3

Sharraz Garthai war äußerst unzufrieden. Die Berater, die ihm Sadrak Whassoi, der Schwarze Marschall, zur Seite gestellt hatte, waren auch keine besseren Strategen als er selbst. Den Großangriff auf Greifenfurt hatten die Verteidiger nicht nur abgeschlagen, es war ihnen sogar gelungen, den Kampf bis ins Lager der Orks zu tragen.

Wütend schleuderte der General den silbernen Pokal, aus dem er getrunken hatte, nach einem der menschlichen Sklaven in seinem Zelt. Diesen Tag der Schande würde er niemals vergessen; sein Name war auf immer verunglimpft. Der Marschall hatte ihm einen Schamanen als Boten geschickt, der sich das ganze Ausmaß der Niederlage angesehen hatte. Sharraz blickte zu seinen Beratern hinüber und konnte nur mühsam seinen Zorn beherrschen. Er durfte sie nicht anrühren, denn beide standen unter dem Schutz des Sadrak Whassoi, doch in seinen Augen waren sie es, die an seiner Niederlage schuld waren. Er grunzte. Trotzdem würde sein Kopf in den Staub rollen, wenn es darum ging, für die Konsequenzen der verlorenen Schlacht einzustehen. Schließlich führte er hier das Kommando.

Führte er es wirklich? Manchmal war er sich nicht mehr sicher. Er hatte den Beratern vertraut und war enttäuscht worden. Oder hatten sie die Niederlage vielleicht absichtlich herbeigeführt, um ihn zu vernichten? Sharraz richtete sich auf seinem mit gewundenen Leibern verzierten Lehnstuhl auf. »Wir brauchen dringend einen Erfolg«, brummte er, ohne dabei jemanden in der Runde anzuschauen.

Alle Stammeshäuptlinge, Schamanen und Tairach-Priester, sowie Kolon der Zwerg und Gamba der Druide waren in seiner großen Jurte versammelt. Vor zwei Tagen hatte sie sein riesiges, rundes Lederzelt mit einem Wagenzug erreicht, der Lebensmittel und Ausrüstung über den Finsterkamm brachte.

Das Zelt gehörte schon seit Generationen den Häuptlingen seines Stammes. Es war aus Mammutfellen gefertigt, und angeblich hatte sein Urahne Gerimmoi dreißig Winter lang jagen müssen, um mit Brazoraghs Hilfe die Felle zusammenzubekommen. Aus den mächtigen Stoßzähnen der Mammuts waren die tragenden Stangen der Zeltkuppel gefertigt worden. Das Zeltdach war so hoch, daß selbst ein Berittener in dieser Jurte seinen Kopf nicht beugen mußte. Ein Gittergeflecht aus federnden Hölzern verlieh dem Zelt Stabilität. Seit Gerimmoi hatte jede Generation diese Jurte um einige Kostbarkeiten bereichert. Es waren wunderbar geschmiedete Feuerpfannen hinzugekommen, die seine Großväter in geplünderten Tempeln erbeutet hatten. Pelze von fast allen Tieren, die man in den Bergen und Steppen des Orkslands erjagen konnte, schmückten den Boden, und sogar Teppiche und Kissen aus der fernen Kohm, die Sharraz vor Jahren in der Nähe von Phexcaer einer Handelskarawane abgenommen hatte, fehlten nicht.

»Wir brauchen einen Erfolg«, brummte Sharraz immer wieder vor sich hin, und dann schrie er es heraus. Alle Unterhaltungen im Zelt verstummten auf der Stelle, und die Sklaven erzitterten. »Wir brauchen schnell einen Erfolg!« brüllte Sharraz erneut. »Sonst werden wir den ganzen Winter vor dieser Stadt sitzen, wenn uns nicht vorher Sadrak Whassoi die Köpfe abschlagen läßt.« Sharraz blickte zu Gamba. Doch den Druiden schienen die Worte nicht sonderlich beeindruckt zu haben. Böse grinste er den General der Orks an.

