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Kolon war wütend. Den Beinamen Tunneltreiber, den er sich schon in der Zeit verdient hatte, als er noch bei seinem Volk lebte, erschien ihm nun wie ein Hohn. Er selber war leichtfertig genug gewesen, Sharraz Garthai den Vorschlag zu machen, Tunnel unter die Stadt zu bauen. Nun hatte er den Ärger!

Wohl an die hundert menschliche Sklaven und vielleicht ein Dutzend Aufseher unterstanden seinem Kommando.

Es regnete in Strömen. Nichts Ungewöhnliches im Monat Travia. Doch durch das Wasser war die Erde zu einem braunen Schlamm aufgewühlt, und es schien fast unmöglich zu graben. Ständig lief Wasser in die drei Gruben, die er hatte ausheben lassen.

Tunnel sollte man in Felsen treiben, dachte er. Aber er würde seinen Befehl schon ausführen. Die Hälfte seiner Leute hatte er eingeteilt, um hölzerne Verschalungen für die Tunnelschächte zu fertigen; bislang war es auch noch zu keinem größeren Unfall gekommen. Geradezu ein Wunder bei diesen Bedingungen.

Kolon wischte sich Wasser und Schlamm von der Stirn und watete zum nächsten Erdloch. Er ließ die Arbeiten zu den Tunneln hinter den Hügeln ausführen, die sie vor einigen Wochen aufgeschüttet hatten, um in ihrem Schutz Belagerungstürme zu bauen. Von der Stadt aus war es so unmöglich einzusehen, was sie taten. Genüßlich malte sich Kolon aus, wie sie mitten auf dem Platz der Sonne durch das Erdreich stoßen würden und die Krieger der Orks in die Stadt stürmten, um die überraschten Menschen abzuschlachten.

Dann erklomm er mühsam einen der Erdhügel, um zur Stadt hinüberzublicken. Die Bresche, die Gamba in die Ostmauer geschlagen hatte, war notdürftig mit Steinen und Balken verbarrikadiert worden. Dennoch würde dies ein Schwachpunkt in der Verteidigungslinie der Stadt bleiben. Hätten sie nur genügend Krieger, dann wäre es ein leichtes, dort einzudringen. Kolon wollte die Aufmerksamkeit der Greifenfurter von der Ostmauer ablenken. Er mußte sie an anderer Stelle beschäftigen. Sie sollten nicht einmal ahnen, welche neue Gefahr ihnen hinter den Hügeln erwuchs. Sharraz Garthai brauchte einen schnellen Sieg, doch das war unmöglich. Nicht einmal, wenn er die Stadt langsam zusammenschoß, würde innerhalb der nächsten zwei oder drei Wochen eine Entscheidung fallen. Sie hatten einfach zu wenige Krieger.

Aber für einen Belagerungsexperten sollte das kein Problem sein! Kolon hatte sich schon lange einen Plan zurechtgelegt. Alle Drasdech, so wurden die Handwerker in den Stämmen der Orks genannt, waren damit beschäftigt, Geschütze zu fertigen. Er ließ sie außerhalb der Reichweite der Katapulte der Stadt bauen, so daß die Greifenfurter zwar gut sehen konnten, welche Bedrohung ihnen erwuchs, aber keine Möglichkeit hatten, etwas dagegen zu unternehmen.

Sobald genügend schwere Rotzen gefertigt waren, würde er sie alle an einer Stelle zusammenziehen lassen, und von diesem Tag an würden die Bürger keine Zeit mehr finden, darüber nachzudenken, was hinter den Erdhügeln vor sich gehen mochte.

Der Zwerg lächelte grimmig und blickte durch die Regenschleier zur Stadt. Greifenfurt und sein Name würden in der Geschichtsschreibung Deres auf immer miteinander verbunden sein. Es wäre allein sein Verdienst, wenn es den Orks schließlich gelang, diese schwer befestigte Grenzstadt zu erobern.


Marcian hatte alle Offiziere der Stadt im großen Saal des Palas um sich versammelt. Cindira saß an seiner Seite. Zunächst hatte es deshalb Schwierigkeiten mit den Kriegern gegeben, weil sie nicht akzeptieren mochten, daß ein Freudenmädchen bei ihren Versammlungen zugegen war. Aber noch reichte die Autorität des Inquisitors, um seinen Willen durchzusetzen. Ihm war Cindiras Anwesenheit wichtig. Mit ihr besprach er im nachhinein alle Debatten, und nie traf er eine Entscheidung, ohne vorher ihre Meinung gehört zu haben. Sie repräsentierte für ihn die Stimme der Bürger, denn Cindira sah seine Entscheidung nicht aus dem Blickwinkel militärischer Notwendigkeiten, sondern so, wie sie die Greifenfurter empfanden. Cindira hatte ihn vor zwei Tagen darauf aufmerksam gemacht, wie wenig Katzen und Hunde es noch in der Stadt gab. Eine Tatsache, der er keinerlei Bedeutung geschenkt hatte. Doch darin spiegelte sich mehr als in vielen Worten, wie es um die Greifenfurter stand. Sie hatten begonnen, ihre Haustiere zu fressen! Es gab zwar noch genügend getrocknetes Gemüse und Mehl, um die Bürger für einige Wochen zu ernähren, doch frisches Fleisch war schon lange nicht mehr zu bekommen.

