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Obwohl sie nun schon eine ganze Weile zusammen mit Arthag unterwegs war, hatte Nyrilla sich noch immer nicht an das Aufsehen gewöhnt, daß sie beide in friedlicheren Landstrichen erregten. Kinder zeigten mit Fingern auf sie, und die Erwachsenen steckten die Köpfe zusammen.

Den Grund für dieses Gerede hatte ihr bislang aber noch niemand genannt. Schließlich schob es die Elfe einfach darauf ab, daß die Menschen halt badoc seien, was heißt, daß sie zu einfach im Geiste sind, um die wirklich wichtigen Dinge zu begreifen und sich dafür um so intensiver mit Unwichtigem beschäftigen.

Zum ersten Mal war ihr das versteckte Getuschel der Rosenohren — wie man unter Elfen die Menschen wegen ihrer verkümmerten, runden Ohren nannte — in Ferdok aufgefallen. Die kleine Stadt war einer der bedeutendsten Umschlagplätze für den Handel entlang des Großen Flusses.

Arthag hatte darauf bestanden, hier einen Tag Rast einzulegen. Vermochte der Zwerg auf seinen kurzen Beinen sonst kaum Schritt mit ihr zu halten, so war er an diesem Tag stundenlang marschiert. Den Grund dafür erfuhr Nyrilla erst am Abend.

Arthag hatte sie überredet, ihm in eines der Gasthäuser zu folgen, um ihr dort die berühmteste Spezialität der Stadt zu kredenzen. Einen fürchterlich bitteren, hellbraunen Trunk. Sie hatte den ganzen Abend gebraucht, auch nur einen Krug dieses widerlichen Gebräus herunterzuwürgen. Nicht so Arthag. Er bestellte munter einen Krug nach dem anderen und lobte das ›köstliche‹ Ferdoker Gerstenbräu in den höchsten Tönen. Zu vorgerückter Stunde fing der Zwerg dann auch noch an zu singen und forderte sie ständig auf, mit ihm gemeinsam diese unmelodischen, zwergischen Heldenlieder anzustimmen.

Schließlich hatte sie sich von ihrem Platz erhoben und sich auf den Heimweg gemacht. Arthag aber war geblieben. Selbst am nächsten Morgen war er noch nicht in ihre Herberge zurückgekehrt, und als sie ihn besorgt suchte, fand die Elfe ihn unter dem Tisch, an dem er in der vergangenen Nacht gezecht hatte.

Alle Versuche, den Zwergen zu wecken, mißlangen. Schließlich erklärte ihr die Wirtin, daß Arthag nichts fehle, aber er dringend einen Tag der Ruhe in einer dunklen Kammer brauche. Nyrilla hatte dieses unmäßige Trinken nicht begriffen. Sicher hatte sie schon davon gehört, daß Zwerge ein ganz besonderes Vergnügen daran fanden, ihre Sinne mit Alkohol zu benebeln, doch verstehen konnte sie das nicht. Wie konnte man sich nur freiwillig in einen so erbärmlichen Zustand versetzen, daß man bewußtlos unter den Tisch einer Schenke fiel? Das grenzte ja schon an Selbstverstümmelung. Wahrscheinlich steckte doch ein anderer Grund dahinter. Vielleicht war die Trinkerei ein ganz besonderes Opfer für den Gott der Schmiede, den Arthag wie alle Zwerge unerschütterlich verehrte. Einen anderen Grund konnte sie sich einfach nicht vorstellen.

Doch was nutzte all das Philosophieren. Es galt, den Zwerg in eine dunkle Kammer zu schaffen. Nyrilla lieh sich bei der Wirtin einen kleinen Handkarren und brachte den Zwerg, gefolgt von einer johlenden Kinderschar, zurück in das Gasthaus, indem sie am Vorabend abgestiegen waren.

