagte ihm, er könne es behalten.
Natürlich konnte Liesel, die mit dem Essen zu ihm gekommen war, die Augen nicht von dem Buch lassen. Es war dasjenige, das sie schon ein paar Mal beim JM gesehen hatte, aber bislang war es während der Aktivitäten dort noch nie benutzt oder hinzugezogen worden. Von Zeit zu Zeit wurde seine Großartigkeit gerühmt, einhergehend mit dem Versprechen, dass in späteren Jahren noch die Gelegenheit bestünde, es ausgiebig zu studieren, wenn sie in den höheren Bund Deutscher Mädel aufgestiegen wären.
Max, der ihrem Blick folgte, betrachtete ebenfalls das Buch.
»Ist es?«, flüsterte sie.
In ihrer Stimme lag eine merkwürdige Strähne, abgezogen und zusammengerollt in ihrem Mund.
Der Jude schob lediglich seinen Kopf ein wenig näher an sie heran. »Wie bitte?«
Sie reichte ihm die Erbsensuppe und ging wieder hinauf, mit Röte auf den Wangen und Hitze im Gesicht und dem Gefühl, einen Narren aus sich gemacht zu haben.
»Ist es ein gutes Buch?«
Sie übte im Badezimmer, was sie hatte sagen wollen, sprach die Worte in den kleinen Spiegel hinein. Der Geruch von Urin hing immer noch an ihr, weil Max, kurz bevor sie nach unten gekommen war, den Farbeimer benutzt hatte. So ein Gestank, dachte sie.
Kein Urin riecht so gut wie der eigene.
Die Tage humpelten dahin.
Jeden Abend, bevor sie in den Schlaf sank, hörte sie Mama und Papa in der Küche darüber reden, was getan worden war, was sie gerade taten und was sie als Nächstes zu tun gedachten. Die ganze Zeit über stand das Bild von Max vor ihrem geistigen Auge. Es waren immer die verletzte, dankbare Miene und die sumpfigen Augen.
Nur ein Mal kam es in der Küche zu einem Ausbruch.
Papa.
»Ich weiß!«
Seine Stimme war barsch, aber er zügelte sie rasch zu einem gedämpften Flüstern.
»Ich muss weiter hingehen, wenigstens ein paar Mal in der Woche. Ich kann nicht die ganze Zeit hier sein. Wir brauchen das Geld, und wenn ich aufhöre zu spielen, werden sie misstrauisch. Möglicherweise wundern sie sich, warum ich nicht mehr komme. Letzte Woche habe ich gesagt, du wärst krank, aber jetzt müssen wir wieder so weitermachen wie bisher.«
Dort lag das Problem.
Ihr Leben hatte sich grundlegend verändert, aber es war unabdingbar, dass sie taten, als wäre gar nichts geschehen.
Stellt euch vor, ihr würdet lächeln, nachdem euch jemand ins Gesicht geschlagen hat. Dann stellt euch vor, ihr müsstet das den ganzen Tag lang tun, vierundzwanzig Stunden lang, Tag für Tag.
So war es, wenn man einen Juden versteckte.
Die Tage verwandelten sich in Wochen, und es herrschte inzwischen eine niedergedrückte Akzeptanz dessen, was passiert war – das Ergebnis einer Addition aus Krieg, einem Mann, der sein Versprechen hielt, und einem Akkordeon. Zudem hatten die Hubermanns im Verlauf eines halben Jahres einen Sohn verloren und dafür einen Ersatz bekommen, der sie in eine unermesslich bedrohliche Lage gebracht hatte.
Was Liesel am meisten erschreckte, war die Wandlung, die mit Mama vonstattenging. Ob es die berechnende Art war, wie sie das Essen aufteilte, ihr einigermaßen gemäßigtes Mundwerk oder die Sanftheit, die sich auf ihrem Pappegesicht breitmachte – eines war klar:
EINE EIGENSCHAFT VON ROSA HUBERMANN
Sie war eine Frau, die einer Krise gewachsen war.
