DIE SPIELER (Ein Würfel mit sieben Seiten)

Natürlich bin ich gemein. Ich verderbe euch den Spaß und nehme das Ende vorweg, das Ende des gesamten Buches und besonders dieses Abschnitts. Ich habe euch zwei Ereignisse im Voraus verraten, weil ich nicht an Heimlichtuerei interessiert bin. Heimlichkeiten langweilen mich. Ich weiß, was passieren wird, und ihr auch. Es ist die Art und Weise, wie es passiert, die mich ärgert, verwirrt, fasziniert und erstaunt.

Es gibt viele Dinge zu bedenken.

Die Geschichte ist prallvoll.

Da gibt es zum Beispiel ein Buch mit dem Titel Der Pfeifer, über das wir unbedingt reden müssen, und auch über den Grund, warum es kurz vor Weihnachten 1941 in der Amper trieb. Damit sollten wir uns zuerst beschäftigen, meint ihr nicht auch?


Also abgemacht.

Das werden wir.


Mit Glücksspiel fing es an. Man setzt alles auf eine Karte und versteckt einen Juden, und so lebt man dann auch. Das sieht folgendermaßen aus:




DER HAARSCHNITT: MITTE APRIL 1941


Das Leben passte sich nun eilfertiger der Normalität an:


Hans und Rosa stritten sich im Wohnzimmer, wenn auch viel leiser als früher. Liesel blieb, wie immer, Zuschauerin.

Der Streit drehte sich um die vorangegangene Nacht, als Hans und Max gemeinsam mit Farbeimern, Worten und Lumpen im Keller gesessen hatten. Max hatte gefragt, ob Rosa ihm irgendwann einmal die Haare schneiden könnte. »Sie fallen mir in die Augen«, hatte er gesagt, woraufhin Hans erwidert hatte: »Ich werde sie mal fragen.«

Jetzt kramte Rosa in den Schubladen herum. Ihre Worte schob sie, mit dem Rest des Gerümpels in der Kommode, Papa entgegen. »Wo ist diese verdammte Schere?«

»Liegt sie denn nicht in der unteren Schublade?«

»Da habe ich schon gesucht.«

»Vielleicht hast du sie übersehen.«

»Glaubst du vielleicht, ich bin blind?« Sie hob ihren Kopf und bellte: »Liesel!«

»Ja?«

Hans duckte sich. »Verdammt nochmal, Frau, von deinem Geschrei wird man ja taub.«

»Halt’s Maul, Saukerl.« Rosa suchte und kramte weiter und fragte unterdessen das Mädchen: »Liesel, wo ist die Schere?« Aber Liesel wusste es auch nicht. »Saumensch, du bist aber auch zu gar nichts nutze!«

»Halt Liesel gefälligst da raus!«

Mehr Worte flogen hin und her, von der Frau mit den elastischen Haaren zu dem silberäugigen Mann und zurück, bis Rosa die Schublade mit einem Mal zudonnerte. »Wahrscheinlich würde ich ihm sowieso nur lauter Löcher ins Haar schneiden.«

»Löcher?« Zu diesem Zeitpunkt machte Papa den Eindruck, als wollte er sich am liebsten seine eigenen Haare ausreißen. Jetzt aber senkte er seine Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern. »Es sieht ihn doch keiner!« Er wollte fortfahren, doch da tauchte die fedrige Gestalt von Max Vandenburg auf und blieb höflich und peinlich berührt im Türrahmen stehen. Max hatte seine eigene Schere dabei und trat vor, reichte sie weder Hans noch Rosa, sondern dem zwölfjährigen Mädchen. Er wählte die ruhigste Person im Zimmer. Sein Mund bebte eine Sekunde, ehe er fragte: »Würdest du?«

Liesel nahm die Schere und klappte sie auf. Sie war gleichermaßen glänzend und an einigen Stellen verrostet. Sie wandte sich zu Papa um, und als er nickte, folgte sie Max hinunter in den Keller.

Der Jude setzte sich auf einen Farbeimer. Ein kleines, farbbespritztes Tuch lag um seine Schultern. »Schneide so viele Löcher hinein, wie du willst«, sagte er zu ihr.

Papa stellte sich auf die Treppe.

Liesel hob die erste fedrige Strähne von Max Vandenburgs Haaren an.

Während sie hineinschnitt, wunderte sie sich über den Klang der Schere. Es war kein Schnappen, sondern das Knirschen des einen Metallarms über den anderen, während beide die Haarfasern durchtrennten.

Als sie fertig war, hier ein bisschen zu kurz, dort ein bisschen schief, ging sie mit dem abgeschnittenen Haar in der Hand nach oben und warf es in den Ofen. Sie zündete ein Streichholz an und schaute zu, wie der Haufen schrumpfte und in sich zusammensank. Orange und rot.

Wieder stand Max im Türrahmen, diesmal auf der obersten Stufe der Kellertreppe. »Danke, Liesel.« Seine Stimme war groß und rau, und in ihr versteckt lag ein Lächeln.

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, verschwand er auch schon wieder unter die Erde.




DIE ZEITUNG: ANFANG MAI


»In meinem Keller ist ein Jude.«

»In meinem Keller. Ist ein Jude.«


Liesel saß auf dem Boden in der Bibliothek des Bürgermeisters und lauschte diesen Worten. Der Sack voller Wäsche stand neben ihr, und die geisterhafte Gestalt der Bürgermeistergattin saß über den Schreibtisch gebeugt. Vor ihren Augen las Liesel Der Pfeifer, und zwar die Seiten zweiundzwanzig und dreiundzwanzig. Sie schaute auf. Sie stellte sich vor, wie sie zu der Frau gehen, sanft ein bisschen von dem fusseligen Haar zur Seite schieben und ihr ins Ohr flüstern würde:

»In meinem Keller ist ein Jude.«

Das Buch in ihrem Schoß zitterte. Das Geheimnis saß in ihrem Mund, machte es sich dort gemütlich. Schlug die Beine übereinander.

»Ich gehe jetzt besser heim.« Diesmal sprach sie laut. Ihre Hände zitterten. Trotz des Schimmers von Sonnenschein in der Ferne trabte eine sanfte Brise durch das offene Fenster und trug Regen wie Sägemehl hinein.

Liesel stellte das Buch zurück, und der Stuhl der Frau ruckte gegen den Fußboden. Die Frau kam zu Liesel. So war es immer am Ende. Der zarte Kreis aus Sorgenfalten bebte einen Moment lang, während sie die Hand ausstreckte und das Buch wieder aus dem Regal holte.

Sie bot es Liesel an.

Liesel schreckte zurück.

