15

In der Abenddämmerung konnten Nyrilla und Arthag beobachten, wie die Orks auf Stangen die Köpfe der toten Verteidiger in ihr Hauptlager trugen. Auch wurden viele Böcke und Rotzen wieder vom Westufer der Breite abgezogen.

Wo sie wohl als nächstes zuschlagen werden? fragte sich Arthag. Den ganzen Tag über hatte er gemeinsam mit der Elfe von einer fernen Hügelkette aus den Untergang des Turmes beobachtet.

Jetzt würden sie nicht mehr lange warten müssen. Wenn Trommelschlag und Gesänge erst einmal von der Siegesfeier der Orks kündeten, würden sie ohne Gefahr durch den Fluß schwimmen können, um dann mit einem Seil über die Mauer in die Stadt zu gelangen.

So wie die Dinge standen, mußten sie vielleicht auch noch ein paar Stunden warten. Doch das war ihm nur recht, dachte Arthag. Lieber im kalten, feuchten Gras liegen, als schon wieder einen Fluß durchschwimmen. Schaudernd erinnerte er sich an das letzte Mal.

Arthag behielt recht. Ohne Schwierigkeiten konnten er und Nyrilla während der Siegesfeier durch die Linien der Orks schleichen. Erst den Wachen der Stadt, die aufmerksam über die Mauern patrouillierten, fielen sie auf. Als sie über die Zinnen geholt waren, wurden sie unverzüglich zur Garnison eskortiert, wo Marcian wie an jedem Abend mit seinen Offizieren versammelt war. Arthag schilderte, was er in Xorlosch über die Vergangenheit Greifenfurts erfahren hatte. Am Ende seines Berichts herrschte drückendes Schweigen. Man konnte an den Gesichtern der Männer und Frauen ihre Verzweiflung ablesen. Ein göttlicher Talisman des Tairach tief unter der Stadt und Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Orks nur wenig mehr als einen Tagesmarsch südlich — das waren in der Tat schlechte Nachrichten.

Marcian fand als erster seine Stimme wieder. »Himgi, hole ein paar deiner Männer. Sie sollen schwere Hämmer mitbringen. Wir werden uns diesen Torturm noch heute nacht ansehen! Ihr anderen nehmt euch Fackeln von den Wänden und folgt mir.«

Marcian führte die Männer durch die Straßen der Stadt zum Henkersturm. Arthag schritt an seiner Seite.

Dort angekommen, musterte der Zwerg einige Stellen, wo durch die Treffer von Katapulten die Putzschichten abgebröckelt waren und das nackte Gemäuer bloßlag. Dann verkündete er so laut, daß es jeder in der Runde hören konnte: »Dieser Turm ist zwar von kundigen Arbeitern errichtet, aber ein Werk von Zwergen ist er nicht! Laßt uns zur ›Fuchshöhle‹ gehen!«

Der Fackelzug setzte sich in Bewegung. Am Fuß des Hügels vorbei, auf dem rund um den Platz der Sonne die Häuser der Patrizier lagen, waren es kaum mehr als hundert Schritt, bis zu dem Bordell, das der Magier Lancorian betrieb. Arthag hatte den blonden Zauberer nicht bei der Offiziersversammlung gesehen. Das konnte nur bedeuten, daß er im Lazarett lag. Nun, dann würde es jetzt auch keinen Ärger geben!

Die Brände, die während des Sturms auf die Stadt ausgebrochen waren, hatten die Mauern des Turms geschwärzt. Rund um das steil aufragende Gemäuer standen noch immer die Ruinen halb ausgebrannter Viehpferche und eines Stalles. Der Turm selber hatte keinen Schaden genommen. Mittlerweile war Himgi mit einigen Zwergen zu dem Trupp gestoßen. Seine bärtigen Gefährten hatten wuchtige Vorschlaghämmer geschultert. »Hier«, kommandierte Arthag und wies auf eine Stelle dicht beim Eingang. Krachend schlugen die Hämmer gegen das Gestein.

Schon als der Fackelzug den Turm erreicht hatte, waren die Lustknaben und Freudenmädchen des Etablissements neugierig herausgekommen. Ein Reigen schillernder Paradiesvögel, denn obwohl immer weniger Kunden die ›Fuchshöhle‹ besuchten, legten die Bewohner des Bordells all abendlich ihre Masken der Lust und Verführung an, so als befände sich die Stadt im Frieden.