Selbst als die arthritische Helena Schmidt den Auftrag für das Waschen und Bügeln stornierte, etwa einen Monat nach Max’ Auftauchen in der Himmelstraße, setzte sie sich einfach an den Tisch und zog den Teller zu sich. »Die Suppe ist gut heute Abend.«
Die Suppe war schrecklich.
Jeden Morgen, wenn sich Liesel auf den Schulweg machte, oder an den Tagen, an denen sie zum Fußballspielen hinausging oder die spärlich gewordenen Wäschekunden abklapperte, nahm Rosa sie beiseite. »Und denk dran, Liesel …« Sie legte den Finger an den Mund, mehr nicht. Wenn Liesel nickte, sagte sie: »Gutes Mädchen. Und jetzt ab mit dir, Saumensch.«
Sie machte Papa und jetzt auch Mama Ehre: Sie war ein gutes Mädchen. Sie hielt den Mund, wohin sie auch ging. Das Geheimnis lag tief in ihr vergraben.
Sie ging mit Rudi durch die Stadt wie immer und hörte sich sein Geplapper an. Manchmal verglichen sie Erlebnisse aus ihren jeweiligen Hitlerjugend-Einheiten. Rudi erwähnte zum ersten Mal einen sadistischen Anführer namens Franz Deutscher. Von da an sprach er oft über Deutschers Gemeinheiten; ansonsten redete er fast nur noch über Fußball und erging sich in endlosen Beschreibungen des jüngsten Tors, das er im Stadion in der Himmelstraße geschossen hatte.
»Ich weiß«, versicherte ihm Liesel dann. »Ich war dabei.«
»Na und?«
»Ich hab’s gesehen, Saukerl.«
»Woher soll ich das wissen? Du hättest genauso gut auf dem Boden liegen und den Dreck schlucken können, den ich gerade aufgewirbelt hatte, als ich das Tor schoss.«
Vielleicht war es Rudi mit seinem dummen Gerede, seinem zitronensaftigen Haar und seiner Unverschämtheit, der sie am Boden hielt, der ihr half, nicht durchzudrehen.
Er strahlte eine Art von Urvertrauen aus, dass das Leben nur ein Spaß war – eine endlose Abfolge von Fußballspielen, Schwindeleien und einem unerschöpflichen Repertoire an sinnlosem Geschnatter.
Und da war auch noch die Frau des Bürgermeisters und die Zeiten, in denen Liesel in der Bibliothek saß und las. Es war jetzt kalt dort, wurde bei jedem Besuch kälter, und doch konnte Liesel nicht fernbleiben. Sie suchte sich jedes Mal eine Handvoll Bücher aus und las in jedem kurze Abschnitte, bis sie eines Nachmittags ein Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte. Es hieß Der Pfeifer.
Sie fühlte sich gleich von dem Buch angezogen, weil es sie an die gelegentlichen Begegnungen mit Pfiffikus in der Himmelstraße erinnerte. Sie hatte sein Bild im Kopf, wie er in seinem Mantel gebückt durch die Straße ging und wie er ihr beim Freudenfeuer an Hitlers Geburtstag erschienen war.
Das erste Ereignis in dem Buch war ein Mord. Jemand wurde erstochen. In einer Straße in Wien. Nicht weit vom Stephansdom entfernt.
EIN KURZER AUSZUG AUS DER PFEIFER
Sie lag da, furchtsam, in einer Lache aus Blut. Eine seltsame
Melodie sang in ihrem Ohr. Sie erinnerte sich an das
Messer, rein und raus, und an ein Lächeln. Wie immer hatte
der Pfeifer gelächelt, als er davongerannt war, in eine
dunkle und mörderische Nacht...
