Wolfgang Hohlbein Bernhard Hennen Die Entdeckung

1

Ob Praios, der Gott des Lichtes und der Gerechtigkeit, ihn strafen wollte? Marcian war umgeben von Finsternis. Nicht der kleinste Lichtstrahl gab ihm Orientierung. Doch obwohl es unmöglich war, etwas zu sehen, war sich der Inquisitor sicher, beobachtet zu werden. Er fühlte sich ausgeliefert, spürte intuitiv, daß hier etwas war, das ihn feindlich musterte. Mühsam unterdrückte er einen erlösenden Schrei. Er würde keine Schwäche zeigen! Vorsichtig tastete seine Hand nach dem Schwertgriff. Die Waffe war verschwunden. Wieder mußte er gegen die aufkeimende Panik ankämpfen. Er wollte laufen, doch mochte vor ihm ein Abgrund liegen. Marcian biß die Zähne zusammen und tastete sich Schritt für Schritt vorwärts.

Das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde immer stärker. Etwas, das sich kühl, fleischig anfühlte und doch auf entsetzliche Art anders war als alles Fleisch, das er je berührt hatte, streifte sein Gesicht. Noch bevor er es zu fassen bekam, war es schon wieder in die alles verschlingende Dunkelheit verschwunden. Er hatte das Gefühl, daß es nach oben ausgewichen war; irgendwo über ihm waren auch die Augen, die ihn unablässig beobachteten. Langsam tastete er sich weiter. Unter seinen Füßen knirschte es bei jedem Schritt unangenehm. Ein sprödes Geräusch wie von dürren, brechenden Ästen erklang, während er weiter in die Dunkelheit schritt. Dann ertastete er eine Wand. Eine unangenehm riechende, lauwarme Flüssigkeit tröpfelte an ihr herunter. Angeekelt wischte der Inquisitor seine Hand am Umhang ab. Er mußte dieser Wand folgen. So würde er vielleicht zu einem Ausgang gelangen.

Bei dem Gedanken, das schleimige Mauerwerk noch einmal zu berühren, schauderte ihn. Gleichzeitig wurde das Gefühl, beobachtet zu werden, intensiver. Er wußte, daß er nicht mehr viel Zeit hatte. Mit jedem Augenblick, den er verweilte, wurde sein Entkommen von diesem Ort unwahrscheinlicher. Marcian ging in die Knie und tastete nach seinem Stiefel. Etwas huschte leise fiepend um seine Füße. Wenigstens gab es an diesem götterverlassenen Ort noch Mäuse oder Ratten. Nicht, daß er diese Nager schätzte, aber jetzt verschaffte ihm ihre Anwesenheit Erleichterung. Unsicher tastete er nach seinem Stiefelfutter. Mit einem raschen Ruck zog er ein verborgenes Messer. Dann richtete er sich wieder auf und berührte mit der Klinge die Wand. So würde er das schreckliche Gemäuer nicht abtasten müssen. Wieder begann er sich vorsichtig vorwärtszuarbeiten, die Wand zu seiner Rechten als einzige Orientierung. Er wußte nicht, wie lange er so blindlings vorwärtsgetaumelt war, als er zum ersten Mal einen anderen Geruch als kühlen Modergestank wahrnahm. Es roch nach brennendem Holz, und noch etwas anderes lag in der Luft. Ein Duft, der ihm unangenehm vertraut vorkam.

Der Inquisitor war für einen Augenblick stehengeblieben, als er über sich ein sonderbares Geräusch hörte. Etwas streifte seinen Umhang. Ein namenloses Alptraumgeschöpf, das von der Decke herab nach ihm tastete und dessen Anblick Wahnsinn bedeuten mußte. Marcian schrie auf und rannte vorwärts. Er stolperte über den unebenen Boden, der mit Ästen oder Wurzeln bedeckt war. Er wollte, daß hier nur Äste und Wurzeln lagen und nicht das, was ihm seine Phantasie vorgaukelte!

