11

Kolon stand in dem einfachen Zelt hinter dem mittleren der Erdhügel, die die Orks vor Greifenfurt aufgeworfen hatten. ›Zelt‹ war eine sehr schmeichelhafte Bezeichnung für die große Lederplane, die man zwischen einigen stabilen Stangen aufgespannt hatte. Sie hielt zwar notdürftig den Regen ab, keineswegs aber den rauhen Wind. Der Zwerg war deshalb dazu übergegangen, seine Berechnungen auf kleinen Wachstafeln statt auf Pergament auszuführen. Die Tafeln waren mit einem hölzernen Rahmen eingefaßt, und zwei Rückwände aus rotem Nußbaumholz verliehen den Wachstafeln zusätzliche Stabilität. Kleine Eisenringe zwischen den Tafeln erlaubten sie wie ein kleines Buch zusammenzuklappen.

Kolon kratzte sich mit dem eisernen Schreibgriffel am Hinterkopf. Wenn seine Berechnungen stimmten, müßten alle drei Tunnel in den nächsten Tagen die östliche Stadtmauer erreichen. Dann könnte man in spätestens einer Woche losschlagen, wenn da nicht diese aberwitzigen Pläne der Orkschamanan gewesen wären. Immer häufiger inspizierten sie seine Tunnel, als würden sie seiner Arbeit nicht trauen. Auch bestanden sie darauf, daß er die Tunnel so zu legen hätte, daß sie unterhalb des Platzes der Sonne zusammentrafen.

Verrückt! Diese Schwarzpelze mochten Büffel jagen können, vom Tunnelbau und den damit verbundenen Problemen hatten sie keine Ahnung! Immerhin müßten selbst die Krieger der Orks nun seine Arbeiten unterstützen. Fast täglich wurden Trupps ausgeschickt, um neues Holz zu schlagen. Kolon brummte wütend vor sich hin. Die Hälfte der Menschensklaven war damit beschäftigt, aus den Baumstämmen Balken und Bretter zu sägen. Was an Material verbraucht wurde, um die drei Tunnel mit Holzverschalungen zu sichern, war enorm. Schon seit zwei Wochen war kein einziges Katapult mehr gebaut worden. Die Feindseligkeiten gegen die Stadt beschränkten sich auf gelegentliches Störfeuer. Wenn das Wetter aufklarte, beschossen sie Greifenfurt gelegentlich mit primitiven Feuerkugeln. Doch durch den andauernden Regen war alles so durchnäßt, daß diese Angriffe fast keine Wirkung zeigten.

Kolon beugte sich wieder über seine Berechnungen auf den Wachstafeln. Es war schlichtweg verrückt, nicht anzugreifen, sobald die Tunnel einige Schritt hinter die Stadtmauer reichten. Es grenzte ohnehin an ein Wunder, daß es noch zu keinem ernsthaften Unfall gekommen war. Auch die Belüftung der Tunnelanlagen wurde immer schwieriger. Die Luft am Ende der fast zweihundert Schritt langen Erdgänge war so schlecht, daß die Arbeiter sich alle paar Augenblicke hinsetzen mußten, um Atem zu schöpfen. Der Zwerg schob sich den Schreibgriffel in den Gürtel. Es wäre an der Zeit, den südlichsten Tunnel noch einmal in Augenschein zu nehmen. Die Arbeiten dort waren am weitesten fortgeschritten. Vielleicht waren sie hier sogar schon unter der Stadtmauer durch.

»Garbag!« schrie der Zwerg lauthals, kaum daß er sich aus dem Schutz der Plane begeben hatte. »Los, beweg deinen räudigen Pelz zu mir.« Kolon blickte in die Runde. Dann rief er noch einmal, bis sich schließlich vom Lager her ein großer Ork in einer Lederrüstung näherte. Böse funkelte er den Zwerg an.

»Na, Garbag, würdest mir am liebsten die Kehle herausreißen, nicht wahr?« Kolon musterte den Hünen verächtlich. Garbag gehörte zum Stamm der Tordochai; jeder Zoll an ihm verriet den kampfgestählten Krieger. Er und seine Männer waren in vorderster Linie beim großen Angriff auf die Stadt dabeigewesen, doch zweimal waren sie bei dem Versuch, die Bresche zu stürmen, zurückgeschlagen worden. Garbag selbst hatte an dem Tag eine schwere Schulterwunde davongetragen, doch obwohl er großen Mut bewiesen hatte, bestrafte Sharraz Garthai den Krieger für sein Versagen. Der Tordochai durfte niemanden mehr in den Kampf führen. Statt dessen hatte der General Garbag zu Kolons Leibwächter gemacht. Der Zwerg wußte sehr genau, daß der Krieger sich seitdem wie ein Sklave fühlte und ihn haßte, dennoch fühlte er sich sicher, denn Sharraz Garthai hatte verkündet, daß Garbag an dem Tag, an dem dem Zwerg etwas passieren würde, selber einen ehrlosen Tod sterben würde.