»Dir werden deine Frechheiten noch vergehen. Sei dir nicht zu sicher, daß dir nichts geschehen kann!«

Doch Gamba lächelte weiterhin. »War es vielleicht meine Schuld, daß der Angriff mißglückte? Ich habe über die Magier der Stadt triumphiert. Dein Teil war es, ihre Krieger zu vernichten.«

Sharraz erwiderte nichts. Er schaute den Menschen verbittert an. Wäre Gamba kein Zauberer, hätte er ihn schon längst erschlagen. Aber Sharraz fürchtete sich vor dem, was dann geschehen mochte, hatte er doch schon miterlebt, wie Gamba selbst Dämonen gebot.

»Diese Streitereien bringen doch nichts«, erhob der Zwerg Kolon sein Wort. »Wir haben immer noch die besseren Karten in diesem Spiel. Die Greifenfurter hatten genauso schwere Verluste in den letzten Gefechten wie wir. Sie werden keinen Ausfall mehr gegen uns wagen. Solange die Straßen aber noch nicht unpassierbar sind, können wir Bauholz für neue Belagerungsmaschinen heranschaffen und unsere Verluste ersetzen. Sie können nichts ersetzen, was sie einmal verloren haben, und die kaiserlichen Truppen, die der Stadt zu Hilfe kommen sollten, haben sich Dutzende Meilen entfernt von hier in ihre Winterquartiere zurückgezogen. Außerdem haben wir in der letzten Schlacht mehrere bis unter die Giebel gefüllte Vorratshäuser in Brand gesetzt. Vielleicht bricht der Hunger noch schneller den Widerstand der Greifenfurter als wir!«

»Du vergißt die Boten, die sie durch unsere Linien gebracht haben«, warf einer der Kriegshäuptlinge ein. »Erinnere dich an den Baumstamm, den unsere Wachen aus dem Fluß gezogen haben? An seiner Unterseite war die Ausrüstung eines Zwergenkriegers festgenagelt. Wer weiß, wie viele solcher Boten unterwegs sind?«

»Na und?« Der Zweig lachte laut auf. »Glaubt ihr, daß nur ein einziger kaiserlicher Offizier im Winter einen Kriegszug beginnen wird. Ich kenne dieses Pack besser als jeder andere hier, und ihr könnt mir glauben, daß die den ganzen Winter über hinter ihren warmen Feuern hocken bleiben. Selbst wenn Prinz Brin irgendwelche tollkühnen Pläne ausarbeitet, wird ihn sein Marschall Haffax schon zurückhalten.«

»So, wie es aussieht, werden wir aber auch nicht viel anderes tun können«, warf Sharraz zynisch ein.

»Da irrst du!« Kolon hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet und war in die Mitte der Jurte geschritten. Mit dem Knauf seiner Axt schob er einige Felle beiseite, so daß der blanke Erdboden freilag. Dort zeichnete er einen großen Kreis. »Das ist Greifenfurt mit seiner Mauer. Und hier sind wir.« Er ergänzte die Zeichnung um einige Kreuze außerhalb des Kreises. »Um die Mauern zu berennen, haben wir wirklich nicht mehr genug Krieger. Aber was ist, wenn wir die Mauern umgehen?«

»Willst du vielleicht fliegen?« rief einer der Orkschamanen höhnisch in die Runde.

»Genau das Gegenteil«, entgegnete der Zwerg ernst. »Wir werden uns einen Weg in die Stadt graben. Ich brauche nur genug Bauholz, um die Tunnel abzustützen, und ausreichend Sklaven.«

»Meine Männer werden nicht wie Maulwürfe durch die Erde kriechen«, schrie einer der Kriegshäuptlinge erbost.

»Dann wird im Frühling eben jeder sagen können, daß deine Krieger feige wie Steppenhasen sind und keinen Anteil an unserem Sieg hatten.« Ein unruhiges Raunen machte sich im Zelt breit. Der Gedanke, in einem dunklen Tunnel arbeiten zu müssen, machte den meisten ganz offensichtlich Angst.

Sharraz beobachtete heimlich Gamba. Der Druide war ihm unheimlich. Während der ganzen Debatte um die Tunnel hatte er ruhig auf seinem Platz gesessen und finster vor sich hin gelächelt, ganz so, als würde er wieder über einem seiner schrecklichen Zauber brüten.