Da waren die glutäugige, tätowierte Cara, die gleich lebendigen Armreifen sich windende Vipern zum Schmuck trug; der große, blonde Gunnar, der von sich selbst behauptete, aus Thorwal zu kommen, und mit Vorliebe schwarzes, mit Nieten beschlagenes Leder trug; die rätselhafte Mata, die mal als Mann, mal als Frau die ausgefallensten Wünsche ihrer Kunden erfüllte, und Moira, die vollbusige, blonde Schönheit, die es sich leisten konnte, auf exotische Requisiten zu verzichten, um ihren Liebhabern die Sinne zu verwirren. Sie alle und noch einige andere zogen aus dem Turm und sahen dem merkwürdigen Treiben mit ernsten Gesichtern zu. Doch niemand wagte es, sein Wort zu erheben.

Wieder und wieder schlugen die Hämmer gegen die Wand, bis ein großes Stück des Putzes herausgebrochen war.

»Haltet die Fackeln näher«, rief Arthag, als die Sappeure mit ihren Hämmern zurücktraten.

Argwöhnisch musterte der Zwerg die bloßgelegte Mauer, um schließlich zu verkünden: »Hier gibt es zwar Nachbesserungen, die weniger vollkommen ausgeführt sind, doch dieser Turm stammt mit Sicherheit von Handwerkern meines Volkes. Das ist allein schon daran zu erkennen, daß die Steine sauberer behauen sind und ein besserer Mörtel verwendet wurde als bei dem anderen Turm.«

Auch Himgi stimmte ihm brummend zu.

Nun richteten sich alle Blicke erwartungsvoll auf Marcian.

»Nun gut«, sagte der Inquisitor leise, um dann lauter fortzufahren. »Im Namen des Prinzen beschlagnahme ich dieses Gebäude. Wer auch immer hier wohnt, hat bis Sonnenaufgang Zeit, seine Habe zu packen. Danach darf die ›Fuchshöhle‹ nur noch mit meiner Genehmigung betreten werden.«

Die Huren schrien empört auf. Einige nannten Marcian lautstark einen Tyrannen. Andere bückten sich, um die Soldaten mit dem Schlamm der Straße zu bewerfen.

»Himgi, räum mit deinen Leuten den Platz, und sorge dafür, daß meine Befehle durchgeführt werden. Verhafte jeden, der Widerstand gegen meine Verfügung leistet.«

Marcian sprach nicht laut, doch schon bei seinen ersten Worten war es ruhig geworden. Die Bürger, die aus bloßer Neugier gekommen waren, zogen sich leise in die Sicherheit ihrer vier Wände zurück. Einige ältere Männer und Frauen hörte man sogar murmeln, daß es gut sei, daß dieser Sündenpfuhl nun endlich trockengelegt wurde.

Den meisten jedoch stand die Angst in den Gesichtern. Jene Zwerge waren es gewesen, die mit ihren schimmernden Äxten die Rebellion in der Garnison niedergeschlagen hatten.

Zu gut war den Bürgern noch in Erinnerung, welches Schicksal den Aufrührern widerfahren war, die der Kommandant in den Turm verbannt hatte. Und schon seit Tagen machte das Gerücht die Runde, Marcian habe gewußt, daß die Orks die Schanze am Fluß stürmen wollten. Ja, man munkelte, er habe nie die Absicht gehabt, Gnade walten zu lassen, und es lediglich den Belagerern überantwortet, sein Todesurteil zu vollstrecken. Schließlich fügten sich auch die Bewohner der ›Fuchshöhle‹ in ihr Schicksal. Murrend zogen sie sich in den Turm zurück und packten unter der Aufsicht von Himgis Soldaten ihre aufreizenden Kleider, den billigen Schmuck, die Parfüms und die Schminke, die bis dahin ihr Leben gewesen waren. Fast keiner von ihnen wußte, wohin er gehen sollte, denn trotz ihrer vielen intimen Bekanntschaften, die sie unter den Bürgern hatten, waren sie geächtet. Kaum jemand würde ihnen seine Tür öffnen. Von dieser Nacht an waren sie nicht nur ausgestoßen, sondern heimatlos.