Dort legte sie den gewichtigen Zwerg in sein Bett und beobachtete ihn noch eine Weile. Eigentlich hatte sich Arthag gut von den Wunden erholt, die er sich bei seiner unglücklichen Flußfahrt zugezogen hatte. Schon kurz nachdem der Ork Garbaz sie verlassen hatte, war der Zwerg erwacht und bestand darauf, lieber zu Fuß zu gehen, als noch weiter auf dem ›verlausten Pony‹ zu liegen.

Nyrilla hatte darauf mit einem Seil zwei schwere Steine auf dem Sattel des Ponys festgebunden, und das Tier in Richtung Kosch-Berge davongejagt. Durch die Last der Steine würde auch ein kundiger Fährtensucher glauben, daß das Pony noch immer einen Reiter trug.

Die List schien gelungen zu sein, jedenfalls wurden sie während ihrer weiteren Reise nicht mehr von den Schwarzpelzen behelligt. In einem kleinen Dorf handelten sie einige Kleidungsstücke für den Zwerg ein, was sich als überraschend einfach erwies, da es in dieser Region sehr viele Zwerge gab.

Über eine Woche waren sie dann durch die Wälder westlich des großen Flusses, nahe der Kosch-Berge gewandert und eine Zeit lang dem Ufer eines großen, kristallklaren Sees gefolgt. Arthag blickte, wann immer eine weitgestreckte Lichtung die Sicht auf das mächtige Kosch-Gebirge freigab, wehmutsvoll zu den weit entfernten Gipfeln.

Häufig verlangte er dann nach Pausen, um noch ein wenig länger die Berge betrachten zu können, bevor sie wieder hinter den Wipfeln des dichten Waldes verschwanden. Bei diesen Gelegenheiten erzählte er gerne von der Geschichte seines Volkes.

Stunden um Stunden berichtete er der Elfe von dem jahrhundertealten Kampf der Zwerge gegen die Drachen. Von den kühnen Geschlechtern, die ihre Tunnel in den Granit der Kosch-Berge getrieben hatten und von Helden mit unaussprechlichen Namen, die alle bekriegt hatten, was sich den Bergfreiheiten — wie die Zwerge ihre Königreiche nannten — näherte. Als sie schließlich bei einer Rast eine schneebedeckte Felsnadel zwischen den Bergen entdeckten, war Arthag immer nervöser geworden. Er hatte darauf bestanden, daß sie ›einen kleinen Umweg nach Osten‹ machten und Nyrilla sogar dazu überredet, eine Flußfähre zu besteigen, um nach Ferdok überzusetzen.

Und alles nur wegen des sinnlosen Besäufnisses, nach dem er den ganzen Tag schnarchend in seinem Bett gelegen hatte. Noch immer begriff die Elfe nicht den seltsamen kultischen Zwang, der den Zwerg in diese kleine Stadt getrieben hatte, um sein eigenartiges Trinkopfer zu vollziehen. Oder hatte er sich doch nur animalischer Trinksucht hingegeben? Nach diesem Zwischenfall waren sie einige Tage auf einem Flußschiff nach Süden gereist. Für Nyrilla war dies der anstrengenste Abschnitt der Reise. Es regnete die ganze Zeit. Sie hatte die Wahl, entweder in einer stickigen großen Kabine mit stinkenden Rosenohren oder im Regen an der Reling zu hocken.

Dem Zwerg schien die Fahrt allerdings noch schlechter zu bekommen. Wohl infolge seines großen Trinkrituals hatte er sich eine eigentümliche Krankheit zugezogen. Wann immer das plumpe Flußschiff von der Strömung geschüttelt wurde, stürzte er aus der Kabine, um sich an der Reling seines Essens zu entledigen, was die ungehobelten Rosenohren mit schallendem Gelächter quittierten.