»Nein«, sagte sie. »Danke, aber ich habe zu Hause genügend Bücher. Vielleicht ein andermal. Ich lese gerade ein anderes Buch mit Papa, schon zum zweiten Mal. Sie wissen schon, dasjenige, das ich an dem Abend aus dem Feuer gestohlen habe.«

Die Frau des Bürgermeisters nickte. Was immer man Liesel nachsagen mochte, sie stahl nicht unnötig. Sie tat es nur, wenn sie das Gefühl hatte, dass es nötig war. Derzeit hatte sie genug. Sie hatte Die Menschen aus Lehm vier Mal gelesen und genoss die erneute Begegnung mit dem Schulterzucken. Und jede Nacht, bevor sie schlafen ging, öffnete sie die Anleitung zum Gräbergraben. Wohl verwahrt zwischen den Seiten lag Der Überstehmann. Sie formte die Worte stumm mit ihrem Mund und berührte die Vögel. Sie wendete die geräuschvollen Blätter. Langsam.

»Auf Wiedersehen, Frau Hermann.«

Sie verließ die Bibliothek, ging über den Dielenboden des Flurs und durch die monströse Eingangstür hinaus. Wie es ihre Gewohnheit war, stand sie eine Weile auf den Stufen und betrachtete das vor ihr liegende Molching. An diesem Nachmittag war die Stadt von gelbem Dunst bedeckt, der über die Dächer streichelte, als wären sie Haustiere. Der Dunst füllte die Straßen wie eine Badewanne.

Als sie in die Münchener Straße kam, wich die Bücherdiebin den mit Regenschirmen bewaffneten Menschen nach rechts und links aus – ein Mädchen in einer Regenjacke, das schamlos von einem Mülleimer zum nächsten wanderte. Wie ein Uhrwerk.

»Da!«

Sie lachte die kupfernen Wolken an und feierte ihren Fund, ehe sie hineingriff und die zerknitterte Zeitung herausholte. Obwohl die Vorder- und Rückseite mit schwarzen Tränen aus Druckerschwärze beschmiert waren, faltete das Mädchen die Zeitung sorgfältig zusammen und steckte sie sich unter den Arm. So machte sie es seit ein paar Monaten jeden Donnerstag.

Donnerstag war mittlerweile der einzige Tag, an dem Liesel Meminger Wäsche austrug oder abholte, und es verging kaum ein Donnerstag, der ihr nicht den einen oder anderen Nutzen brachte. Sie schaffte es nie, das Gefühl eines Sieges zu unterdrücken, wenn sie eine Ausgabe des Molchinger Abendblatts oder einer anderen Zeitung fand. Eine Zeitung bedeutete einen guten Tag. Wenn es eine Zeitung war, in der das Kreuzworträtsel noch nicht gelöst worden war, war es sogar ein großartiger Tag. Sie kam nach Hause, schloss die Tür hinter sich und brachte die Zeitung zu Max Vandenburg in den Keller.

»Kreuzworträtsel?«, fragte er dann.

»Leer.«

»Ausgezeichnet.«

Der Jude lächelte, nahm den Packen Papier entgegen und fing in dem bescheidenen Licht des Kellers an zu lesen. Oft beobachtete Liesel ihn dabei, wie er sich auf das Lesen konzentrierte, das Kreuzworträtsel löste und dann die Zeitung erneut durchlas, von vorne bis hinten.

Als es wärmer wurde, blieb Max die ganze Zeit im Keller. Tagsüber ließ man die Kellertür offen, um ein kleines Rinnsal aus Tageslicht aus dem Flur nach unten zu lassen. Der Flur selbst war nicht gerade lichtdurchflutet, aber in bestimmten Situationen nimmt man, was man kriegen kann. Gedämpftes Licht war besser als gar keines, und es war nötig, sparsam zu sein. Das Kerosin war zwar noch nicht so weit zur Neige gegangen, dass Grund zur Besorgnis bestanden hätte, aber es war besser, es nur dann herzunehmen, wenn es unbedingt nötig war.

Gewöhnlich setzte sich Liesel auf ein paar Lumpen. Sie las, während Max sich über das Kreuzworträtsel beugte. Sie hatten ein paar Meter zwischen sich, redeten sehr selten, sodass oft einzig das Geräusch der Seiten zu hören war, die umgeblättert wurden. Oft ließ sie Max ihre Bücher da, während sie in der Schule war. Hans Hubermann und Erik Vandenburg hatte die Musik verbunden; Max und Liesel wurden zusammengeschweißt durch das stille Ansammeln von Wörtern.

»Hallo, Max.«

»Hallo, Liesel.«

Und dann saßen sie da und lasen.

Manchmal beobachtete sie ihn. Sie dachte sich, dass er am besten als ein Bild bleicher Konzentration zu beschreiben sei. Beigefarbene Haut. Ein Sumpf in jedem Auge. Und er atmete wie ein Flüchtling. Verzweifelt und doch lautlos. Es war nur seine Brust, die verriet, dass er am Leben war.

Immer öfter bat Liesel Max, die Wörter abzufragen, die sie immer noch falsch schrieb. Sie schloss die Augen und fluchte jedes Mal, wenn ihr wieder ein Fehler beim Buchstabieren unterlief. Dann stand sie auf und malte die Wörter an die Wand, irgendwohin, manchmal ein Dutzend Mal. Gemeinsam atmeten Max Vandenburg und Liesel Meminger den Duft von Lösungsmittel und Zement ein.

»Auf Wiedersehen, Max.«

»Auf Wiedersehen, Liesel.«

Im Bett lag sie dann wach und stellte sich ihn unten im Keller vor. In diesen Visionen schlief er stets vollständig bekleidet, einschließlich der Schuhe, für den Fall, dass er fliehen musste. Er schlief. Ein Auge war geschlossen. Das andere wachsam.




WETTERBERICHT: MITTE MAI


Liesel öffnete gleichzeitig die Tür und ihren Mund.

Auf der Himmelstraße hatte ihre Mannschaft die von Rudi vernichtend mit 6: 1 geschlagen. Triumphierend stürzte sie in die Küche und erzählte Mama und Papa von dem Tor, das sie geschossen hatte. Dann sauste sie weiter in den Keller, um dort die ganze Geschichte noch einmal vorzutragen, Wort für Wort. Max legte die Zeitung zur Seite und lauschte und lachte mit dem Mädchen.

Als Liesel geendet hatte, herrschte einige Minuten lang Stille. Dann schaute Max langsam auf. »Würdest du mir einen Gefallen tun, Liesel?«

Immer noch erregt von dem Tor, sprang das Mädchen auf. Sie musste nichts sagen; ihre Körpersprache versicherte ihm wortlos, dass sie alles tun würde, was er verlangte.

