Als Alrik erwachte, konnte er sich verschwommen an Frauengesichter erinnern. Das Spiel einer Flöte hatte ihn geweckt. Ungläubig schaute er sich um. Er lag in einem hellen Raum mit hoher, geschwungener Decke. Das Zimmer schien zu einem Palast zu gehören. Beunruhigt blickte er auf seine Decke. Sie war aus roter Seide, und die weichen Kissen waren mit weißem Satin bezogen. Die Wände des Raumes waren mit Gemälden von ausgelassenen Jagdszenen geschmückt. Ungewöhnliche Bilder, dachte er. Der Künstler hatte Geschmack am Extravaganten. Einhörner, Mantikore und Pegasi tummelten sich auf den Wänden, und prächtig gewandete Jäger waren samt und sonders Elfen. Wahrscheinlich sollte irgendein Feenmärchen illustriert werden, doch für diese Kindergeschichten hatte sich Alrik nie sonderlich interessiert; so fiel ihm auch nicht ein, um welche Geschichte es sich hier wohl handeln mochte.
Dann dachte er wieder darüber nach, wie er wohl in diesen Palast gekommen war. Er erinnerte sich nur noch daran, daß er vor dem Häuptling der Olochtai durch den Wald flüchtete. Ob ihn die Kaiserlichen gefunden hatten? Die Pracht rund um ihn herum mochte zum Palast in Gareth passen.
Über einem Stuhl nahe dem Bett hingen Gewänder, die man wohl ihm zugedacht hatte. Der Oberst richtete sich auf, um sein Lager zu verlassen, doch kaum saß er aufrecht, da wurde ihm schwindelig. Ein stechender Schmerz meldete sich in seiner linken Seite. Stöhnend sank er in die Kissen zurück.
Zum Flötenspiel hatte sich inzwischen eine wunderschöne Frauenstimme gesellt, die ein trauriges Lied sang; jedenfalls klang es so, denn die Worte konnte Alrik nicht verstehen. Während er lauschte, wurde er immer müder. Und noch bevor das Lied geendet hatte, schlief der junge Ritter wieder.
Das nächste Mal erwachte der Oberst vom Duft einer Fleischbrühe. An seinem Bett saß eine schöne Frau, mit schlankem, blassem Gesicht, aus dem ihn zwei dunkle Mandelaugen anblitzten. Ihre Haare waren zu einer kunstvollen Frisur aufgetürmt. Alrik wünschte sich, den Rest seines Lebens nichts anderes mehr zu tun zu haben, als ihre Schönheit zu bewundern.
»Ihr müßt essen, edler Ritter.« Die Stimme der Frau war melancholisch, aber irgendwie fremd. Nicht, daß sie die Worte falsch betonte, doch klangen sie auf eigentümliche Art anders als gewohnt. Alrik versuchte sich aufzurichten, die Fremde drückte ihn jedoch sanft wieder in die Kissen zurück.
»Bleibt liegen. Eure Wunde ist noch nicht ganz verheilt. Wenn Ihr jetzt aufsteht, könnte sie wieder aufbrechen, und all meine Mühe wäre vergebens gewesen.«
»Was für eine Wunde?« fragte Alrik verstört.
»Nun, es sieht ganz so aus, als hättet Ihr Euch dem Jagdspeer eines Orks in den Weg gestellt. Ganz zu schweigen von Euren alten Verletzungen. Ich möchte Euch ja nicht zu nahe treten, Ritter, aber mir scheint, als seien Eure Wunden von einem Stümper behandelt worden.«
Alrik schwieg und ließ sich fallen, wie die Frau ihn mit der Fleischbrühe fütterte. Doch schon nach wenigen Löffeln siegte erneut seine Neugier. »Wie bin ich hierhergekommen, und was ist das für ein Ort?«
»Meine Diener haben Euch aus Eurer Welt geholt«, sagte die Frau mit zuckersüßer Stimme. Alrik schluckte. Plötzlich hatte er einen dicken Kloß im Hals. Eine andere Welt? Das erklärte alles? Er war tot! Was sonst konnten ihre Worte bedeuten?