Eigentlich war Kolon der Ansicht, daß er keinen Leibwächter brauchte. Trotzdem konnte er das Geschenk des Orkgenerals nicht ablehnen. So machte er sich einen Spaß daraus, den Krieger zu ängstigen. Natürlich hätte Garbag niemals zugegeben, sich vor irgend etwas zu fürchten, doch wußte Kolon genau, daß es dem Ork unheimlich war, wenn er mit seinem ungeliebten Herrn in die Tunnel mußte.

»Komm, Garbag, wir werden wieder den Schoß Sumus besuchen.« Kolon lächelte den Ork gehässig an. »Hol eine Fackel!« Dann ging er zu der großen hölzernen Platte, die den Einstieg zum Tunnel versperrte.

Auf ein Zeichen des Zwergen wurde die Abdeckung beiseite geschoben. Sie sollte verhindern, daß ständig Regenwasser in den Stollen lief. Doch da sie im Laufe eines Tages mehr als hundertmal geöffnet werden mußte, um die Sklaven herauszulassen, die in Säcken Erde vom Ende des Tunnels brachten, war ihr Nutzen nur begrenzt. So befand sich am Fuß des Schachtes eine große, schlammige Pfütze.

Inzwischen war Garbag mit einer Fackel eingetroffen.

»Geh vor«, befahl ihm der Zwerg.

Der Krieger blickte in den dunklen Schacht hinab. Er zögerte.

Drei Leitern, die leicht zitterten, führten nach unten. Es schien, als seien Träger auf dem Weg nach oben.

»Macht Platz für Kolon, Herr der Tunnel!« schrie der Ork in die Finsternis. »Wir werden die mittlere Leiter hinabsteigen. Kriecht also zurück in euer Loch, ihr Würmer!«

Garbag drehte sich um, und kletterte hinab.

Kolon folgte ihm mit einigem Abstand. Als der Zwerg ungefähr die Mitte der Leiter erreicht hatte, konnte er im Licht der Fackel schmutzige Gestalten erkennen, die sich mit über die Schulter geschnallten Säcken langsam rechts und links von ihm die Leitern hocharbeiteten. Die Frauen und Männer waren vollkommen mit Schlamm bedeckt. Allein das Weiße ihrer Augen glänzte hell im Dunkel des Schachtes. Stöhnend arbeiteten sich die Sklaven nach oben.

Um ihnen die Kraft zu geben, mit ihren schweren Lasten immer wieder aus dem tiefen Schacht zu steigen, hatte sich Kolon eine bösartige Folter ausgedacht. Alle Sklaven, die in den Tunneln arbeiteten, wurden morgens schon vor Sonnenaufgang in die Schächte getrieben, und erst wenn am Abend das Praios-Gestirn versunken war, durften sie die Tunnel wieder verlassen.

So führten die Träger ein Leben in Finsternis, denn um die ohnehin schon schlechte Luft in den Schächten nicht noch unnötig zu vergeuden, durften sie kein Licht mit sich führen.

Nur jene Sklaven, die sich an der Spitze des Stollens durch das Erdreich arbeiteten, hatten einige Fackeln und Blendlaternen. So bekamen sie nur dann das Praios-Gestirn zu sehen, wenn sie mit einem Sack voller Erde aus der Grube stiegen, um den Abraum auf einen der drei Hügel zu schütten. Danach durften sie einen Moment verschnaufen und etwas essen oder trinken, bevor sie von den Aufsehern erneut in die Finsternis getrieben wurden.

Noch lange hörte Kolon das Schnaufen der Sklaven, die sich immer weiter der Sonne entgegen mühten, bis ihnen auf ein Klopfsignal der schwere hölzerne Verschluß des Schachtes geöffnet würde.

Kolon hatte den Grund des Abstiegsschachtes erreicht. Bis weit über den Gürtel reichte ihm hier das schlammige Wasser, das durch die Luke herabgelaufen war. Garbag stand bereits in dem Tunneleingang, der Richtung Greifenfurt führte, während der Zwerg den Schlamm musterte.

»Leuchtet mal hier her«, brummte Kolon den Ork an. Ihm war, als hätte er etwas im Schlamm gesehen.

Garbag kam näher, und das Licht der Fackel zeigte die verrenkten Gliedmaßen eines Mannes, der dicht bei der Wand des Schachtes lag. Er mußte von der Leiter gestürzt sein. Immer wieder kam es vor, daß einem der Sklaven die Kräfte versagten, bevor er die rettende Luke am Ende der Leiter erreichte.