»Du hast mir alles über das Tor erzählt«, sagte er, »aber ich weiß nicht, was für ein Tag da oben ist. Ich weiß nicht, ob du in der Sonne getroffen hast oder ob die Wolken alles verdeckt haben.« Seine Hand schob und zog an seinem kurz geschorenen Haar, und seine sumpfigen Augen baten um das Einfachste aller einfachen Dinge. »Würdest du hinaufgehen und mir dann sagen, wie das Wetter ist?«

Selbstverständlich eilte Liesel die Stufen hinauf. Sie stand ein paar Meter von der mit Spucke befleckten Tür entfernt, schaute in den Himmel und drehte sich dabei um die eigene Achse.

Dann kehrte sie in den Keller zurück und erzählte ihm alles.

»Der Himmel ist heute blau, Max, und da oben hängt eine große, lang gezogene Wolke, die aussieht wie ein Seil. Am Ende hängt die Sonne wie ein gelbes Loch...«

Max war sich darüber im Klaren, dass nur ein Kind ihm einen solchen Wetterbericht geben konnte. An die Wand malte er ein langes, fest geknüpftes Seil mit einer daran herabhängenden Sonne, in die man gerne hineingesprungen wäre. Auf das Wolkenseil malte er zwei Gestalten – ein dünnes Mädchen und einen ausgemergelten Juden -, die mit weit ausgebreiteten Armen darauf balancierten und auf die purzelnde Sonne zugingen. Unter das Bild schrieb er einen Satz.




WORTE AN DER WAND, VON MAX VANDENBURG GESCHRIEBEN


Es war Montag, und sie tanzten


auf einem Seil zur Sonne.




DER FAUSTKÄMPFER: ENDE MAI


Max Vandenburg hatte den kühlen Zement und viel Zeit.

Minuten waren grausam.

Stunden eine Strafe.

Über ihm stand während aller wachen Momente die Hand der Zeit, und sie zögerte nicht, ihn gnadenlos auszuwringen. Sie lächelte und drückte und ließ ihn am Leben. Welch grenzenlose Boshaftigkeit in der Gnade des Überlebens liegen kann!

Wenigstens ein Mal am Tag kam Hans Hubermann in den Keller und führte ein Gespräch mit Max. Von Zeit zu Zeit brachte Rosa ihm eine übrig gebliebene Brotkruste. Aber es waren die Abschnitte des Tages, in denen Liesel ihn besuchte, in denen Max sein Interesse am Leben neu erwachen spürte. Anfänglich versuchte er, sich dem zu widersetzen, doch mit jedem Tag, an dem das Mädchen erschien, wurde es schwieriger. Jedes Mal brachte sie den Wetterbericht mit, der entweder von klarem, blauem Himmel kündete oder von kartonfarbenen Wolken oder einer Sonne, die durchgebrochen war, als hätte sich der Allmächtige höchstpersönlich nach einem schweren Essen darauf niedergelegt.

Wenn er alleine war, überkam ihn das Gefühl des Verschwindens. All seine Kleidung war grau – egal, ob dies ihre ursprüngliche Farbe gewesen war oder nicht -, angefangen von seinen Hosen über seinen Wollpullover zu der Jacke, die mittlerweile an ihm herabtropfte, als wäre sie aus Wasser. Er schaute oft nach, ob sich seine Haut in Flocken abschälte, weil er glaubte, sich aufzulösen.

Was er brauchte, war eine Reihe von Plänen, die er in die Tat umsetzen konnte. Er fing mit Übungen an, genauer gesagt mit Liegestützen. Er legte sich mit dem Bauch flach auf den kühlen Kellerboden und drückte sich dann empor. Er hatte den Eindruck, als würden seine Arme an den Ellbogen entzweibrechen, und er stellte sich vor, wie sein Herz aus ihm herausfloss und jämmerlich zu Boden troff. Als Jugendlicher in Stuttgart hatte er fünfzig Liegestütze hintereinander weg geschafft. Jetzt, im Alter von vierundzwanzig und etwa fünfzehn Pfund unter seinem üblichen Gewicht, brachte er kaum mehr zehn zustande. Nach einer Woche gelangen ihm drei Übungseinheiten mit je sechzehn Liegestützen und zweiundzwanzigmaligem Aufrichten aus der Rückenlage mit gestreckten Beinen in den Sitz. Wenn er damit fertig war, lehnte er sich neben seinen Farbtopffreunden an die Kellerwand und spürte seinen Puls gegen seine Zähne hämmern. Seine Muskeln fühlten sich an wie Sandkuchen.

Manchmal fragte er sich, ob diese Anstrengung überhaupt der Mühe wert war. Manchmal wiederum drehte er, wenn sich sein Herzschlag beruhigt und sein Körper wieder zu seiner normalen Funktion zurückgefunden hatte, die Lampe herunter und stand in der Dunkelheit des Kellers einfach nur da.

Er war vierundzwanzig, aber er besaß immer noch Vorstellungskraft.

»In der blauen Ecke«, kommentierte er leise, »haben wir den Weltmeister, den arischen Inbegriff – den Führer.« Er atmete und drehte sich um. »Und in der roten Ecke sehen wir den rattengesichtigen jüdischen Herausforderer – Max Vandenburg.«

Um ihn herum wurde alles zur Wirklichkeit.

Weißes Licht senkte sich zu einem Boxring herab, und eine Menge umringte ihn und murmelte – dieser magische Klang von vielen Menschen, die durcheinanderreden. Wie kam es, dass alle Leute dort gleichzeitig so viel zu sagen hatten? Der Ring selbst war tadellos. Eine tadellose Matte, herrliche Seile. Selbst die von den dicken Seilsträngen abstehenden Fasern waren tadellos und schimmerten im weißen Licht. Der Raum roch nach Zigaretten und Bier.

Diagonal ihm gegenüber stand Adolf Hitler in seiner Ecke, begleitet von seinem Gefolge. Seine Beine ragten aus einem rotweißen Mantel mit schwarzem Hakenkreuz, das auf dem Rücken eingebrannt war. Sein Schnurrbart wirkte wie angestrickt. Er flüsterte seinem Trainer Goebbels etwas zu. Er sprang von einem Fuß auf den anderen und lächelte. Er lächelte am lautesten, als der Ansager seine vielen Verdienste aufzählte, denen die bewundernde Menge lärmend applaudierte. »Ungeschlagen!«, verkündete der Ansager. »Sieger über zahlreiche Juden und andere Gefahren für das deutsche Volk! Herr Führer«, schloss er, »wir grüßen Sie!« Die Menge raste.

Als Nächstes, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, kam der Herausforderer.