Gerade war das Madamal hinter den Wolken verschwunden, Eugalp schritt unter den Apfelbäumen zwischen den frischen Gräbern. Obwohl der Wind die Äste aneinanderschlagen ließ, konnte er doch den Geruch von Tod und Verwesung wahrnehmen. Immer wieder hörte man das dumpfe Geräusch von Äpfeln, die ins Gras oder auf frisch aufgeworfene Erde fielen. Ein Wächter mit einem Hörn war postiert, um die Bäume zu hüten. In der Stadt herrschte Hunger. Es sollte verhindert werden, daß der Apfelhain ausgeplündert wurde. Der Wächter war jetzt am anderen Ende des kleinen Parks und würde Eugalp von dort aus nicht sehen können.

Eugalp griff nach einem der Äpfel, die noch am Baum hingen. Seine dürren Finger umklammerten eine Frucht, ohne sie zu pflücken. Er konnte das Leichengift spüren, das durch den Baum aus den Gräbern aufgenommen wurde und sich schließlich in den Äpfeln konzentrierte. Ärgerlich spuckte er aus, und das Gras erstarb unter seinem fauligen Atem. Es war noch nicht genug Gift in den Äpfeln. Sie mochten allenfalls ein leichtes Unwohlsein bewirken.

Stöhnend streckte Eugalp seine Glieder. Jede Faser seines Körpers schmerzte. Er blickte an sich hinab und musterte seine lange, hagere Gestalt, die in ein fleckiges Gewand aus verrottendem Stoff gehüllt war. Die Sterblichen erschraken sich zu Tode, wenn sie ihn sahen. Er fand die Erscheinung, die er annahm, wenn man ihn in diese Welt schickte, nur lächerlich. Schrecklich sah er aus, wenn er seine wahre Gestalt hatte. Aber so ... Vier bräunliche Hörner stachen aus seinem Rücken. Und dieses Gewimmel in seinem Fleisch kitzelte ihn unangenehm und ließ sich nicht abstellen. Nicht so lange er in dieser Sphäre verweilte, in die ihn sein Herr hineingezwungen hatte.

Eugalp schlich durch den kleinen Park, berührte hier und dort einen Apfel und murmelte jedesmal ein mächtiges Wort des Schutzes, auf daß die Früchte nicht unter seinen Fingern verschrumpelten oder sich ganze Nester von Gewürm in ihrem Gehäuse einnisteten. Wieder fluchte er auf Duglum, den Siebengehörten, dem es gelungen war, ihn zu unterwerfen. Ihn, Eugalp, der seit Äonen niemandem gehorcht hatte.

Der Wind fuhr ihm durch das löchrige Gewand, doch er empfand keine Kälte. Ebensowenig hätte Hitze ihn aufhalten können. Doch es war gut, daß die Jahreszeit schon so weit fortgeschritten war. So würde die Spur welken Grases, die er durch den kleinen Hain zog, nicht weiter auffallen.

Wieder wallte in ihm der Ärger über Duglum auf. Sein ›Meister‹ hatte seine Dienste an einen Menschen verschachert. Allein die Erzdämonen mochten wissen, was er dafür wohl bekommen hatte! Es war eine Demütigung, Handlanger für einen Menschen zu sein! Aber er würde sich diesen Gamba merken. Duglum hatte dieser nichts würdigen Kreatur seinen Namen genannt, damit dieser Druide ihn beschwören konnte. Dieser sterbliche Wurm ...

Er würde sich auch Gambas Namen merken, und es würde der Tag kommen, an dem er Rache nahm. Der Druide sollte dahinsiechen und bei lebendigem Leib verfaulen. Eugalp grunzte bei dem Gedanken, wie er sich an der jahrelangen Qual dieses vermessenen Sterblichen ergötzen würde.

Wieder dachte er an den übermütigen Tonfall Gambas und die höhnischen Worte, mit denen der Druide ihm befohlen hatte, in diesen Apfelhain zu gehen.

