DER IDIOT UND DIE MANTELMÄNNER
In der Nacht nach dem Marsch der Juden saß der Idiot in der Küche, trank bittere Schlucke von Frau Holzingers Kaffee und sehnte sich nach einer Zigarette. Er wartete auf die Gestapo, die Soldaten, die Polizei – auf irgendjemanden, der ihn abholen würde, so wie er es zu verdienen glaubte. Rosa befahl ihm, zu Bett zu kommen. Das Mädchen lungerte im Türrahmen herum. Er schickte sie beide weg und verbrachte die Stunden bis zum Morgen mit dem Kopf in den Händen. Wartend.
Niemand kam.
Jede Zeitspanne brachte die Erwartung der Klopfgeräusche und der drohenden Worte mit sich.
Aber sie kamen nicht.
Das einzige Geräusch machte er selbst.
»Was habe ich getan?«, fragte er wieder, flüsternd.
»Lieber Gott, was gäbe ich nicht für eine Zigarette«, antwortete er sich selbst. Er war völlig erledigt.
Liesel hörte die sich wiederholenden Sätze, mehrere Male, und es kostete sie viel Überwindung, im Türrahmen stehen zu bleiben. Sie hätte ihn so gern getröstet, aber sie hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so am Boden zerstört war. In dieser Nacht gab es keinen Trost. Max war weg, und Hans Hubermann trug die Verantwortung dafür.
Die Küchenschränke hatten die Form von Schuld, und in seinen Handflächen klebte ölig die Erinnerung an das, was er getan hatte. Sie müssen ja schwitzig sein, dachte Liesel, wenn meine eigenen schon bis zu den Handgelenken nass sind.
Zurück in ihrem Zimmer betete sie.
Hände, Knie, Unterarme gegen die Matratze gelehnt.
»Bitte, Gott, lass Max überleben. Bitte, Gott, bitte...«
Ihre leidenden Knie.
Ihre schmerzenden Füße.
Mit dem ersten Licht des Tages wachte sie auf und ging wieder in die Küche. Papa schlief mit dem Kopf auf der Tischplatte. In einem Mundwinkel hatte sich etwas Speichel angesammelt. Der Geruch nach Kaffee war überwältigend, und das Bild von Hans Hubermanns dummer Freundlichkeit hing immer noch in der Luft. Es war wie eine Zahl oder eine Adresse. Wenn man sie ein paar Mal wiederholt, bekommt man sie nicht mehr aus dem Kopf.
Ihr erster Versuch, ihn zu wecken, blieb ungespürt, aber als sie ein zweites Mal an seiner Schulter rüttelte, schoss sein Kopf erschrocken in die Höhe.
»Sind sie da?«
»Nein, Papa, ich bin’s nur.«
Er trank den abgestandenen Kaffee aus. Sein Adamsapfel hob und senkte sich. »Sie hätten schon längst hier sein sollen. Warum sind sie noch nicht da, Liesel?«
Es war eine Beleidigung.
Sie hätten kommen und das Haus auf den Kopf stellen sollen, hätten nach Beweisen für seine Judenfreundlichkeit oder seine verräterischen Absichten suchen sollen, aber es sah ganz so aus, als wäre Max völlig umsonst gegangen. Er könnte jetzt schlafend im Keller liegen oder an seinem Skizzenbuch arbeiten.
»Du konntest nicht wissen, dass sie nicht kommen würden, Papa.«
»Ich hätte wissen müssen, dass ich dem Mann kein Brot geben durfte. Ich habe einfach nicht nachgedacht.«
»Papa, du hast nichts falsch gemacht.«
»Das glaube ich dir nicht.«
Er stand auf und ging zur Küchentür hinaus, ließ sie einen Spalt offen. Zu allem Überfluss war es ein herrlicher Morgen.
Nachdem vier Tage vergangen waren, ging Papa an der Amper entlang. Er ging eine lange Strecke. Als er zurückkam, brachte er einen kleinen Zettel mit und legte ihn auf den Küchentisch.