Der Ansager wandte sich Max zu, der allein in der Ecke des Herausforderers stand. Kein Mantel. Kein Gefolge. Nur ein einsamer junger Jude mit Mundgeruch, einer nackten Brust und müden Händen und Füßen. Selbstverständlich waren seine kurzen Hosen grau. Auch er bewegte sich von einem Fuß auf den anderen, aber es geschah verhalten, um nicht unnötig Energie zu vergeuden. Er hatte im Trainingsraum viel Schweiß vergossen, um das erforderliche Gewicht zu erreichen.

»Der Herausforderer ist von«, rief der Ansager – und hier machte er eine kleine Pause, um die Wirkung zu steigern: »jüdischem Blut.« Die Menge buhte und huhte, wie menschliche Schreckgestalten. »Mit einem Gewicht von...«

Der Rest seiner Worte verhallte ungehört. Sie wurden von Schimpfworten von der Tribüne überdröhnt. Max schaute zu, wie seinem Gegner der Mantel abgenommen wurde und er in die Mitte des Rings trat, um dem Herausforderer die Hand zu schütteln und sich, wie es die Tradition verlangte, vom Schiedsrichter die Regeln erklären zu lassen.

»Guten Tag, Herr Hitler.« Max nickte, aber der Führer zeigte nur kurz seine gelben Zähne und verbarg sie rasch wieder hinter seinen Lippen.

»Meine Herren«, sprach ein kurzgewachsener Schiedsrichter in schwarzen Hosen und einem blauen Hemd. An seiner Kehle hing eine Fliege. »Zunächst und vor allem erwarten wir einen fairen und sauberen Kampf.« Er sprach jetzt nur den Führer an. »Es sei denn natürlich, Herr Hitler, wenn Sie am Verlieren sind. Sollte sich dies abzeichnen, dann bin ich durchaus gewillt, ein Auge zuzudrücken und Ihnen jede unsaubere Taktik gegen dieses Stück jüdischen Abschaums durchgehen zu lassen, damit Sie ihn zerquetschen und in die Ringmatte schmieren können.« Er nickte mit großer Höflichkeit. »Ist das klar?«

Der Führer machte zum ersten Mal den Mund auf. »Glasklar.«

Max gegenüber sprach der Schiedsrichter eine Warnung aus. »Was dich betrifft, Drecksjude: Pass gut auf, was du tust. Ich werde dich genau im Auge behalten. Sehr genau sogar.« Dann wurden die beiden Kämpfer wieder in ihre Ecken geschickt.

Eine kurze Stille folgte.

Dann die Glocke.

Als Erster trat der Führer vor, krummbeinig und knochig. Er rannte auf Max zu und stach ihm seine Faust ins Gesicht. Die Menge bebte. Die Glocke klang ihnen noch in den Ohren, und das zufriedene Lächeln aus unzähligen Gesichtern schlang sich um die Seile. Rauchiger Atem entströmte Hitlers Mund, und seine Hände bearbeiteten Max’ Gesicht, schoben es etliche Male hierhin und dorthin, trafen die Lippen, die Nase, das Kinn – und Max war immer noch nicht aus seiner Ecke getreten. Um die Bestrafung abzuwehren, hob er die Hände, doch der Führer zielte stattdessen auf seine Rippen, seine Nieren, seine Lunge. Oh, diese Augen, die Augen des Führers. Sie waren so köstlich braun – wie die Augen eines Juden -, und sie waren so entschlossen, dass selbst Max einen Moment lang wie erstarrt dastand, als er zwischen den trommelnden, schemenhaft schnellen Fäusten des anderen einen Blick auf sie werfen konnte.

Es gab nur eine einzige Runde, und sie dauerte stundenlang. Die meiste Zeit ging es so weiter, wie es begonnen hatte.

Der Führer hämmerte auf den Juden ein wie auf einen Sandsack.

Überall floss jüdisches Blut.

Wie rote Regenwolken auf der himmelweißen Matte aus Leinwand auf dem Boden des Rings.

Schließlich knickten Max’ Knie ein. Seine Wangenknochen stöhnten lautlos. Das entzückte Gesicht des Führers kippte nach oben, nach oben, bis der Jude geschrumpft, geschlagen und gebrochen zu Boden sank.

Ein Aufbrüllen.

Dann Stille.

Der Schiedsrichter zählte. Er hatte einen Goldzahn und eine Unmenge Haare in den Nasenlöchern.

Langsam kam der Jude Max Vandenburg auf die Füße und richtete sich auf. Seine Stimme war wacklig. Eine Einladung. »Kommen Sie, Führer«, sagte er. Als dieses Mal Adolf Hitler seinen jüdischen Gegner attackierte, machte Max einen Schritt zur Seite und stieß ihn in die Ecke. Er schlug ihn sieben Mal und zielte stets auf eine einzige Stelle.

Auf den Schnurrbart.

Beim siebten Mal verfehlte er ihn. Es war das Kinn des Führers, das den Schlag einstecken musste. Ganz unvermittelt hing Hitler in den Seilen und kippte nach vorn, landete auf den Knien. Diesmal wurde nicht gezählt. Der Schiedsrichter zuckte in seiner Ecke zusammen. Das Publikum sank auf die Sitze, griff zum Bier. Kniend suchte der Führer sich nach Blutspuren ab und strich sein Haar glatt, von rechts nach links. Als er sich wieder aufrappelte, unter den anerkennenden Rufen aus Tausenden von Kehlen, trat er vor und tat etwas Merkwürdiges. Er drehte dem Juden den Rücken zu und zog die Boxhandschuhe von den Fäusten.

Die Menge war verblüfft.

»Er gibt auf«, flüsterte jemand, aber schon stand Adolf Hitler auf den Seilen und sprach zur Menge.

»Meine deutschen Freunde«, rief er, »heute Abend habt ihr die Gelegenheit, etwas zu erkennen.« Mit nackter Brust und siegesgewissem Blick deutete er hinüber auf Max. »Ihr erkennt, dass wir uns etwas gegenübersehen, was so finster und mächtig ist, wie wir es uns in unseren kühnsten Träumen nicht hätten ausmalen können. Erkennt ihr es?«

Sie antworteten. »Ja, mein Führer.«

»Erkennt ihr, dass dieser Feind sich seinen Weg gebahnt hat – einen verabscheuungswürdigen Weg, durch unsere Rüstung hindurch, durch unsere Verteidigungslinie – und dass ich unmöglich allein hier stehen und gegen ihn kämpfen kann?« Seine Worte wurden sichtbar. Sie fielen aus seinem Mund wie Juwelen. »Schaut ihn euch an. Schaut ihn gut an!« Sie schauten. Auf den blutigen Max Vandenburg. »Während wir noch sprechen, überlegt er bereits, wie er uns unterwandern kann. Er zieht in das Haus nebenan. Er schleicht sich in eure Familien ein, mit der Absicht, das Ruder zu übernehmen. Er...« Hitler warf ihm einen Blick voller Verachtung und Abscheu zu. »Er wird euch besitzen, schon bald. Morgen schon wird er in Geschäften, die heute noch euch gehören, nicht etwa an der Verkaufstheke stehen, sondern hinten im Lehnstuhl sitzen und seine Pfeife rauchen. An seiner Stelle werdet ihr die Arbeit tun. Ihr werdet für ihn schuften – für einen Hungerlohn, während er kaum laufen kann, weil seine Taschen bis zum Rand gefüllt sind. Wollt ihr einfach dabeistehen und dies zulassen? Wollt ihr danebenstehen, so wie eure Anführer in der Vergangenheit, als sie euer Land an andere verschenkten, als sie euer Land hergaben für den Preis von ein paar Unterschriften? Wollt ihr machtlos da draußen stehen? Oder«, und jetzt trat er auf das oberste Seil: »wollt ihr mit mir in diesen Ring steigen?«

Max zitterte am ganzen Leib. Der Schrecken stotterte in seinem Magen.