Cindira hatte die ganze Zeit über neben Marcian gestanden. Einige der Huren, mit denen sie noch bis vor wenigen Wochen unter einem Dach gewohnt hatte, waren zu ihr getreten, hatten sie eine Verräterin genannt und ihr ins Gesicht gespuckt. Unter Tränen bat Cindira ihren Geliebten, sein Urteil zurückzunehmen, doch der Inquisitor hörte nicht auf sie. Seine Kälte und sein grausames Handeln entsetzten sie, so daß sie schließlich nichts mehr zu sagen wagte und mit ihm zusah, wie langsam die Lichter im Turm verloschen. Erst als auch die letzte Hure Lancorians Bordell verlassen hatte und sie gemeinsam durch die dunklen Straßen zur Garnison zurückgingen, wagte Cindira zu flüstern: »In dieser Nacht hast du einen Freund verloren.«

Doch auch jetzt sagte Marcian nichts; er tat, als höre er sie nicht, und ging mit starrem Blick und unbewegter Miene weiter, so als weilten seine Sinne nicht mehr in dieser Welt. Ja, als folge er einer Vision, die nur er allein erblickte und die dennoch der ganzen Stadt zum Schicksal werden mochte.

Zerwas zog weite Kreise über dem Hauptlager der Orks. Der Alchimist, der schon lange ohnmächtig geworden war, schien immer schwerer in seinen Armen zu werden. In der vorangegangenen Nacht hatte der Vampir Sharraz Garthai besucht und mit dem General der Schwarzpelze einen Pakt geschlossen. Er würde ihm helfen, doch dafür sollte bei der Eroberung der Stadt kein Pardon gegeben werden. Alle Männer im wehrfähigen Alter mußten sterben, alle anderen würden in die Sklaverei geführt werden, und falls es gelang, Marcian lebend zu fangen, sollte der Kommandant ihm überlassen werden. Dafür hatte der Vampir dem Orkgeneral nicht nur seine Unterstützung angeboten, sondern auch die Hilfe eines Alchimisten, der Sharraz eine Wunderwaffe verschaffen sollte, die das Schicksal der Stadt besiegeln würde.

Im Lager der Orks war alles ruhig. Die Lagerfeuer begannen in der ersten Morgendämmerung zu erlöschen. Unbemerkt konnte Zerwas hinter dem prächtigen Zelt des Sharraz Garthai landen. Den bewußtlosen Promos legte er sich über die Schulter. Vorher starrte er ihm einen Augenblick lang ins Gesicht. Armer alter Mann. Das Schicksal meinte es nicht gut mit ihm. Dann schob Zerwas vorsichtig die Lederplanen am Eingang auseinander und stieg über die Wächter hinweg, die dort schliefen. Überall waren noch die Spuren des großen Festes zu sehen, das man in der Nacht gefeiert hatte. Erschöpfte Zecher lagen schnarchend am Boden, und einige Hunde, die sich um Bratenreste balgten, zogen mit eingezogenen Schwänzen das Weite, als sie den Vampir witterten. Zerwas setzte den alten Promos neben die lange Feuergrube in der Mitte des Zeltes, über der an einem rußgeschwärzten Spieß das Gerippe eines Ochsen hing.

Der Greis war steifgefroren. Die Nachtluft draußen war so eisig gewesen, daß sich während ihres Fluges Rauhreif in seinem Bart gebildet hatte. Apathisch kauerte der Greis auf dem Schemel am Feuer. Fast mochte man meinen, es wäre kein Leben mehr in ihm.

»Füge dich in dein Schicksal, oder deine Tochter Marina wird deine Unvernunft bereuen«, flüsterte ihm Zerwas ins Ohr.

Die Lippen des alten Mannes erbebten. »Bitte ...«, flüsterte er mit tonloser Stimme. »Bitte verschone mein Kind.«

»Erfülle deinen Auftrag und ich werde Marina nicht zu Boron schicken«, wisperte der Vampir ihm ins Ohr.

»Ja, ich werde tun, was das Schicksal mir auferlegt hat.« Dem Alchimisten rannen Tränen über die Wangen. Immer noch blickte er in die verlöschende Glut des Feuers.