Allmählich wurde es heller. Weit vor ihm zeichnete sich ein Lichtpunkt ab. Ganz so, als läge dort der Ausgang dieser Katakomben. Doch das Licht brachte nicht nur Hoffnung. Langsam begann der Inquisitor zu erkennen, was bislang von der Dunkelheit verborgen gehalten worden war: Myriaden bleiche zerborstene Knochen, die den Boden des breiten Gangs bedeckten. Knochen von Menschen und Tieren und von Dingen, die er nicht zu benennen vermochte und auf denen er seinen Blick besser nicht richtete. Merkwürdige Schädel, die um so schrecklicher waren, weil sie entfernt an gräßlich deformierte Menschenköpfe erinnerten. Marcian heftete seinen Blick fest auf das Licht und rannte schneller. Er strauchelte durch das gewaltige Grab und versuchte verzweifelt zu ignorieren, was die zunehmende Helligkeit enthüllte. Er preßte sich die Hände auf die Ohren, um das unsägliche, schmatzende Geräusch, das ihm an der Decke folgte, nicht mehr hören zu müssen. Dann hatte das Etwas ihn eingeholt, und vor ihm schossen zwei Stränge aus phosphoreszierendem, bleichem Fleisch von der Decke. An ihren Enden öffneten sich zwei grüne Augen, deren Blick ihm unangenehm vertraut vorkam. Immer mehr Fleischstränge mit Augenpaaren stießen von der Decke herab, umringten ihn mit stummen, anklagenden Blicken. Und der Inquisitor erkannte sie, die Augen von Sartassa und Drugon. Den milchigen Blick des Irgan Zaberwitz und das kalte, überlegene Mustern, das er an Eolan so sehr verabscheut hatte. Es waren die Augen der Toten aus Greifenfurt, die ihn anklagend umringten; immer mehr von ihnen stießen mit saugendem Geräusch von der Decke herab und drohten ihn, in einem Gefängnis aus schleimigen Fleisch und zuckenden Augen einzusperren. Für einen Moment überlegte er, das Messer, das er in der Rechten hielt, gegen seinen eigenen Leib zu richten, doch dann stürzte er sich mit einem wilden, an Wahnsinn grenzenden Schrei auf die schrecklichen Augen. Er versuchte, die dünnen Stränge zu durchtrennen und sich einen Weg zum Licht zu bahnen, das schon so greifbar nahe war.

Doch wo er mit Mühen einen Strang durchschnitt, erschienen auf der Stelle zehn neue. Immer dichter wurde das fleischgewordene Gefängnis, und schließlich verlor er den rettenden Lichtstrahl aus den Augen. Er war völlig umgeben von zuckendem Fleisch, das fahl schimmerte und erbärmlich nach Verwesung stank.

Langsam ging ihm die Luft aus. Er schloß die Augen, um dem Starren um ihn herum zu entgehen, und konzentrierte sich auf ein Gebet an seinen Gott. Obwohl er in der Inquisition zu Amt und Würden gelangt war, hatte man ihn nie in die Praios-Geweihtenschaft aufnehmen wollen. Man hatte unterstellt, er sei zu schwach im Glauben und zu sehr der Welt verhaftet, um ein Geweihter zu sein. Sehnsüchtig flehte er um Vergebung für seine Sünden. Dafür, daß er einen Pakt mit Zerwas geschlossen hatte, obwohl er wußte, daß der Henker ein Bote der Finsternis war. »Vergib mir«, schrie er laut heraus, und etwas in seinem Inneren flüsterte: »Öffne deine Augen.«

Marcian zögerte. Er konnte den Anblick dessen, was ihn umgab, nicht mehr ertragen. Nein, er würde die Augen nicht öffnen! Verzweifelt schnappte er nach Luft. Es roch nach Feuer. Unter seinen Knien fühlte er Steine. »Gehorche deinem Herren, öffne die Augen!« erklang majestätisch die Stimme in seinem Inneren.

Widerstrebend gehorchte er dem Befehl. Er kniete auf einer weiten Ebene. Vor ihm loderte das Feuer eines Scheiterhaufens. Vorsichtig wollte er den Blick heben, als hinter ihm wieder die Stimme erklang. »Verschließe deine Augen nicht! Sieh auf und zeige uns, daß du, ohne zu zweifeln, dem Weg der Gerechtigkeit folgst. Strafe alle, die gegen dich gesprochen haben, Lügen, und zeige uns, daß du nur fehlgeleitet warst!« Ruckartig drehte Marcian sich um. Die Stimme und die Worte kannte er nur zu gut. Unauslöschlich waren sie in seine Erinnerung eingebrannt. Hinter ihm stand der Baron Dexter Nemrod, stützte sich auf seinen eleganten Stock und musterte ihn kalt mit eisgrauen Augen.

»Ich habe mich doch nicht in dir geirrt?« Die Stimme des Großinquisitors ließ Marcian bis ins Mark erzittern. Hier sprach ein Mann, der es gewohnt war, über Leben und Tod zu gebieten. Hinter ihm war eine Gruppe weiterer Inquisitoren versammelt. Da war der feiste Roderick, mit seinen flinken Schweinsäuglein, der bis zuletzt im Prozeß gegen ihn gesprochen hatte, und Magon, den sie ›Flammenhand‹ nannten, weil er Scharfrichter der Inquisition war. Auch er hatte gefordert, daß man Marcian gemeinsam mit der Hexe verbrennen solle. Etwas abseits beobachtete Graf Gumbert amüsiert lächelnd das Geschehen. Er hatte herausgefunden, daß Jorinde eine Hexe war, und die Anklage gegen sie und Marcian vor dem obersten Inquisitionsgericht eingereicht.