Adolf machte ihn fertig. »Wollt ihr mir folgen, damit wir diesen Feind gemeinsam besiegen?«

Im Keller der Himmelstraße 33 fühlte Max Vandenburg die Fäuste einer ganzen Nation. Einer nach dem anderen kletterte in den Ring und schlug ihn nieder. Sie ließen ihn bluten. Sie ließen ihn leiden. Es waren Millionen – bis dann, ein letztes Mal, als er mühsam auf die Füße kam …

Er schaute der nächsten Person entgegen, die sich zwischen den Seilen hindurchschob. Es war ein Mädchen. Langsam überquerte sie die Matte, und er sah eine Träne über ihre linke Wange rinnen. In ihrer rechten Hand hielt sie eine Zeitung.

»Das Kreuzworträtsel«, sagte sie sanft, »ist noch nicht gelöst.« Dann hielt sie ihm die Zeitung hin.

Dunkelheit.

Nur noch Dunkelheit.

Nur noch ein Keller. Nur noch ein Jude.




DER NEUE TRAUM: EIN PAAR NÄCHTE SPÄTER


Es war Nachmittag. Liesel kam die Kellertreppe herunter. Max hatte die Hälfte seiner Liegestütze absolviert.

Sie schaute eine Weile zu, ohne dass er sie bemerkte. Dann trat sie vor und setzte sich zu ihm. Er stand auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Habe ich dir schon von meinem neuen Traum erzählt?«, fragte er sie.

Liesel rückte ein wenig zur Seite, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

»Aber diesen träume ich, wenn ich wach bin.« Er deutete auf die glutlose Kerosinlampe. »Manchmal mache ich das Licht aus. Dann stehe ich da und warte.«

»Auf was?«

»Nicht auf was. Auf wen

Ein paar Augenblicke sagte Liesel nichts. Es war eines jener Gespräche, bei denen zwischen den ausgesprochenen Sätzen etwas Zeit vergehen musste. »Auf wen wartest du?«

Max rührte sich nicht. »Auf den Führer.« Er sagte es ohne jegliche Leidenschaft. »Das ist der Grund, warum ich trainiere.«

»Die Liegestütze?«

»Richtig.« Er ging zur Treppe. »Jede Nacht warte ich im Dunkeln, und der Führer kommt diese Stufen herab. Er kommt zu mir, und dann kämpfen wir, er und ich. Stundenlang.«

Liesel war aufgestanden. »Und wer gewinnt?«

Zuerst wollte er ihr sagen, dass niemand gewinnen würde, aber dann fiel sein Blick auf die Farbeimer, die farbbeklecksten Lumpen und den anwachsenden Stapel aus Zeitungen. Er betrachtete die Worte an den Wänden, das Wolkenseil und die Gestalten darauf.

»Ich«, sagte er.

Es war, als hätte er seine Hand geöffnet, ihr die Antwort überreicht und seine Hand dann wieder geschlossen.

In Molching, Deutschland, standen zwei Menschen unter der Erde und unterhielten sich. Es klingt fast wie der Anfang eines Witzes:

»Ein Jude und ein Deutscher stehen in einem Keller. Sagt der Jude …«

Aber es war kein Witz.




DIE ANSTREICHER: ANFANG JUNI


Ein weiteres von Max’ Projekten drehte sich um die Überreste von Mein Kampf. Jede Seite wurde einzeln aus der Bindung gerissen und auf dem Boden ausgelegt, damit sie einen weißen Anstrich bekommen konnte. Dann wurde sie zum Trocknen aufgehängt und wieder zwischen die Buchdeckel gelegt. Als Liesel eines Tages von der Schule nach Hause kam, waren Max, Rosa und ihr Papa dabei, die Seiten anzumalen. Viele hingen bereits mit Wäscheklammern auf einer Leine, genauso wie es damals bei den Vorbereitungen für den Überstehmann gewesen war.

Alle drei schauten auf und sprachen gleichzeitig.

»Hallo, Liesel.«

»Nimm dir einen Pinsel, Liesel.«

»Wird auch Zeit, Saumensch. Wo hast du so lange gesteckt?«

Beim Malen dachte Liesel an Max Vandenburgs Kampf mit dem Führer, so wie er ihn ihr geschildert hatte.




VISIONEN IN EINEM KELLER, JUNI 1941


Schläge werden ausgeteilt, die Menge tritt aus den Wänden


hervor. Max und der Führer kämpfen auf Leben und Tod.


Beide prallen gegen die Treppe und taumeln vorwärts. Im


Schnurrbart des Führers klebt Blut, genauso wie auf seinem


Scheitel, auf der rechten Seite seines Kopfes. »Kommen Sie,


Führer«, sagt der Jude. Er winkt ihn näher.


»Kommen Sie, Führer.«


Das Bild löste sich auf, und Liesels erste weiße Seite war fertig. Papa zwinkerte ihr zu. Mama tadelte sie, weil sie die Farbe so lange mit Beschlag belegt hatte. Max begutachtete jede einzelne Seite; möglicherweise sah er schon vor sich, was dereinst auf diesen Seiten erscheinen würde. Viele Monate später würde er auch den Einband des Buchs übermalen und ihm einen neuen Titel geben, nach einer der Geschichten, die er bis dahin tief im Innern geschrieben und illustriert haben würde.

An diesem Nachmittag, im geheimen Untergrund der Himmelstraße 33, bereiteten die Hubermanns, Liesel Meminger und Max Vandenburg die Seiten für Die Worteschüttlerin vor.

Es war ein gutes Gefühl, ein Anstreicher zu sein.




DIE KRAFTPROBE: 24. JUNI 1941

Dann kam die siebte Seite des Würfels. Zwei Tage nachdem Deutschland in Russland einmarschiert war. Drei Tage bevor die Briten und die Sowjets ein Abkommen schlossen.