Zerwas wandte sich ab und ging quer durch das Zelt. Auf der anderen Seite fand er inmitten eines Berges von Kissen und Fellen Sharraz Garthai. Eine rothaarige Sklavin mit einer Haut so weiß wie Stutenmilch lag an seiner Seite. Mit gebrochenen, gelben Augen starrte sie zur Zeltdecke. Ein Kranz dunkelblauer Würgemale lief um ihren Hals.

Zerwas tastete nach ihrer Hand. Noch war die Wärme des Lebens nicht völlig aus ihrem Körper gewichen. Es konnte nicht viel Zeit vergangen sein, seit der General sie seinen Göttern geopfert hatte.

Der Vampir leckte sich über die Lippen. Die Anstrengungen der letzten Tage hatten ihn erschöpft. Er hatte Durst. Doch noch mußte er seine Gier nach Blut unterdrücken.

Vorsichtig griff er nach Sharraz Garthai und schüttelte ihn sanft. Stöhnend richtete sich der General auf. Als er aber den Vampir erblickte, war er sofort hellwach. Ein unterdrückter Schrei entwand sich seiner Kehle. Zerwas preßte ihm seine klauenbewehrte Hand auf den Mund.

»Sei still!« hallte seine Stimme im Hirn des Orks. »Neben dem Feuer sitzt das Geschenk, das ich dir versprochen habe. Achte gut auf den Mann, beschaffe ihm alles, was er sich von dir wünscht, und er wird dir einen Sieg schenken, von dem die Menschen noch in hundert Wintern mit banger Ehrfurcht reden werden. Die Götter selbst werden deinen Namen kennen, Sharraz, wenn du tust, was er dir sagt. Und du kannst dir der Gunst des Sadrak Whassoi für jetzt und alle Zeiten gewiß sein, wenn du den Alten behandelst wie einen Fürsten. Doch verberge ihn vor den Blicken der Menschen und des Zwerges. Vielleicht würden sie ihm etwas antun.« Sharraz nickte stumm. Dann erhob er sich schwerfällig und ging zu der Feuergrube inmitten des Zeltes.

Promos erschauerte, als er zum ersten Mal seinen neuen Herrn sah. »Komm«, flüsterte der Ork mit rauher Stimme und packte den alten Mann am Arm, um ihn aus dem Zelt zu zerren.

Zerwas sah ihnen lange nach. Der Orkgeneral würde dem Alchimisten ein eigenes Zelt geben und es Tag und Nacht bewachen lassen. Schon morgen mochten Boten in das ferne Khezzara aufbrechen, um in den hohen Hallen, in denen die Beute dieses Krieges verwahrt wurde, nach seltsamen Geräten Ausschau zu halten. Andere würden versuchen, gelben Schwefel und schwarzes Pech zu beschaffen und all die unheiligen Ingredienzien, die nötig waren, um das zu erschaffen, wofür die Alchimisten von Hylailos berühmt waren.

Zerwas lächelte. Die Greifenfurter mochten denken, das Ende Deres wäre gekommen, wenn seine Rache Gestalt annahm. Bis dahin würde er über Promos und Sharraz wachen, denn sie sollten seine Henker sein. Sie sollten in Marcians Seele ein Feuer entfachen, das den Inquisitor innerlich verzehren würde. Er sollte dasselbe fühlen, wie es Zerwas gefühlt hatte, als Sartassa sterbend in seinen Armen lag: die ohnmächtige Verzweiflung, trotz aller Macht unfähig zu sein, das zu retten, was er liebte.

Vorsichtig stieg der Vampir über die schlafenden Orks. Die Erinnerung an Sartassa hatte ihm die Freude an seiner Rache genommen.

Neben dem Ausgang des Zeltes hatte Sharraz Garthai auf hölzernen Gestellen die Rüstungen erschlagener Gegner ausgestellt. Auch zwei auf Speere aufgespießte Köpfe waren dort zu sehen. Der Vampir erkannte das von dunklen Locken gerahmte Haupt Gernot Brohms. Vorsichtig löste er es von der Speerspitze und betrachtete es.