Unsicher blickte sich der Ritter um. Das kostbar eingerichtete Zimmer, die wunderschöne Frau. Das alles paßte zusammen. Und doch war er enttäuscht. Insgeheim hatte er immer gehofft, an Rondras Ehrentafel aufgenommen zu werden. Sein ganzes Leben war der Göttin des Krieges geweiht gewesen. Immer hatte er versucht, sich tugendhaft und ritterlich zu verhalten. Aber jetzt war er an einem Ort, von dem er nicht einmal wußte, welchem der Zwölfgötter er diesen Platz zuordnen sollte.
»Wo bin ich hier?« fragte er seine hübsche Krankenpflegerin.
»In Sicherheit vor Euren Verfolgern«, antwortete die Frau und lächelte hintersinnig, wie es Alrik schien.
Die Unbekannte stellte die halbleere Suppenschüssel auf den Boden und strich ihm über die Brust. Dann wanderten ihre schlanken Hände langsam tiefer.
»Bald werdet Ihr wieder gesund sein. Ich freue mich, Euch hier zu haben. Ihr ahnt gar nicht, wie langweilig ein schier ewiges Leben sein kann. — Übrigens, habe ich Euch schon gesagt, daß Ihr ein außerordentlich schöner Mensch seid?«
Alrik schluckte wieder. Die Liebkosungen der Fremden waren aufreizend und erregend. Der junge Oberst überlegte. Bislang hatte er sich Rahja, die Göttin der Liebe, immer ganz anders vorgestellt.
Die Frau stand auf und blickte ihn auf eine Art an, daß er sich wie berauscht fühlte. Dann griff sie nach etwas, das auf dem Boden stehen mußte. Sie hob einen schwarzen Pokal.
»Trink, mein Ritter.«
Und gierig leerte Alrik den Kelch.
»Ihr werdet jetzt schlafen. Wenn Ihr wieder erwacht, werden Eure Wunden verheilt sein, und Ihr habt genug Kraft, um dieses Gefängnis aus Seide und Satin zu verlassen.«
Die Stimme klang jetzt wie von fern. Alrik sah der schönen Fremden nach. Er wollte, daß sie an seiner Seite blieb, doch noch bevor sie das Zimmer verlassen hatte, war der junge Ritter schon wieder eingeschlafen.
Alrik war völlig geheilt. Er fühlte sich so stark und unbesiegbar wie nie zuvor in seinem Leben. Jeden Abend labte er sich am kraftspendenden Nektar des schwarzen Kelches. Er gab ihm Kraft und verschönerte die Nächte, die er mit der geheimnisvollen Fremden verbrachte. Zuerst hatte er sich noch über die vielen Elfen an ihrem Hof gewundert. Nicht ein Mensch war ihm in all den Tagen begegnet, obwohl er mit seiner Geliebten weite Ausritte unternommen hatte. Doch eine Göttin zu fragen, war eines Sterblichen nicht würdig. Mit jedem Tag wurden seine Zweifel geringer. Erlittene Qualen erschienen ihm so fern, daß er sich ihrer kaum noch erinnerte.
Ständig neue Wunder hielten ihn gefangen, wobei er so begeistert und verblüfft war, daß er nichts von allem hinterfragte. Es wunderte ihn nicht, daß es in dieser Welt keine Sonne und weder das Madamal noch Sterne gab. Statt dessen erhellte der Himmel ein gleichmäßiges, blaues Licht, das in einem Tag- und Nachtrhythmus von einem tiefen, samtigen Blau bis hin zu einem blendend hellen Ton reichte.
Die Pflanzen trieben üppige Blüten in allen nur erdenklichen Farben, doch waren ihre Blätter dafür von einem fahlen, silbrigen Grün.
