DER LANGE MARSCH NACH DACHAU
Manche Leute behaupten, dass der Lastwagen eine Panne hatte, aber ich kann euch versichern, dass das nicht stimmt. Ich war dabei.
In Wirklichkeit war es ein Meereshimmel mit weißer Wolkengischt.
Und in Wirklichkeit gab es auch mehr als ein Fahrzeug. Drei Lastwagen haben nicht alle gleichzeitig eine Panne.
Als die Soldaten anhielten, um Essen und Zigaretten miteinander zu teilen und die Gepäckstücke der Juden zu durchwühlen, brach einer der Gefangenen halb verhungert und krank zusammen. Ich habe keine Ahnung, woher der Transport kam, aber es waren noch gut sechs Kilometer bis Molching und noch viel mehr Schritte bis zum Konzentrationslager in Dachau.
Ich kletterte durch die Windschutzscheibe des Lastwagens, fand den verstorbenen Mann und sprang hinten wieder heraus. Seine Seele war hager. Sein Bart war verknotet und verworren. Meine Füße landeten geräuschvoll auf dem Kies, aber weder die Soldaten noch die Gefangenen hörten einen Laut. Doch sie alle konnten mich riechen.
Mein Gedächtnis sagt mir, dass es hinten in dem Lastwagen vor Wünschen nur so wimmelte. Innere Stimmen riefen mir zu.
Warum er und nicht ich?
Gott sei Dank, dass ich es nicht bin!
Die Soldaten andererseits waren mit einer anderen Frage beschäftigt. Der kommandierende Offizier trat seine Zigarette aus und fragte die anderen mit rauchgeschwängerter Stimme: »Wann waren diese Ratten das letzte Mal an der frischen Luft?«
Sein Leutnant würgte ein Husten ab. »Sie hätten es mal wieder nötig.«
»Na, wie wäre es? Wir haben doch Zeit, oder nicht?«
»Wir haben immer Zeit, Herr Kommandant.«
»Und es ist herrliches Wetter für eine Parade, findet ihr nicht auch?«
»Stimmt, Herr Kommandant.«
»Worauf warten wir dann noch?«
Liesel spielte Fußball auf der Himmelstraße, als sie der Lärm erreichte. Zwei Jungen rangelten im Mittelfeld um den Ballbesitz. Dann hörte alles auf. Sogar Tommi Müller konnte es hören. »Was ist denn das?«, fragte er, im Tor stehend.
Alle wandten sich in die Richtung, aus der sich das Geräusch von schlurfenden Füßen und militärischen Stimmen näherte.
»Ist das eine Herde Rinder?«, wunderte sich Rudi. »Das kann doch nicht sein. So hört sich das nicht an, oder?«
Langsam gingen die Kinder auf das Geräusch zu, wie magisch davon angezogen. Sie kamen bei Frau Lindners Laden vorbei. Von Zeit zu Zeit erhoben sich die Stimmen zu Gebrüll.
In einer Wohnung im Obergeschoss eines Hauses an der Ecke zur Münchener Straße stand eine alte Dame am Fenster und verkündete mit unheilschwangerer Stimme den Ursprung des Aufruhrs.
Hoch oben am Fenster sah ihr Gesicht aus wie eine weiße Fahne, mit feuchten Augen und offenem Mund. Ihre Stimme wollte sich das Leben nehmen, schien mit einem Klappern vor Liesels Füßen zu landen.
Sie hatte graue Haare.
Ihre Augen waren dunkelblau.
»Die Juden«, sagte sie. »Die Juden.«
DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH – SECHSTER EINTRAG
Leid: a) tiefer seelischer Schmerz als Folge
erfahrenen Unglücks.
Synonyme: Gram, Jammer, Kummer, Pein,
Qual, Schmerz, Unglück.
b) Unrecht, Böses, das jemandem zugefügt wird.
Synonyme: Unglück, Unrecht.
Noch mehr Menschen tauchten auf der Straße auf, über die die Ansammlung von Juden und anderen Verurteilten bereits geschoben wurde. Die Vernichtungslager mochten ein Geheimnis sein, aber manchmal wurde den Menschen der Ruhm der Konzentrationslager wie Dachau vor Augen geführt.
In weiter Ferne, auf der anderen Seite, erblickte Liesel einen Mann mit einem Karren voller Farbeimer. Unbehaglich strich er sich mit der Hand durchs Haar.
»Dahinten«, sagte sie zu Rudi und streckte die Hand aus. »Mein Papa.«
Beide überquerten die Straße, und Hans Hubermann machte zuerst Anstalten, sie wegzuschicken. »Liesel«, sage er. »Vielleicht solltest du...«
Aber er merkte, dass das Mädchen zum Bleiben entschlossen war, und vielleicht war dies etwas, was sie sehen musste. In der leichten Herbstbrise stellte er sich neben sie. Er sagte nichts.
Sie standen auf der Münchener Straße und schauten.
Andere kamen zu ihnen und schoben sich vor sie.