»Richte dich auf, und sieh zu, wie die Flammen den Sukkubus vernichten, der dich zu versuchen verstand!« Es war die beherrschte Stimme Dexter Nemrods. Marcian wußte, daß sein Fall noch nicht entschieden war und seine Gegner nur auf eine Schwäche von ihm warteten, um ihn erneut anzuklagen. Langsam stand er auf, starrte in die Flammen und versuchte seinen Geist vor den immer lauter werdenden Schreien Jorindes zu verschließen. Er sah, wie ihr rotes Haar binnen eines Augenblicks zum Fraß des Feuers wurde, wie sie sich in Schmerzen in den eisernen Ketten wand, die sie an dem mächtigen Pfahl inmitten des Scheiterhaufens fesselten. Erst am Morgen hatte ein Magister der Garether Akademie Jorinde all ihre Zauberkraft geraubt, und kurz vor der Verbrennung hatte man sie gezwungen, eine Wurzel zu schlucken, die verhindern würde, daß sie durch den Rauch des Feuers ohnmächtig wurde. Die Inquisition hatte beschlossen, daß sie lange leiden solle — und mit ihr Marcian. Er selbst hatte das Feuer an ihren Scheiterhaufen legen müssen, und nun flehte sie ihn um die Gnade eines schnellen Todes an.

Wie versteinert stand er vor den Flammen, starrte in ihr schmerzverzerrtes Gesicht und hörte ihr Betteln, das immer mehr zu einem tonlosen Winseln wurde. Marcian stand völlig steif, unfähig, sich zu bewegen, doch jedes ihrer Worte stach wie Dolche nach seinem Herzen. Innerlich verfluchte er sich wegen seiner Feigheit. Er hatte die Wahl gehabt, mit ihr zu sterben oder die Fackel an sie zu legen. Er hatte sich für die Inquisition entschieden!

Auf Anraten des Barons war er nicht einmal in Jorindes Zelle gewesen, um mit ihr zu sprechen. Selbst als ein bestochener Wächter ihm einen Brief brachte, in dem sie ihn anflehte, sie noch ein letztes Mal vor ihrem Tod zu besuchen, war er nicht gekommen. Statt dessen hatte er der hochnotpeinlichen Befragung beigewohnt und gesehen, wie die Folterknechte den Körper schändeten, den er so oft liebkosend gestreichelt hatte.

Zum Schluß hatte Jorinde alle Schuld auf sich genommen. Sie hatte behauptet, der Namenlose selbst habe ihr auf getragen, Marcian zu verführen, und so rettete sie das Leben des jungen Inquisitors. Während des ganzen Geständnisses schaute sie ihn mit ihren grauen Augen an, mit diesem Blick voller Liebe, der ihn schon am ersten Tag ihrer ersten Begegnung in seinen Bann geschlagen hatte, als sich Jorinde auf dem Markt von Gareth bemühte, ihm halbverwelkte Herbstblumen zu verkaufen.

Er hatte damals alle Blumen gekauft und ihr anschließend geschenkt, und noch bevor es Nacht wurde, hatte sie ihm verraten, daß sie in einer kleinen Hütte nahe dem Dorf Silkwiesen vor den Toren der Hauptstadt wohnte. Einen Sommer und zwei Winter hatte Marcian sie regelmäßig in der kleinen Hütte besucht, und die Stunden mit ihr waren die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen. Er hatte sogar überlegt, seinen Dienst bei der Inquisition aufzugeben, um jeden Tag mit ihr teilen zu können, doch sie war es gewesen, die ihm davon abriet.

Und dann kam die Nacht, die ihrer beider Leben zerstörte. Während Marcian mit leeren Blicken in die Flammen starrte, erstanden die Bilder jener Schreckensnacht wieder vor seinem geistigen Auge. Der Winter war schon weit fortgeschritten gewesen. Der Schnee hatte angefangen zu tauen, und der Inquisitor trieb seinen Hengst in gnadenloser Hatz über die schlammige Straße, um zu seiner Geliebten zu gelangen.

Als er Jorindes Hütte erreichte, war der Braune schaumbedeckt. Er warf seinen Umhang über das zitternde Tier. Dann stutzte er, denn die Tür des kleinen Hauses, das aus massiven Baumstämmen gezimmert war, stand weit offen. Jorindes Namen auf den Lippen, stürmte er hinein. Das Feuer im Kamin, an dem sie sich nach ihren wilden Spielen so oft gewärmt hatten, war erloschen. Die alten Möbel, die schon Jorindes Großmutter gehört hatten, waren zerschlagen. Und all die kleinen Tiegel, die sie auf schmalen Brettern dicht unter der mit trocknenden Kräutern verhangenen Decke gestapelt hatte, lagen in Scherben. Dann legte sich eine Hand schwer auf Marcians Schulter, und eine ihm bekannte Stimme rief: »Im Namen des Praios seid Ihr, Marcian, Inquisitor im Dienste des Lichtboten, hiermit wegen der Buhlschaft mit einer Hure des Namenlosen verhaftet.«

Als Marcian sich umdrehte, blickte er in das boshafte Gesicht Graf Gumberts. Der alte Mann trug eine schimmernde Rüstung, ganz so, als wolle er in die Schlacht reiten, und ein schwerer Umhang aus Wolfspelz fiel von seinen Schultern.