Höhepunkte des Tages waren die großen Bankette in den frühen Abendstunden. Sie wurden in einer Halle abgehalten, deren Abmessungen so gewaltig waren, daß Alrik in dem blauen Licht, das hier noch intensiver als draußen war, die Decke des gewaltigen Saales nicht erkennen konnte. An den Wänden bewegten sich in leichtem Wind Gobelins, die so hoch hinauf reichten, daß man die höchsten Türme Gareths hinter ihnen hätte verstecken können.
Die Gesellschaft, die sich hier versammelte, war ein bunter Reigen aus eleganten Rittern und schönen, grazilen Damen. Unablässig wurde Musik gespielt. Beeindruckt war der Oberst auch von den Reden, die bei Tisch geführt wurden. Es herrschte ein leicht ironischer Ton, und selbst die Spaße enthielten stets einen Hauch von Boshaftigkeit. Doch zu ihm war man freundlich. Alrik thronte am Kopf der Tafel, gleich neben der schönen Unbekannten, die ihn gepflegt und geheilt hatte. Sie schien die Herrin dieses Schlosses zu sein.
Auf der langen, mit weißem Tuch gedeckten Tafel liefen emsige Wichtel umher, halb Mensch halb Tier und kaum größer als eine Hand und servierten auf silbernen Tabletts erlesene Speisen. Manche, denen Gräser und Blumen aus dem Rücken wuchsen, bildeten lebende Tafelbouquets und tanzten in nie enden wollendem Reigen. Andere Geschöpfe hatten die Körper von schönen Jungfern, doch wuchsen ihnen Schmetterlingsoder Libellenflügel aus dem Rücken. Auch sie waren nicht größer als die Elle eines Zwergs. Mit durchscheinenden Amphoren flogen sie über die Köpfe der Tafelnden und trugen Sorge dafür, daß sich niemals einer der Weinbecher leerte. Wieder andere schwenkten silberne Ampeln, aus denen der Duft kostbaren Räucherwerks zur Decke der Festhalle emporstieg.
Erschöpft von einem stundenlangen Gelage und doch nicht müde genug, um Schlaf finden zu können, streckte sich Alrik in seinem weichen Bett. Ein solches Schloß konnten nur Götter geschaffen haben. Alles hier war vollkommener als das Beste, das er jemals in seinen Träumen gesehen hatte, und bald würde ihn die Herrin über all diese Pracht wieder besuchen, so wie sie es in jeder Nacht tat.
Wieder bestaunte der junge Ritter die Rüstung, die ihm seine Göttin geschenkt hatte. Ein wunderbarer, vergoldeter Plattenpanzer, geschmückt mit Rosen aus schwarzem Stahl, dazu ein Schwert, so leicht wie eine Feder und doch so stark, daß es durch Eisen fuhr wie durch Daunen. Und der Bogen, der dort an der Wand lehnte. Sooft er mit ihm auch geschossen hatte, nicht einmal verfehlte sein Pfeil das Ziel.
Ein Geräusch riß Alrik aus seinen Träumen. Ein Schatten war durch das Fenster geflogen. Er erhob sich vom Bett und fand unter einem Tisch einen Pfeil. Ein Stück Birkenrinde war um den Schaft gewickelt und mit einem Lederbändchen festgezurrt. Was mochte das sein? Wieder einer der Scherze seiner Geliebten?
Neugierig löste er das Band. Fahrige Buchstaben waren mit Ruß auf die Rinde gemalt.
»Habt Ihr Euch vergessen?
Wie konnte die Fee Euch so blenden?
Ihr suchtet Euren Prinzen
und Eure Freunde bangen um Euch.
Und was tut Ihr?
Vertändelt kostbare Zeit
und vergeßt, was Euch einst lieb und teuer war!
Verlaßt das Schloß,
solange Ihr noch könnt,
denn wenn die Fee Eurer überdrüssig ist,
werdet Ihr nur mehr ein gebrochener,
alter Mann sein.
Lebt Euer Leben
und nicht den Traum einer anderen!