Kolon musterte den Toten. Er schien ein kräftiger Kerl gewesen zu sein. Schade. Der Zwerg sorgte dafür, daß alle seine Sklaven reichlich zu essen bekamen. Sogar Fleisch! Vermutlich bekamen sie sogar bessere Rationen als die belagerten Greifenfurter. Der Zwerg schlug ein Schutzzeichen, um nicht vom Geist des toten Sklaven heimgesucht zu werden.

»Laß uns gehen«, brummte er. Gehorsam machte Garbag sich auf. Die Decke des Erdtunnels vor ihm war so niedrig, daß der Krieger geduckt gehen mußte.

Der Zwerg folgte seinem Leibwächter mit geringem Abstand. Argwöhnisch musterte er dabei die Bretter, mit denen die Decke des Ganges verschalt war, und die dicken, hölzernen Stützpfeiler, die in kurzen Abständen entlang der Wände standen.

Kolon haßte es, sich durch Erde zu wühlen. Das war eines Zwergen nicht würdig. Einen Tunnel durch einen Felsen zu treiben war eine Herausforderung, aber diese Wühlerei hier war buchstäblich ein Dreck!

Überall tropfte es zwischen der Verschalung von der Decke hinab; Regenwasser, das sich seinen Weg zu den Strömen tief im Inneren der Erde suchte.

Wieder dachte der Zwerg an die Forderungen der Schamanen. Noch weiter und vor allem noch tiefer sollte er graben.

Ärgerlich spuckte er in eine der trüben Pfützen auf dem Boden. Keine Ahnung hatten diese Geisterbeschwörer. Würde er noch einen oder zwei Schritt tiefer graben, mochten sie auf Grundwasser stoßen. Und je näher sie dem Fluß kamen, desto größer wurde die Gefahr eines Wassereinbruchs. Unter solchen Bedingungen einen Tunnel durchs Erdreich zu treiben, überstieg selbst seine Fähigkeiten. Na ja, die Schwarzpelze würden schon sehen, was ihnen ihre unsinnigen Forderungen einbrachten. Immer wieder hatte er versucht, ihnen zu erklären, was passieren würde, wenn sie erst einmal eine Stelle erreichten, wo das Erdreich vom Wasser so aufgeweicht war, daß es die Stützbalken für die Deckenverschalungen nicht mehr tragen würde. Aber für vernünftige Argumente waren die Schamanen nicht zugänglich.

Kolon lächelte grimmig. Wenn es soweit war, würde er in keinem dieser Tunnel stehen, aber vielleicht ließ es sich ja einrichten, daß einige dieser besserwisserischen Schamanen zu dieser Zeit hier unten weilten. Danach würde man mehr auf sein Wort geben!

Der Zwerg lachte böse.


Himgi beobachtete verstohlen den Propheten. So nannten die meisten mittlerweile den wahnsinnigen Uriens. Obwohl es fast nirgends noch etwas zu trinken gab, strich der Prophet trotzdem Nacht für Nacht ziellos durch die Tavernen der Stadt. Den meisten war er unheimlich. Hatten die Bürger früher noch ihre Späße mit ihm gemacht, so versuchten sie ihm nun aus dem Weg zu gehen.

»Der Tod trägt rot.« Fast jeder kannte den Orakelspruch des Irren; es gab Dutzende Spekulationen, was das wohl bedeuten mochte. Doch selbst Himgi war sich bewußt, daß in den Worten des Propheten eine vieldeutige Wahrheit lag. Da war der Hafenarbeiter Drugon, der mit seinen Kindern ermordet worden war. Nie hatte man die Frau in dem roten Kapuzenmantel gefunden, die diese gräßlichen Morde begangen hatte.

Manche dachten aber auch an die roten Fahnen, die die Orks in der Schlacht führten, oder die roten Gewänder, die von den Priestern des Blutgottes Tairach getragen wurden. Vielleicht würden diese Götzenanbeter ein schreckliches Blutbad unter den Überlebenden anrichten, wenn die Orks erst einmal die Wälle der Stadt erstürmt hatten.

Die gefährlichste These aber tuschelten manche Betrunkene hinter vorgehaltener Hand. Dann raunte man sich zu, daß Marcian der Totengräber der Stadt sei. Der Oberst trug einen leuchtend roten Umhang, und bei Licht betrachtet hatte seine ›Befreiung‹ der Stadt den Greifenfurtern viel Leid gebracht.

Vielleicht wäre es das beste, den Propheten für immer zum Schweigen zu bringen. Würde Himgi ihn in einer dunklen Ecke auflauern, wäre es ein leichtes, Uriens zu beseitigen. Doch was geschah dann? Womöglich lieferten der Tod oder das plötzliche Verschwinden des Mannes nur Anlaß zu neuen Spekulationen.