Eugalp machte seiner Wut Luft und trat gegen einen der Baumstämme. Der Stamm zerbarst und stürzte mit dumpfem Schlag auf einige frisch aufgeworfene Gräber. Ein grünlich-brauner Saft quoll aus dem gespaltenen Baum und verschwand in der feuchten Erde. Tausende von Würmern und Asseln purzelten aus dem Holz. Für einen Augenblick musterte er das fahl schimmernde Gewimmel. Morgen würde man denken, der Sturm hätte den offensichtlich morschen Baum stürzen lassen.

»Wer da?« erklang hinter ihm eine Männerstimme. »Im Namen Marcians, ihr seid verhaftet.«

Eugalp hörte, wie der Mann sich unsicheren Schrittes näherte. Licht fiel neben ihm ins Gras. Der Wächter sollte noch ein wenig näher kommen! Dann, als der Mann vielleicht noch zwei Armlängen hinter ihm sein mochte, drehte er sich ruckartig um.

Eugalp genoß, wie dem Soldaten bei seinem Anblick schier die Augen aus dem Kopf quollen. Der junge Bursche riß seinen Mund auf, doch brachte er keinen Ton hervor. Eugalp blinzelte, weil ihn der Lichtstrahl der Blendlaterne genau ins Gesicht traf. Dann ließ der Mann die Laterne fallen.

Eugalp wußte, daß er nun schnell handeln mußte. Der Kerl durfte seine Fassung nicht zurückgewinnen. Er machte einen schnellen Schritt nach vorne und legte ihm seine Hand auf den Mund.

Alles Blut war aus dem Gesicht des jungen Wächters gewichen, und noch bevor er ihn nur gestreift hatte, brach er ohnmächtig zusammen.

Eugalp zögerte. Sollte er ihn zeichnen? Gamba hatte ihm das nicht verboten. Vielleicht mochte auf diese Weise der Plan des Druiden fehlschlagen. Eugalp feixte vor Vergnügen. Alles, was ihm nicht ausdrücklich verboten war, konnte er tun. Er wischte dem Ohnmächtigen mit der Hand übers Gesicht. Einige weißliche Würmer stürzten aus seinem Fleisch und krochen dem Jüngling schnell in Mund und Nase. Eugalp fluchte. Das hätte nicht passieren dürfen. Dieser unvollkommene Körper! Er beherrschte ihn nicht.

Er würde jetzt seinen Auftrag zu Ende bringen. Noch zehn oder zwanzig der Äpfel streifen. Das mußte genügen! Würde er noch mehr mit seiner fauligen Hand vergiften, mochte es vielleicht auffallen. Ließ man die Äpfel noch ein oder zwei Wochen am Baum, wäre sein Auftritt ohnehin unnötig gewesen, denn dann hätte sich genug Leichengift in ihnen gesammelt, um jeden zu vergiften, der davon aß.


»... Glaub mir, Marcian, es besteht kein Anlaß zur Sorge, was die Orks angeht.« Himgi blickte zum Inquisitor hinüber, der nervös auf der Plattform des Burgfrieds umherschritt. »Sie haben nicht mehr genug Krieger, um sich einen Angriff auf unsere Mauern erlauben zu können. Selbst wenn sie wieder beginnen, die Stadt zu beschießen, und es ihnen gelingt, die eine oder andere Bresche in die Mauer zu schlagen, können sie sich keinen Sturmangriff leisten, bevor sie keine Verstärkung bekommen haben.« Marcian antwortete ihm mit Schweigen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß das schon alles gewesen sein sollte. Schaudernd dachte er an die Alpträume, die ihn fast jede Nacht heimsuchten.

»Kommandant?« Die Frauenstimme ließ Marcian herumfahren. Ein schlankes, junges Mädchen in langen grünen Gewändern stieg durch die Bodenluke auf die Plattform des Turms. Sie gehörte zum Orden der Therbuniten, der sich aufopfernd um die Verwundeten der Schlachten kümmerten und der seit dem Beginn der Belagerung großen Zulauf hatte.

»Meister Gordunius schickt mich, Herr«, riß ihn die Stimme des Mädchens aus seinen Gedanken.

»Warum kommt er nicht selbst?« entgegnete der Inquisitor gereizt. »Was ist denn los?«

Das Mädchen zuckte zusammen.