Ich erwarte Euch am Waldrand.«
Die Botschaft erinnerte Alrik an einen Traum, den er vor langer Zeit geträumt und fast vergessen hatte. Dort gab es eine Andra. Sie hatte ihn vor einer Gefahr gerettet. Achtlos warf er die Rinde beiseite und schritt zum Fenster, um in die Nacht zu spähen. Der Waldrand war mehr als eine Meile entfernt. Er würde Andra suchen. Alrik drehte sich zu seinen Waffen um. Sollte er etwas mitnehmen? Das meiste würde ihn nur beim Klettern behindern. So steckte er nur einen Dolch in seinen Gürtel. Die leichte Kleidung, die er trug, war für diesen Ausflug ideal. Ein dünnes Seidenhemd und eine dunkle Lederhose, dazu Stiefel aus fein gegerbtem Wildleder. Wieder drehte er sich zum Fenster.
Der Ritter hatte das unbestimmte Gefühl, daß er nicht durch das Tor des Schlosses gehen sollte, um Andra zu besuchen. Seine Göttin würde es ihm verwehren. Er blickte am Efeu hinunter, das bis zu den Zinnen des Turmes wuchs, in dem sich sein Schlafgemach befand. Ob es ihn tragen würde? Falls nicht, konnte er schlimmstenfalls in den Wassergraben stürzen. Vorsichtig kletterte er über den Sims aus dem Fenster und tastete mit dem Fuß nach Halt.
Wie eine Ewigkeit kam es ihm vor, bis er endlich wieder festen Boden unter den Füßen verspürte. Manchmal war es ihm während des Kletterns so erschienen, als würde der Turm in den Himmel wachsen und er könne niemals sicheren Grund erreichen.
Dann tauchte er lautlos ins Wasser ein und durchschwamm mit kräftigen Zügen den breiten Schloßgraben. Wieder war ihm so, als würde ihn etwas zurückhalten. Sollte es tatsächlich eine unsichtbare Macht geben, die ihn im Bann hielt? Etwas anderes als die Liebe zur Schloßherrin?
Die Botschaft hatte ihn verunsichert. Doch das würde sich schnell klären. Wahrscheinlich wäre er schon in weniger als einer Stunde zurück und würde den Rest der Nacht mit seiner göttlichen Geliebten verbringen. Auf den Zinnen sah er das Leuchten einer Fackel. Ein Wächter drehte seine Runde auf dem Wehrgang. Alrik hielt die Luft an und tauchte. Warum war er nur so sicher, daß man ihm zürnen würde, wenn die Wachen seinen kurzen Ausflug zu Andra bemerkten?
Aber er wäre lange vor Sonnenaufgang zurück!
Als Alrik an der anderen Seite des Grabens aus dem Wasser tauchte und sich umdrehte, war der Wächter verschwunden.
Er hatte den Waldrand schon fast erreicht, als im Schloß ein Horn geblasen wurde. Nur Augenblicke später löste sich eine Reiterin vom Waldrand. Eine junge Frau mit braunem Haar. Es war jene Andra, die ihm einst im Traum begegnet war und nun auf unerklärliche Weise Gestalt angenommen hatte, um ihm diese rätselhafte Botschaft zu schicken. Sie ritt einen braunen Hengst, dessen Zaumzeug Flammenzungen aus gelbem Satin schmückten.
»Muß ich Euch eigentlich immer retten, Ritter? Los, schwingt Euch hinter mir in den Sattel. Wir werden einen guten Vorsprung brauchen, wenn wir zu zweit auf meinem Braunen ein Rennen gegen Elfenpferde gewinnen wollen.«
Als sie in den Wald hineinritten, hörte Alrik, wie die schwere Zugbrücke des Schlosses heruntergelassen wurde und wenig später den dumpfen Donnerschlag der Hufe galoppierender Pferde.