»Packt ihn!« rief der Graf, und Kriegsknechte griffen nach Marcian und zerrten ihn in einen dunklen Gefängniswagen, indem er heimlich nach Gareth gebracht wurde. Das letzte, was er sah, bevor sich die schwere Tür des Wagens hinter ihm schloß, war, wie Soldaten Fackeln auf das Dach der Hütte warfen, um den Ort, an dem er glücklich gewesen war, für immer zu zerstören.

Daß man ihn in der Kaiserstadt nicht in den Kerker warf, verdankte Marcian der Fürsprache Dexter Nemrods. Ihm war auch zuzuschreiben, daß er in dem Prozeß unter der Bedingung freigesprochen wurde, seine Unschuld zu beweisen, indem er selbst die Fackel an den Scheiterhaufen der Hexe Jorinde legte. Er hatte vor den Augen seiner Geliebten diesen Eid geleistet, doch als man sie an ihm vorbei aus dem Gericht führte, flüsterte sie mit fester Stimme: »Ich weiß, daß man dich dazu gezwungen hat, mein Geliebter, und deshalb vergebe ich dir, selbst wenn ich morgen von deiner Hand sterben muß. Und sei dir gewiß, daß ich auch über den Tod hinaus immer bei dir sein werde, um dich zu ...« Ihre letzten Worte konnte er nicht mehr verstehen, denn die Wächter zerrten sie grausam an ihren Ketten von ihm weg.

Ein böiger Wind war aufgekommen und blies in die Flammen des Scheiterhaufens. »Bitte gib mir einen gnädigeren Tod«, röchelte es aus dem Feuer. Marcian konnte Jorinde hinter der Flammenwand kaum noch sehen. Sie schien in ihren Ketten nach vorne gesunken zu sein und keine Kraft zum Schreien mehr zu haben. Nur ein leises Wimmern war noch zu hören, unterbrochen von einem Flüstern, das klang, als bäte sie Satuaria, die Göttin der Hexen, um Erlösung.

Noch einmal ließ eine Windbö den Scheiterhaufen auflodern, dann war es still, und ein schwerer Regen setzte ein, der die Flammen erstickte und den gräßlich entstellten Körper, der grotesk verrenkt in den Ketten vom Pfahl herabhing, den Blicken der Inquisitoren enthüllte.

Es waren längst alle gegangen, als Marcian noch immer vor dem Scheiterhaufen stand und auf das starrte, was einst seine Geliebte gewesen war. Dann packte ihn der Wind. Wild zerrte er an Marcians Umhang und riß den jungen Inquisitor schließlich vom Boden, um ihn in die Luft zu schleudern, worauf er schließlich die Besinnung verlor.

Als er erwachte, befand er sich noch immer in der Luft. Rund um ihn war es finster, und eine Stimme im Wind flüsterte: »Ich weine noch immer um dich, Marcian. Wenn du nicht lernst, auf dein Herz zu hören, wird es dein Schicksal sein, immer einsam zu bleiben, denn siehe, welches Unglück dir eine mögliche Zukunft bringt!«

Und wie aus dem Nichts erstanden vor ihm Flammen, und als sie sich teilten, sah er mitten in dem Feuer Cindira stehen, die verzweifelt nach einem Ausweg sucht, während ihre Haare und ihr Gewand schon Feuer gefangen haben.

Marcian, der schweigend zugesehen hatte, wie vor seinen Augen Jorinde verbrannt war, begann nun zu schreien. Und als er die Götter verfluchte, die solches Unrecht billigten, stürzte er aus dem Himmel.