Liesel war sich nicht sicher, ob die Worte oder das offene Fenster der Grund dafür waren, dass sie schauderte. Jedes Mal, wenn sie Wäsche im Haus des Bürgermeisters abholte oder sie hinbrachte, las sie zitternd drei Seiten, länger ertrug sie es nicht.
Max Vandenburg ging es ähnlich. Auch er konnte den Keller nicht mehr viel länger ertragen. Er beklagte sich nicht – dazu hatte er nicht das Recht -, aber er fühlte, wie er langsam in der Kälte verrottete. Wie sich herausstellte, sollte er seine Rettung dem Lesen und Schreiben verdanken und einem Buch mit dem Titel Das Schulterzucken.
»Liesel«, sagte Hans eines Abends, »komm mit.«
Max’ Ankunft hatte die Leseübungen von Liesel und ihrem Papa unterbrochen. Hans Hubermann war der Meinung, dass es Zeit sei, damit fortzufahren. »Na komm«, sagte er zu ihr. »Ich will nicht, dass du alles wieder vergisst. Geh, hol eines deiner Bücher. Wie wär’s mit dem Schulterzucken?«
Als sie mit dem Buch in der Hand zurückkehrte, bedeutete Papa ihr zu ihrer Entgeisterung, ihm in ihr altes Arbeitszimmer zu folgen. In den Keller.
»Aber Papa«, versuchte sie einzuwenden. »Wir können doch nicht...«
»Warum nicht? Hockt da unten ein Ungeheuer?«
Es war früh im Dezember, und der Tag war eiskalt gewesen. Der Keller wurde mit jedem Schritt auf den Zementstufen unfreundlicher.
»Es ist zu kalt, Papa.«
»Das hat dich früher doch auch nicht gestört.«
»Aber so kalt war es früher nicht …«
Als sie unten angekommen waren, fragte Papa Max leise: »Können wir uns bitte die Lampe ausborgen?«
Mit klammen Händen wurden die Tücher und Farbeimer zur Seite gerückt und das Licht hinausgereicht. Hans schaute in die Kerosinflamme und schüttelte den Kopf. Dann ließ er Worte folgen: »Es ist ja Wahnsinn, nicht wahr?« Ehe die Hände von innen die Lumpen wieder zurechtrücken konnten, ergriff Hans eine davon. »Bitte, kommen Sie auch, Max. Bitte.«
Da wurden die Lumpen langsam beiseitegedrückt, und Max Vandenburg erschien, Körper und Gesicht bleich und ausgemergelt. In dem feuchten Licht stand er mit widerstrebendem Unbehagen da. Er zitterte.
Hans nahm seinen Arm, um ihn näher zu ziehen.
»Jesus, Maria und Josef. Sie können nicht hier unten bleiben. Sie erfrieren uns ja.« Er drehte sich um. »Liesel, mach die Badewanne voll. Nicht zu heiß! Nur handwarm.«
Liesel rannte hinauf.
»Jesus, Maria und Josef.«
Noch als sie im Flur ankam.
Liesel lauschte an der Tür zum Badezimmer. Max hockte in der winzigen Wanne, und Liesel stellte sich vor, wie das lauwarme Wasser sich in Dampf verwandelte, während es den Eisberg schmolz, zu dem sein Körper geworden war. Mama und Papa befanden sich im Wohnzimmer, auf dem Höhepunkt einer Debatte. Ihre leisen Stimmen verfingen sich in der Wand zum Flur.
»Er stirbt da unten, ich schwör’s dir.«
»Aber was ist, wenn ihn jemand sieht?«
»Nein, nein, er kommt nur nachts nach oben. Tagsüber lassen wir alles auf – wir haben nichts zu verbergen. Und wir halten uns hier in diesem Zimmer auf, nicht mehr so oft in der Küche. Es ist besser, von der Tür wegzubleiben.«
Stille.