Als das Flußboot schließlich an den Kais von Albenhus anlegte, war Arthag einer der ersten, der über ein wackeliges Brett von Bord ging. Kaum an Land vollführte er wieder eines seiner eigentümlichen Rituale. Er warf sich auf den Boden und schien den Schlamm der Straßen zu küssen. Daß er dabei seine neue Kleidung ruinierte, war ihm völlig gleichgültig. Anschließend schwor Arthag feierlich bei Angrosch, niemals wieder das Schiff zu betreten, mit dem sie in die Stadt gekommen waren, und Nyrilla ließ sich auch gerne davon überzeugen, daß es besser sei, den Rest der Reise zu Fuß fortzusetzen.

Trotzdem mußten sie noch ein letztes Mal ihr Leben einem Boot anvertrauen, weil Arthag darauf bestand, nach Alben, dem Stadtteil am nördlichen Flußufer, überzusetzen, wo man seiner Meinung nach viel freundlicher behandelt würde.

Die Häuser in diesem Stadtteil sahen merkwürdig aus, fast so, als seien sie im Laufe der Jahrhunderte in die Erde eingesunken. Alle Eingangstüren lagen einen Schritt unter dem Niveau der Straßen, und die Türen waren so niedrig, daß sich die Elfe tief bücken mußte, um sie zu passieren.

Und dann hatte Nyrilla auch begriffen, warum der Zwerg der Meinung war, hier so viel freundlicher aufgenommen zu werden. Der ganze Stadtteil war eine einzige große Zwergensiedlung, und Arthag hatte die Gelegenheit wahrgenommen, einen alten Freund am Platz der Feueröfen nahe des Ingerimm-Tempels zu besuchen.

Arthag feierte dieses Wiedersehen erneut mit einem seiner rituellen Trinkopfer. Im Laufe der Nacht fanden sich noch mehr als ein halbes Dutzend Zwerge ein, die ihren Gefährten lauthals begrüßten und an der Zeremonie teilnahmen.

Diesmal wurde Nyrilla erst gar nicht aufgefordert, an dem Fest teilzunehmen. Es war offensichtlich, daß die Zwerge es vorzogen, unter sich zu bleiben, und sie zog sich zeitig in die enge Dachkammer zurück, die man ihr als Schlafplatz zugewiesen hatte. Dort nächtigte sie auf einem Sack voller Stroh, den der Gastgeber unter vielen Entschuldigungen heraufgetragen hatte, denn im ganzen Haus fand sich kein Bett, in das sie hineingepaßt hätte.

Am nächsten Morgen war Arthag zum Glück nicht so krank wie nach seinem Opferdienst in Ferdok, und sie konnten in Alben ihre Ausrüstung ergänzen, bevor sie nachmittags aufbrachen, um weiter dem Lauf des großen Flusses zu folgen.


Eine Woche dauerte es, bis sie die Ebene westlich der Kosch-Berge durchquert hatten und die ersten Ausläufer der Ingra-Kuppen erreichten. Dieses Gebiet war ein wildes Land, in dem man selbst zu Friedenszeiten auf Banden räuberischer Orks treffen konnte. Zahlreiche Burgruinen entlang des Großen Flusses kündeten von den jahrhundertalten Fehden unter den Menschen.

Nyrilla hatte durchgesetzt, daß sie stets in der Nähe des Wassers blieben. Wenn sie abends ihr Lager im hohen Schilf des Flusses aufschlugen, fing sie einige Fische, und einmal gelang es ihr sogar, einen Riesenlöffler zu erjagen, eine Kaninchenart, die normalerweise nur in felsigem Terrain zu finden war.

Auf Menschen trafen sie während der Reise nicht. Der Treidelpfad entlang des Großen Flusses lag auf der anderen Seite des Ufers. Nur wenige Schiffe waren noch unterwegs, denn mit dem Herbstregen war der Strom angeschwollen, und es war mühselig, die schweren Lastkähne noch flußaufwärts zu bewegen.