Als der Inquisitor wieder bei Sinnen war, fand er sich in seinem Zimmer im Bergfried. Er lag in seinem zerwühlten Bett, an seiner Seite Cindira. Er schien nicht wirklich geschrien zu haben, jedenfalls lag seine Geliebte immer noch in tiefem Schlaf. Zärtlich strich er ihr das Haar aus dem Gesicht und betrachtete ihre ebenmäßigen Züge. Wie ein kleines Tier hatte sie sich zusammengerollt, die feine Leinendecke eng um sich geschlungen. Das schwere Wildschweinfell war vom Bett gerutscht. Marcian fröstelte. Obwohl er die hölzernen Läden vor dem Fenster und den Schießscharten geschlossen hatte, zog es unangenehm in dem Zimmer. Die Kohlen in den beiden großen eisernen Becken glimmten nur noch matt und spendeten fast keine Wärme mehr. Das Feuer im Kamin war ganz erloschen. Marcian stand auf, umrundete das Bett und legte vorsichtig das Wildschweinfell über Cindira, die unruhig stöhnte. Sie schien von einem schlechten Traum geplagt zu sein. Einen Moment überlegte er, ob er sie wecken sollte, doch dann ging er zum Fenster hinüber und öffnete den großen hölzernen Laden. Ein Schwall kalter Nachtluft schlug ihm entgegen. Er ging zum Kleiderständer dicht bei dem Kamin und nahm seinen Umhang herunter, um ihn sich um die Schulter zu werfen. Dann ging er zum Fenster zurück und blickte über die schlafende Stadt. Der Monat Travia hatte begonnen, und die Orks hatten sich immer noch nicht von der schweren Niederlage beim Sturmangriff auf die Stadtmauern erholt. Dennoch hielten sie die Belagerung aufrecht. Sie hatten neue Katapulte gebaut und ihre Verteidigungsanlagen weiter gesichert. Diese Sicherungen waren im Grunde überflüssig. Die wenigen guten Einheiten, über die Marcian verfügt hatte, waren bei dem schweren Gefecht aufgerieben worden. Es hatte mehr als dreihundert Tote in Greifenfurt gegeben und noch einmal so viele Verletzte.

Die Amazone war erst vor wenigen Tagen von dem Wundfieber genesen, das sie sich durch eine schlecht gesäuberte Wunde geholt hatte, und auch Oberst von Blautann hatte seine Verletzungen noch nicht ganz auskuriert. Die Stadt selbst glich einem riesigen verletzten Körper. Nach Osten hin gab es immer weniger intakte Dächer; die Gerippe verkohlter Giebel zeichneten sich wie die Knochen großer Tierkadaver gegen den Himmel ab.

In einer halben Stunde würde die Sonne aufgehen, und schon begann sich das seltsame Zwielicht über den Himmel auszubreiten, in das die Welt getaucht wird, wenn die Nacht noch nicht ganz gewichen ist und das Praiosgestirn noch hinter dem Horizont verborgen liegt. Langsam erhellte das milde, gelbe Licht von Öllampen und Kerzen die ersten Fenster. Viele Häuser waren jetzt überbelegt, denn mit dem Wechsel der Jahreszeiten war es in den Nächten empfindlich kühl geworden. Auch jene, die zunächst noch darauf beharrten, in den Ruinen ihrer ausgebrannten Heime zu wohnen, hatten einsehen müssen, daß ein Leben ohne Dach über dem Kopf auf Dauer nicht möglich war.

Anders als bei den Lebensmittelbeschlagnahmungen vor einigen Wochen verhielten sich die Bürger der Stadt nun vernünftiger. Sie hatten begriffen, daß in dieser Lage ein Überleben nur noch möglich war, wenn man die kleinlichen Familienfehden zumindest für die Dauer der Belagerung begraben konnte. Man war also enger zusammengerückt, um entschlossener den Orks zu trotzen.

Mehr Sorgen bereitete Marcian die Versorgung der Einwohner mit Lebensmitteln. Bei dem Angriff der Orks waren zwei bis unter die Dächer gefüllte Vorratshäuser abgebrannt, und schon vorher hatte die Lage alles andere als günstig ausgesehen. Marcian rechnete nicht mehr damit, daß die kaiserlichen Truppen vor dem nächsten Frühjahr versuchen würden, einen großen Schlag gegen die Orks zu führen. Wahrscheinlich hatten schon im Rondra Hunderte von Bauern die Armee verlassen, um rechtzeitig zu Hause die Ernten einzubringen. Damit wäre das Heer zu klein, um es selbst mit einem geschwächten Sadrak Whassoi aufzunehmen.

Wahrscheinlich hatten selbst die regulären Truppen schon längst ihre Winterquartiere bezogen und lieferten sich mit den Orks allenfalls noch kleine Scharmützel.

Sollte dem so sein, dann war Greifenfurt verloren. Mit den Lebensmitteln, die sie jetzt noch hatten, mochten sie selbst bei strengster Rationierung allenfalls noch drei Monate durchhalten. Die Offiziersessen, die zu Anfang der Belagerung üblich gewesen waren, hatte Marcian nun ganz eingestellt. Es wäre schlecht für die Moral der Bürger, wenn sie miterleben müßten, wie sich ihre Anführer jede Nacht den Bauch vollschlugen, während sie selbst am Hungertuch nagten.