»Der Vater meines Braunen war ein Centaur, von ihm hat er Kraft und Ausdauer geerbt«, schrie Andra und duckte sich mit ihrem Kopf in die dichte Mähne des Pferdes.
Alrik war verunsichert, ob das alles Traum oder Wirklichkeit war. Der scharfe Wind im Gesicht, die wilde Jagd durch den nachtschwarzen Wald, das alles erschien ihm so real, und doch konnte es nicht sein. Centauren gab es nur im Märchen. Und wie hatte Andra die schöne Fremde genannt? Eine Fee?
Zumindest war es keine böse Fee, schließlich hatte sie ihm das Leben gerettet. Das alles verwirrte den Ritter zutiefst. Er wünschte sich ins belagerte Greifenfurt zurück. Dort waren die Dinge klar und einfach gewesen. Oder war auch das ein Traum?
Sie mußten schon Stunden durch den Wald geritten sein und waren in ein Gebirge gekommen, als Andra ihren Braunen endlich zügelte.
»Ich glaube, wir haben sie abgehängt«, sagte sie und schwang sich aus dem Sattel. Dann musterte sie Alrik kritisch.
»Ich will Euch ja nicht zu nahe treten, Herr Ritter, aber in dem, was Ihr tragt, seht Ihr aus wie ein höfischer Lustknabe.«
Alrik wurde zornig. »Was bildet Ihr Euch eigentlich ein? Entreißt mich meinen Gastgebern, reitet wie besessen mit mir durch die Nacht ... Seit ich Euch das erste Mal getroffen habe, jagt ein Problem das andere. Besteht Euer Leben eigentlich nur aus Fluchten.«
»Das alles wäre nicht nötig gewesen, Ritter, wenn Ihr Wort gehalten hättet. Wir waren verabredet. Wollten wir uns nicht bei Ornaval, dem Sohn Serleens treffen? Dort habe ich über eine Woche auf Euch gewartet.« Alrik konnte sich dunkel an eine Verabredung erinnern. Immer mehr Dinge, die er vergessen oder für Träume gehalten hatte, kehrten in seine Erinnerung zurück. Deutlich standen die Tage in Greifenfurt wieder vor seinem Auge. Er hatte eine Aufgabe! Und plötzlich konnte er sich wieder an die nächtliche Szene im Hafen erinnern. Marcian wollte ihn zurückhalten, doch er bestand darauf, zum Prinzen zu gehen und ihn um Hilfe für die Stadt zu bitten.
»Bei allen Dämonen der Niederhölle, was mache ich hier!« schrie Alrik auf. »Ich habe meine Freunde verraten! Wie lange bin ich schon hier? Eine Woche? Einen Monat? Ein Jahr?«
»Ihr seid sechs Wochen im Schloß von Leriella gewesen.«
Alrik erbleichte. Sechs Wochen. Vielleicht war Greifenfurt schon längst gefallen. Sie brauchten dringend Hilfe, und er vertändelte seine Zeit mit schönen Frauen.
»Regt Euch nicht auf, Ritter. Sechs Wochen hier sind nicht mehr als drei Tage in Eurer Welt.« Andra nahm ihren Braunen am Zügel und führte das Pferd einen Berghang hinauf.
»Vielleicht hättet Ihr die Güte, mir zu erklären, wohin mich Eure Rettungsversuche gebracht haben.« Alrik wollte vom Pferd herunter, aber auf dem schmalen Weg war ein Absteigen unmöglich.