Als sie die Ingra-Kuppen erreichten, wurde Arthag immer aufgeregter. Es war das erste Mal, daß er Xorlosch besuchte. Die Stadt galt den Zwergen als heilig, war sie doch die Geburtsstätte des kleinen Volkes. Jeder Zwerg, der etwas auf sich hielt, sollte einmal in seinem Leben zum Angrosch-Tempel von Xorlosch gepilgert sein. Arthag hatte Nyrilla davon erzählt, doch über solchen Aberglauben konnte sie nur mitleidig lächeln. Überhaupt verstand die Elfe die Ehrfurcht nicht, die Arthag, wann immer die Rede auf Xorlosch kam, an den Tag legte.


Am Mittag des zweiten Tages, den sie sich durch das Bergland kämpften, erreichten sie die Stelle, wo der Hardelbach in die Breite flöß. Arthag machte einen regelrechten Freudensprung, als er an der Mündung des kleinen Seitenflusses einen verborgenen Stein fand, in den einige Runen gemeißelt waren.

»Hier sind wir richtig«, verkündete er freudig. »Wir müssen nur noch anderthalb Tage diesem Bächlein folgen, dann haben wir das heilige Xorlosch erreicht.«

»Was steht denn da auf dem Stein?« wollte Nyrilla wissen.

»Nichts Besonderes«, druckste Arthag herum. »Im wesentlichen bedeutet es, daß alle, die diese Schrift lesen können und darauf dem Bach folgen, ein freundlicher Empfang erwartet.«

Die Elfe hielt inne. Sie konnte diese Schrift nicht lesen! Doch wollte sie Arthag nicht seine gute Laune nehmen. Man würde ja noch früh genug sehen, ob sich vor ihnen die Tore der altehrwürdigen Stadt öffneten. Am Abend fand das ungleiche Gespann Unterkunft in einer verlassenen Jagdhütte. Es war ungewöhnlich kalt geworden, und Nyrilla war froh, als sie vor einem lodernden Kaminfeuer saß.

»Wie es jetzt wohl um Greifenfurt stehen mag?« Die Elfe blickte zu Arthag herüber, der mit einem langen Stock in der Glut stocherte. »Ich bin sicher, daß sie sich noch ganz gut gegen die Orks behaupten! Wahrscheinlich liegen die Schwarzpelze noch immer in ihren Lederzelten und lecken ihre Wunden.«

»Was macht dich so sicher?«

Der Zwerg drehte einen halbverkohlten Holzklotz um und starrte in die Flammen. Erst nach einer ganzen Weile antwortete er mit gespielter Zuversicht. »Ich weiß es so sicher, weil noch viele Zwerge in der Stadt stehen. Solange Hauptmann Himgi noch eine Handvoll wackere Angroschim um sich hat, wird er die Mauern halten.«

Nyrilla lag eine zynische Frage auf der Zunge, doch sie behielt sie für sich. Lebhaft erinnerte sie sich an den großen Sturmangriff der Schwarzröcke. Damals waren auch Hauptmann Himgi und seine Recken nicht mehr in der Lage gewesen, die Orks zurückzuschlagen.

Als die Stadt dann doch noch gerettet wurde, hatten die Bürger von einem Wunder geredet. Die ahnungslosen Rosenohren glaubten, Boron selbst sei ihnen zu Hilfe geeilt und habe eine Schar auserwählter Kämpfer in schwarzen Umhängen geschickt, um die blutrünstigen Angreifer zurückzuschlagen. Nyrilla lächelte bitter. Sie wußte nur zu gut, was in Wirklichkeit hinter diesem Wunder gesteckt hatte, und das bestätigte sie erneut in ihrem Glauben, daß es keine Götter geben konnte.

Arthag hatte sich in seinen Umhang eingerollt und war neben dem Feuer eingeschlafen. Die Elfe stand noch einmal auf und prüfte die Tür und die hölzernen Fensterländen. Als sie sich davon überzeugt hatte, daß alles gut verriegelt war, legte auch sie sich zum Schlafen.