Wieder musterte der Zwerg die zerlumpte Gestalt. Uriens schien auf ihn aufmerksam geworden zu sein. Er kam zu seinem Tisch herüber.

Himgi hatte schon viele Kriegsverletzungen gesehen, doch in das Gesicht des verstümmelten Propheten zu blicken fiel ihm schwer. Obwohl die Wunden schon lange verheilt waren, war Uriens noch immer gräßlich entstellt. Der Prophet sah aus, als sei er den Krallen einer Raubkatze zum Opfer gefallen. Seine Nase war eingedrückt, und die Lippen verschlossen den Mund des Mannes nicht mehr, so daß beständig ein dünner Faden von Speichel aus seinem Mundwinkel tropfte.

Unmotiviert fing der Seher an zu lachen. Es war das erschreckende, freudlose Lachen des Wahnsinns. Dann legte er sich vor Himgi auf den Tisch. »Kleiner Mann von Stein, wandert durch Gebein ...«, flüsterte der Irre. Dann erstarb seine Stimme wieder, und er gluckste und kicherte.

Dem Zwergen sträubten sich die Barthaare. Was sollten diese Worte? Eine neue Prophezeiung? Der Legende nach war das Volk der Zwerge aus nacktem Felsgestein geboren worden.

»Kleiner Stein ganz groß, ward zum Todeslos ...«

Himgi schluckte. Er war nicht abergläubisch, aber durch den Irren sprach die Stimme des Schicksals zu ihm, dessen war er sicher. Doch was bedeuteten die rätselhaften Sprüche?

»Der zu deinen Füßen liegt, der hat des Praos Kind bekriegt ...«

Wieder erscholl das hysterische Lachen des Irren.

»Ihr solltet Euch sputen, Ihr Diener des Guten. Sonst werden die Bösen mein Rätsel lösen. Ich kann dir Weisheit schenken! Doch vermagst du zu denken ? Kleiner Stein ganz groß, ward zum Todeslos!«

Uriens rollte vom Tisch und fiel auf den Boden. Dort umklammerte er die Beine des Zwergen. Der Seher begann zu wimmern und krallte seine Finger in Himgis Schenkel.

Mit einem Tritt schleuderte der Zwerg den Irren beiseite. Dummes Geschwätz eines Wahnsinnigen. Himgi erhob sich, um die ›Fuchshöhle‹ zu verlassen. Für heute nacht hatte er genug von diesen Kindergeschichten. Doch kaum war er auf den Beinen, da erstarb das Licht um ihn herum, bis nur noch das unsichere, flackernde Leuchten einer Fackel übrigblieb. Vorsichtig bewegte sich der Zwerg vorwärts. Welcher verfluchte Zauber hatte ihn getroffen?

Zu seinen Füßen lagen bleiche Knochen. Deutlich konnte er eine skelettierte Hand erkennen, die eine altertümliche Zwergenaxt hielt. Daneben lag ein eingeschlagener Schädel mit gewaltigen Hauern. Himgi erschien es, als befände er sich in einem niedrigen Gang.

An den Wänden waren Schädel wie zu Pyramiden aufgeschichtet und mit Symbolen in roter Farbe bemalt. Wenige Schritte weiter schimmerte ein glatter, schwarzer Stein, der den Gang verschloß. Himgi sträubten sich die Haare. Das war kein Stein, der von den Händen eines ehrlichen Handwerkers geschaffen war. Ein böser Zauber lag auf ihm!

Ungläubig kniff der Zwerg die Augen zusammen. Was war das?

Jetzt stand er wieder inmitten des Bordells. Himgi wurde schwindelig. Hastig griff er nach einer Tischkante. Eiskalte Schauer liefen ihm über den Rücken. Hatte er jetzt selber schon das zweite Gesicht?

Wie zum Hohn erscholl hinter ihm das Gelächter des Irren.

Für einen Moment fuhr ihm die Hand zum Griff der Axt an seinem Gürtel. Ein kurzer Schlag, und der Irrsinn hätte ein Ende!

Ein Mord hier in aller Öffentlichkeit? Und sein Opfer ein wehrloser Verrückter? Nein, das durfte nicht sein! War er denn ein ehrloser Meuchler? Himgi rannte auf die Tür der Schenke zu. Er mußte hier raus, sonst würde auch er noch den Verstand verlieren. Hastig stolperte er aus dem Bordell in die Nacht.

Die kalte Luft tat gut. Mit raschem Schritt eilte er auf den Festungsturm in der Südmauer zu, wo er mit anderen Zwergen seines Banners Quartier bezogen hatte.