»Habt Ihr das wirklich immer noch nicht begriffen?« Die Jägerin brach in schallendes Gelächter aus. »Man hört doch schon als kleines Kind von der Anderswelt. Dem Reich der Feen und anderer Wesen. Kennt Ihr das alles denn nicht?«
»Das sind doch nur Märchen! Das Schloß meines Vaters lag nahe dem Blautann in Almada, und ich bin hunderte Male dort zur Jagd geritten. Als Kind habe ich sogar das Feenreich gesucht, das in diesem Wald verborgen sein soll, aber gefunden habe ich nie etwas. In meinen Ohren hört sich Eure Rede nach dem Gewäsch alter Weiber an, das kleinen Kindern an langen Winterabenden erzählt wird.«
»Und für was haltet Ihr das Schloß Madalla, wo Ihr die letzten Wochen verbracht habt? Ein Ort, an dem Wurzelbolde und Waldschrate Leriella und ihre Gäste bewirten.«
Alrik schwieg eine Weile. Gemeinsam stiegen sie immer höher in den grauen Berg. Tief unter ihnen kreuzte eine Gruppe Rehe einen rauschenden Wildbach. Schließlich sagte der Ritter zerknirscht: »Ich glaubte, tot zu sein und im Haus einer Göttin zu weilen. Die Fee, wie Ihr meine Gastgeberin nennt, hat mich auch in diesem Glauben belassen.«
Wieder lachte Andra laut auf, und ihr Gelächter brach sich in Echos an den Bergwänden. »Das paßt zu Leriella. Und natürlich habt Ihr auch gegessen und getrunken, was sie Euch angeboten hat.«
»Natürlich«, entgegnete Alrik störrisch. »Sie hat mich gesundgepflegt und ...«
»Und mehr ..., ich kann mir das schon vorstellen«, fiel ihm die Jägerin ins Wort. »Sicher habt Ihr Euch in Leriellas Obhut mehr als wohl gefühlt, und hätte ich Euch nicht die Botschaft geschickt, hättet Ihr das Schloß sicher nicht mehr ohne Eure Gastgeberin verlassen.«
Alrik schwieg betreten.
»Ihr solltet nicht zu zerknirscht darüber sein. Ich kann mir keinen sterblichen Mann vorstellen, der nicht wie Ihr gehandelt hätte. Das liegt an der Magie der Fee. Selbst Elfen erliegen ihrem Bann. Alle Fremden, die in die Nähe ihres Schlosses gelangen und ihr gefallen, macht sie zu Gespielen. So lange, bis sie die Lust an ihnen verliert. Doch das kann lange dauern. Manch einer, der das Reich der Fee verlassen hat, fand sich als alter Mann in seiner Welt wieder.«
»Ja. Ist ja schon gut«, knurrte Alrik unwillig. »Ich kenne diese Geschichten. Verratet mir lieber, wie wir von hier fortkommen.«
»Nun, das liegt ganz an Euch. Bitte antwortet mir ehrlich, denn wenn Ihr nicht aufrichtig zu mir seid, kann uns das in eine schlimme Lage bringen. Seid Ihr ein guter Ritter? Versteht Ihr Euch auf das Lanzenreiten? Ich meine, beherrscht Ihr es nicht nur, sondern habt Ihr auch schon Turniere gewonnen?«
Die Jägerin war stehengeblieben und blickte zu Alrik auf.
»Was soll das denn schon wieder? Ich bin ein Obrist bei der kaiserlichen Kavallerie und gehöre dem Stand der Ritter an. Natürlich verstehe ich mich auf das Lanzenreiten!«
»Ist ja schon gut. Ich wollte es nur wissen, denn vielleicht wird das einmal sehr wichtig für uns.«
»Ich finde, da wir schon zusammen reisen, solltet Ihr mich etwas mehr in Eure Pläne einweihen.«
»Nun, manchmal ist es besser, nichts zu wissen. Im Augenblick sind wir auf dem Weg zu Linosch dem Schmied. Ein alter Zwerg, den es selbst nach der Zeitrechnung der Menschen schon vor ein paar Jahrhunderten in diese Feenwelt verschlagen hat. Dort sollt Ihr ein paar Waffen bekommen, damit Ihr wieder wie ein Ritter und nicht wie ein Lustknabe ausseht.«
Alrik schwieg beleidigt. Zwar war er Andra dankbar, daß sie ihn aus dem Schloß der Fee geholt hatte, doch die Spaße, die sie mit ihm trieb, gingen entschieden über das hinaus, was sich eine Frau aus dem Volk mit einem jungen Adligen erlauben durfte. Der Oberst bedauerte, nicht so gewandt mit der Zunge zu sein wie mit dem Schwert, doch vielleicht würde sich schon bald eine Gelegenheit ergeben, die Jägerin zu beeindrucken.