»Ein Kranker will Euch sprechen. Meister Gordonius glaubt, daß er nicht mehr lange zu leben hat.«

»Gut, ich werde kommen. Aber vor Mittag habe ich keine Zeit.«

»Aber ...«, setzte das Mädchen an.

»Richte Meister Gordonius aus, daß ich noch ein oder zwei andere Probleme habe, wenn ich mich nicht gerade um die Wünsche seiner Kranken kümmere.«

Scheu wich das Mädchen zurück. »Ich werde es ihm sagen«, flüsterte sie ängstlich.


Die Mittagsstunde war schon lange verstrichen, als Marcian das Siechenhaus der Therbuniten besuchte. Der Inquisitor hatte sich auf einer steinernen Bank im Kreuzgang niedergelassen und blickte auf die Blätter, die zum Spiel des Herbstwindes wurden und in tollkühnen Kapriolen von den Bäumen hinwegtanzten. Firuns Atem zieht übers Land, dachte Marcian. Dann sandte er ein Stoßgebet zum Gott des Winters, auf daß er in diesem Jahr nicht allzu viele Tage bitteren Frostes bringen möge. »Peraine sei gepriesen, daß Ihr doch noch gekommen seid.« Gordonius kam mit eiligen Schritten den Säulengang entlanggelaufen. Er war ein massiger Mann, mit braunem Haar und einem kurzgeschorenen Bart, durch den die ersten weißen Strähnen schossen. Der Therbunit trug ein schlichtes Gewand aus grünem Leinen, und eine schmucklose Brosche hielt einen wollenen, grünen Umhang zusammen, unter dem muskulöse Arme hervorragten.

Das sind die Arme eines Kriegers, dachte Marcian. Doch die Hände standen in eigentümlichem Mißverhältnis zu den klobigen Unterarmen. Sie wirkten zwar durchaus kräftig, doch waren sie lang und schlank. Ganz so, wie die Hände eines Künstlers.

»Laßt uns schnell zu dem Mann hinaufgehen. Vielleicht schenken die Götter ihm noch einmal genug Kraft, um mit Euch zu sprechen.« Gordonius sprach beinahe vorwurfsvoll. Marcian entschloß sich diesen unterschwelligen Ton zu ignorieren.

Gemeinsam stiegen sie die Treppe zu den Krankenzimmern hinauf. Auch im ersten Stock führte ein Kreuzgang um das Geviert des Hofes, und viele Verletze saßen in Decken gehüllt im Freien. Wohl zwanzig Türen mochten auf die Galerie führen. Der Inquisitor dachte erschauernd daran, welche Schrecken und welches Leid sie wohl verbargen.

Gordonius schritt voran, stieg über die Stümpfe Amputierter, die auf dem steinernen Boden hockten und schob zwei junge Therbuniten beiseite, die Marcian mit einem mißfälligen Blick bedachte, weil sie seiner Meinung nach besser in der Bürgerwehr aufgehoben wären.

Dann standen sie vor einer grün gestrichenen Tür, auf die mit weißer Kreide ein Symbol der Peraine und eines des Sonnengottes Praios gemalt war.

»Was sollen diese Schutzzeichen?« fragte Marcian irritiert.

»Das wirst du gleich sehen«, entgegnete Gordonius knapp und schloß die Tür auf. Dann huschte er ins Zimmer und zog Marcian hinter sich her. Ein atemberaubender Gestank schlug den beiden entgegen, und an Stelle eines Grußes war ein schwaches Stöhnen zu vernehmen. Die Vorhänge verdunkelten die kleine Kammer. Es gab gerade genug Platz für ein schmales Bett, einen Tisch und einen Schemel. Dicht neben dem Bett flackerte eine fast herabgebrannte Kerze.

Der Therbunit hob den Stummel auf und entzündete daran einen fünfarmigen Leuchter, der auf dem Tisch stand. Die Gestalt im Bett hatte sich die Decke über den Kopf gezogen und wimmerte leise.

Marcian atmete nur flach und zog die Luft durch den Mund ein. Je länger er in dem Raum war, desto beklommener fühlte er sich. Er bewunderte Gordonius, dem dieser Geruch scheinbar nichts ausmachte.