Der Junge hätte Händler werden sollen und nicht Krieger. Wo war er den Orks wohl in die Hände gefallen?

Zerwas erinnerte sich, wie er vor Monaten im Hause der Brohms zu Gast gewesen war und gemeinsam mit Gernot und seinem dicken, alten Vater Glombo an einer Tafel gesessen hatte. Der alte Brohm besaß eine große Bibliothek und war in der Geschichte der Stadt bewandert. Seine Urahnin war vor langen Jahrhunderten einmal Zerwas' Geliebte gewesen und hatte dafür auf dem Scheiterhaufen gebrannt.

Ob der Alte wohl gewußt hatte, mit wem er im letzten Winter an einer Tafel saß? Kaum! Dennoch waren später die beiden Magier, Odalbert und Riedmar, im Dienste Marcians bei dem Patrizier ein und aus gegangen. Zerwas war sich sicher, daß der alte Mann ihnen das Geheimnis um den Henker verraten hatte, den der Großinquisitor Ahriman vor dreihundert Jahren unter dem Altarstein des Praiostempels einmauern ließ.

Dafür sollte der dicke Glombo Brohm nun büßen. Er wäre der erste, der die Rache für den Verrat zu spüren bekäme.

Zerwas zerrte noch einen goldbestickten, schwarzen Umhang von einem Ständer, auf dem die zerschlagene Rüstung eines Ritters hing, dann trat er aus dem Zelt. Die Morgendämmerung tauchte den Horizont in Rot und Gold, als er seine Flügel ausbreitete und in den Himmel aufstieg. Ohne Mühe war der Vampir in das Patrizierhaus am Platz der Sonne eingedrungen. Kein Diener hatte ihn kommen hören, und mittlerweile stand er in einem kleinen, dunkel getäfelten Zimmer neben dem Bett des alten Patriziers. Der feiste Mann schnarchte leise.

Es war warm. Ein gekachelter Ofen vertrieb die Kälte des nahen Winters. Zerwas grinste spöttisch. Der fette, alte Mann mit der seidenen Schlafmütze auf seinem Kopf sah aus wie die Karikaturen von Kaufleuten in den Gazetten der Kaiser Stadt Gareth. Ein selbstgefälliger alter Mann, der sein Leben lang andere übervorteilt hatte, um immer neue Reichtümer anzuhäufen.

Wieder dachte der Vampir an den Abend im vergangenen Winter, als er mit ihm zusammen gespeist hatte. Damals hatte sich Glombo jovial und freundlich gegeben, ging es doch um ein Geschäft. Der Patrizier hatte Zerwas die kostbaren Möbel und Teppiche beschafft, mit denen er sein Zimmer im alten Henkersturm einrichtete. Trotz der Besatzung der Orks war es Glombo gelungen, die Waren aus dem Süden Aventuriens heranzuschaffen. Allerdings hatte er dafür unverschämt viel Gold verlangt. Schon damals war dem Vampir der Blick aufgefallen, mit dem der Alte an seinem hitzigen Sohn hing. Gernot hatte davon gesprochen, wie man die Orks aus der Stadt verjagen könnte, und sein Vater hatte den jungen Heißsporn für seine mutigen Worte bewundert, auch wenn er ihn später zornig zur Räson rief. In Gernot mochte er noch einmal die unerfüllten Träume seiner eigenen Jugend gesehen haben. All das, was er selber schon vor langem zugunsten des Geschäftes und der Macht aufgegeben hatte. Nun, er sollte ihn noch einmal Wiedersehen. Zerwas lächelte grimmig. Diesen Gefallen war er dem alten Brohm noch schuldig.

Vorsichtig wickelte er das blutige Haupt aus dem schwarzen Umhang. Dann setzte er den Kopf, in dessen Gesicht noch immer der Schrecken des Todes geschrieben stand, leise auf den Nachttisch neben dem prächtigen Bett. Sein Sohn wäre das erste, was der alte Mann an diesem Morgen sehen sollte. Und alle Illusionen, in denen Glombo sich ausmalen mochte, daß Gernot noch lebte und er ihn eines Tages gegen viel Gold bei den Orks auslösen könne, wären mit einem Schlag ausgeräumt.

