13

Einmal so viele Arbeitskräfte und soviel Material zur Verfügung zu haben, wie er sich nur wünschte! Das war schon immer der Traum von Meister Leonardo gewesen.

Der bärtige alte Mechanikus stand an den Kais von Ferdok und ließ seinen Blick über den Hafen schweifen. Zunächst war er verärgert gewesen, als Fürst Cuanu Ui Bennain, kaum daß er die Regierungsgewalt in Albernia von der Verräterin Isora zurückgewonnen hatte, ihm befahl, sich beim Prinzen in Ferdok zu melden und dabei auch noch darauf hinzuweisen, es läge bereits ein Flußschiff zu seiner Abreise bereit, doch das hier machte den Ärger der einwöchigen, strapaziösen Flußfahrt wieder gut.

Einige kaiserliche Offiziere empfingen ihn im Hafen und brachten den alten Gelehrten in ein großes Bootshaus nahe den Trockendocks. Dort wartete Admiral Sanin, um Meister Leonardo mit den neuen Aufgaben vertraut zu machen.

Der Kommandant der kaiserlichen Flotte aus dem Meer der Sieben Winde hatte bereits detaillierte Pläne ausgearbeitet. Nach seinen Vorstellungen sollte in spätestens sechs Wochen eine Flotte von fünfzig Flußschiffen und Lastkähnen bereit sein, um nach Greifenfurt durchzustoßen und den Belagerten neue Vorräte sowie frische Truppen zu bringen. Aus diesem Grund sollten die meisten Schiffe so umgebaut werden, daß sie in der Lage waren, ein Maximum an Nutzlasten zu tragen.

Dabei waren allerdings erhebliche Probleme zu erwarten. Auf dem Weg nach Greifenfurt würde man gegen die Strömung ankämpfen müssen. In Friedenszeiten wurden die Schiffe den Fluß hinauf getreidelt. Doch jetzt war damit zu rechnen, daß die Pferdegespanne am Ufer von den Orks angegriffen wurden.

Die Schiffe nur durch Ruderer den Fluß hinaufzubringen mochte sich als schwierig bis unmöglich erweisen. Und der Wind wehte zu selten in nördlicher Richtung, als daß man darauf hätte hoffen können, kraft der Segel bis Greifenfurt zu kommen. Ein weiteres Problem stellte die Bewaffnung der Flußschiffe dar. Nach den Berichten von Oberst von Blautann mußte spätestens in der Nähe der Stadt mit einem Beschuß der Flotte durch die Orks gerechnet werden.

Als Admiral Sanin endlich schwieg, war sich Leonardo nicht mehr sicher, ob es klug war, sich auf diesen Auftrag eingelassen zu haben. Der Mechanikus räusperte sich, ließ seinen Blick durch das große Bootshaus schweifen und fragte schließlich zögernd: »Sehr verehrter Admiral, versteht mich nicht falsch, nichts liegt mir ferner, als Eure strategischen Fähigkeiten in Frage zu stellen, doch allein die letzte Aufgabe, die Ihr gestellt habt, erscheint mir undurchführbar. Sollen die Boote nicht stark belastet werden, müssen sie zu ihrer Verteidigung leichte Geschütze tragen. Besonders geeignet wären da Hornissen. Doch Ihr selbst als erfahrener Seekrieger müßtet wissen, wie aufwendig es ist, diese Geräte mit ihrer feinen Mechanik herzustellen. In sechs Wochen könnte ich nicht einmal für jedes zweite der fünfzig Schiffe eine Hornisse fertigen lassen. Was Ihr verlangt, können Menschen nicht vollbringen.«