Langsam wurde es heller, und Marcian konnte im Morgendunst bis zu den Stallungen der Orks weit vor der Ostmauer blicken. Ob sie wohl auch Probleme mit der Versorgung hatten? Vermutlich würden sie regelmäßig mit Wagenkolonnen aus dem Norden versorgt. Zum Glück hatten sie noch keine weiteren Truppen erhalten. Überhaupt verhielten sie sich in ihrer ganzen Belagerungsstrategie sehr ungewöhnlich.

Der Inquisitor hatte Berichte über den Kampf um Lowangen gelesen, das zu Beginn der Orkkriege ein Jahr lang von den Schwarzpelzen belagert worden war. Damals hatten sie kaum über Geschütze verfügt und sich auch nicht annähernd so geschickt erwiesen wie diesmal. Manchmal hatte er den Eindruck, daß ihr Vorgehen sorgfältig auf dem Reißbrett ausgearbeitet wurde. Selbst jetzt, wo ihre Truppen zu schwach für einen direkten Angriff auf die Mauern waren, verstanden sie es, das Beste aus ihrer Lage zu machen. Sie gruben sich immer weiter ein und machten ihr Lager winterfest. Immer wieder schossen sie mit Katapulten in die Stadt, so daß man nie ganz sicher sein konnte, ob man nicht zum Opfer eines aus dem Himmel stürzenden Felsbrockens wurde, wenn man auch nur eine Straße überquerte. Vermutlich war all das dem Hirn des verräterischen Zwergen entsprungen, der seine Dienste an die Schwarzpelze verkauft hatte und der ihm schon mehrfach die Erdwälle der Orks inspiziert hatte.

Obwohl er sich seinen Umhang um die Schultern geschlungen hatte, war Marcian kalt geworden. Fröstelnd rieb er sich die Arme. Im Moment konnte er ohnehin nichts für die Stadt tun, also würde er sich den Luxus gönnen, noch einmal in sein Bett zurückzukehren. Cindira hatte in ihrem unruhigen Schlaf wieder das Wildschweinfell aus dem Bett geworfen. Noch einmal deckte er sie zu, dann kroch er unter Leinentuch und Fell und schmiegte sich an ihren warmen Körper.

Am liebsten wäre er jetzt weit fort von hier. Vielleicht in einer kleinen Hütte in einem Land, in dem Frieden herrschte. Schmerzhafte Bilder stiegen aus seiner Erinnerung auf. Er mußte einiges in seinem Zusammensein mit Cindira ändern. Er hatte ihr großes Unrecht getan und sie verletzt. Wieder einmal hatte ihm seine eigene Eitelkeit im Weg gestanden, doch diesmal würde er zu der Frau halten, die er liebte. Er würde der Inquisition nie wieder ein Opfer bringen. Wieder dachte er an die glücklichen Tage in der Hütte am Wald und lauschte dabei auf den ruhigen Atem Cindiras.


»Du willst was?« Ungläubig starrte ihn Cindira an. »Sag das noch mal!« »Ich möchte, daß du dich jetzt anziehst, und dann gehen wir zusammen zum Haus der Therbuniten, um dort Lysandra und von Blautann zu besuchen.«

Marcian war irritiert. Er hatte damit gerechnet, Cindira eine Freude zu machen.

»Seit Wochen streiten wir darüber, daß du nicht wirklich zu mir stehst. Ich muß mich bei Nacht und Nebel hier zum Turm schleichen, um dich zu treffen, oder du besuchst mich in der ›Fuchshöhle‹ und tust so, als sei ich nicht mehr als eine Hure für dich, mit der man sich eine Nacht vergnügt, und jetzt willst du mit mir quer durch die Stadt marschieren. Was steckt dahinter?« Cindira war aus dem Bett gesprungen und stand ihm zitternd vor Wut und Kälte gegenüber.

»Ich hab eingesehen, daß du recht hattest. Machst du mir das jetzt zum Vorwurf? Los, komm zurück ins Bett und laß dieses kindische Gezanke.«

»Nichts werde ich lassen. Wenn du so mit mir redest, beweist du nur, daß du mich immer noch nicht ernst nimmst. Also, was soll dieses Spielchen um traute Zweisamkeit? Ist dir die Meinung der Spießbürger, um die du dich bisher so aufopfernd bemüht hast, auf einmal gleichgültig?« Marcian musterte die kalten grauen Steine des Fußbodens und vermied es, Cindira anzuschauen. »Weißt du, vielleicht bleibt uns nicht mehr viel Zeit. Wenn ich ehrlich bin, steht es schlecht um die Stadt, und falls die Götter unseren Untergang beschlossen haben, möchte ich nicht mit einer Lüge sterben. Ich möchte endlich mit dir im Arm durch die Straßen gehen. Möchte mit dir die Läden der Goldschmiede und Schneider besuchen, dir etwas schenken und einfach nur glücklich sein. Es ist mir egal, wenn sich einige Bürger das Maul über mich zerreißen. — Ich will aus meiner Liebe zu dir keinen Tag länger mehr ein Geheimnis machen. Wir haben genug Spiele gespielt. Nun liegt Borons Schatten über uns, und die Zeit der Lügen ist vorbei.«