Wieder gingen ihm die Worte des Propheten durch den Kopf. »Kleiner Stein ganz groß, ward zum Todeslos.«


Als Arthag gemeinsam mit Nyrilla und seinen sieben Leibwächtern Ferdok erreichte, erkannte er die Flußstadt beinahe nicht mehr wieder. Überall wimmelte es von Handwerkern und Soldaten. Dutzende Boote und Schiffe in allen Größen lagen an den Kais, und schwerbeladene Karren verstopften die Straßen der Stadt. Noch bevor sie das Gasthaus erreichten, in dem sie auf der Hinreise nach Xorlosch abgestiegen waren, gab es bereits Ärger. Ein Werber der kaiserlichen Armee hatte unvorsichtigerweise die Angroschim aus Arthags Eskorte angesprochen und gefragt, ob sie nicht der Armee beitreten wollten. Eine ausgemachte Beleidigung für die unabhängigen Elitekrieger. Schnell kam es zu bösen Worten, wie etwa, ob der stinkende Großling vielleicht meinte, herrenlose Söldner vor sich zu haben.

Selbst der Werber sah schnell ein, daß er einen Fehler gemacht hatte. Als ihn die Kämpfer mit Äxten umringten und es von allen Seiten Beleidigungen und Herausforderungen zum Duell hagelte, entschuldigte er sich in geradezu sklavischer Manier. Außerdem bot er an, jedem Beleidigten einen Humpen guter Ferdoker Biers zu spendieren. Das kostete den Werber zwar das ganze Faß, doch dafür würde er den Winter nicht im Krankenquartier verbringen.

Arthag und seine sieben trinkfesten Gefährten waren der Meinung, daß der Großling damit ein sehr gutes Geschäft gemacht hatte. Allein Nyrilla störte bei der Schlichtung dieses Streits empfindlich. Ihr fehlten eindeutig die Ausdauer und der Wille, auf solche Art Frieden zu stiften. Die härteste Prüfung stand Arthag an diesem Tag jedoch noch bevor. Als sie das Gasthaus erreichten, in dem sie vor einigen Wochen schon einmal abgestiegen waren, weigerte sich die Wirtin, ihnen Zimmer zu überlassen. Nicht einmal in der Scheune waren Schlafplätze zu bekommen. Auf den Befehl des Grafen Growin bestimmte in diesem Winter der Quartiermeister des kaiserlichen Heeres, wer wo und für wie lange Unterkunft bekam. Für Zivilisten sei in diesem Winter kein Platz in Ferdok, so lautete die Parole des Militärs. Alle Schenken wurden von der Stadtwache streng kontrolliert. Wer sich nicht an die Anweisung hielt, mußte mit hohen Geldstrafen rechnen.

»Skipperedikt« wurde diese ungeliebte Verordnung von den Bürgern und den Soldaten genannt. Denn es waren in erster Linie Bootskapitäne und Handwerker, die darauf bestanden hatten, daß sie, wenn sie Schiffe und Arbeitskraft für den ganzen Winter zur Verfügung stellten, wenigstens angemessen verköstigt und untergebracht würden.

In den buntesten Farben schilderte die Wirtin der Gruppe, was dieses verfressene Volk den Prinzen kostete. Täglich trafen Wagenzüge mit Lebensmitteln und Baumaterial aus Gareth und den anderen großen Städten der Region ein. Allein die Zahl der Schiffe, die hier in diesem Winter vor Anker lagen, war so groß, daß neue Hafenanlagen gebaut werden mußten. Je länger die Wirtin redete, desto phantastischere Geschichten wußte sie zu erzählen. Als sie schließlich behauptete, Rondra selbst sei schon unter den Soldaten gesehen worden und sie werde die Reiterinnen aus der Garde des Grafen Growin in die Schlacht führen, um die Orks noch, bevor der erste Schnee fiel, bis hinter den Finsterkam zu treiben, wurde es Arthag zu bunt. Mit knappen Worten verabschiedete er sich.


Die Sonne neigte sich dem Horizont zu, als Arthag mit seinem Gefolge das Stadtschloß des Grafen erreichte. Das Gebäude war umringt von Gardesoldaten. Trotz der vorgerückten Stunde herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Meldereiter aus den südlichen Reichsprovinzen hasteten die Stufen des Portals herunter und riefen nach ihren Pferden. Eine Gruppe Seeoffiziere in goldbestickten Uniformen stand auf der breiten Treppe und debattierte.

Die Wache am Tor wurde von einem ehrfurchtgebietenden Hauptmann angeführt. Er hatte langes, silbergraues Haar, einen kurzgeschorenen Bart und trug die prächtige Rüstung eines Kürassieroffiziers. Seinen Helm mit wallendem weißen Federbusch hatte er sich unter den Arm geklemmt. Jeder, der das Schloß des Grafen betreten wollte, mußte an ihm und seinen Wachen vorbei. Und das schien nicht leicht zu sein. Jedenfalls wurden bedeutend mehr Boten und Offiziere wieder weggeschickt als durchgelassen.