Dann Mama: »Also schön... Ja, du hast recht.«
»Wenn wir es schon mit einem Juden riskieren«, sagte Papa kurz darauf, »soll es wenigstens ein lebendiger sein.« Von diesem Moment an war eine neue Routine geboren.
Jeden Abend wurde in Mamas und Papas Zimmer das Feuer angezündet, und Max kam still und leise aus dem Keller herauf. Er saß in der Ecke, verkrampft und verunsichert durch die Freundlichkeit der Menschen, die Qual des Überlebens und vor allem durch die Großartigkeit der Wärme.
Die Vorhänge waren stets sorgfältig zugezogen. Er schlief auf dem Boden. Unter seinem Kopf lag ein Kissen. Das Feuer sank nieder und wandelte sich zu Asche.
Am Morgen kehrte er in den Keller zurück.
Ein stimmenloser Mensch.
Die jüdische Ratte kroch wieder in ihr Loch.
Weihnachten kam und ging, begleitet von dem Geruch von gesteigerter Gefahr. Wie erwartet, kam Hans junior nicht nach Hause (sowohl ein Segen als auch eine beunruhigende Enttäuschung), aber Trudi besuchte sie, wie immer. Glücklicherweise ging alles glatt.
Max blieb im Keller.
Trudi kam und ging wieder, ohne irgendetwas bemerkt zu haben.
Sie hatten beschlossen, dass Trudi, trotz ihrer Sanftmut, nicht ins Vertrauen gezogen werden durfte.
»Wir dürfen nur die einweihen, die unbedingt nötig sind«, sagte Papa. »Und das sind wir drei und sonst niemand.«
Max bekam eine Extraportion Essen und eine Entschuldigung, da Weihnachten ja nicht zu seiner Religion gehörte, ein Weihnachtsessen aber immerhin Tradition im Hause Hubermann war.
Max beklagte sich nicht.
Welchen Grund hätte er auch haben können?
Er erklärte, dass er zwar jüdischen Blutes sei und als Jude aufgewachsen, dass das Judentum aber heutzutage mehr als je zuvor ein Etikett war – ein verhängnisvolles Schild, an dem Pech klebte.
Bei dieser Gelegenheit teilte er den Hubermanns auch sein Bedauern mit, dass ihr Sohn nicht nach Hause gekommen war. Als Antwort meinte Papa, dass sich diese Dinge ihrer Kontrolle entzögen. »Das müssen Sie doch am besten wissen«, sagte er zu Max. »Sie sind doch ein junger Mann, und ein junger Mann ist immer noch ein Kind, und ein Kind hat das Recht, ab und zu dickköpfig zu sein.«
Sie beließen es dabei.
In den ersten Wochen vor dem Kamin blieb Max wortlos. Jetzt da er einmal in der Woche ein Bad nahm, bemerkte Liesel, dass seine Haare gar kein Geäst waren, sondern mehr ein Nest aus Federn, die um seinen Kopf flogen. Sie fühlte dem Fremden gegenüber immer noch eine gewisse Scheu und flüsterte Papa zu: »Seine Haare sind wie Federn.«
»Was?« Das Knistern des Feuers hatte ihre Worte geschluckt.
»Ich sagte«, flüsterte sie noch einmal und beugte sich näher, »dass seine Haare wie Federn sind …«
Hans Hubermann schaute auf und nickte. Ich bin sicher, er wünschte sich, die Augen des Mädchens zu haben. Sie waren sich nicht bewusst, dass Max alles gehört hatte.
Gelegentlich brachte er seine Ausgabe von Mein Kampf mit und las im Schein der Flammen. Er kochte angesichts des Inhalts. Das dritte Mal, als er es dabeihatte, fand Liesel den Mut, ihre Frage zu stellen.