Bis zum Einbruch der Dunkelheit kletterten sie den Berg hinauf. Als sie die Baumgrenze hinter sich ließen, stieg Alrik vom Pferd. Den ganzen Nachmittag kämpften sie sich über kahle Felsabhänge höher und überquerten schließlich eine gewaltige, geschwungene Brücke aus schierem Eis. Wie mit kalten Händen griff der Wind dort nach ihnen, und einmal wäre Andra beinahe abgestürzt, hätte Alrik sie nicht im letzten Moment festgehalten.
Nun überquerten sie eine steile, verschneite Ebene, die bis in den Himmel hinaufzuragen schien. Alrik klapperten die Zähne. Seine dünnen Kleider waren steif gefroren, und wäre er nackt durch den Schnee marschiert, so glaubte er, hätte ihm auch nicht mehr kälter sein können. Das Licht des Tages wich langsam einem diffusen Zwielicht. Einmal ging einige hundert Schritt hinter ihnen donnernd eine Lawine zu Tal. Der junge Ritter wünschte sich insgeheim in die Arme Leriellas zurück. So schlecht war sein Leben am Feenhof schließlich nicht gewesen, und doch schritt er unverdrossen hinter Andra durch den Schnee.
Seit ihren Belehrungen über das Feenreich hatte die Jägerin nicht mehr viel geredet. Jetzt hob sie den Arm und zeigte auf einen Riß in der Gletscherwand, die sich wie ein Berg aus Glas am Ende der verschneiten Ebene erhob. Dort müssen wir durch, dann erreichen wir Linosch.
Das letzte Licht des Tages ließ den Gletscher rötlich schimmern. Vorsichtig folgte Alrik seiner Begleiterin in den Spalt aus Eis. Bizarre Zerrbilder der beiden spiegelten sich auf den glatten Wänden. Schnaufend sog Alrik Luft durch die Nase. Es roch eigenartig, wie in der Höhle eines Raubtiers. Der Ritter tastete nach seinem Dolch.
»Hör, Andra, kann es sein, daß Euer Zwerg eine noch strengere Duftnote pflegt als die anderen seiner Art. Hier riecht es ja wie ...«
Weiter kam Alrik nicht mehr. Ein tiefes Knurren brach sich in Echos an den kalten Wänden. Der Ritter zog seinen Dolch, drängte sich am Pferd vorbei und wollte Andra zurückreißen. Vor ihnen versperrte ein riesiger Höhlenbär den Weg.
»Ganz ruhig«, flüsterte der Ritter Andra zu. »Zieht Euch zurück, ich werde die Bestie schon aufhalten. Es sieht ganz so aus, als hätte Meister Petz Euren Zwerg zu Mittag verputzt.«
Der Bär richtete sich auf seine Hinterbeine auf. Die Bestie mußte mehr als drei Schritt groß sein.
»Steckt den Dolch weg, oder es ist um Euch geschehen«, zischte Andra. »Der Bär ist Linoschs Haustier, und selbst wenn Ihr gegen ihn bestehen solltet, wird Euch der Schmied hinterher den Schädel einschlagen.« Die Jägerin zerrte den Ritter zurück. Trotz der Kälte perlte ihr Schweiß von der Stirn. »Ganz ruhig, Barka«, redete sie auf das Tier ein. »Kennst du mich denn nicht mehr?« Vorsichtig machte sie einen Schritt auf den Bären zu.
Diese Wahnsinnige, dachte Alrik. Noch immer hielt er das Heft seines Dolches umklammert. Dann ließ sich das mächtige Tier auf alle viere nieder, und Andra streichelte ihm den Pelz.