»Bedaure, aber der Prinz und sein Generalstab sind in einer wichtigen Besprechung«, ertönte die tiefe Stimme des Mannes, während Arthag die Stufen zum Portal erklomm.

Eine junge Frau, die in die weiten Gewänder der Tulamiden gehüllt war, verlangte nach Einlaß. »Drei Wochen habe ich im Sattel gesessen, um den Prinzen zu erreichen. Ich bringe dringende Nachricht des Sultans von Fasar.«

»Wenn Ihr so lange geritten seid, dann gönnt Euch nun eine Nacht der Ruhe und ...«

»Bei allen Dschinnis der Geisterwelt! Ich werde mich doch nicht von einem solchen Stutzer aufhalten lassen!« Die Frau versuchte durch die Wachen durchzubrechen. Klirrend schlugen die Speere der Soldaten am Eingang gegeneinander. Krieger, die weiter unten an der Treppe in Bereitschaft gestanden hatten, eilten die Stufen empor.

»Ich versichere Euch, Ihr seid die erste, die morgen früh eine Audienz bei seiner Majestät erhalten wird«, übertönte der Bau des Hauptmanns den Tumult. »Begleitet die Gesandte nun in die Stadt und verschafft ihr ein angemessenes Quartier!«

Die Frau hatte sich etwas beruhigt. Eskortiert von zwei Soldaten schritt sie an Himgi und seinem Gefolge vorbei die Treppe hinab.

»Laß mich reden«, zischte Nyrilla dem Zwergen ins Ohr.

»Unsinn«, brummte Arthag, erklomm die letzten Treppenstufen und baute sich vor dem Hauptmann auf.

»Ich, Arthag Armbeißer vom Volk der Amboßzwerge, bittet um Audienz bei seiner Majestät, dem Prinzen. Ich bringe dringende Nachricht aus Xorlosch.«

Mit kalten grauen Augen musterte ihn der Offizier, um dann mit tonloser Stimme zu erklären: »Bedaure, Seine Majestät ist in einer wichtigen Besprechung. Morgen werden bis zur Mittagsstunde Audienzen gegeben, ich bitte Euch, mit Eurer Gesandtschaft dann noch einmal vorzusprechen.« »Hauptmann, unsere Botschaft duldet keinerlei Aufschub. Es tut mir leid, Ihnen Umstände zu bereiten, doch müssen wir nun in den Palast!« Arthag sprach mit gepreßter Stimme. Kaum gelang es ihm, seinen Ärger über die herablassende Behandlung zu unterdrücken. Was erlaubte sich dieser Großling eigentlich? Dabei war Arthags Sippe schon berühmt gewesen, als die Vorfahren dieses Mannes noch mit Steinbeilen Rotpüschel gejagt hatten. Böse funkelte ihn der Zwerg an. »Ihr zieht den Zorn Seiner Majestät auf Euch, wenn Ihr uns jetzt abweist!«

Der Offizier schien ihn und sein Gefolge zu mustern. Sollte er nur versuchen, mit acht Zwergen Streit anzufangen.

»Ich fürchte, mein Freund hat vergessen zu sagen, daß wir im Auftrag des KGIA beim Prinzen vorsprechen. Baron Dexter Nemrod selbst schickt uns. — Wie war auch gleich Euer Name, Hauptmann?« Nyrilla stand jetzt neben dem Zwerg und hielt dem Offizier ihr funkelndes Greifensiegel entgegen. Der Mann erbleichte. »Ich bitte um Entschuldigung ... Warum habt Ihr nicht gleich gesagt, in wessen Dienst Ihr vorsprecht? Natürlich werdet Ihr sofort vorgelassen ... Wache, geleitet die Gesandtschaft in den Rittersaal!«

Das Portal wurde aufgestoßen, und ein Junker verbeugte sich in höfischer Manier vor der Elfe. »Bitte erweist mir die Ehre, mir zu folgen«, grüßte er mit öliger Stimme. Dann wandte er sich um und schritt in den langen Gang hinter dem Portal.

»Warum nicht gleich so«, grunzte Arthag zufrieden und folgte dem Adligen.

»Ich werde mich dann drinnen nach Eurem Namen erkundigen«, sagte Nyrilla und folgte dem Zwergen. Der Offizier schien noch eine Spur blasser zu werden.

»Was machen wir, wenn er herausbekommt, daß wir gar nicht direkt vom Baron kommen?« flüsterte Arthag der Elfe zu, während sie durch den hohen, fackelbeleuchteten Flur schritten. Der Zwerg war beunruhigt. Es war nicht gut, leichtfertig den Namen des Großinquisitors zu nennen.