»Ist es … gut?«
Er schaute von den Seiten auf, ballte seine Hand zur Faust und öffnete sie dann wieder. Er fegte den Zorn beiseite und lächelte sie an. Dann hob er die fedrigen Haarfransen und strich sie dann in Richtung seiner Augen glatt. »Es ist das beste Buch überhaupt.« Er blickte erst Papa an und dann Liesel. »Es hat mir das Leben gerettet.«
Das Mädchen rückte ein wenig näher und schlug die Beine zum Schneidersitz übereinander. Leise fragte sie:
»Wie?«
Und so fing das Geschichtenerzählen im Wohnzimmer an. Jeden Abend fand es statt, gerade so laut, dass die Anwesenden die Worte verstehen konnten. Vor ihnen allen wurden die Teile des Puzzles zusammengesetzt. Das Bild ergab das Leben eines jüdischen Straßenboxers.
Manchmal lag Humor in Max Vandenburgs Stimme, obwohl ihr Klangkörper beinahe nur aus Reibung bestand, wie ein Stein, der langsam über einen Felsbrocken geschoben wird. Manchmal war sie tief, und manchmal kratzte sie; manchmal brach sie entzwei. In Momenten der Reue klang sie unterirdisch und am Ende eines Scherzes oder in Augenblicken von Selbstverachtung zersplittert.
»Herr Jesus« war der häufigste Kommentar zu Max Vandenburgs Erzählung, meist gefolgt von einer Frage.
FRAGEN WIE DIESE
Wie lange waren Sie in der Vorratskammer?
Wo ist Walter Kugler jetzt?
Wissen Sie, was mit Ihrer Familie passiert ist?
Wohin ist die schnarchende Frau gefahren?
Sie haben tatsächlich nur drei von dreizehn Kämpfen gegen
Walter gewonnen?
Warum haben Sie immer wieder gegen ihn geboxt?
Als Liesel später auf ihr Leben zurückblickte, erschienen ihr diese Nächte im Wohnzimmer am deutlichsten im Gedächtnis. Sie sah noch das brennende Licht auf Max’ Eierschalengesicht vor sich und konnte sogar den menschlichen Geschmack seiner Worte auf der Zunge spüren. Die Chronologie seines Überlebens wurde Stück für Stück berichtet, als würde er jeden Teil davon aus sich herausschneiden und ihr auf einem Teller überreichen.
»Ich bin so selbstsüchtig.«
Als er das sagte, bedeckte er mit dem Unterarm sein Gesicht. »Ich lasse meine Lieben zurück. Ich komme hierher. Ich bringe alle in Gefahr …« Er ließ alles aus sich herausfallen und fing an zu flehen. Trauer und Verzweiflung waren ihm ins Gesicht genagelt. »Es tut mir leid. Bitte glauben Sie mir. Es tut mir so leid, so leid. Es tut mir …«
Sein Arm berührte das Feuer, und er zuckte zurück.
Sie alle betrachteten ihn schweigend. Dann stand Papa auf und ging zu ihm. Er setzte sich neben ihn.
»Haben Sie sich den Ellbogen verbrannt?«
Eines Abends saßen Hans, Max und Liesel vor dem Kamin. Mama war in der Küche. Max las wieder in Mein Kampf.