Sieben.

Du würfelst und siehst es kommen, weißt genau, dass dies kein normaler Würfel ist. Du nennst es Pech, aber du wusstest schon die ganze Zeit, dass es so kommen würde. Du schlepptest es ja selbst ein. Der Tisch konnte es schon in deinem Atem riechen. Der Jude lugte von Anfang an aus deiner Tasche. Er ist dir ans Revers geheftet, und in dem Moment, in dem du würfelst, weißt du, dass du eine Sieben wirfst – der einzige Wurf, der dich treffen kann. Der Würfel fällt. Er starrt dir in beide Augen, wundersam und verhasst, und du wendest dich ab, während es in deiner Brust nagt.

Das war Pech.

Das behauptest du.

Ohne Bedeutung.

Das redest du dir selbst ein – denn tief im Innern weißt du, dass dieses kleine Wechselspiel des Glücks mit dem Finger auf die Ereignisse zeigt, die noch kommen werden. Du versteckst einen Juden. Du wirst dafür bezahlen. Auf die eine oder andere Art.


Rückblickend sagte sich Liesel, dass es keine große Sache war. Vielleicht lag der Grund für diese Ansicht darin, dass bis zu der Zeit, als sie im Keller ihre Geschichte schrieb, bereits so vieles passiert war. Mit dem Gesamtbild vor Augen empfand sie die Tatsache, dass Rosa vom Bürgermeister und seiner Frau entlassen wurde, überhaupt nicht als Unglück. Es hatte nichts damit zu tun, dass sie in ihrem Keller einen Juden versteckten. Es hatte mit dem allumfassenden Wesen des Krieges zu tun. Zum damaligen Zeitpunkt jedoch kam es über sie wie eine Strafe.


Eigentlich fing es schon eine Woche vor dem 24. Juni an. Liesel stöberte wie immer nach einer Zeitung für Max. Sie fand eine in einem Abfalleimer an der Ecke zur Münchener Straße, griff hinein und steckte sich die Zeitung unter den Arm. Nachdem sie ihre Beute zu Max gebracht und er sie das erste Mal gelesen hatte, warf er ihr einen Blick zu und deutete auf das Bild auf der Titelseite. »Ist das nicht der Mann, dem du immer die Wäsche bringst?«

Liesel, die vor der Wand gestanden hatte, trat zu ihm. Sie hatte gerade sechs Mal das Wort »Argument« geschrieben, direkt neben das Bild des Wolkenseils und der baumelnden Sonne, das Max gemalt hatte. Max reichte ihr die Zeitung, und sie nickte. »Das ist er.«

Sie las den Artikel. Heinz Hermann, der Bürgermeister, wurde zitiert. Er war der Meinung, dass, obwohl der Krieg ganz nach Wunsch verlaufe, die Einwohner von Molching, wie alle verantwortungsbewussten Deutschen, entsprechende Maßnahmen ergreifen und sich auf eventuell bevorstehende härtere Zeiten einstellen sollten. »Man weiß nie«, erklärte er, »was unsere Feinde im Sinn haben oder wie sie versuchen werden, uns zu schwächen.«

Eine Woche später trugen die Worte des Bürgermeisters bittere Früchte. Liesel tauchte wie immer in der Großen Straße auf und las auf dem Boden der Bibliothek im Pfeifer. Die Gattin des Bürgermeisters verhielt sich nicht ungewöhnlich – oder besser gesagt: nicht ungewöhnlicher als sonst -, bis es Zeit für Liesel war zu gehen.

Als sie diesmal Liesel das Buch anbot, bestand sie darauf, dass das Mädchen es nahm. »Bitte.« Sie flehte fast. Das Buch war von einer festen, bestimmten Faust umklammert. »Nimm es. Bitte. Nimm es.«

Liesel, merkwürdig berührt von dem seltsamen Verhalten der Frau, ertrug es nicht länger, sie zu enttäuschen. Das grau gebundene Buch mit den vergilbenden Seiten fand seinen Weg in ihre Hand, und sie machte ein paar Schritte den Flur hinab. Als sie nach der Wäsche fragen wollte, schenkte ihr die Frau des Bürgermeisters einen abschließenden Blick voll morgenbemäntelter Trauer. Sie griff in eine Schublade und zog einen Umschlag heraus. Ihre Stimme, klebrig aus Mangel an Übung, hustete die Worte hervor: »Es tut mir leid. Das ist für deine Mama.«

Liesel hörte auf zu atmen.

Sie war sich plötzlich bewusst, wie leer sich ihre Füße in ihren Schuhen fühlten. Irgendetwas verhöhnte ihre Kehle. Sie zitterte. Dann streckte sie die Hand aus und nahm den Brief. Im selben Moment hörte sie die Uhr in der Bibliothek. Ihr wurde klar, dass Uhren gar nicht tickten, nein, nicht einmal entfernt ähnelte ihr Klang einem Tick-Tack, Tick-Tack. Es war vielmehr der Schlag eines Hammers, der gleichmäßig auf die Erde einhieb. Es war der Klang des Grabes. Wenn doch nur meines schon ausgehoben wäre, dachte sie – denn in diesem Augenblick wünschte sich Liesel Meminger zu sterben. Als die anderen Kunden Mama entlassen hatten, hatte es nicht so wehgetan. Es hatte ja immer noch den Bürgermeister gegeben, seine Bibliothek und ihre Verbindung mit der Frau. Doch jetzt war auch die letzte Hoffnung weg. Diesmal fühlte sie sich abgrundtief betrogen.

Wie sollte sie ihrer Mama unter die Augen treten?

Die spärlichen Münzen hatten Rosa stets auf die eine oder andere Art und Weise geholfen. Eine zusätzliche Handvoll Mehl. Ein Stück Fett.

Ilsa Hermann starb ebenfalls tausend Tode – weil sie Liesel endlich loswerden wollte. Das Mädchen sah es in der Art, wie sie den Morgenmantel ein wenig enger um den Körper raffte. Die Schwerfälligkeit ihrer Trauer hing immer noch in ihrem Dunstkreis, aber es war klar, dass sie die Sache hinter sich bringen wollte. »Sag deiner Mama«, sprach sie wieder – ihre Stimme renkte sich nun ein, während die Worte sich zu einem Satz vereinigten, »dass es uns leidtut.« Sie trieb das Mädchen in Richtung Tür.

Liesel fühlte es zwischen den Schulterblättern. Den Schmerz, den Aufprall der endgültigen Abweisung.

Das war’s?, fragte sie sich im Stillen. Sie werfen mich einfach raus?