»Ich bitte Euch, beherrscht Euch«, flüsterte ihm der Therbunit ins Ohr. »Ich werde nun die Decke lüften, denn sonst können wir nicht verstehen, was er sagt, falls er überhaupt noch in der Lage ist, ein Wort von sich zu geben.«

Marcian mußte würgen, als er das Gesicht des Mannes erblickte. Sein Schädel war kahl; büschelweise lagen Haare im Bett, so als seien sie ihm erst in den letzten Stunden ausgefallen. Der Kopf wirkte seltsam deformiert. Große Beulen wölbten sich unter der Haut. Ein breiter Streifen von eitrigen Entzündungen zog sich in einem vielleicht handbreiten Streifen quer über das Gesicht. Den schrecklichsten Anblick bot allerdings die Nase. Sie war in den Schädel eingefallen, so daß in der Mitte des Gesichts ein rot entzündetes großes Loch klaffte.

In unregelmäßigen Abständen hustete der Mann.

Angeekelt wich Marcian zurück. Als Gordonius die Decke zurückgezogen hatte, war ein neuer Schwall übelsten Gestanks ins Zimmer gezogen. »Wer ist das?« flüsterte Marcian.

»Armand, der Sohn des Schusters in der Webergasse. Er hat in der letzten Nacht im Apfelhain Wache gehalten. Heute morgen hat man ihn dort bewußtlos gefunden. Zu dem Zeitpunkt hatte er nur einige Entzündungen im Gesicht. Doch seit er hier ist, verfällt er zusehends.«

»Was ist das für eine Krankheit?« Marcian zitterten die Hände. Lieber den grausamsten Schlachttod erleiden, als wie dieser Kerl bei lebendigem Leib verrotten. »Ist das ansteckend?«

Der Therbunit zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. So etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Was mich allerdings am meisten beunruhigt, ist der Geruch. Es riecht wie auf einem Totenfeld. Es stinkt nach Verwesung!« Gordonius' Stimme war zu einem Flüstern abgesunken, damit der Kranke nicht hören konnte, was sie besprachen. Der Mann im Bett röchelte. Er schien bei Bewußtsein zu sein. Seine Lippen erzitterten, ganz so, als wolle er etwas sagen.

»Eigentlich müßte der Mann schlafen. Vor einigen Stunden hat er angefangen, wie wahnsinnig zu schreien und seine Hände auf die Schläfen gepreßt. Er schien unerträgliche Schmerzen zu haben. Doch obwohl ich ihm ein hochwirksames Schlafmittel gegeben habe, ist er nicht wirklich eingeschlafen. Er bleibt halbwach.«

Armand wurde von einem Hustenkrampf geschüttelt und richtete sich ein wenig auf. Seine Augen waren glasig, so als könne er nicht mehr sehen. Würgend spie er aus. Marcian mußte sich abwenden. Er konnte den Anblick dieses entstellten Gesichts nicht mehr ertragen.

Armand röchelte.

»Er flüstert Euren Namen.« Der Therbunit blickte Marcian erwartungsvoll an. »Hört Ihr es nicht?«

Der Inquisitor konnte dem Blick des Therbuniten kaum standhalten. Es war ihm unmöglich, noch näher an das Bett heranzugehen. Es kostete ihn schon alle Kraft, überhaupt noch in diesem Zimmer zu bleiben. Doch sein Ohr dicht an den Mund des Sterbenden zu bringen, seinen fauligen Atem auf dem Gesicht zu spüren, das war mehr, als er ertragen konnte. Er blickte zu Boden. Dann sagte er leise. »Ich kann nicht. Bitte geht an meiner Stelle ans Bett.«

Gordonius lief rot an. »Ihr werdet einem Sterbenden doch nicht den letzten Wunsch abschlagen? Was seid Ihr für ein Mann?« Er packte ihn am Arm und zerrte ihn zum Bett.

Marcian fühlte sich wie gelähmt. Es war ihm unmöglich, sich zu wehren. In Gedanken sah er sich selber schon in einem Krankenbett liegen und bei lebendigem Leib verfaulen.