Am nächsten Morgen machten sich die zwei auf den Weg. Nahe der Hütte überquerten sie den Hardelbach an einer umgestürzten Tanne. Auf der anderen Seite des Flusses fanden sie Radspuren, die sich tief ins Erdreich gegraben hatten. Mit einem Blick wußte Nyrilla, daß der Weg, obwohl er schon seit einigen Tagen nicht mehr befahren worden war, regelmäßig von schweren Fuhrwerken benutzt wurde.

Hier ließ es sich wesentlich bequemer wandern. An einigen Stellen waren Schneisen in den dunklen Tannenwald geschlagen. Arthag erklärte der Elfe, daß sehr viel Holz benötigt wurde, um das Erz, daß von Menschen nach Xorlosch geliefert wurde, sachgerecht zu verhütten.

Am späten Nachmittag zeichnete sich hinter den lichter werdenden Tannenwäldern eine Felswand ab, hinter der sich ein gewaltiger, schneebedeckter Wipfel erhob.

»Wir sind da!« jubelte Arthag. »Der Berg dort ist der Weißkegel; genaugenommen ist es kein Berg, sondern ein erloschener Vulkan. Im Inneren des Kraters liegt der oberirdische Teil von Xorlosch. Die Bergwände hier ringsherum sind so steil, daß es so gut wie unmöglich ist, sie zu erklimmen und die Stadt dadurch über einen schier unüberwindlichen, natürlichen Festungsring verfügt. Die Zwerge von Xorlosch nennen die Kraterwände den Inneren Ring. Der Teil der Ingra-Kuppen, durch die wir gestern und heute marschiert sind, bilden den Eisenring. Der Weg entlang des Hardelsbachs ist der einzige, der zum Inneren Ring führt. Alle anderen Wege verlieren sich irgendwo in der Wildnis oder enden vor Felswänden. Du siehst, die Heimat meines Volkes ist eine beinahe uneinnehmbare natürliche Festung.«

Nyrilla hatte in den letzten Wochen viel Übung darin bekommen, die weitschweifigen Erklärungen des Zwerges zu ertragen, die im Grunde alle darauf hinausliefen, daß alles, was sein Volk erschaffen hatte, größer, schöner oder besser als alles Vergleichbare war.

Als sie den Wald verließen und wieder entlang des Hardelsbaches wanderten, konnte man deutlich einen breiten Riß erkennen, der in der steilen Bergwand klaffte. Durch diese Spalte schien auch der Bach zu strömen. Genau ließ sich das aber nicht erkennen, denn eine Mauer mit zwei Türmen, die ein prächtiges Tor flankierten, versperrte die Sicht. Der Bach wurde in einem Tunnel unter der Mauer durchgeleitet, den dicke Eisenstäbe vor unerwünschten Eindringlingen sicherten.

Kaum waren sie aus dem Wald getreten, als auf einem der Türme ein Horn erklang. Krieger waren jedoch nicht zu sehen.

Bei näherer Betrachtung der Toranlage verschlug es Nyrilla schier den Atem. Eine Befestigungsanlage aus prächtig verziertem Marmor war etwas, wovon sie zumindest in alten Elfenliedern schon gehört hatte, doch das Tor nach Xorlosch übertraf selbst die goldbeschlagenen Pforten von Tie'-shianna. Dieses hohe, zweiflügelige Tor war aus schwarzem Basalt gefertigt, und die Elfe konnte sich nicht vorstellen, wie diese Pforten ohne die helfende Hand eines Riesen geöffnet werden mochten.

Als sie noch etwa fünfzig Schritt von der Toranlage entfernt waren, rief sie ein hinter den Zinnen verborgener Wächter an und fragte, wer sie seien und was sie wollten.