Leise schlich Zerwas aus dem Zimmer. Der grausame Spaß hatte ihm Freude gemacht, doch war er jetzt müde und hungrig. Er würde zum Henkersturm fliegen, dort seine neue menschliche Gestalt annehmen und den Tag in seinem Versteck tief unter der Stadt bei der hübschen Tochter des Alchimisten verbringen.


Marcian hatte den ganzen Morgen mit Lancorian gestritten. Der Magier lag im Lazarett in der Garnison, und schon in der Nacht hatte er erfahren, daß der Kommandant die ›Fuchshöhle‹ geschlossen hatte. Lancorian hatte ihm die Freundschaft aufgekündigt, ihn einen Schurken und Verräter genannt. Dann ließ er sich auf einer Trage von zwei seiner ehemaligen Angestellten in das Purpurgewölbe bringen. Dort, in dem am tiefsten gelegenen Keller unter dem Turm hatte man hinter den purpurnen Wandbehängen eine Stelle gefunden, wo die sonst so massive Mauer hohl klang. »Schlagt zuerst den Putz herunter«, kommandierte Marcian.

Himgis Zwerge legten die Spitzhacken und Brecheisen beiseite, die sie schon bereitgehalten hatten und machten sich dann mit Hammer und Meißel an die Arbeit.

Marcian blickte in die Runde. Ein halbes Dutzend Zwerge waren anwesend, Lysandra, die Amazone und Lancorian mit den beiden Trägern, die ihn hierher gebracht hatten. Cindira hatte sich geweigert, mit ihm zu kommen. Den Rest der Nacht hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen.

Doch Marcian hatte die ›Fuchshöhle‹ räumen lassen müssen. Wer mochte denn schon wissen, was sich hinter dieser Wand verbarg. Arthag hatte schlimme Dinge über das alte Saljeth zu berichten gewußt. Blutige Menschenopfer hatte man in den Höhlen dargebracht, die hinter dieser Mauer verborgen lagen. Und selbst einem vereinigten Heer von Menschen und Zwergen war es nicht gelungen, das Böse, das hier tief unter dem Hügel gehaust hatte, zu vernichten.

Ein Greif, so hatte Arthag berichtet, sei in diese Höhle geschritten und nicht mehr wiedergekommen. EIN GREIF! Diese mächtigen Wesen, halb Löwe, halb Adler, galten als die Boten des Lichtgottes Praios. Was mochten Sterbliche hier ausrichten, wo selbst Götterboten gescheitert waren? Doch vielleicht hatte schließlich Satinav, Herr der Zeit, den überwunden, der die schreckliche Keule des Tairach führte, von der in den Inschriften der heiligen Halle von Xorlosch die Rede gewesen war?

Ein Ruf ließ Marcian aus seinen Gedanken auffahren.

Die Zwerge hatten den Putz von der Wand geschlagen. Deutlich sah man nun ein vermauertes Tor. Eingefaßt von den grauen Steinen, die die Öffnung füllten, stand ein runenbedeckter Monolith aus bläulich schimmerndem Granit.

Ängstlich wichen die Zwerge von der Wand zurück.

»Solche Steine errichten unsere Geoden in ihren Kreisen der Macht«, flüsterte Arthag leise neben dem Inquisitor. »Siehst du die sich in den Schwanz beißende Schlange, die den Text einfaßt. Sie ist das Zeichen für das Element der Erde.«

»Was steht dort geschrieben?« Marcian war näher an den Monolithen getreten und betrachtete die Runen und Bildzeichen, die in den Fels gegraben waren.

»Das muß Angram sein, die geheime Schrift der alten Sippen von Xorlosch. Ich kann das nicht lesen.« Auch Hauptmann Himgi war ein wenig näher an den Stein herangetreten und strich sich durch den Bart. »Spürt ihr auch, wie die Augen zu brennen beginnen, wenn man den Stein länger betrachtet? Ein mächtiger Zauber muß auf ihm liegen!«

Arthag strich vorsichtig mit der Hand über den Monolithen.