»Um die Geschütze macht Euch keine Sorgen. Bereits jetzt bewegt sich eine Maultierkarawane von Harben aus durch das Windhaggebirge, um sich bei Elenvina einzuschiffen und zu uns zu stoßen. Sie bringen sämtliche leichten Geschütze der in Harben stationierten Kriegsflotte. Wir müssen sie hier nur noch zusammenbauen. Von Euch, verehrter Mechanikus, erwarte ich Ideen. Dinge, die man bisher auf Dere noch nicht gesehen hat. Scheut Euch nicht, Eure kühnsten Phantasien umzusetzen. Fürst Cuanu hat mir einige der Pläne geschickt, die ihr vor langer Zeit einmal für die Flußflotte Havenas gemacht habt, und erzählte mir, mit was für ausgefallenen Ideen Ihr für Aufregung in seiner Stadt gesorgt habt. Baut etwas, das für unser Unternehmen von Nutzen sein könnte.«

Leonardo brummelte etwas in seinen Bart. Leute wie Sanin kannte er nur zu gut. Der Admiral hätte wahrscheinlich am liebsten über Nacht fliegende Schiffe gebaut. Nun ja, er würde versuchen, was möglich war. Zumindest brauchte er sich über Material, Unkosten und Arbeiter keine Sorgen zu machen.


Fast tat es Arthag schon leid, daß er sich von Nyrilla hatte überreden lassen, mit ihr zu kommen. Auch ihm hatte es nicht geschmeckt, wie die Dinge in Ferdok liefen, doch mit einigem Abstand betrachtet, hatten die Offiziere vermutlich recht. Ein Durchbruch auf dem Fluß mußte sorgfältig vorbereitet sein, sonst würde er zu einem Fiasko. Aber ebenso wichtig war es, daß man in der Stadt erfuhr, daß Hilfe kommen würde.

Das allein war jedoch der Grund ihres fast fluchtartigen Aufbruchs gewesen. Nyrilla hatte ihn davon überzeugt, daß Marcian und seine Offiziere alles über die Vergangenheit der Stadt erfahren mußten. Vielleicht gelang es ihnen, vor den Orks zu finden, was die Schwarzpelze unter dem Platz der Sonne suchten.

Ein Schauder lief Arthag über den Rücken, als er daran dachte, was er auf den Runensäulen von Xorlosch gelesen hatte. Eine Waffe, die Wunden schlug, die niemals mehr verheilten. Und das Schlachtenglück sollte sie auch noch beeinflussen. Ob Menschen allein mit solch einer Bedrohung fertig werden konnten? Hoffentlich würde es König Tschubax gelingen, die Zwerge zu einen. Vielleicht mußte man auch wieder ein Bündnis mit den Elfen eingehen?

Geistesabwesend drehte der Zwerg den Spieß über dem Feuer. Seit drei Tagen saßen sie schon in dieser feuchten, kalten Erdhöhle fest. Dabei waren sie nur noch zwei Wegstunden von Greifenfurt entfernt. Er spähte zum Ausgang. Vor Stunden hatte Nyrilla ihm die beiden Rotpüschel gebracht. Wo die Elfe wohl steckte?

Sie hatte gesagt, daß sie noch einmal die Linien der Orks ausspähen wolle. Ob ihr etwas passiert war?

Ohne Nyrilla wäre er niemals bis hier gekommen, überlegte Arthag. Sie war es gewesen, die immer wieder das Nahen von Orkpatrouillen geahnt hatte, noch lange bevor die Schwarzpelze in Sicht waren. Gut, daß sie die Ehreneskorte in Ferdok zurückgelassen hatten. Zu neunt wäre es ihnen niemals gelungen, durch die Linien der Orks zu schlüpfen!

Wieder drehte Arthag den Spieß. Zischend tropfte Fett in die Flammen. Wenn die Elfe nicht bald kam, wäre ihr Abendessen angebrannt.

Wieder dachte der Zwerg an die letzten Tage zurück. Zunächst waren sie ganz gut vorwärtsgekommen. Auf einem großen Pferd war er zusammen mit Nyrilla den Fluß entlang nach Norden geritten. Doch dann waren sie schließlich gezwungen, einen weiten Bogen nach Westen zu schlagen. Der Schwarze Marschall zog südlich von Greifenfurt seine Truppen zusammen. Wie stark die Kräfte der Schwarzröcke waren, hatten sie nicht herausfinden können, doch nach allem, was Nyrilla ausgespäht hatte, mußten sie eher mit Tausenden von Gegnern rechnen.