Cindira hatte ihm erzählt, daß es Banden gab, die auf streunende Katzen und Hunde Jagd machten und mittlerweile nicht einmal mehr davor zurückschreckten, die Tiere nachts aus ihren Zwingern zu holen.

Marcian hatte verstärkt Wachen durch die Straßen patrouillieren lassen, doch angeblich waren es gerade Soldaten, die diese nächtlichen Raubzüge unternahmen. Ein besonders schlechtes Licht fiel dabei auf die Leute Lysandras. Die Kämpfer der Amazone standen in dem Ruf, Halsabschneider und Wegelagerer zu sein.

Cindira hatte Marcian davon überzeugt, daß es notwendig war, die Spannungen abzubauen, die zwischen Soldaten und Bürgern entstanden waren. Man sollte noch einmal ein gemeinsames Fest feiern, so wie damals, als sie die Orks aus der Stadt geworfen hatten. Ein Fest, bei dem noch einmal die glorreichen Taten der vergangenen Monate beschworen wurden, bei dem die Garnison der Stadt ein Opfer brachte. Es sollte reichlich Fleisch geben! Und in den Mauern der Festung gab es noch genügend frisches, lebendiges Fleisch.

Marcian erhob sich von seinem Sitz im Rittersaal. Augenblicklich erstarben die leisen Gespräche, die die Offiziere unter sich geführt hatten. »Marbon, wieviel Pferdefutter haben wir noch in der Garnison?«

Der Oberfouragier blickte Marcian überrascht an. Er war während der Offiziersversammlungen fast noch nie zu Wort gekommen, und die Frage nach den Pferdefutterbeständen kam ihm mehr als seltsam vor. »Was wir an Heu und Hafer haben, mag bei dem derzeitigen Bestand an Reittieren wohl noch einen Monat reichen, Kommandant.«

Marcian musterte den kleinen Mann. In den letzten Wochen war er wie alle im Saal immer dünner geworden. Sein einst stattlicher Bauch war fast völlig verschwunden, und seine nun viel zu weiten Kleider hingen lose um seinen ausgemergelten Körper. Ein gutes Zeichen, überlegte Marcian. Das war der beste Beleg, daß er sich keine Sonderrationen abzweigte, obwohl ihm das in seinem Amt leichtgefallen wäre.

»Gut, Marbon. Das heißt also, daß wir damit rechnen müssen, in sechs Wochen gar keine Pferde mehr zu haben.«

Unruhe machte sich unter den Offizieren breit. Vielleicht ahnten die ersten schon, worauf er hinauswollte.

»Stallmeister Ordbert, wie viele Pferde haben wir noch in der Stadt?« Der Kürassier mit den gezwirbelten, in groteskem Winkel hochstehenden Schnauzbartspitzen nahm Haltung an und antwortete militärisch knapp: »Wir haben wohl an die hundertfünfzig Pferde. Zwanzig davon sind arge Schindmähren, die zu kaum was nutzen. Dreißig Tralloper Riesen, gute Arbeitstiere, die allerdings viel Futter brauchen, und um die hundert gute Kavalleriepferde, die meisten davon aus kaiserlicher Zucht.«

»Gut, Stallmeister. Und wie viele Kürassiere haben wir noch, wenn man die Verwundeten mitrechnet?«

»Mit mir 73, Kommandant!«

Marcian stieg die Stufen vom Thronsessel des Markgrafen herab und stellte sich vor die Offiziere. Die langen Tische, die früher im Saal standen, hatte er entfernen lassen. Die Offiziersversammlungen wurden schon eine Weile nicht mehr mit einem gemeinsamen Essen abgeschlossen. Bei der schlechten Versorgungslage wäre dies nur eine unnötige Provokation der Bürger gewesen, die ohnehin schon unterstellten, daß die Soldaten besser versorgt würden.