Eine weitere Woche verging, und immer noch wartete Hans Hubermann auf seine Bestrafung. Die Striemen auf seinem Rücken vernarbten, und er verbrachte viel Zeit damit, durch Molching zu laufen. Frau Lindner spuckte ihm vor die Füße. Frau Holzinger hielt ihr Versprechen und spuckte die Tür der Hubermanns nicht mehr an. Frau Lindner war ein würdiger Ersatz. »Ich wusste es«, verhöhnte ihn die Frau, »Sie dreckiger Judenfreund.«
Unbeteiligt ging er weiter. Oft fand Liesel ihn an der Amper, auf der Brücke. Seine Arme lagen auf dem Geländer, und er beugte seinen Oberkörper darüber hinweg. Kinder auf Fahrrädern sausten an ihm vorbei, oder sie rannten mit lauten Stimmen über das Holz. Nichts von alledem berührte ihn auch nur im Mindesten.
DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH – ACHTER EINTRAG
Trauer: seelischer Schmerz über ein Unglück oder
einen Verlust.
Synonyme: Schwermut, Wehmut.
»Siehst du ihn?«, fragte er Liesel eines Nachmittags, als sie neben ihm stand und sich ebenfalls über das Geländer beugte. »Da unten im Wasser.«
Der Fluss strömte nicht besonders schnell. In den langsam rollenden Wellen sah Liesel die Kontur von Max Vandenburgs Gesicht, sah sein fedriges Haar und den Rest von ihm. »Er hat in unserem Keller gegen den Führer geboxt.«
»Jesus, Maria und Josef.« Papas Hände krampften sich um das Geländer. »Ich bin so ein Idiot.«
Nein, Papa.
Du bist nur ein Mensch.
Die Worte fielen ihr über ein Jahr später ein, als sie im Keller schrieb.
Sie wünschte, sie hätte sie damals schon gehabt.
»Ich bin dumm«, sagte Hans Hubermann zu seiner Pflegetochter. »Und ich bin freundlich. Was mich zum größten Idioten der ganzen Welt macht. Die Sache ist die: Ich will, dass sie mich holen kommen. Alles ist besser als diese Warterei.«
Hans Hubermann brauchte eine Rechtfertigung. Er musste Gewissheit haben, dass Max Vandenburg sein Haus aus gutem Grund verlassen hatte.
Endlich, nach drei Wochen des Wartens, glaubte er seinen Moment gekommen.
Es war spät.
Liesel kehrte von Frau Holzinger zurück, als sie zwei Männer in langen schwarzen Mänteln sah. Sie rannte ins Haus.
»Papa! Papa!« Sie hätte beinahe den Küchentisch umgeworfen. »Papa, sie sind hier!«
Mama kam zuerst. »Was soll dieses Geschrei, Saumensch? Wer ist hier?«
»Die Gestapo.«
»Hansi!«
Er war schon da, und er ging vor das Haus, um sie zu begrüßen. Liesel wollte mitkommen, aber Rosa hielt sie zurück, und die beiden schauten durchs Fenster zu.
Papa stand abmarschbereit am Tor. Er war ganz zappelig.
Mama packte Liesel am Arm.
Die Männer gingen vorbei.
Papa schaute erschrocken zum Fenster, wo Liesel und Rosa Hubermann standen. Dann ging er zum Tor hinaus. Er rief ihnen nach: »He! Hier bin ich! Sie suchen doch mich! Ich wohne hier!«
Die Mantelmänner blieben einen Moment lang stehen und schauten in ihren Notizbüchern nach. »Nein, nein«, sagten sie zu Hans. Ihre Stimmen waren tief und wuchtig. »Sie sind ein bisschen zu alt für unsere Zwecke.«
Sie gingen weiter, aber nicht sehr weit. Vor Haus Nummer 35 blieben sie kurz stehen und traten dann durch das Tor.
»Frau Steiner?«, fragten sie, als ihnen die Tür geöffnet wurde.
»Ja?«
»Wir möchten gerne mit Ihnen über eine wichtige Angelegenheit sprechen.«
Die Mantelmänner standen wie bekleidete Steinsäulen auf der Schwelle zu Steiners kleinem Häuschen.
Aus irgendeinem Grund fragten sie nach dem Jungen.
Die Mantelmänner waren wegen Rudi gekommen.