Bei den letzten Worten war Cindira wieder zu ihm ins Bett gestiegen. Sie nahm ihn in den Arm und streichelte ihm den Rücken, und während Marcian sein Gesicht in ihrem schwarzen Haar vergrub, flüsterte sie ihm ins Ohr: »Ich liebe dich, mein trauriger Held. Ich werde nie mehr von deiner Seite weichen.«


Es fiel Marcian nicht ganz leicht, die Blicke der Bürger zu ignorieren, als er am späten Morgen mit Cindira an seiner Seite die Burgstraße hinunter zum Platz der Sonne ging. Einige steckten den Kopf zusammen und tuschelten. Andere taten so, als würden sie das Freudenmädchen aus der ›Fuchshöhle‹ nicht sehen, während sie mit ihm einige Worte über die Aktivitäten der Orks wechselten. Je weiter sie nach Osten kamen, desto erbärmlicher wurde der Zustand der Stadt. Rauchgeschwärzte Häuser säumten die Straßen, und auch die meisten Gebäude, die vom Feuer verschont worden waren, zeigten große, zackige Löcher von den Geschossen der Belagerer in den Dächern.

Entlang des alten Ostwalls, der mittlerweile von Himgis Sappeuren verstärkt worden war, spielten Kinder Krieg. Diejenigen, die die Schwarzpelze verkörperten, hatten sich ihre hohlen eingefallenen Gesichter mit Ruß eingeschmiert. Mit hölzernen Schwertern aus zerbrochenen Dachsparren hieben sie aufeinander ein.

Einer von ihnen trug ein zerrissenes, rotes Handtuch um die Schultern gebunden und stand umringt von Gegnern auf einem Schutthügel. »Kommt nur herauf, ich werde mich euch niemals ergeben«, schrie der sommersprossige Blondschopf. Marcian blieb einen Augenblick stehen, um dem Jungen zuzuschauen. Es war offensichtlich, wen er verkörperte, und der Inquisitor war gespannt, wie der Kampf enden würde. Der Blondschopf stand auf verlorenem Posten. Von allen Seiten berannten ihn die ›Orks‹, während seine Verbündeten in eine Seitengasse geflohen waren, um neuen Mut zu schöpfen. Wenn er sich nicht ergeben wollte, bezog er schreckliche Prügel von den anderen, die sich mit wilden Schreien immer mehr in einen Kampfrausch steigerten. Schließlich lief Marcian über die Straße, zerrte einige der Bengel grob beiseite und half dem Besiegten wieder auf die Beine.

»Du hast dich wacker geschlagen, Junge. Wie heißt du?«

Der Blondschopf wischte sich mit dem Handrücken über die blutende Nase. »Ich bin Marrad, Darrags Sohn, und du hättest mir nicht helfen brauchen, Marcian. Ich ergebe mich niemals, und ich hätte die Schwarzpelze besiegt.«

»Sicher.« Marcian wollte ihm über das Haar streichen, doch dann ließ er es lieber bleiben. Wahrscheinlich wäre der Junge über die Geste verärgert gewesen. »Du hast ungewöhnlichen Mut bewiesen, als du alleine gegen die Übermacht weiter gefochten hast. Wie alt bist du?«

»Fast acht Sommer, Kommandant.«

»Ich habe eine Aufgabe für dich, Marrad. Mutige junge Männer kann ich immer gebrauchen.« Marcian konnte dem Sohn des Schmieds ansehen, wie gut ihm die Worte taten. »Wann immer die Hörner Alarm blasen, finde dich an meiner Seite ein. Du wirst von nun an mein persönlicher Bote sein und den Offizieren im Gefecht Nachrichten von mir überbringen. Und damit dich jeder als meinen Boten erkennt, sollst du einen roten Umhang bekommen, so wie ich ihn trage. Bist du bereit, diese Aufgabe zu übernehmen?«

Marrads Augen funkelten. »Ja, Herr. Ihr könnt auf mich zählen. Vielen Dank, Kommandant.«

Im Gehen drehte sich Marcian noch einmal um. »Melde dich gleich heute nachmittag beim Quartiermeister in der Garnison, und sag ihm, ich hätte befohlen, daß er dir einen prächtigen Umhang heraussucht. Ich möchte keinen Krieger mit einem Küchentuch um den Schultern in meiner Armee haben.«

Statt einer Antwort salutierte Marrad ehrerbietig. Marcian drehte sich schnell um. Er wollte nicht, daß der Junge sah, wie er schmunzelte, doch wie Marrad dort mit seinen zerzausten Haaren, der blutigen Nase und dem Küchentuch dastand, hatte er etwas von den tragikomischen Figuren aus den Stücken des ›alten Reichs‹.