»Nun meine Herren, daß wir nicht mehr in der Lage sind, einen Ausfall gegen die Orks durchzuführen, haben wir ja bereits des öfteren diskutiert. Es stellt sich also die Frage, wozu wir noch Pferde brauchen.«

Das Raunen unter den Offizieren wurde lauter. Der Zwergenhauptmann Himgi meldete sich zu Wort. »Auf die Lastpferde können wir auf keinen Fall verzichten. Die brauche ich dringend, um mit meinen Sappeuren arbeiten zu können. Wir haben jede Menge schweres Material. Ohne Pferde und Wagen sind wir nur noch die Hälfte wert.«

»Ihr sprecht wahr«, Marcian hatte sich dem Zwerg zugewandt, dessen Offenheit und einfache Art er sehr schätzte. »Und doch habt ihr gerade von unserem Fouragiermeister gehört, daß in längstens sechs Wochen alle Pferde tot sein werden, weil wir kein Futter mehr haben. — Sagt Marbon, wieviel Salz gibt es eigentlich in der Stadt?«

Der kleine Mann trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Wenn es allein darum ginge, könnten uns die Orks noch jahrelang belagern. Salz ist reichlich vorhanden.«

»Gut!« Marcian verschränkte die Arme und behielt die Kavallerieoffiziere im Auge, die besonders unruhig waren. »Ich habe beschlossen, daß morgen die Hälfte aller Pferde in der Stadt geschlachtet werden sollen, um übermorgen, am letzten Tag des Monats Travia mit den Bürgern der Stadt ein großes Fest zu feiern. Wir wollen der Göttin des Herdfeuers huldigen, denn wir werden ihre Gunst brauchen, wenn unsere Herdfeuer in diesem Winter nicht verlöschen sollen und wir nicht mitansehen wollen, wie zunächst Kinder und Alte sterben, bis der Hunger schließlich auch den stärksten Krieger dahinrafft, ohne daß die Orks auch nur einen Schwertstreich zu führen brauchen.«

»Das ist Gotteslästerung!« Rialla, die Bannerträgerin der Kürassiere und Regimentskommandantin in Abwesenheit des Oberst von Blautann, war aus der Gruppe von Reiteroffizieren vorgetreten. »Travia will keine Blutopfer. Wir würden den Zorn der Göttin herausfordern, wenn wir die Tiere schlachten.«

Zustimmendes Gemurmel erfüllte den Saal. »Nicht ich, sondern Ihr lästert die Göttin, wenn Ihr im Namen Travias für Eure ureigensten Interessen sprecht. Vor jedem Fest wird geschlachtet, und ist es nicht das Herdfeuer, auf dem alles Fleisch zubereitet wird? Eure Rede Rialla ist ebenso durchsichtig wie ketzerisch.«

»Wer seid Ihr, daß Dir mir den Vorwurf der Ketzerei machen könntet?« Die Bannerträgerin blickte ihn herausfordernd an.

»Niemals wird ein kaiserlicher Reiter sein Pferd schlachten«, mischte sich der Stallmeister Ordbert ein.

»Ich würde auch nicht von Euch verlangen, Eure Pferde selber zu schlachten, es gibt genügend Metzger in der Stadt, die diese Aufgabe besser erfüllen«, entgegnete Marcian barsch. »Haltet Ihr es denn für gnädiger, Euren Pferden in einigen Wochen beim Verhungern zuzusehen? Ich will, daß uns unsere Arbeitspferde so lange wie möglich erhalten bleiben. Sie sind für uns wesentlich nützlicher als Reittiere, die nur im Stall stehen. Lieber opfere ich jetzt einen Teil der Pferde, als daß ich bald gar keine mehr habe. Außerdem ist es wichtig, der Stadt ein Fest zu bereiten und die Bürger wenigstens für einige Stunden ihre mißliche Lage vergessen zu lassen. Wenn wir ihnen zeigen, daß wir bereit sind, nicht nur unsere Leben einzusetzen, sondern für sie das geben, was wir lieben, dann werden sie in Zukunft nur um so besser mit uns für diese Stadt streiten. Damit aber jeder von Euch sieht, daß ich von niemandem verlange, was ich selbst nicht zu tun bereit wäre, werde ich morgen früh als erstes mein eigenes Pferd töten.«

»Das ist doch Wahnsinn! Niemals werde ich mein Pferd töten!« Riallas Hand fuhr nach ihrem Schwert. Die große blonde Kriegerin schritt auf Marcian zu. »Niemand von Stand würde sein Pferd töten, um es an Bauern und Bürger zu verfüttern. Nicht wir sind es, die diesem Pack dienen. Sie dienen uns. Ergreift diesen Verräter, der die Grundregeln der Herrschaft des Adels umstoßen will. Marcian ist ein Hochverräter!«

Der Inquisitor zog sein Schwert, bereit jeden Angriff der Bannerträgerin abzuwehren.