»Der Hauptmann wird schon keine weiteren Fragen stellen. Er wird froh sein, wenn er von uns nichts mehr hört.«

Arthag konnte diesen Optimismus nicht teilen. Überhaupt fand er, daß sich Nyrilla meistens zu wenig Gedanken darüber machte, was sie tat.

Inzwischen waren sie vor einer großen, zweiflügeligen Tür angelangt. Der Junker tuschelte kurz mit den Wachen. Dann wurde die Flügeltür einen Spalt geöffnet, und eine Kriegerin huschte hinein.

Was für Umstände die Großlinge machten! Arthag war das unbegreiflich. Er blickte sich zu seiner Ehrenwache aus Xorlosch um. Die Zwerge musterten mit versteinerten Mienen Wände und Decken. Keiner sagte etwas oder zeigte auch nur die geringste Regung. Trotzdem war Arthag sich ziemlich sicher, daß sie in Gedanken geringschätzig die menschliche Architektur mit ihren eigenen Steinmetzarbeiten verglichen.

Arthag hatte sich schon lange abgewöhnt, solche Vergleiche anzustellen. Was sollte man von den kurzlebigen Großlingen auch erwarten? Sie waren doch schon alt und grau, bevor einem jungen Zwergen ein mannhafter Bart gewachsen war. Menschen lebten einfach nicht lange genug, um sich die Muße für wahrhaft vollkommene Arbeiten nehmen zu können. Keiner ihrer Steinmetze hatte die Zeit, ein Jahrzehnt aufzuwenden, um einen wahrhaft vollkommenen Torbogen zu gestalten. Warum sollte man über sie lästern? Man sprach ja auch nicht geringschätzig von Kindern, die sich bemühten, aus Sand Burgen zu formen.

Arthag schreckte aus seinen Gedanken auf. Beinahe lautlos hatte sich die Flügeltür geöffnet. Der Zwerg konnte in einen langen Saal mit rußgeschwärzter Holzdecke blicken. Wohl zwei Dutzend Männer und Frauen in prächtigen Rüstungen und Uniformen schauten ihm erwartungsvoll entgegen, während irgendwo eine laute Stimme verkündete:

»Arthag Armbeißer, Zwerg vom Volk unter dem Amboß, Gesandter des Großinquisitors Baron Dexter Nemrod. In seinem Gefolge, Nyrilla, vom Volk der ...«

Arthag zitterten für einen Moment die Knie. Solche Auftritte war er nicht gewohnt. Dann faßte er sich ein Herz und schritt in den Saal. Am Ende der Tafel stand ein junger Mann in hohen Reiter stiefeln. Seine Uniform war etwas abgetragen und die Farben seines Rocks ein wenig verschossen.

Dennoch konnte kein Zweifel bestehen. Dieser selbstbewußte und doch nicht überhebliche Blick. Die braunen Augen, das schulterlange, dunkelblonde Haar ... Und vor allem das Amulett mit dem Fuchskopf, das der junge Mann um den Hals trug. Dieser Mann mußte Prinz Brin sein.

Der Zwerg verneigte sich.

»Erhebt Euer Haupt, Arthag vom Volk der Amboßzwerge.« Die Stimme klang fest und zugleich freundlich. »Sagt, welch wichtige Botschaft bringt Ihr mir von meinem Freund, dem Baron?«

Arthag räusperte sich verlegen. Er wünschte, diese verdammte Elfe hätte ihr vorschnelles Mundwerk gehalten.

»Ähm ... Zunächst überbringe ich Euch Grüße von Tschubax, Herr aller Erzzwerge und König in Xorlosch. Im Dienste des Barons haben wir dort Kunde über Greifenfurt, daß einst Saljeth genannt wurde, eingeholt und wissen nun, was die Schwarzröcke dazu trieb, den Tempel des Praios zu schänden und seit vielen Wochen unermüdlich die Mauern der Stadt zu bestürmen ...«


Als der Zwerg geendet hatte, herrschte Grabesstille im Rittersaal. Als erster fand der junge Prinz die Sprache wieder. »Ich fürchte, Herr Arthag, es wird Euch nicht möglich sein, Eure Botschaft nach Greifenfurt zu bringen. Jedenfalls nicht in den nächsten Tagen. Nach den neuesten Berichten unserer Kundschafter sammelt sich ein größerer Truppenverband nördlich von uns. Überall wimmelt es nur so von den Spähern der Schwarzpelze, und bis zur Stadt durchzukommen ist unmöglich.«

»Aber ...« Arthag stand ratlos vor der Versammlung. Wieder erschien es ihm, als würden ihn alle anstarren. »Aber ich habe mein Wort gegeben, diese Botschaft nach Greifenfurt zu bringen, und König Tschubax hat mir dazu diese Ehrenwache mitgegeben.«

Er blickte über die Schulter zu den Zwergen, die dort in der Tür standen. Keiner von ihnen zeigte die geringste Regung, und doch konnte sich Arthag nur zu gut vorstellen, was in ihnen vorging. »Halte ich mein Wort nicht, dann sind mein Gefolge und ich ehrlos. Lieber werden wir sterben, als unseren Sippen solche Schande zu bereiten.«

»Du wirst deine Botschaft nach Greifenfurt bringen, mein Freund«, erklang eine vertraute Stimme.

