DER BESUCHER

In der Himmelstraße war ein neuer Fußball gefunden worden. Das war die gute Neuigkeit. Beunruhigender war, dass eine Einheit der NSDAP auf sie zukam.

Die Männer waren durch alle Straßen Molchings gelaufen, an allen Häusern vorbei, und jetzt standen sie vor Frau Lindners Eckladen und rauchten eine Zigarette, bevor sie mit ihrer Arbeit fortfuhren.

Es gab bereits vereinzelte Luftschutzräume in Molching, aber kurz nach der Bombardierung von Köln hatte man überlegt, dass ein paar mehr nicht schaden konnten. Die NSDAP besuchte jedes einzelne Haus, um nachzuschauen, ob der Keller geeignet war.

Aus der Ferne schauten die Kinder zu.

Sie sahen Rauch aus der Meute aufsteigen.

Liesel war gerade erst herausgekommen und ging nun zu Rudi und Tommi. Harald Mollenhauer tänzelte mit dem Ball.

»Was ist hier los?«

Rudi steckte die Hände in die Taschen. »Die Partei.« Er schaute zu, wie sein Freund mitsamt dem Ball in der Hecke von Frau Holzinger verschwand. »Sie überprüfen alle Häuser.«

Trockenheit breitete sich in Liesels Mund aus. »Warum?«

»Hast du denn von nichts eine Ahnung? Sag’s ihr, Tommi.«

Tommi war perplex. »Na, ich weiß es doch auch nicht.«

»Ihr seid mir ja zwei Versager! Sie brauchen mehr Luftschutzräume.«

»Was – Keller?«

»Nein, Dachböden. Natürlich Keller! Herrgott, Liesel, du bist ja wirklich schwer von Begriff.«

Der Ball war wieder da.

»Rudi!«

Er nahm ihn an und dribbelte, während Liesel stehen blieb. Wie konnte sie wieder ins Haus kommen, ohne sich verdächtig zu machen? Der Rauch vor Frau Lindners Laden löste sich auf und die kleine Gruppe von Männern ebenso. Panik griff in vertrauter Weise um sich. Kehle und Mund. Luft wurde zu Sand. Denk nach, dachte sie. Mach schon, Liesel, denk nach, denk nach.

Rudi schoss ein Tor.

Stimmen aus weiter Ferne jubelten.

Denk nach, Liesel.

Dann hatte sie es.

Das ist es, dachte sie. Aber es muss echt aussehen.


Die Nazis näherten sich und malten an einige Türen die Buchstaben »LSR«. Der Ball flog in einem Pass durch die Luft zu einem der größeren Jungen, Klaus Behrig.




LSR


Luftschutzraum


Der Junge drehte sich mit dem Ball herum, gerade als Liesel ihn erreichte, und sie stießen mit solcher Wucht zusammen, dass das Spiel unterbrochen wurde. Der Ball rollte davon, und Spieler liefen herbei. Liesel hielt sich mit einer Hand ihr aufgeschürftes Knie und mit der anderen ihren Kopf. Klaus Behrig hielt sich lediglich das rechte Schienbein und schnitt eine Grimasse. Er fluchte. »Wo ist sie?«, stieß er hervor. »Ich bring sie um.«

Aber dazu kam es nicht.

Es kam schlimmer.

Ein freundliches Parteimitglied hatte den Vorfall mit angesehen und kam pflichteifrig herbeigetrabt. »Was ist hier passiert?«, fragte er.

»Das ist eine Irre!«, erklärte Klaus und deutete auf Liesel, woraufhin der Mann ihr aufhalf. Sein Tabakatem bildete einen geräucherten Hügel vor ihrem Gesicht.

»Ich glaube nicht, dass du in diesem Zustand weiterspielen kannst, Mädchen«, sagte er. »Wo wohnst du?«

»Mir geht’s gut!«, antwortete sie. »Wirklich, ich schaffe das schon allein.« Lass mich in Ruhe, lass mich bloß in Ruhe!

In diesem Moment trat Rudi vor, der ewige Vortreter. »Ich bring dich nach Hause«, sagte er. Warum konnte er sich nicht wenigstens dieses eine Mal um seine eigenen Angelegenheiten kümmern?

»Wirklich«, sagte Liesel, »spiel ruhig weiter, Rudi. Ich schaffe das schon.«

»Nein, nein.« Er ließ sich nicht beirren. Diese Sturheit! »Es dauert doch nur zwei, drei Minuten.«

Wieder musste sie nachdenken, und wieder konnte sie es. Als Rudi sie stützen wollte, ließ sie sich erneut zu Boden fallen, diesmal auf den Rücken. »Mein Papa«, krächzte sie. Der Himmel, so sah sie, war gänzlich blau. Nicht einmal der Hauch einer Wolke. »Holst du bitte meinen Papa, Rudi?«

»Bleib hier.« Seine Stimme erklang rechts von ihr. »Tommi, pass auf sie auf, ja? Sorg dafür, dass sie sich nicht bewegt.«

Tommi stand stramm. »Klar, Rudi.« Er stand über ihr, zuckend und verzweifelt bemüht, nicht zu lächeln. Liesel behielt den Nazi im Auge.