»Vor dir stehen Arthag Armbeißer aus dem Volke der Amboßzwerge und Nyrilla die Auelfe. Wir bitten um Audienz bei der Priesterschaft und beim König«, entgegnete der Zwerg mit tönender Stimme.

»So höre denn, Arthag, daß wir hier in Xorlosch nicht vergessen haben, wie das Volk vom Amboß seine Tore für uns nicht geöffnet hat, als wir es in Zeiten der Not um Hilfe baten. Auch vergaßen wir nicht, wie ihr die Söhne Brogars mit Feuer und Schwert verfolgtet, weil sie sich gegen diesen Entschluß auflehnten.«

»Was meint der damit?« flüsterte Nyrilla verwundert.

Arthag brummte etwas vor sich hin, bevor er ihr leise antwortete: »Weißt du, die Zwerge von Xorlosch sind sehr dickköpfig und nachtragend. Die Geschichte, auf die er anspielt, liegt mehr als 4000 Jahre zurück. Damals sind die Erzzwerge für ihre Vermessenheit mit einem großen Unglück gestraft worden. Hunderte haben Xorlosch verlassen, und viele suchten bei uns Schutz, doch da sie von Angrosch selbst bestraft wurden, haben wir sie nicht in unsere Städte und Stollen gelassen, um den Zorn des Gottes nicht auf uns zu lenken. Das kannst du doch wohl verstehen, oder?« Mit lauter Stimme wandte sich Arthag wieder an den Wächter. »Höre, du Ausgeburt sprödesten Sandsteins. Wir sind Boten und haben dringende Nachricht für deinen König und die Priesterschaft. Verschließt du uns das Tor, verstößt du gegen altes Recht, das besagt, das jedem Boten Gehör geschenkt werden muß.«

»Ich höre Euch gerne zu«, erscholl es hinter den Zinnen. »Und ich werde Eure Botschaft auch weiterleiten, wie es das Recht gebietet, doch ist das noch lange kein Grund, einen Landstreicher, wie Ihr es seid, hereinzubeten.«

Arthag lief langsam rot an und schnaubte bereits vor Wut. Nyrilla wußte, daß nun von ihm keine vernünftigen Argumente mehr zu erwarten waren und der Disput zwischen den Zwergen womöglich mit einem Duell enden mochte. Noch bevor Arthag Gelegenheit zu einer Antwort fand, rief sie deshalb dem Torwächter zu: »Höre, erhabener und geschichtsgelehrter Krieger. Wir sind im Dienste des Kaiserreichs hier und haben wichtige Nachrichten zu bringen. Jeder von uns trägt einen Ring, der ihn als einen Diener des Prinzen ausweist. Prüft die Ringe und gewährt uns Einlaß, denn Ihr könnt gewiß sein, daß sich eine Elfe niemals vor das Tor von Xorlosch verirrt hätte, wenn es dafür nicht einen wirklich triftigen Grund gäbe.«

Eine Weile war es still auf dem Wachtturm. Nyrilla überlegte bereits, ob sie vielleicht etwas Falsches gesagt hatte, da erklang erneut die Stimme vom Turm.

»Ich laß Euch nun einen Korb herab. Legt Eure Ringe hinein. Ich werde sie zum Tempel schicken, wo sie geprüft werden. Seid Ihr beide wirklich Boten im Dienst des Prinzen, so wird Euch Einlaß gewährt werden.« Nyrilla zog ihren Köcher von der Schulter und machte sich an seinem Boden zu schaffen. Dort war in einem verborgenen Fach der Siegelring mit dem Greifenkopf versteckt, der sie als Agentin im Dienste der Kaiserlich Garethischen Informations-Agentur auswies.

Der Zwerg trat unterdessen verlegen von einem Bein auf das andere. Schließlich murmelte er: »Kannst du dich vielleicht einmal umdrehen? Mein Siegelring ist in dem einzigen Kleidungsstück verborgen, daß ich im Fluß nicht verloren habe. Ich muß erst einiges ablegen, um an das Versteck zu gelangen.«

Schmunzelnd drehte sich die Elfe zur Seite. Bisher hatte sie gar nicht gewußt, daß Arthag so prüde war.