»Du hast recht, Bruder. Diese Schrift habe ich auf den Schriftsäulen der heiligen Halle von Xorlosch gesehen ... Und seht dieses Zeichen ...« Der Finger des Zwergen wies auf eine große Hieroglyphe. »Ein Dämon, der in hocherhobenen Händen zwei blutende Herzen hält. Das Symbol für den Blutgott Tairach!«

»Räumt den Stein weg. Wir wollen sehen, was dahinter verborgen liegt. Ich will vor mir sehen, was so wertvoll ist, daß die Orks immer wieder diese Stadt angegriffen haben.« Marcian hatte einem von Himgis Sappeuren das Brecheisen aus der Hand gerissen.

»Bei allen Göttern, hört auf die beiden und laßt den Stein in der Wand.« Lancorian versuchte, sich auf der Trage aufzurichten. »Laßt sie wenigstens die Inschrift entziffern. Wer weiß, was durch den Zauber auf dem Stein gebannt wird. Seit dem Angriff auf das Orklager schuldest du mir einen Gefallen. Jetzt fordere ich ihn ein! Laßt die Finger von diesem Runenstein.«

»Ihr führt euch auf wie Kinder, die Angst haben, im Dunkeln am Brunnen Wasser zu holen.« Lysandra hatte sich an die Seite des Inquisitors gestellt. »Wir sollten diesem Zauber endlich ein Ende bereiten.«

Marcian war hin- und hergerissen. Auch er fand, daß es an der Zeit war, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Doch hatte er Lancorian sein Wort gegeben. Zuviel hatte er dem Magier in den letzten Stunden schon angetan. Diese Bitte konnte er ihm nicht abschlagen.

»Ich danke dir für deinen Mut und deine Treue, Lysandra, doch ich werde Arthag die Zeit lassen, diese Inschrift zu übersetzen. Erst dann werde ich entscheiden, was zu tun ist.«

Erleichtert aufseufzend sank Lancorian auf seine Trage zurück.

»Bis ich mich entschieden habe, sollst du, Lysandra, mit einigen deiner Leute hier unten Wache halten. Mir scheint es so, als wären Himgi und seine Männer ungeeignet für diese Aufgabe. Wir alle konnten sehen, daß die Zwerge diesen Stein fürchten.«

»Aber Kommandant ...« Der Zwergenhauptmann war vorgetreten.

»Über meine Befehle wird nicht diskutiert. Räumt den Turm!«

Himgi tat Marcian leid. Seit er mit seinen Männern nach Greifenfurt gekommen war, hatte er immer auf den Zwerg zählen können. Doch für diese Aufgabe erschien ihm der Hauptmann ungeeignet.

»Was dich angeht, Lancorian, sag deinen Bediensteten, daß sie in das leerstehende Haus der Magier einziehen können. Die Villa ist schon seit Wochen verlassen; ich denke, dort wird Platz genug für alle sein. Sobald wir die Gewölbe hinter diesem vermauerten Tor untersucht haben und ich sicher sein kann, daß von dort keine Gefahr droht, wirst du den Turm zurückerhalten. Sollten dir dadurch geschäftliche Verluste entstehen, werde ich für den Schaden aufkommen.«

Der Magier nickte ihm zu, sagte aber nichts. Dann ließ er sich auf einen seiner Männer gestützt aus dem Gewölbe bringen.

Vielleicht würde Cindira jetzt wieder mit ihm reden. Marcian dachte an die schöne Kurtisane. Der Inquisitor blickte sich in dem Gewölbe mit seinen düsteren, purpurnen Wandbehängen um. Nur Lysandra und Arthag waren noch geblieben.

Mehr als ein halbes Jahr war vergangen, seit Cindira hier auf dem Boden gelegen hatte, nachdem ein Ork ihr seinen Dolch in den Rücken gestoßen hatte. Wieder sah er sie in einer Lache von Blut auf dem Boden liegen. Und er hatte nicht bleiben können, sondern mußte den Angriff auf die Garnison leiten. Ob sie ihm das wohl vergeben hatte? Nie hatte er gewagt, sie danach zu fragen. Er wollte den Dienst für die Inquisition aufgeben. Er war dort niemals beliebt gewesen. Ihm haftete der Makel an, kein Geweihter des Praios zu sein. Auch wenn der Baron Dexter Nemrod seine Dienste schätzte, kam Marcian in den letzten Wochen immer wieder der Gedanke, daß er Dinge tat, die ihm nicht bestimmt waren zu tun ...