»Wissen Sie was?«, sagte Hans. Er beugte sich näher ans Feuer. »Liesel kann übrigens auch ganz gut lesen.« Max senkte das Buch. »Und sie hat noch mehr mit Ihnen gemein.« Papa schaute zur Tür, ob Rosa nicht zufällig gerade hereinkam. »Sie prügelt sich auch ab und zu ganz gerne.«
»Papa!«
Liesel, nur noch kurze Zeit elf Jahre alt und immer noch hager und schlaksig, wie sie da an die Wand gelehnt saß, war empört. »Ich habe mich noch nie geprügelt!«
»Pst!« Papa lachte. Er bedeutete ihr, ihre Stimme zu dämpfen. Diesmal neigte er sich dem Mädchen zu. »Und was ist mit der Abreibung, die du Ludwig Schmeikl verpasst hast, hm?«
»Ich habe niemals...« Sie war entlarvt. Weiteres Leugnen war zwecklos. »Woher weißt du das?«
»Ich habe seinen Papa im ›Knoller‹ getroffen.«
Liesel hielt ihr Gesicht in den Händen. Dann schaute sie auf und stellte die Schlüsselfrage: »Hast du Mama davon erzählt?«
»Machst du Witze?« Er zwinkerte Max zu und flüsterte dann dem Mädchen zu: »Du bist doch noch am Leben, oder?«
In dieser Nacht spielte Papa zum ersten Mal seit Monaten wieder zu Hause Akkordeon. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis er Max eine Frage stellte:
»Haben Sie spielen gelernt?«
Das Gesicht in der Ecke war den Flammen zugewandt. »Ja.« Eine Weile herrschte Schweigen. »Bis ich neun war. Dann verkaufte meine Mutter die Musikschule und hörte auf zu unterrichten. Sie behielt ein einziges Instrument, aber als ich mich weigerte zu lernen, gab sie es auf. Ich war ein Narr.«
»Nein«, sagte Papa. »Sie waren ein Kind.«
In den Nächten gingen Liesel Meminger und Max Vandenburg ihren sich gleichenden Gewohnheiten nach. In getrennten Räumen hatten sie ihre Albträume und wachten auf, sie mit einem Schrei in ertrinkenden Laken, er neben einem rauchenden Feuer, um Luft ringend.
Manchmal, wenn Liesel bis drei Uhr morgens mit Papa las, erlebten sie Max’ erwachende Momente. »Er träumt wie du«, sagte Papa dann, und ein Mal, als sie Max’ angstvolle Nachtgeräusche hörte, entschloss sich Liesel aufzustehen. Anhand seiner Erzählungen hatte sie eine ziemlich gute Vorstellung davon, was er in seinen Träumen sah, wenn auch nicht den genauen Teil der Geschichte, der ihm jede Nacht einen Besuch abstattete.
Leise ging sie durch den Flur und ins Wohnzimmer.
»Max?«
Das Flüstern war sanft, bewölkt in einer Kehle aus Schlaf.
Am Anfang kam keine Reaktion, aber kurz darauf richtete er sich auf und blickte suchend in die Dunkelheit.
Papa schlief noch in ihrem Zimmer, und Liesel setzte sich Max gegenüber ans andere Ende des Kamins. Hinter ihnen schlief Mama geräuschvoll. Sie stand der Schnarcherin aus dem Zug in nichts nach.
Das Feuer war nur noch ein ersterbendes Häuflein aus Rauch und toter Asche. In dieser besonderen Nacht trafen sich zwei Stimmen.
DER AUSTAUSCH VON ALBTRÄUMEN
Das Mädchen: »Erzählen Sie mir: Was sehen Sie, wenn Sie
träumen?«
Der Jude: »Ich sehe mich selbst, wie ich mich umdrehe
und zum Abschied winke.«
Das Mädchen: »Ich habe auch Albträume.«
Der Jude: »Was siehst du?«
Das Mädchen: »Einen Zug und meinen toten Bruder.«
Der Jude: »Deinen Bruder?«
Das Mädchen: »Er starb auf der Fahrt hierher.«
Das Mädchen und der Jude, im Chor: »Ja.«
Es wäre schön, wenn man behaupten könnte, dass nach diesem kleinen Durchbruch weder Liesel noch Max länger von ihren bösen Träumen geplagt wurden. Es wäre schön, aber nicht die Wahrheit. Die Albträume traten vor, wie sie es immer taten, wie der beste Mann der gegnerischen Mannschaft, nachdem man Gerüchte gehört hat, er wäre krank oder verletzt – aber da kommt er und wärmt sich mit seiner Mannschaft auf, bereit, das Spielfeld zu erobern. Oder wie ein Zug, der pünktlich auf einem nächtlichen Gleis einfährt und die Erinnerungen an einem Seil hinter sich herzieht. Ein Bündel voller Erinnerungen. Ein Bündel, das auf und nieder hüpft.