Als er sein Siegel endlich herausgeholt hatte, packte Nyrilla die beiden Ringe, lief zum Tor hinüber und legte sie in den Korb, der von den Zinnen des Turms herabgelassen worden war. Dann wurde der Korb hastig heraufgezogen.

Danach geschah lange Zeit nichts. Die Sonne war schon fast hinter den Bergen verschwunden, als sie schließlich wieder die vertraute Stimme hörten.

»Gramosch, Sohn des Gorro und Meister des Tempels am Seegrund, hat mich beauftragt, Euch Einlaß zu gewähren. Er wird Euch zuhören und entscheiden, ob Ihr beim Bergkönig Tschubax oder den Priestern der heiligen Halle vorsprechen könnt. Da selbst zu Zeiten, als Ramoxosch von Lorgolosch mit dem Elfenkönig Tasilla Abendglanz einen Pakt zur Vernichtung der Schwarzpelze schloß, dieses Tor nicht für Elfen geöffnet wurde und seitdem auch kein Elfe an diesem Ort mehr vorgesprochen hat, wird sich auch heute dieses Tor nicht für Euch öffnen.«

Nyrilla verschlug es schier die Sprache. Noch nie hatte sie erlebt, daß Gastfreundschaft auf solche Art mit Füßen getreten wurde.

»Hatte ich dir schon erzählt, daß die Erzzwerge von Xorlosch bis zum blanken Aberwitz traditionsbewußt sind?« raunte Arthag mit zynischer Stimme. »Ich hoffe doch sehr, daß sie uns wenigstens ein Zelt oder eine andere angemessene Unterkunft anbieten.«

Kaum hatte Arthag ausgesprochen, da wurde der hölzerne Arm eines Krans über die Zinnen geschwenkt, um langsam ein großes Faß herabzulassen. »Steigt in das Faß!« erklang es vom Turm.

Die Elfe und der Zwerg gehorchten und wurden in dem hin- und herpendelnden Faß nach oben gezogen. Während Nyrilla diese ungewöhnliche Art des Transportes interessant fand, konnte sie beobachten, wie Arthag verkrampfte und es tunlichst vermied, nach unten zu schauen.

Als sie über der Mauerkrone schwebten, wurde der Kran zur Seite geschwenkt und das Faß vorsichtig auf der anderen Seite des Tores heruntergelassen. Dicht neben dem Kran, den einige schwitzende Zwerge mit nacktem Oberkörper bedienten, stand ein Krieger in schimmerndem Kettenhemd.

»Folgt mir«, sagte er schlicht. Der Stimme nach zu urteilen, mußte es der Wächter des Turmes sein, mit dem sie debattiert hatten. Der kleine Mann trug einen weißen Bart, der bis weit über seinen Gürtel herabreichte. Ein kostbar geschmiedeter Helm mit silbernen Schwingen krönte sein Haupt, und in der Rechten führte er eine große zweihändige Axt, die er im Augenblick wie einen Zeremonienstab handhabte. Ohne ein weiteres Wort drehte der Zwerg sich um und marschierte auf den Riß zu, der die Felswand zerteilte.

Ein einfacher hölzerner Steg führte zwischen den mächtigen Granitwänden hindurch. Tief unter sich konnte Nyrilla den Hardelbach rauschen hören. Hinter der Klamm öffnete sich ihrem Blick ein weites, von fast senkrechten Felswänden umgebenes Tal. Dicht beim Ausgang der Klamm lagen Dutzende von Schmelzöfen, deren schwarzer Rauch den Himmel verdunkelte. Etliche vom Ruß geschwärzte Hütten erhoben sich im Talgrund.