Langsam hob sie den leeren Sack hoch und schob sich zur Tür. Als sie draußen war, drehte sie sich um und schaute der Frau des Bürgermeisters einige Sekunden lang ins Gesicht. Sie schaute ihr mit einem beinahe wilden Stolz direkt in die Augen und sagte: »Danke schön.« Ilsa Hermann lächelte nutzlos, geschlagen.

»Wenn du herkommen willst, um zu lesen«, log die Frau (jedenfalls empfand es das Mädchen in seinem schockierten, trauernden Zustand als Lüge), »dann bist du herzlich willkommen.«

In diesem Augenblick war Liesel erstaunt über die Breite der Tür. Da war so viel Platz. Warum brauchten Leute so viel Platz, nur um durch eine Tür zu gehen? Wenn Rudi hier gewesen wäre, hätte er sie ausgelacht – wie sollten sie sonst ihr ganzes Zeug ins Haus bringen?

»Auf Wiedersehen«, sagte das Mädchen. Langsam und voller Trübsinn schloss sich die Tür.


Liesel ging nicht weg.


Lange saß sie auf den Stufen und schaute auf Molching hinab. Es war weder warm noch kalt, und der Blick auf die Stadt war klar. Es war still. Molching lag wie unter einer Glasglocke.

Sie öffnete den Brief. Der Bürgermeister Heinz Hermann erklärte ganz genau, warum er die Dienste von Rosa Hubermann nicht mehr in Anspruch nehmen konnte. Er ging dabei diplomatisch vor, erläuterte, dass es Heuchelei wäre, wenn er selbst sich eine derartige kleine Annehmlichkeit leisten würde und andererseits der Bevölkerung riet, sich auf härtere Zeiten einzustellen.

Endlich stand sie auf und trat den Heimweg an. Der Moment der Reaktion kam, als sie das Schild »Steiner – Schneidermeister« in der Münchener Straße sah. Die Traurigkeit fiel von ihr ab, und sie wurde von Wut übermannt. »Dieser verdammte Bürgermeister«, flüsterte sie. »Diese erbärmliche Frau.« Die Tatsache, dass härtere Zeiten im Anmarsch waren, war doch nur noch ein Grund mehr, um Rosa weiter zu beschäftigen. Aber nein, sie mussten sie ja feuern. Na, wenigstens mussten sie jetzt ihre blöde Wäsche selber waschen, wie normale Leute auch, dachte sie. Wie arme Leute.

In ihrer Hand versteifte sich Der Pfeifer.

»Sie geben mir also das Buch«, sagte das Mädchen, »aus Mitleid – damit sie sich besser fühlen …« Der Umstand, dass ihr das Buch schon früher angeboten worden war, spielte an diesem Tag keine Rolle.

Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte wieder zur Großen Straße, wie sie es schon einmal getan hatte. Die Versuchung zu rennen war riesengroß, aber sie hielt sich zurück, sparte ihre Kraft für die Worte.

Als sie dort ankam, war sie enttäuscht, dass der Bürgermeister nicht zu Hause war. Kein Wagen war hübsch ordentlich am Straßenrand abgestellt, was andererseits vielleicht ganz gut war. Wäre er da gewesen, hätte sie nicht gewusst, was sie in diesem Augenblick, in dem es um Reich gegen Arm ging, mit dem Auto angestellt hätte.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang sie zur Tür und hämmerte so fest dagegen, dass ihr die Hand wehtat. Sie genoss die kleinen Schmerzfragmente.

Ganz offensichtlich war die Bürgermeistergattin entsetzt, sie wiederzusehen. Ihr fusseliges Haar war feucht, und ihre Falten weiteten sich, als sie die unverkennbare Wut auf Liesels sonst so duldsam blassem Gesicht sah. Sie öffnete den Mund, aber kein Ton kam heraus, was ganz praktisch war, weil Liesel das Reden für sich beanspruchte.

»Sie glauben wohl«, sagte sie, »dass Sie mich mit diesem Buch kaufen können, was?« Ihre Stimme war zwar zittrig, aber sie zerrte am Hals der Frau. Der schimmernde Zorn war dick und zermürbend, aber sie kämpfte sich hindurch. Sie kämpfte sich noch höher hinauf, bis zu einem Punkt, an dem sie sich die Tränen aus den Augen wischen musste. »Sie geben mir dieses saumäßige Buch und denken, dass dann alles gut wird, wenn ich hingehen und meiner Mama sagen muss, dass wir gerade unseren letzten Kunden verloren haben. Während Sie hier in Ihrem großen Haus hocken.«

Die Arme der Bürgermeistergattin.

Sie hingen.

Ihr Gesicht glitt herab.

Liesel allerdings wankte nicht. Sie sprühte ihre Worte geradewegs in die Augen der Frau.

»Sie und Ihr Mann. Hocken hier oben.« Jetzt wurde sie bösartig. Bösartiger und gemeiner, als sie jemals gedacht hätte, in der Lage zu sein.

Die Wunde der Worte.

Ja, die Brutalität der Worte.

Sie beschwor sie von einem Ort herbei, den sie gerade erst ausfindig gemacht hatte, und schleuderte sie Ilsa Hermann entgegen. »Es wird sowieso Zeit«, eröffnete sie ihr, »dass Sie Ihre stinkende Wäsche selbst waschen. Es wird Zeit, dass Sie sich der Tatsache stellen, dass Ihr Sohn tot ist. Er wurde getötet! Er wurde erwürgt und aufgeschnitten, vor mehr als zwanzig Jahren! Oder ist er erfroren? Egal, jedenfalls ist er tot! Er ist tot, und es ist erbärmlich, dass Sie hier sitzen und in Ihrem eigenen Haus frieren, nur damit Sie leiden. Glauben Sie, Sie sind die Einzige?«

Sofort.

Stand ihr Bruder neben ihr.

Er bat sie flüsternd aufzuhören, aber auch er war tot und deshalb nicht wert, dass man auf ihn hörte.

Er starb in einem Zug.

Er wurde im Schnee begraben.


Liesel schaute ihn an, aber sie konnte sich nicht bremsen. Noch nicht.

»Dieses Buch«, fuhr sie fort. Sie schob den Jungen die Treppe hinunter, brachte ihn zum Fallen. »Ich will es nicht.« Die Worte kamen jetzt ruhiger, aber immer noch so heiß wie zuvor. Sie warf das Buch der Frau vor die in Hausschuhen steckenden Füße, hörte das Aufklatschen, als es landete. »Ich will Ihr jämmerliches Buch nicht...«

Jetzt hatte sie es vollbracht. Sie verstummte.

Ihre Kehle war Ödland geworden. Keine Worte, nirgends eine Spur davon.

Ihr Bruder, der sich das Knie hielt, verschwand.