Vielleicht würden es nicht einmal die Schiffe schaffen, durch die verstärkte Frontlinie der Orks zu brechen.

Arthag spuckte ins Feuer. Die kaiserlichen Offiziere in Ferdok dachten, sie könnten Sadrak Whassoi ein Schnippchen schlagen, dabei war es wieder einmal der Marschall der Orks, der in Wirklichkeit die Fäden in der Hand hielt.

Wußte er, was in Ferdok geschah? Oder hatte er seine Truppen hier versammelt, um Greifenfurt im Sturm zu nehmen? Dann war es um so wichtiger, daß sie bis Greifenfurt durchkamen und es schafften, das zu stehlen, was die Orks dort suchten.

Arthag rief sich ins Gedächtnis zurück, was er über den Torturm gelesen hatte, der den Eingang zu den unterirdischen Kultstätten versiegelte. Es kamen nur zwei Türme in der Stadt in Frage. Doch was würden sie hinter dem vermauerten Eingang finden? Von denen, die hinabgestiegen waren, um den Eingang zu versiegeln und das Übel einzukerkern, war niemand zurückgekehrt. Ob der Talisman des Tairach seinem Träger das ewige Leben schenkte? Ob diese Kreatur wohl immer noch lebte? Vielleicht war es besser, nicht in die Gewölbe unter der Stadt einzudringen?

Nyrilla kam durch den Eingang der niedrigen Erdhöhle und schreckte ihn aus den Gedanken.

»Und ... ?« Arthag blickte sie erwartungsvoll an.

»Es wird schwierig. Ich habe mich bis nahe an die Stadt durchgeschlagen, aber ich fürchte, wir werden nicht durchkommen.«

»Was ist passiert?«

»Die Orks haben sich vor der Bastion am Fluß eingegraben. Sie scheinen alle ihre Böcke und Rotzen dorthin geschafft zu haben. Ich fürchte, wir werden an dieser Stelle nicht in die Stadt gelangen. Auch sonst ist der Belagerungsring zu dicht. Verzeih mir, wenn ich das sage, aber sie gebärden sich wie die Zwerge. Überall sind Wälle aufgeworfen, und die Erde ist zerwühlt. Alle Obstgärten im Umkreis von einer Meile sind abgeholzt. Das Land sieht aus, als hätten dort Dämonen gehaust.«

Arthag nahm den Braten vom Feuer und teilte das Fleisch mit seinem breiten Messer. Schweigend reichte er der Elfe ihren Braten.

»Es wird uns nichts übrigbleiben, als hier abzuwarten und zu hoffen, daß die Schwarzpelze nicht über unser Versteck stolpern. Vielleicht ist es sogar besser, tagsüber die Höhle zu verlassen und durch die Hügel zu streifen.«

Die Elfe kaute auf beiden Backen, während sie sprach. Doch irgendwie schaffte sie es, daß ihr der Saft des Bratens nicht übers Kinn lief. Arthag wischte ärgerlich durch seinen fetttriefenden Bart. Er hatte auch noch nie gesehen, wie Nyrilla sich wusch, und trotzdem sah sie immer so aus, als sei sie gerade einem Bad entstiegen. Elfengeheimnisse, dachte er bei sich. Putzt sich wahrscheinlich heimlich wie ein kleines Kätzchen. »Und was nun?« fragte Arthag und warf einen Knochen ins Feuer.