So weit das Auge reichte, konnte man nur zwei Bäume sehen. Diese Bäume standen vor einem düsteren Palast aus Basalt, der mit goldenen Hochreliefs geschmückt war, die von der Geschichte des Kampfes gegen die Drachen erzählten. Beim Anblick des finsteren Gebäudes liefen Nyrilla Schauer über den Rücken. Dies war ein Ort der Steine. Ein toter Ort, den das Leben verlassen hatte. Einmal mehr erinnerte sich die Elfe an Arthags Geschichten. Immer wieder waren diese Felsen vom Feuer der Drachen verbrannt worden, und das Blut des Zwergenvolkes hatte jeden Fußbreit dieses unfruchtbaren Bodens getränkt.

In der Mitte des trostlosen Vulkankraters erhob sich ein Tempel, der aus Marmor, Eisen, Granit, Stahl und Silber gefertigt war. Einen so reichlichen Schmuck aus Metallen hatte Nyrilla noch an keinem anderen Gebäude in Aventurien gesehen. Es schien, als wären Steinmetze und Schmiede in einen Wettbewerb getreten, um sich in Prachtentfaltung und handwerklicher Vollendung beim Bau des Gotteshauses zu überbieten.

Das prächtige Gebäude wurde auch Jahrhunderte nachdem dieser fromme Wettkampf ausgetragen worden war, sorgfältig gepflegt. Im Gegensatz zu den Hütten strahlte es im Licht der schwindenden Sonne, so als hätte das Zwergenvolk diesen Tempel erst vor wenigen Stunden vollendet.

Der Wächter, der ihnen voranmarschierte, steuerte geradewegs auf den Tempel zu. Kleine Gruppen von Zwergen standen am Weg und musterten sie neugierig, doch keiner sprach sie an.

»Das ist das Haus unseres Gottes Angrosch«, flüsterte Arthag. »Benimm dich jetzt und untersteh dich, wieder davon anzufangen, daß es keine Götter gibt.«

Am Tor des Tempels erwartete sie ein Zwerg, der in weite Gewänder aus rotem und schwarzem Leder gekleidet war. Er war Nyrilla auf Anhieb unsympathisch. Sein gepflegter stahlgrauer Bart war zu Zöpfen geflochten, die ihm weit auf die Brust hinabreichten, und sein langes, glattes Haar wurde von einem ledernen Stirnband gehalten.

»Seid willkommen in Xorlosch, der Heimat aller Zwergengeschlechter. Folgt mir in den Tempel, und erzählt, warum es Euch danach verlangt, König und Priesterschaft zu sehen.«

Der Wächter, der sie bislang begleitet hatte, blieb am Fuß der Treppe stehen, stieß mit dem Knauf seiner Axt dreimal auf den Boden und rief: »Erhöret den Tempelmeister Gramosch, Sohn des Gorro, und seid ohne Arg in Eurem Tun, denn wisset, das Auge des Gottes ruht auf Euch in diesen Hallen.«

Noch bevor der Wächter mit seiner Litanei fertig war, hatte Gramosch sich bereits umgewandt und war gemessenen Schrittes in den Tempel getreten. Dort durchmaß er eine gewaltige Halle, die von Basaltsäulen getragen wurde. Riesige Feuerschalen aus Erz und Kupfer warfen ein flackerndes Licht in die Halle, deren Fußboden mit Mosaiken aus Achaten, Porphyren, Türkisen, Jade und vielen anderen Halbedelsteinen ausgelegt war. Alle Bilder auf dem Boden stellten einen mächtigen, bärtigen Schmied dar; im unsteten Licht der Feuerschalen wirkten sie auf beängstigende Art lebendig. Nyrilla ängstigten die Götterbilder, und sie wünschte sich, dieses Tal niemals betreten zu haben, während sie widerstrebend dem Tempelmeister tiefer in die Hallen des Angrosch folgte.

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