Er wollte nie wieder über das Schicksal einer ganzen Stadt gebieten. Er würde seine Aufgabe hier noch erfüllen, und dann wollte er seine Dienste für den Baron aufgeben. Er besaß schon lange genug Geld, um sich irgendwo niederzulassen.

»Marcian ... ?«

Lysandras Stimme schreckte ihn aus seinen Tagträumen.

»Ist dir nicht wohl? Du machst so ein betrübtes Gesicht ...«

»Danke, es ist schon gut. — Hole jetzt deine Leute und beziehe hier unten Wache. Paß auf, daß sie nicht zu abergläubisch sind. Der Stein sollte ihnen keine Angst machen.«

»Keine Sorge.« Lysandra grinste ihn breit an. »Meine Männer und Frauen würden es mit allen Dämonen der Niederhöllen aufnehmen. Vor einem Stein mit ein paar Schriftzeichen haben sie keine Angst.«

»Deshalb habe ich dir diese Aufgabe übertragen. Ich vertraue dir.« »Und ich werde dich nicht enttäuschen.« Die große rothaarige Frau drehte sich um und eilte die Treppe hinauf.

Marcian blieb mit Arthag allein zurück. Der Zwerg stand vor dem Monolithen und preßte sich die Hände auf die Schläfen.

»Was ist los?« Der Inquisitor musterte besorgt Arthags angespanntes Gesicht.

»Es ist dieser Stein. Irgend etwas stimmt mit der Schrift nicht. Die Gelehrten in Xorlosch haben mich schon vor dem Angram gewarnt. Es heißt, daß man wahnsinnig wird, wenn man sich zu sehr damit beschäftigt und ... diese Schriftzeichen, sie sind irgendwie seltsam. Himgi hatte recht. Es fangen einem die Augen an zu tränen, und man bekommt Kopfschmerzen, wenn man zu lange hinschaut.«

»Wirst du sie denn entziffern können?«

»Ich glaube ... Die meisten der Zeichen kenne ich. Doch es braucht Zeit ...«

»Nimm dir Zeit. — Ich glaube, ich habe eben einen Fehler gemacht. Dieser Stein hat schon seit Jahrhunderten an dieser Stelle gestanden, auf ein paar Tage kommt es nun nicht mehr an. Es war nur ... Ich möchte diese Sache am liebsten schnell hinter mich bringen ...« Marcian biß sich auf die Lippen. Was er dachte ging niemandem etwas an. Er war der Kommandant. Er durfte keine Schwäche zeigen!

Arthag hatte sich zu ihm umgedreht.

»Mach deine Sache gut, damit wir wissen, was uns da drinnen erwartet. Glaubst du, daß wir dort überhaupt noch auf etwas Lebendiges treffen werden?«

Der Zwerg zögerte einen Moment, bevor er antwortete. »Auf etwas Lebendiges vielleicht nicht, aber ... Dort auf dem Stein sind auch zauberkräftige Zeichen, die ich nicht recht verstehe. Ich glaube, sie sollen verhindern, daß etwas von dort durch das Erdreich dringt. Die Geoden, die diesen Stein setzten, haben einen Pakt mit dem Erdherrn geschlossen. Was immer in diesen Höhlen ist, kann sie nicht verlassen, es sei denn, man öffnet ihnen die Pforten ...«

»Was die Orks früher oder später tun werden«, fiel Marcian ihm ins Wort. »Was immer dort liegt. Es ist besser, wir bekommen es zuerst. Vielleicht kann man es ja vernichten.«

»Ich glaube nicht, daß meine Ahnen dann diesen Stein gesetzt hätten.« »Du solltest die Zukunft nicht so schwarzsehen. Entschlüssele die Inschrift, und dann sehen wir weiter.«

Marcian drehte sich um. Ihn fröstelte es. Er wollte fort von diesem unheimlichen Ort. Zurück zu Cindira ... sich mit ihr versöhnen und mit ihr gemeinsam den Traum von dem Leben träumen, das sie beginnen würden, sobald Greifenfurt befreit war. Vielleicht dauerte es ja nur noch wenige Wochen. Er dachte an die Flotte, die der Prinz in Ferdok zusammenzog.

Загрузка...