Nyrilla zuckte mit den Schultern. »Wir werden abwarten müssen. Ich glaube nicht, daß sich die Schanze am Fluß noch lange halten wird. Vielleicht können wir uns während der Siegesfeier durch die Linien der Orks schleichen. So wie der Turm aussieht, kann das nicht mehr lange dauern.« Trotz des Feuers wurde dem Zwerg kalt. Sollte er umkehren? Der Untergang der Bastion erschien ihm wie ein Omen. Würden erst einmal all die Orks, die sich im Süden sammelten, vor der Stadt eintreffen, war es um Greifenfurt geschehen. Um die Schwarzpelze aufzuhalten, brauchte man schon ein ganzes Heer und nicht eine Handvoll Bürger, die kaum wußten, wie man ein Schwert hielt.

Arthag starrte vor sich in die Flammen. Die Elfe hatte sich in ihren Umhang gerollt und schien zu schlafen. Nyrilla hatte die Ruhe weg. Oder konnte sie sich einfach nicht vorstellen, daß sie womöglich schon in den nächsten Tagen sterben würde?

Arthag schlich aus der Höhle und überprüfte, ob der dichte Busch am Eingang des Erdlochs den Feuerschein verdeckte. Dann legte der Zwerg den Kopf in den Nacken und starrte zum Sternenhimmel hinauf. Ob er den nächsten Winter noch erleben würde? Es sah so aus, als würde in diesem Jahr schon früh der erste Schnee kommen. Der Atem stand Arthag in kleinen Wölkchen vor dem Mund.

Wenn er jetzt einfach ginge, würde er den Winter überleben! In ein paar Tagesmärschen hätte er das heimatliche Amboßgebirge erreicht. War es feige, sich vor dem sicheren Tod zu fürchten? Wer konnte ihm schon verübeln, wenn er nicht zur Stadt zurückkehrte, die allen, die dort blieben, zum Grab werden würde?

Er konnte ja auch gehen, um unter seinen Brüdern im Amboß Krieger für den Kampf gegen die Orks zu werben. Arthag kauerte sich ins Gras und grübelte, welche Eigenschaften einen mutigen Mann ausmachten.


Zerwas segelte mit weit ausgebreiteten Flügeln über das Meer der Sieben Winde und ließ sich vom stetigen Wind nach Westen tragen. Als Ritter Roger hatte er Anschluß an das kaiserliche Offizierscorps in Ferdok gefunden. Selbst dem Prinzen war er schon nahe gekommen. Seine neue Tarnung war ideal! Ohne eigenes Kommando konnte er sich leicht aus der Stadt entfernen, ohne daß man ihn all zu sehr vermißte. So hatte er Gelegenheit, in dieser Nacht nach Hylailos zu fliegen und sich in Rethis, der größten Stadt auf dieser Insel, nach einem geeigneten Mann umzusehen.

Der Vampir legte die Flügel an und ließ sich zum Vergnügen auf die silbrige See zustürzen. Es war wunderbar, den eisigen Wind auf den Flügeln zu spüren. So mußte sich ein Adler fühlen, der im Sturzflug auf seine Beute hinabstieß.

Unter ihm glimmten die Positionslichter eines kleinen Fischerbootes. Zerwas stieß einen Schrei aus und hielt auf das zerbrechliche Gefährt zu. Dunkle Gestalten bewegten sich an Deck und deuteten zum Himmel.

Der Vampir fing den Sturzflug mit weit ausgebreiteten Flügeln ab. Das kleine Boot erzitterte, als er sich auf der Rah des einzigen Mastes niederließ. Die Fischer hatten sich in ihrer Angst bis in den hintersten Winkel des hochbordigen Hecks zurückgezogen. Einer von ihnen hatte einen Säbel gezückt und bedrohte ihn mit zitternder Hand.

»Kommt ihr aus Rethis?« Zerwas war in die Gedanken des Säbelschwingers eingedrungen. »Los antworte, oder ich reiß dich in Stücke!«

»Bitte tut uns nichts!« Der Mann hatte seine Waffe sinken lassen und war auf die Knie gegangen. »Wir sind nur arme Fischer.«

»Mich interessiert nicht, was ihr seid, sondern woher ihr kommt.« Zerwas bestürmte mit solcher Macht den Verstand des Fischers, daß der Mann sich mit beiden Händen an den Kopf griff und vor Schmerz laut aufstöhnte. »Ja, wir sind aus Rethis«, wimmerte der Fischer.