»Ich finde, Marcian hat recht«, mischte sich Himgi ein. »Aus ihm spricht die Vernunft. Wir sind in einer Lage, in der man bereit sein muß, auch ungewöhnliche Wege zu gehen, um zu überleben.«

»Wer hat dich gefragt?« Rialla spie dem Hauptmann der Sappeure verächtlich vor die Füße. »Was weiß ein Zwerg schon von Adel. Wer so nahe an der Erde lebt, der denkt wohl auch wie ein Wurm!«

Rialla zog ihr Schwert. Keiner unter den Offizieren rührte sich. Wie gebannt starrten alle auf den gleißenden Stahl.

»Bannerträgerin Rialla, hiermit erkläre ich Euch im Namen des Prinzen für verhaftet.« Marcians Stimme klang kalt und ruhig. »Ich klage Euch des Aufruhrs und der Befehlsverweigerung an.«

Himgi hielt mittlerweile seine Axt in der Hand und hatte sich an Marcians Seite gestellt. »Laßt mich diese Wahnsinnige zur Räson bringen. Noch nie wurde ein Zwerg aus meiner Sippe ungestraft beleidigt.«

Rialla war ein wenig zurückgetreten. Unsicher blickte sie sich nach den anderen Offizieren um. »Erkennt ihr denn nicht, daß Marcian an den Grundfesten der Adelsgesellschaft rüttelt? Sollen wir den Bauern vielleicht als nächstes auch noch unser Land schenken, nachdem sie unsere Pferde verspeist haben? Einem solchen Kommandanten kann kein aufrechter Offizier der Armee folgen. Laßt ihn uns entwaffnen.«

Im Saal herrschte atemloses Schweigen. Dann stellten sich der Stallmeister Ordbert und zwei weitere adlige Offiziere an Riallas Seite.

»Los, trefft Eure Wahl!« Marcian blickte in die Runde. »Jeder muß sich jetzt entscheiden. Aber bedenkt, ich stehe hier im Auftrag der Inquisition. Wer gegen mich steht, der wird von Priesterschaft und Reichsgericht in Acht und Bann gestellt werden.«

Die Amazone Lysandra zog ihr Schwert und stellte sich an Marcians Seite. Der Kommandant nickte ihr knapp zu.

»Wenn es keinen Kläger mehr gibt, wird uns auch niemand mehr richten! Ergreift ihn, wir werden den Verräter vor ein Adelsgericht stellen und noch hier in der Stadt verurteilen.« Riallas Stimme klang schrill.

Doch ihr Schreien kam zu spät. Wie in stummer Übereinkunft zogen die anderen ihre Schwerter, und die vier Rebellen fanden sich umringt von einem Kreis aus Stahl.

»Tut ihnen nichts zuleide!« rief Marcian. »Bringt sie ins Verlies. Sie sollen einen Prozeß haben, wie er ihrem Stand entspricht.«

Zufrieden beobachtete er, wie die Männer und Frauen wieder seinen Befehlen gehorchten. Rialla und die Adeligen wurden abgeführt.

Während der Rebellion war Cindira wie gelähmt neben dem Thron sitzen geblieben. Erst als alles entschieden war, stellte sie sich an Marcians Seite und griff nach seinem Arm.

Dann lehnte sie sich zärtlich an ihn und flüsterte: »Verurteile die Rebellen nicht. Niemand hier würde dulden, daß du über Adelige zu Gericht sitzt. Das ist nicht deine Aufgabe.«

»Aber ...« Marcian verstummte. Cindira hatte recht, aber er konnte es sich nicht leisten, diese Rebellion hinzunehmen, ohne die Aufrührer zu bestrafen.

Der Inquisitor wandte sich zu den Männern und Frauen im Rittersaal um. »Ich danke Euch für Eure Loyalität. Ihr habt gehandelt, wie die Ehre es gebietet. Nur wenn wir stark sind, werden wir die nächsten Wochen überleben. — Morgen werde ich einen Hufschmied und einen Pferdehändler aus der Stadt bestellen. Sie sollen die besten Tiere aussuchen. Alle anderen werden geschlachtet.«

Es war still im großen Saal des Palas. Viele der dort Versammelten besaßen selbst ein Pferd, und keiner konnte sich vorstellen, es zu verspeisen. Als die Offiziere schließlich den Saal verließen, schlich manch einer verstohlen zu den Ställen, um von seinem vierbeinigen Kameraden Abschied zu nehmen, denn wer mochte schon wissen, wen morgen das schwarze Los traf.

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