Arthag hatte während seines ganzen Vertrags den Blick nicht vom Prinzen gewandt. Erst jetzt musterte er die Offiziere und Reichsräte, die entlang der Tafel versammelt waren. Und dann erkannte er den hochgewachsenen Mann mit dem kurzen Haar, der zu ihm sprach.

Der Wurzelsaft, mit dem er vor Wochen das Haar schwarz gefärbt hatte, war längst ausgewaschen; wie Gold schimmerte jetzt das Haupthaar Alriks von Blautann.

»Du kannst Ferdok nur mit uns allen gemeinsam verlassen. Versteh mich nicht falsch, Arthag, aber würden acht Zwerge versuchen, die Linien der Orks zu durchbrechen, so endete das mit einem traurigen Heldenlied über Todesmut. Das mag zwar ehrenvoll sein, deinen Auftrag hast du damit aber nicht erfüllt. Außerdem solltest du bedenken, daß du nicht nur für dich alleine, sondern auch für deine Begleiter die Verantwortung trägst.« Arthag war sich unschlüssig. Ließ er die Sache mit der Ehre beiseite und betrachtete das Problem leidenschaftslos, mußte er dem Oberst zustimmen.

»Und wann wird die Armee Ferdok verlassen?«

Wieder wurde es ruhig im Saal. Langsam wurde Arthag bewußt, daß er ungewollt ein sehr heikles Thema angesprochen hatte.

Schließlich antwortete ein Mann in der Uniform eines Admirals. »Das hängt von vielen Faktoren ab. Wir müssen erst eine genügend große Flotte aufbauen. Außerdem brauchen wir ausreichend Matrosen und Soldaten, und dann sollte der Wind auch noch günstig stehen.«

»Was soll das heißen?« Arthag war verwirrt. Was sollte das Gerede von Flotten und Matrosen? Es ging doch darum Greifenfurt zu befreien ... »Nun, es wird wohl noch ein paar Wochen dauern«, entgegnete der Admiral.

»Ein paar Wochen!« Nyrilla konnte nicht fassen, was sie da gehört hatte. Sie vergaß alle Etikette, blickte einen Moment in die Runde und fragte dann mit schneidender Stimme. »Seid Ihr sicher, daß es sich dann überhaupt noch lohnt aufzubrechen?«

»Nun, schöne Unbekannte«, erwiderte Admiral Sanin, »sollte ich einmal meinen Weg im Wald verlieren, greife ich gerne auf Eure Hilfe zurück. Doch die Planung größerer militärischer Operationen überlaßt doch bitte den Strategen.«

»Nun, Stratege, dann wünsche ich Euch viel Glück bei der Rückeroberung eines von Orks besetzten Greifenfurt ... in ein paar Wochen oder so.« Nyrilla machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Saal.

»Admiral Sanin, Eure höfischen Manieren lassen zu wünschen übrig. Ich erwarte, daß Ihr Euch bei nächster Gelegenheit bei der Dame in aller Form entschuldigt. Sie hat sich heldenhaft für unsere Sache geschlagen und verdient mit mehr Respekt behandelt zu werden.«

Der Admiral verbeugte sich vor seinem Prinzen.

»Zu Befehl, Eure Majestät. — Doch nun laßt uns weiter die Schiffsentwürfe einsehen, die uns Fürst Cuanu Ui Bennain geschickt hat. Dieser Mechanikus, von dem er schreibt, scheint ein sehr begabter Mann zu sein. Seht nur dieses Schiff mit dem Kran im Bug. Ich denke ...«

Während die Offiziere weiter beratschlagten, schlich sich auch Arthag aus dem Saal. Seinen Empfang hatte er sich anders vorgestellt. Obwohl die Argumente der Großlinge vernünftig klangen, wollte er nicht wochenlang in Ferdok bleiben.

Was sollte aus Hauptmann Himgi werden? Aus Marcian, Lysandra und all den anderen, die in Greifenfurt auf ihn warteten und hofften, daß sie eine Entsatzarmee bringen würden?

Traurig verließ er den Rittersaal und machte sich in der Stadt auf die Suche nach Nyrilla.

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