Eine Veränderung gab es doch: Liesel eröffnete ihrem Papa, dass sie nun alt genug war, um allein mit ihren Albträumen fertig zu werden. Eine Sekunde lang wirkte er gekränkt, aber wie immer fand er auch diesmal die richtigen Worte.
»Na, Gott sei Dank.« Er grinste schief. »Wenigstens bekomme ich jetzt wieder etwas mehr Schlaf. Der Stuhl hätte mich beinahe umgebracht.« Er legte den Arm um das Mädchen, und gemeinsam gingen sie in die Küche.
Mit der Zeit entwickelte sich eine klare Trennlinie zwischen zwei sehr unterschiedlichen Welten – der Welt innerhalb der Himmelstraße 33 und der Welt, die sich vor der Haustür weiterdrehte. Die Kunst bestand darin, beide auseinanderzuhalten.
Liesel lernte, sich die Außenwelt auf völlig neue Art und Weise nutzbar zu machen. Eines Nachmittags, als sie mit dem leeren Wäschesack heimlief, bemerkte sie eine Zeitung, die aus einem Mülleimer ragte. Es war eine Ausgabe des Molchinger Abendblatts. Sie zog sie heraus und nahm sie mit. Zu Hause gab sie die Zeitung Max. »Ich dachte«, sagte sie, »Sie würden vielleicht gerne das Kreuzworträtsel lösen, um sich die Zeit zu vertreiben.«
Max war dankbar für diese Geste, und um sich der Mühe wert zu erweisen, las er die Zeitung von vorne bis hinten durch und zeigte ihr ein paar Stunden später das Kreuzworträtsel, das er bis auf ein Wort gemeistert hatte.
»Siebzehn senkrecht«, sagte er. »Ich krieg’s einfach nicht raus.«
Im Februar 1941 bekam Liesel zu ihrem zwölften Geburtstag ein weiteres gebrauchtes Buch, worüber sie sich sehr freute. Es hieß Die Menschen aus Lehm und handelte von einem sonderbaren Vater und seinem ebenso sonderbaren Sohn. Sie umarmte Mama und Papa, während Max unbehaglich in der Ecke stand.
»Alles Gute zum Geburtstag.« Er lächelte schwach. Seine Hände waren in den Hosentaschen vergraben. »Ich wusste nicht, wann du Geburtstag hast, sonst hätte ich dir etwas geschenkt.« Eine glatte Lüge – er hatte nichts zu verschenken, außer vielleicht Mein Kampf, und eine derartige Propagandaschrift hätte er unter keinen Umständen einem jungen deutschen Mädchen in die Hand gegeben. Das wäre, als ob ein Lamm seinem Schlächter das Messer reichte.
Eine ungemütliche Stille folgte.
Sie hatte Mama und Papa umarmt.
Max sah so einsam aus.
Liesel schluckte.
Und sie ging zu ihm und umarmte ihn zum ersten Mal. »Danke, Max.«
Zuerst stand er einfach nur da, aber als sie ihn festhielt, hoben sich allmählich seine Hände und legten sich sanft auf ihre Schulterblätter.
Erst später sollte sie von dem hilflosen Ausdruck auf Max Vandenburgs Gesicht erfahren. Sie sollte ebenfalls herausfinden, dass er in diesem Moment beschloss, ihr etwas zurückzugeben. Ich stelle mir oft vor, wie er die ganze Nacht wach lag und überlegte, was er ihr wohl schenken könnte.
Das Geschenk wurde auf Papier gefertigt und eine Woche später überreicht.
Er brachte es ihr in den frühen Morgenstunden und kehrte dann die Zementstufen hinab in sein Refugium zurück, das er mittlerweile als Zuhause bezeichnete.