»Gut. Ich gebe dir jetzt Gelegenheit, dich für die Schrecken zu rächen, die ich euch bereitet habe. Ein mißglücktes alchimistisches Experiment hat mich in diese Sphäre gerissen und meinen Zorn entfacht. Ich kann nur dann zurückkehren, wenn ich töte.«

Der Mann zuckte zusammen und brach in lautes Schluchzen aus. »Er will uns töten«, schrie er mit vor Angst schriller Stimme.

Auch die anderen Fischer warfen sich zu Boden und begannen, um ihr Leben zu betteln.

»Ich werde euch am Leben lassen, wenn ihr mir verratet, wo ich den besten Alchimisten von Rethis finde. Er muß mich gerufen haben, und er soll dafür büßen.«

»Das ist Promos. Er wohnt in einem Haus auf einer hohen Klippe unweit der Stadt. Geht den alten Giftmischer bestrafen und verschont uns!« »So sei es und seid stolz, daß ihr es wart, die Unglück über das Haus des Promos gebracht habt, ihr Hasenherzen!«

Mit einem Schrei stieß sich der Vampir von der Rah ab, drehte noch zwei Runden um das Boot, wo die Fischer noch immer wimmernd auf ihren Bäuchen lagen. Es war doch immer wieder ein Vergnügen, sich an der Angst und der Leichtgläubigkeit der Menschen zu weiden! Schließlich wandte er sich nach Westen, um den Alchimisten Promos aufzusuchen.

Als Zerwas das Haus auf der Klippe gefunden hatte, blieben nur noch wenige Stunden bis zur Morgendämmerung. Durch ein Giebelfenster fiel gelbliches Licht. Sonst war ringsherum alles dunkel.

Vorsichtig ließ der Vampir sich auf dem Dach nieder, dessen Schindeln unter seinem Gewicht leise knirschten. Dann beugte er sich vor, um durch das Fenster zu schauen. In der Dachkammer stand ein gebeugter alter Mann vor einem Tisch voller Tiegel, gläserner Phiolen und merkwürdig geformter Tonkrüge.

Kein Zweifel, hier war Zerwas richtig! Doch bevor er losschlug, mußte er wissen, ob noch andere in diesem Haus lebten. Zerwas konzentrierte sich und ließ Bilder der anderen Räume vor seinem inneren Auge entstehen. Alles war verwaist, bis auf die Kammer auf der anderen Seite des Daches. Ein junges Mädchen lag dort in einem Bett und schlief.

Ein Opfer? Zerwas war überrascht. Das Mädchen mochte höchstens zwanzig Sommer gesehen haben. Sollte der alte Mann dunkle Praktiken betreiben, bei denen das Blut von Jungfrauen zum Focus für finstre Mächte wurde? Zerwas drang in die Träume des Mädchens ein und wußte bald, daß er sich getäuscht hatte.

Dann wandte er sich wieder dem alten Mann zu. Der Alchimist schob einen Schmelztiegel in den Ofen, der in einer Ecke der kleinen Kammer stand. Die Gelegenheit war günstig!

Der Vampir faßte nach dem Griff des großen Schwertes, das er mit Ledergurten auf seinen Rücken gebunden hatte. Dann murmelte er einige Worte der Macht und wies ruckartig mit ausgestreckter Hand in Richtung des Ofens.

Funken stoben aus dem Tiegel, und ein dicker, blaugrauer Rauch quoll in die Dachkammer.

»Hesinde hilf!« entfuhr es dem erschreckten Alten. »Was, im Namen der Götter, geht hier vor?«

Zerwas schwang sich vom Dach. Klirrend zerbrach das Giebelfenster, und mit einem Satz landete der Vampir mitten in der Kammer.