»Bringst du ihn als Boten nicht in Gefahr?« flüsterte Cindira in sein Ohr.

»Jeder Junge in seinem Alter ist in Gefahr, wenn auf den Mauern der Kampf tobt. Sie bringen Munition zu den Katapulten und Pfeile zu den Bogenschützen. Sie sind selbst im schweren Feuer immer auf der Mauer. Er wird nicht mehr in Gefahr sein als vorher auch, aber er hat eine Aufgabe, etwas, worauf er stolz sein kann. Weißt du, seine Mutter ist vor ein paar Wochen gefallen, und sein Vater liegt seit dem letzten Kampf im Lazarett.«

Schweigend gingen die beiden weiter, bis sie das Siechenhaus der Therbuniten erreichten. Dort verabschiedete sich Cindira, denn den Anblick all der verkrüppelten Männer und Frauen, die in dem überfüllten Haus sogar auf den Gängen lagen, konnte sie nicht ertragen.

Lysandra und der Reiteroberst genossen den zweifelhaften Luxus, gemeinsam ein Zimmer zu teilen, während sonst die Zimmer überfüllt waren. Ihre kleine, weißgetünchte Kammer hatte sogar ein Fenster und zwei Schemel, auf denen Besucher Platz nehmen konnten.

Seit es ihnen wieder besser ging, lagen sie fast ständig im Streit. Ihre Ansichten vom Krieg waren ungefähr so unterschiedlich wie die eines Piraten und eines Kapitäns der kaiserlichen Marine. Einig waren sie sich lediglich darin, daß Greifenfurt schnellstens Hilfe brauchte, oder noch vor dem Frühling würden wieder die roten Banner der Orks über der Stadt wehen.

»Ich werde mich zum Prinzen durchschlagen«, erläuterte von Blautann schon zum dritten Mal der Amazone und dem Inquisitor. »Ich kenne das Gelände und werde am kaiserlichen Hof sofort eine Audienz bekommen. Wenn sich irgendein Strauchdieb auf den Weg macht, wird er womöglich niemals bis zum Prinzen vorgelassen.«

Marcian blickte den Obristen mitleidig an, während Lysandra mit drastischen Worten erläuterte, was für ein Narr er sei.

»Kaum hast du die Krücken in die Ecke gestellt, schon glaubst du, wieder den Helden spielen zu müssen. Selbst wenn du unverwundet bist, kannst du dich doch keine Meile ohne ein Pferd bewegen.«

»Und so was wie dich läßt man doch nicht mal das erste Tor des Palastes passieren«, entgegnete der Oberst wutschnaubend. »Dich und deine Halsabschneider würde man in Friedenszeiten an den nächsten Galgen hängen.«

»Mich haben nicht einmal die Orks bekommen, wie sollte mich da ein Kaiserlicher wie du gefangennehmen können ... Entschuldige, ich vergaß natürlich, daß du ein strategisches Genie bist, wie du mit deiner Reiterattacke auf das Hauptlager von Sadrak Whassoi ja bewiesen hast.« Lysandra hatte sich auf einen Arm aufgestützt, um besser zu Alrik von Blautann herüberschauen zu können.

Der Oberst legte sich in die Kissen zurück und schaute zur Decke, als er mit zuckersüßer Stimme sagte: »Weißt du, mein Schatz, im Grunde bist du auch nicht anders als alle anderen Frauen. Sobald ein kaiserlicher Offizier an dir vorbeireitet, bist du unsterblich verliebt. Du hast nur eine etwas ungehobelte Art, mir deine Liebe zu zeigen. Warum hättest du auch sonst mein Leben gerettet, als ich verwundet unter meinem Pferd lag und die Orks schon ihre Messer wetzten, um mir die Kehle durchzuschneiden. Wie du siehst, habe ich dich längst durchschaut.«

Für einen Augenblick herrschte Stille im Zimmer, dann wandte sich Lysandra an Marcian. »Ruf bitte einen Heiler, ich glaube, Alrik redet im Fieberwahn, es scheint schlechter um ihn zu stehen, als man ihm ansieht.« »Bei den Zwölfgöttern, mir reicht euer kindisches Gezänk. Wenn ich nicht vernünftig mit euch reden kann, werde ich nun gehen.« Wütend stand Marcian von seinem Schemel auf.

»Bleib hier«, murmelte Lysandra zerknirscht.

»Außer über einen Boten an den Prinzen muß ich mit euch noch über etwas anderes reden.« Der Inquisitor war an der Tür stehengeblieben. »Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, herauszubekommen, was die Orks hier wollen.«

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