Nach einer verirrten Pause bückte sich die Frau des Bürgermeisters und hob das Buch auf. Sie war zerschlagen und zerschmettert, und diesmal nicht wegen eines Lächelns. Liesel sah es in ihrem Gesicht. Blut strömte ihr aus der Nase und leckte an ihren Lippen. Ihre Augen waren Blutergüsse. Haut war aufgeplatzt, sie war geschwollen. Alles wegen der Worte. Liesels Worten.

Sie richtete sich aus gebückter Kauerhaltung zu gebeugtem Stand auf, das Buch in der Hand, und wollte sich noch ein Mal an die Arbeit machen, wollte sagen, dass es ihr leidtat, aber der Satz fand nicht den Weg hinaus.

Schlag mich, dachte Liesel. Mach schon, schlag mich.

Ilsa Hermann schlug sie nicht. Sie zog sich nur zurück, in die hässliche Luft ihres wunderschönen Hauses, und erneut wurde Liesel alleingelassen. Sie klebte an den Stufen, zögerte, sich umzuwenden. Sie wusste, wenn sie es tat, würde die Glasglocke über Molching zersprungen sein, und sie wäre froh darüber.


Als letzte Amtshandlung des erliegenden Geschäfts las sie den Brief ein zweites Mal. Als sie das Haus der Hubermanns fast erreicht hatte, knüllte sie das Papier so fest zusammen, wie sie konnte, und warf es gegen die Tür, als wäre es ein Stein. Ich habe keine Ahnung, was die Bücherdiebin erwartete, aber der Papierball traf auf die mächtige Holzplatte und plumpste dann zurück auf die Stufen. Er landete vor ihren Füßen.

»Typisch«, bemerkte sie und trat ihn ins Gras. »Völlig nutzlos.«

Sie stellte sich vor, was mit dem Papier geschehen würde, wenn es das nächste Mal regnete und die geklebte Glasglocke über Molching umkippte. Sie sah vor sich, wie sich die Worte auflösten, Buchstabe für Buchstabe, bis nichts mehr davon übrig war. Nur Papier. Nur Erde.


Wie das Leben so spielt, war Rosa in der Küche, als Liesel ins Haus kam. »Und?«, fragte sie. »Wo ist die Wäsche?«

»Keine Wäsche heute«, sagte Liesel zu ihr.

Rosa kam zu ihr und setzte sich an den Küchentisch. Sie wusste es. Plötzlich wirkte sie viel älter. Liesel stellte sich vor, wie sie aussehen könnte, wenn sie ihren Haarknoten öffnen und die Strähnen auf die Schultern fallen lassen würde. Ein graues Tuch aus dehnbaren Haaren.

»Was hast du angestellt, Saumensch?« Der Satz war trübe. Rosa schaffte es nicht, ihn mit ihrem Gift zu tränken.

»Es ist meine Schuld«, sagte Liesel. »Ganz und gar meine Schuld. Ich habe die Frau des Bürgermeisters beleidigt und ihr gesagt, sie solle aufhören, ihren toten Sohn zu beweinen. Ich habe sie ›erbärmlich‹ genannt. Und sie haben dich gefeuert. Hier.« Sie ging zur Anrichte, wo die Kochlöffel standen, griff sich ein paar davon mit einer Hand und legte sie vor Rosa auf den Tisch. »Such dir einen aus.«

Rosa berührte einen, umschloss ihn mit der Hand, ließ ihn dann jedoch sinken. »Ich glaub dir kein Wort.«

Liesel war hin- und hergerissen zwischen Kummer und abgrundtiefer Verwirrung. Das eine Mal, da sie selbst nach einer Abreibung verlangte, bekam sie keine. »Es ist meine Schuld.«

»Es ist nicht deine Schuld«, sagte Mama, stand auf und strich Liesel gar über das wächserne, ungewaschene Haar. »Ich weiß, dass du so etwas nicht sagen würdest.«

»Ich hab’s aber gesagt!«

»Also schön, du hast es gesagt.«

Liesel verließ die Küche. Sie hörte, wie der Kochlöffel mit einem Klicken in den Aluminiumkrug gestellt wurde, wo er hingehörte. Als sie in ihrem Zimmer verschwand, landeten die Löffel samt Krug auf dem Küchenfußboden.


Später ging sie hinunter in den Keller, wo Max im Dunkeln stand und vermutlich schon wieder mit dem Führer boxte.

»Max?« Das Licht dämmerte vor sich hin – eine rote Münze, die in der Ecke schwebte. »Kannst du mir beibringen, wie man Liegestütze macht?«

Max zeigte es ihr und hob gelegentlich ihren Oberkörper an, um ihr zu helfen, aber trotz ihres hageren Aussehens war Liesel stark und konnte ihr Gewicht ohne große Schwierigkeit selbst halten. Sie zählte nicht, wie viele sie schaffte, aber an diesem Abend machte die Bücherdiebin in dem düster schimmernden Keller genug Liegestütze, um etliche Tage lang Muskelkater zu verspüren. Selbst als Max sie darauf hinwies, dass sie sich überanstrengte, machte sie noch weiter.


Im Bett las sie mit Papa, der merkte, dass etwas nicht stimmte. Es war das erste Mal seit einem Monat, dass er gekommen war und sich zu ihr gesetzt hatte. Sie fühlte sich getröstet, wenn auch nur ein klein wenig. Irgendwie wusste Hans Hubermann immer die richtigen Worte, wusste, wann er bleiben und wann er gehen musste.

Vielleicht war Liesel die einzige Sache, in der er sich ganz und gar auskannte.

»Geht es um die Wäsche?«, fragte er.

Liesel schüttelte den Kopf.

Papa hatte sich ein paar Tage nicht rasiert, und er rieb sich alle paar Minuten über die juckenden Bartstoppeln. Seine silbrigen Augen waren flach und ruhig, voll sanfter Wärme, wie immer, wenn es um Liesel ging.

Als das Lesen zu Ende war, schlief Papa ein. Und erst dann sagte Liesel, was sie die ganze Zeit schon hatte sagen wollen.

»Papa«, flüsterte sie, »ich glaube, ich komme in die Hölle.«

Ihre Beine waren warm. Ihre Knie kalt.

Sie dachte an die Nächte, als sie ins Bett gemacht und Papa die Laken gewaschen und ihr die Buchstaben des Alphabets beigebracht hatte. Jetzt blies sein Atem über die Decke, und sie küsste seine kratzige Wange.

»Du musst dich rasieren«, sagte sie.

»Du kommst nicht in die Hölle«, erwiderte Papa.

Ein paar Augenblicke lang betrachtete sie sein Gesicht. Dann legte sie sich wieder hin, lehnte sich an ihn, und gemeinsam schliefen sie, teilweise in Molching, aber teilweise auch auf der siebten Seite des deutschen Würfels.

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