»Bei Praios ...«, keuchte der Alchimist, als er die furchteinflößende Gestalt im Rauch erkannte. Hastig wandte er sich zur Tür, doch schon hatte ihn Zerwas gepackt und preßte ihm die Kehle zu.

»Du hast mich gerufen, Wurm!« Der Vampir spürte wie Promos erbebte, als er in dessen Gedanken eindrang. »Und du hast keinen Zirkel geschlagen, dich zu schützen ...«

»Verzeiht ... Mir war nicht bewußt, daß ich Euch störe. Schon hundertmal habe ich diese Tinktur ins Feuer geschoben, und nie ist mir solch ein Fehler unterlaufen. Bitte vergebt mir!« stammelte der alte Alchimist. »Treib keinen Scherz mit mir, Mann!« Zerwas drückte noch ein wenig fester zu, lockerte den Griff aber sofort wieder. Schließlich brauchte er den Alchimisten noch.

»Du wirst von nun an mein Sklave sein.« Promos erzitterte, als Zerwas ihm diesen Gedanken schickte. »Vorbei sind die Zeiten, wo du im Morgengrauen Tau von den Wiesen sammeltest und den Geheimnissen des Orichalcum und des Grünen Löwen nachgespürt hast. Du wirst mir das Feuer, das im Wasser brennt, schenken, dann darfst du weiterleben.«

Der Alchimist erblaßte. »Das hylailsche Feuer?« wisperte er leise. »Ja, das will ich von dir!« Zerwas weidete sich an den Schreckensphantasien des alten Mannes. »Du wirst es den Orks schenken. Das soll die Strafe dafür sein, daß du mich gerufen hast.«

»Aber ...« Doch dann brach der Alte wieder ab. Sein Körper versteifte sich. »Nein!« sagte er mit lauter fester Stimme. »Töte mich, aber diesen Dienst werde ich dir nicht erweisen.«

Zerwas entblößte seine Fangzähne. »Nicht du wirst sterben. Wenn du dich verweigerst, wird deine Tochter dafür büßen.« Tief wühlte der Vampir in den Gedanken des Alchimisten. »Denk nicht daran, dich zu entleiben, denn auch dann wird deine Tochter büßen!«

Zerwas ließ den alten Mann los, der benommen gegen den Tisch taumelte. »Warum ...«

»Hader nicht mit deinem Schicksal, Promos. Dafür ist es nun zu spät. Ich bin hier, weil du Alchimist bist. Man hat mir gesagt, du seiest ein Meister deines Faches. Von dem Tag an, an dem du beschlossen hast zu werden, was du bist, war es dein Schicksal, mich einst zu treffen. Füge dich, und vielleicht schenke ich dir dafür, was du schon so lange suchst!«

»Befiehl, und ich werde gehorchen ...«

Zerwas konnte spüren, wie der innere Widerstand des Mannes zerbrach. Er begann, sich in das scheinbar Unvermeidliche zu ergeben.

»Ich werde in dieser Nacht deine Tochter mit mir nehmen ...«

»Nein!« Mit schrillem Schrei fiel ihm Promos ins Wort. »Verschone sie. Sie ist unschuldig!«

»Du würdest mir doch nicht treu dienen, wenn du sie hier in Sicherheit wüßtest!« höhnte Zerwas. »Nein, Promos, die Bedingungen für unseren Handel stelle ich! Noch in dieser Nacht schaffe ich dein Kind nach Khezzara an den Hof des Ashim Riak Assai. Dort wird sie den Schwarzpelzen als Sklavin dienen, bis du dein Werk getan hast. Erst dann sollst du sie Wiedersehen. Und wehe ihr, du versuchst mich zu narren. Ich brauche dir wohl nicht zu schildern, was mit der Kleinen passiert, wenn sie nicht mehr unter meinem Schutze steht.«

»Nein ...«, stöhnte der alte Mann.