Sie sahen zu, wie die Juden die Straße entlangkamen, wie eine Palette aus Farben. So hat sie die Bücherdiebin zwar nicht beschrieben, aber glaubt mir, genau das waren sie, denn viele von ihnen würden sterben. Sie würden mich begrüßen als ihren letzten wahren Freund, mit Knochen aus Rauch und Seelen, die hinter ihnen baumelten.
Als sie angekommen waren, pochten ihre Füße auf der Straße. Ihre Augen waren riesig groß in ihren ausgezehrten Schädeln. Und der Dreck. Der Dreck war an ihnen festgebacken. Ihre Beine taumelten; ihre Körper wurden von Soldatenhänden gestoßen – ein paar ziellose, erzwungene Laufschritte, dann fielen sie wieder in ihr unterernährtes Schlurfen.
Hans sah sie über die Köpfe des versammelten Publikums an. Ich bin mir sicher, dass seine Augen silbern und angespannt waren. Liesel schaute durch die Lücken oder über die Schultern hinweg.
Die leidenden Gesichter der entleerten Männer und Frauen reckten sich ihnen entgegen, flehten: nicht um Hilfe – das hatten sie hinter sich gelassen -, sondern um eine Erklärung. Um irgendetwas, das diese Verwirrung begreifbar machen konnte.
Ihre Füße hoben sich kaum von der Erde.
Davidssterne waren an ihre Kleidung geheftet, und die Qual hing an ihnen wie ein Etikett. »Vergesst euer Leid nicht...« In einigen Fällen wurden sie davon überwuchert wie von Weinranken.
Auch die Soldaten passierten die Zuschauer, befahlen den Gefangenen, sich zu beeilen und mit dem Jammern aufzuhören. Einige der Soldaten waren noch fast Jungen. Der Führer leuchtete in ihren Augen.
Während sie all das betrachtete, gab es für Liesel keinen Zweifel daran, dass dies die ärmsten Seelen der Welt waren. Das ist es, was sie über dieses Erlebnis schrieb. Ihre verhärmten Gesichter waren vor Elend in die Länge gestreckt. Hunger nagte an ihnen, und sie schleppten sich vorwärts, wobei etliche die Augen zu Boden gerichtet hatten, um nicht die Menschen ansehen zu müssen, die die Straße flankierten. Nur wenige sahen flehend jene an, die gekommen waren, um ihre Erniedrigung, dieses Vorspiel ihres Todes, mit anzusehen. Andere baten darum, dass jemand, irgendjemand, vortrete und sie in die Arme nehme.
Niemand tat es.
Egal ob sie diese Parade mit Stolz betrachteten, mit zitternden Herzen oder voller Scham, niemand trat vor und tat etwas. Noch nicht.
Von Zeit zu Zeit fiel der Blick eines Mannes oder einer Frau – nein, sie waren keine Männer und Frauen, sie waren Juden – auf Liesels Gesicht in der Menge. Sie begegneten ihr voller Niederlage, und die Bücherdiebin konnte den Blick in diesem langen, unüberwindbaren Moment nur erwidern, bis sie vorbeigegangen waren. Liesel konnte nur hoffen, dass sie in ihren Augen ihre tiefe Trauer erkennen konnten, dass sie wussten, wie wahrhaftig und dauerhaft diese Trauer war.
Ich habe einen von euch bei mir im Keller!, wollte sie sagen. Wir haben zusammen einen Schneemann gebaut! Ich habe ihm dreizehn Geschenke gebracht, als er krank war!
Doch Liesel sagte nichts dergleichen.
Was hätte es genutzt?
Sie verstand, dass sie für diese Menschen vollkommen wertlos war. Sie konnten nicht gerettet werden, und in wenigen Minuten sollte sie erleben, was mit jenen geschah, die versuchten, ihnen zu helfen.
In einer kleinen Lücke in der Prozession ging ein Mann, der älter war als die anderen.
Er trug einen Bart und zerrissene Kleidung.
Seine Augen hatten die Farbe von Todesqualen, und so wenig Gewicht er auch zu schleppen hatte, so war er doch zu schwer für seine Beine.
Mehrmals fiel er hin.
Die Seite seines Gesichts wurde flach auf den Asphalt gepresst.
Jedes Mal stand ein Soldat über ihm. »Steh auf!«, schrie er hinab.
Der Mann erhob sich auf die Knie und kämpfte sich hoch. Er ging weiter.
Jedes Mal, wenn er wieder zu seiner Reihe aufgeschlossen war, verlor er schon bald wieder an Fahrt und fiel ein weiteres Mal nieder. Hinter ihm kamen noch mehr – eine ganze Wagenladung voll -, und sie drohten ihn niederzutrampeln.
Der Schmerz in seinen Armen, als sie versuchten, seinen Körper hochzustemmen, war unerträglich. Sie gaben noch ein Mal unter ihm nach, ehe er sich aufrichten konnte und ein weiteres Häuflein Schritte unternahm.