Eine Minute später stand Hans Hubermann über ihr. Er war die Ruhe selbst.

»Papa.«

Ein trauriges Lächeln bemächtigte sich seiner Lippen. »Na, das musste ja eines Tages passieren.«

Er hob sie auf und brachte sie nach Hause. Das Spiel ging weiter, und der Nazi hatte schon die Tür einige wenige Häuser weiter erreicht. Niemand öffnete. Rudi rief ihnen nach.

»Brauchen Sie Hilfe, Herr Hubermann?«

»Nein, nein, spielen Sie nur weiter, Herr Steiner.« Herr Steiner. Man musste Liesels Papa einfach lieben.


Sie waren kaum im Haus, da informierte ihn Liesel über die Gefahr. Sie versuchte, den Mittelweg zwischen Schweigen und Verzweiflung zu finden. »Papa.«

»Nicht sprechen.«

»Die Partei«, flüsterte sie. Papa blieb stehen. Er unterdrückte das Verlangen, die Tür zu öffnen und auf die Straße zu schauen. »Sie schauen sich die Keller an, wegen der Luftschutzräume.«

Er setzte sie ab. »Kluges Mädchen«, sagte er und rief dann nach Rosa.


Ihnen blieb eine Minute, um einen Plan zu entwickeln. Eine Keilerei um Gedanken.

»Wir bringen ihn einfach in Liesels Zimmer«, war Mamas Vorschlag. »Unters Bett.«

»Und dann? Was, wenn sie auch unsere Zimmer durchsuchen?«

»Hast du eine bessere Idee?«

Ich muss mich korrigieren: Ihnen blieb nicht einmal mehr eine Minute.

Ein siebenteiliges Klopfen wurde gegen die Tür der Himmelstraße 33 gehämmert. Es war zu spät, um irgendjemanden irgendwohin zu bringen.

Die Stimme.

»Aufmachen!«

Ihre Herzschläge kämpften gegen sich selbst, ein Durcheinander aus Rhythmen. Liesel versuchte, ihr Herz herunterzuschlucken. Es schmeckte nicht fröhlich.

Rosa flüsterte: »Jesus, Maria …«

An diesem Tag war es Papa, der sich zu ungeahnter Größe aufschwang. Er eilte zur Kellertür und warf eine Warnung die Treppe hinunter. Als er wiederkam, sprach er schnell und ohne Stocken. »Hört zu. Wir haben keine Zeit für irgendwelche Tricks. Wir könnten ihn auf hundert verschiedene Arten ablenken, aber es gibt nur eine einzige Möglichkeit.« Er warf einen Blick auf die Tür und sagte: »Wir tun nichts.«

Das war nicht die Antwort, die Rosa hören wollte. Ihre Augen weiteten sich. »Nichts? Bist du verrückt?«

Das Klopfen ging weiter.

Papa blieb hart. »Nichts. Wir gehen nicht einmal mit nach unten – als ob es uns überhaupt nicht kümmert.«

Alles passierte in Zeitlupe.

Rosa nahm den Vorschlag an.

Verkrampft vor Angst, schüttelte sie den Kopf und ging, um die Tür zu öffnen.

»Liesel.« Papas Stimme schnitt sie in Stücke. »Bleib einfach nur ruhig, verstehst du?«

»Ja, Papa.«

Sie versuchte, sich auf ihr blutendes Knie zu konzentrieren.


»Aha!«

Rosa fragte gerade nach dem Grund des Eindringens, als der freundliche Nazi Liesel bemerkte.

»Die irre Fußballspielerin!« Er grinste. »Wie geht’s dem Knie?« Man stellt sich Nazis normalerweise nicht vergnügt vor, aber dieser war es. Er kam herein und tat so, als ob er sich niederkauern und die Wunde begutachten wollte.

Weiß er Bescheid?, fragte sich Liesel. Kann er riechen, dass wir einen Juden verstecken?

Papa kam mit einem feuchten Tuch von der Spüle und hielt es auf Liesels Knie. »Brennt es sehr?« Seine silbrigen Augen waren fürsorglich und ruhig. Die Angst darin konnte leicht als Sorge um die Verletzung missverstanden werden.

Rosa rief quer durch die Küche: »Es kann gar nicht genug brennen. Vielleicht wird ihr das eine Lehre sein.«

Der Nazi stand auf und lachte. »Ich glaube nicht, dass dieses Mädchen da draußen irgendetwas lernt, Frau …«

»Hubermann«, entgegnete das Pappegesicht.