Zerwas riß einen kleinen Tuchbeutel von dem ledernen Brustgurt, der sein Schwert hielt. »Hier hast du Gold für deine Reise! Mach dich morgen früh auf den Weg nach Neetha. Dort werde ich dich in drei Nächten holen.« »Aber wo soll ich dort hin? Wie wollt Ihr mich finden?«

»So wie ich dich auch schon heute gefunden habe«, höhnte Zerwas. »Es gibt keinen Platz auf Dere, wo ich dich nicht finden würde, alter Mann.« Natürlich war das blanker Unsinn, doch Promos sollte glauben, er wäre allmächtig. Das war es Zerwas wert, ihn im Zweifelsfall ein paar Stunden in Neetha zu suchen. Viele Orte gab es dort schließlich nicht, wo ein reisender Alchimist absteigen konnte.

»Folge mir nicht, wenn ich nun zu deiner Tochter gehe! Es wäre schlecht für dein Seelenheil, wenn du mitansehen würdest, was ich mit ihr tun muß, damit sie die Reise nach Khezzara gut übersteht!«

»Bitte verschont mein Kind«, jammerte der Alte. »Ich werde tun, was immer Ihr verlangt. Aber laßt sie in Frieden.«

»Erzürne mich nicht.« Der Vampir hatte einen drohenden Schritt auf den Alchimisten zu gemacht. Der alte Mann hob schützend seine Arme.

»Bitte ...«

Zerwas war es leid, sich das Gejammer anzuhören. Mit einem kraftvollen Sprung setzte er durch das zerbrochene Fenster, entfaltete seine Flügel und flog in weitem Bogen zur Rückseite des Hauses. Auch hier gab es ein großes Giebelfenster.

Vorsichtig landete der Vampir auf dem Sims und drückte das zweiflügelige Fenster auf. Dann lauschte er. Der Atem des Mädchens ging ruhig. Vom Lärm im Zimmer ihres Vaters war sie nicht gestört worden.

Gleich einer Aureola aus Gold bettete ihr Haar das von der Sonne bronzen getönte Gesicht.

Zerwas lief das Wasser im Munde zusammen. Konnte ein Verdurstender mehr leiden als er? Was für ein vollkommenes Ende wäre es, das Possenspiel, das er in dieser Nacht betrieben hatte, mit einem Festmahl zu beenden. Wer konnte ihn schon daran hindern? Doch was war, wenn der Alte Lebenszeichen von seiner Tochter verlangte, bevor er die Arbeit bei den Schwarzpelzen aufnahm? Wie sollte er die tausend kleinen Geheimnisse erahnen, die Vater und Tochter miteinander teilten und nach denen Promos fragen mochte?

Nein! Er würde dieses Festmahl verschieben müssen, sondern nur ein wenig von der blonden Schönheit naschen. So viel von ihrem Blute kosten, daß er sicher sein konnte, daß sie den Tag und die nächste Nacht nicht erwachen würde. Es war besser für sie, während des langen Fluges zu dem Versteck, das zu ihrem Kerker werden würde, nicht bei Bewußtsein zu sein.

Eine Höhle tief unter Greifenfurt, die ihm schon so oft als Unterschlupf gedient hatte, war ideal, um das Mädchen aufzunehmen. Sie den Orks zu überlassen, daran hatte Zerwas nicht einen Augenblick gedacht. Zu gut wußte er, was dort mit ihr geschehen würde. Sie sollte ihre Unschuld behalten, auch wenn die Einsamkeit in dem finsteren Versteck vielleicht ihren Verstand verschlingen würde.

Zerwas schmunzelte. Sie vor den Orks zu bewahren war keineswegs eine moralische, sondern in erster Linie eine kulinarische Entscheidung. Das Blut von Jungfrauen hatte einen ganz eigenen, schwer zu beschreibenden Geschmack. Ganz so, als würde das unschuldige Verlangen nach der Erfüllung erster Liebe, in dem kostbaren Lebenssaft eingefangen, der jede Faser des fiebernden Leibes durchpulste.

Leise schlich der Vampir an das Bett und beugte sich über das schlafende Mädchen.

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