»... der dünne Mann ...«, flüsterte Armand.

Marcian versuchte nicht zu atmen. Er wollte diesen unheimlich verfärbten Lippen nicht zu nahe kommen.

»Kommandant, sein Gesicht...« Wieder schüttelte den Mann ein Hustenkrampf. Zitternd richtete er sich im Bett auf, starrte mit leeren Augen den Inquisitor an. »Der Apfelhain ... Tod ...«

Armand klammerte sich an den Umhang des Inquisitors.

Dann begann sich der Soldat zu erbrechen, und Marcian warf ihn zurück in die Kissen und sprang in blinder Panik auf. In zwei Schritten war er an der Tür. Gordonius machte erst gar keinen Versuch, ihn aufzuhalten. Der Inquisitor klammerte sich an das Geländer des Kreuzgangs und blickte auf den kleinen Garten hinab. Er wußte, daß die Kranken auf dem Gang ihn beobachteten, doch im Moment war ihm alles egal. Er brauchte frische Luft und bat die Götter um Vergessen. Er wollte sich nicht mehr an dieses schrecklich entstellte Gesicht erinnern. Nicht an den gräßlichen Gestank und am allerwenigsten an das, was er zuletzt gesehen hatte. Dieses gräßliche, sich windende Gewürm, das Armand erbrochen hatte, als Eiter und Blut ihm aus Mund und Nase schossen.

Marcian hatte schon viel in seinem Leben gesehen. Er hatte miterlebt, wie starke Männer am Schlachtfeldfieber verreckten, doch das hier übertraf alles.

Nach einer Weile hörte er, wie sich hinter ihm die Tür zu diesem verfluchten Krankenzimmer schloß.

»Er ist tot.« Gordonius stellte sich neben ihm an die Brüstung und sog begierig die frische Luft ein.

»Was hat er gehabt?« fragte Marcian mit tonloser Stimme.

»Ich weiß es nicht.« Der Therbunit schwieg.

»Wir sollten diesen Fall geheimhalten und seinen Leichnam noch in dieser Nacht verbrennen. Wenn bekannt wird, wie Armand gestorben ist, haben wir eine Panik in der Stadt.« Marcian hatte Gordonius gepackt. Wieder spürte er die Panik in sich aufsteigen.

Der Therbunit murmelte etwas Unverständliches und schüttelte ihn ab. Dann drehte er sich um und malte ein weiteres Bannzeichen auf die grüne Tür des Krankenzimmers und ein Boronsrad, das Symbol des Todes. »Fällt das den anderen Kranken nicht auf«, raunte ihm Marcian zu. »Der Tod ist bei uns beinahe täglich zu Gast. Niemand wird sich wundern, wenn solche Zeichen auf einer Tür sind, und es wird auch niemand Fragen stellen, wenn wir heute nacht einen Unbekannten in einem Leichtentuch heruntertragen. Besorgt mir genügend Brennholz, und wir werden ihn im Keller eines der zerstörten Häuser verbrennen.«

»Ihr werdet bekommen, was Ihr benötigt. Aber sagt, Gordonius, hat er Euch noch etwas über seinen Tod verraten?«

»Nein, sein letztes Wort war Apfelhain, doch wen wundert das, war dies doch offensichtlich der Ort, an dem er diesem dünnen Mann begegnet ist, von dem er faselte. Vielleicht hatten die Krankheit und das Fieber aber auch nur seine Sinne verwirrt.«

»Ja, vielleicht. « Marcian rieb sich nachdenklich das Kinn. An diesem Morgen war er nicht einmal dazu gekommen, sich zu rasieren. Dann wandte er sich zu Gordonius um. »Bis Sonnenuntergang werde ich einen Karren mit Holz schicken.« Der Therbunit nickte ihm zu und ging dann.

Marcian blieb noch einen Augenblick stehen. Er blickte an seinen Kleidern herab. Überall waren eingetrocknete Flecken vom Auswurf des Toten. Er würde die Sachen verbrennen, sich baden und zu Peraine beten, auf daß sie ihn und die Stadt vor dem Übel, das Armand befallen hatte, bewahren würde.

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