»Frau Hubermann – ich glaube, dass sie es ist, die anderen eine Lehre erteilt.« Er reichte Liesel ein Lächeln. »Und zwar den Jungs da draußen. Habe ich recht, junge Dame?«

Papa schob das Tuch über die Schürfwunde, und Liesel wimmerte, statt zu antworten. Es war Hans, der etwas sagte: »Entschuldige.« Leise, zu dem Mädchen.

Dann folgte die Ungemütlichkeit des Schweigens, und der Nazi erinnerte sich an den Grund seines Kommens. »Wenn Sie nichts dagegen haben«, erklärte er, »dann würde ich mir gerne Ihren Keller ansehen, nur für ein, zwei Minuten, um zu überprüfen, ob er als Luftschutzraum geeignet ist.«

Papa tupfte Liesels Knie noch einmal ab. »Das ist ein ziemlicher Kratzer, Liesel.« Beiläufig wandte er sich an den Mann über ihm. »Aber sicher. Die erste Tür rechts. Bitte entschuldigen Sie die Unordnung.«

»Machen Sie sich keine Sorgen – schlimmer als das, was ich heute schon zu sehen bekommen habe, kann es kaum sein. – Diese Tür?«

»Richtig.«




DIE LÄNGSTEN DREI MINUTEN, DIE FAMILIE HUBERMANN JE ERLEBTE


Papa saß am Tisch. Rosa betete in der Ecke, stumm.


Liesel kochte: ihr Knie, ihre Brust, die Muskeln in


ihren Armen. Ich glaube nicht, dass einer von ihnen


die Dreistigkeit besaß, darüber nachzudenken,


was sie tun würden, wenn ihr Keller zu einem


Luftschutzraum ernannt werden würde.


Zunächst einmal mussten sie die Prüfung überstehen.

Sie lauschten auf die Nazi-Schritte im Keller. Das Geräusch eines Maßbandes war zu hören, das an der Wand entlangschabte. Liesel konnte den Gedanken an Max nicht loswerden, wie er hinter den Stufen saß, um sein Skizzenbuch gerollt, das er eng an die Brust drückte.

Papa stand auf. Noch eine Idee.

Er ging in den Flur und rief: »Alles in Ordnung da unten?«

Die Antwort stieg die Stufen empor, über Max Vandenburg hinweg. »Ich brauche noch etwa eine Minute.«

»Möchten Sie einen Kaffee trinken, oder vielleicht einen Tee?«

»Nein danke.«


Als Papa wiederkam, befahl er Liesel, sich ein Buch zu holen, und Rosa, mit dem Kochen anzufangen. Er entschied, dass herumsitzen und besorgt aussehen das Letzte war, was sie tun sollten. »Na, macht schon«, sagte er laut, »beweg dich, Liesel. Es ist mir egal, ob dein Knie wehtut. Du musst dieses Buch zu Ende lesen, wie du gesagt hast.«

Liesel versuchte, nicht zusammenzubrechen. »Ja, Papa.«

»Worauf wartest du dann noch?« Er musste sich anstrengen, ihr zuzuzwinkern, und sie merkte es.

Im Flur stieß sie fast mit dem Nazi zusammen.

»Hast du Ärger mit deinem Papa? Mach dir nichts draus. Ich bin genauso, wenn es um meine Kinder geht.«

Sie gingen ihrer Wege, und als Liesel ihr Zimmer erreicht hatte, schloss sie die Tür und fiel auf die Knie, trotz des stechenden Schmerzes. Sie hörte zunächst das Urteil, dass der Keller zu niedrig sei, und dann die Verabschiedung, die teilweise auch ihr galt: »Auf Wiedersehen, du irre Fußballspielerin!«

Sie riss sich zusammen. »Auf Wiedersehen!«

Der Traumträger köchelte in ihren Händen.


Papa behauptete später, dass Rosa neben dem Herd dahingeschmolzen sei, sobald der Nazi gegangen war. Sie sammelten Liesel ein und gingen gemeinsam in den Keller, wo sie die strategisch günstig positionierten Lumpen und Farbeimer beiseiteräumten. Max Vandenburg saß unter den Stufen und hielt seine rostige Schere in der Hand wie ein Messer. Seine Achseln waren durchnässt, und die Worte platzten wie Wunden aus seinem Mund.

»Ich hätte sie nicht benutzt«, sagte er leise. »Ich …« Er presste die rostige Schneide flach gegen die Stirn. »Es tut mir so leid, dass Sie das meinetwegen durchmachen müssen.«

Papa zündete sich eine Zigarette an. Rosa nahm die Schere.

»Sie sind am Leben«, sagte er. »Wir alle sind es.«

Für Entschuldigungen war es jetzt zu spät.

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