Er war tot.
Der Mann war tot.
Gebt ihm noch fünf Minuten, und er würde in einen deutschen Rinnstein fallen und sterben. Sie würden es zulassen, und sie würden dabei zusehen.
Dann, ein Mensch.
Hans Hubermann.
Es geschah so schnell.
Die Hand, die ihre so fest gehalten hatte, löste sich, als der Mann sich zu ihnen kämpfte. Sie fühlte ihre Handfläche auf die Hüfte klatschen.
Papa griff in seinen Karren und holte etwas heraus. Er bahnte sich einen Weg durch die Zuschauer auf die Straße.
Der Jude stand vor ihm und erwartete eine weitere Handvoll Spott, aber er und alle anderen auch sahen, dass Hans Hubermann die Hand ausstreckte und ihm ein Stück Brot darbot. Ein Wunder.
Das Brot wurde von einer Hand zur anderen gereicht, und dann sank der Jude nieder. Er fiel auf die Knie und umklammerte Papas Schienbeine. Er vergrub das Gesicht zwischen ihnen und dankte ihm.
Liesel schaute zu.
Mit Tränen in den Augen sah sie, wie der Mann weiter nach unten rutschte und Papa dabei zurückschob, um nun in seine Fußgelenke zu weinen.
Andere Juden gingen vorbei; manche schauten auf dieses kleine, vergebliche Wunder. Sie strömten vorbei wie menschliches Wasser. An diesem Tag würden ein paar den Ozean erreichen. Eine weiße Krone erwartete sie dort.
Ein Soldat watete durch die Menschen und hatte schon bald den Ort des Vergehens erreicht. Er betrachtete den knienden Mann und Papa und schaute dann die Menge an. Nach einer kurzen Überlegung nahm er die Peitsche von seinem Gürtel und fing an.
Der Jude wurde sechs Mal gepeitscht. Auf den Rücken, auf den Kopf und auf die Beine. »Du Abschaum! Du Schwein!« Blut rann ihm aus dem Ohr.
Dann war Papa an der Reihe.
Eine Hand hielt Liesel fest, und als sie voller Schrecken neben sich blickte, stand da Rudi Steiner und schluckte, während vor ihnen auf der Straße Hans Hubermann ausgepeitscht wurde. Das Geräusch verursachte ihr Übelkeit, und sie hatte Angst, dass auf dem Körper ihres Papas Risse aufplatzen würden. Er bekam vier Hiebe, dann ging auch er zu Boden.
Als der ältere Jude ein letztes Mal aufstand und sich weiterschleppte, schaute er noch einmal kurz zurück. Er warf einen letzten, traurigen Blick auf den Mann, der jetzt selbst auf der Straße lag, auf dessen Rücken vier Feuerlinien brannten, dessen Knie sich schmerzhaft in den Asphalt bohrten. Aber wenigstens würde der alte Mann sterben wie ein Mensch. Oder zumindest mit dem Gedanken, dass er ein Mensch war.
Was ich darüber denke?
Ich bin mir nicht sicher, ob das gut war.
Als Liesel und Rudi sich zu Hans durchgekämpft hatten und ihm auf die Beine halfen, waren sie in Stimmen gebadet. In Worte und Sonnenlicht. So blieb es Liesel im Gedächtnis. Das Licht funkelte auf der Straße, und die Worte brachen sich wie Wellen an ihrem Rücken. Erst als die drei weggehen wollten, bemerkten sie das Stück Brot, das verschmäht auf der Straße lag.
Rudi wollte es aufheben, aber ein vorbeigehender Jude riss es ihm aus der Hand, und zwei andere balgten sich mit ihm darum, während sie ihren Weg nach Dachau fortsetzten.
Da liefen silbrige Augen über.
Ein Karren wurde umgeworfen, und Farbe floss auf die Straße.
Man nannte ihn einen Judenfreund.
Andere schwiegen und halfen, ihn in Sicherheit zu bringen.
Hans Hubermann hatte sich vorgebeugt und die Arme ausgestreckt. Mit den Händen stützte er sich an eine Hauswand. Er war mit einem Mal überwältigt von dem, was gerade geschehen war.
Ein Bild tauchte auf, schnell und glühend.
Himmelstraße 33 – der Keller.
Panik verfing sich zwischen seinen rasselnden Atemzügen.
Jetzt werden sie kommen. Jetzt werden sie kommen.
O Herr Jesus, o Herr Jesus.
Er schaute das Mädchen an und schloss die Augen.
»Bist du verletzt, Papa?«
Als Antwort kam eine Gegenfrage.
»Was habe ich mir nur dabei gedacht?« Fest presste er die Augenlider zu und öffnete sie wieder. Sein Arbeitskittel war zerknittert. Überall an seinen Händen waren Farbe und Blut. Und Brotkrumen. Aber ganz anders als das Brot des Sommers. »O mein Gott, Liesel, was habe ich getan?«
Ja.
Ich kann es nicht leugnen.
Was hatte Papa getan?