»Komm«, rief sie verschmitzt lächelnd. »Barka wird uns zu seinem Herrn führen.«
»Kennst du eigentlich keine Angst?« Der Ritter stand immer noch still und starrte die Jägerin an.
»Natürlich. Aber ich fürchte nicht die Tiere, sondern die Menschen und alle anderen, die nicht nach ihren Instinkten, sondern nach ihrem Unverstand handeln.«
Linoschs Höhle wurde von einem tosenden Feuer erwärmt und lag hinter dem Gletscher im Granit der Bergspitze verborgen. Als Andra in die enge Felskammer trat, war der Zwerg mit einem Freudenschrei auf sie zugestürmt, hatte seine Arme um ihre Hüften geschlungen und sein bärtiges Gesicht gegen den Bauch der Jägerin gepreßt. Alrik hingegen spürte, daß der Schmied ihm nicht traute. Der Zwerg hatte ihm zwar die Hand geschüttelt, doch gleichzeitig fühlte sich der Ritter mißtrauisch gemustert. Das Pferd hatte man in eine angrenzende Höhle gebracht und mit reichlich Heu von einer Ahn versorgt. Linosch und Andra saßen schon über eine Stunde am Feuer und redeten über vergangene Zeiten. Alrik fühlte sich hier fehl am Platz. Er wollte in seine Welt zurück und Feen und Bären und Zauberwälder hinter sich lassen.
Schließlich erhob sich der Zwerg und kam auf ihn zu. »So, mein Junge. Du bist also Alrik von Blautann und vom Berg. Die Geschichte, wie du deinen Prinzen gerettet hast, hat man sogar in dieser Welt schon zu hören bekommen. Mir scheint, du bist ein Ritter vom rechten Schlag. Nicht so ein eitler Höfling, wie man sie immer öfter trifft. Glaube mir, nur deshalb tue ich dir den Gefallen, um den Andra mich gebeten hat. Du weißt ja wohl, daß es nicht die Art der Zwerge ist, etwas zu verschenken.« Alrik war verlegen, als Linosch ihm auf die Schulter klopfte.
»Du brauchst jetzt nichts zu sagen. Komm, steh auf. Andra hat mir erzählt, wie du den Orks bei Greifenfurt das Fell gegerbt hast. Du sollst ein gutes Schwert von mir bekommen, damit du diese Arbeit fortsetzen kannst.« Der Zwerg packte Alrik bei der Hand und führte ihn in eine angrenzende Höhle, in der prächtige Waffen und Rüstungen gehortet waren.
»Schau dich ruhig um, Junge. Hier findest du alles, was man im Kriege brauchen kann. Mustere die Waffen, und ich werde dich bei deiner Wahl beraten.« Dann drehte sich der Zwerg zu Andra um. »Du weißt gar nicht, was du mir für eine Freude gemacht hast. Endlich kann ich eine alte Familientradition fortführen. Schon mein Urahn Olbar Steinhauer hat bei Greifenfurt gegen die Orks gekämpft. Damals nannten die Menschen ihre Stadt aber noch Saljeth. Olbar zog mit Ramoxosch III., dem ersten und bislang einzigen Zwergenkönig, der ein Kriegsbündnis mit Elfen einging, um den Menschen im Norden der Koschberge zu helfen, die aus eigener Kraft das Joch der Orks nicht mehr abwerfen konnten. Aber ich erzähle zuviel. So ist das, wenn ein einsamer alter Zwerg mal Besuch bekommt.«
Linosch schneuzte sich und drehte sich um.
Alrik hatte inzwischen die Waffen gemustert. Mit dem, was der Zwerg hier hortete, hätte man mit Leichtigkeit eine ganze Schwadron ausrüsten können. Prüfend wog der Ritter ein Schwert in der Hand.
»Schöne Waffe, nicht wahr. Komm, nimm sie dir, und schau dich jetzt nach einer Rüstung um.« Die Stimme Linoschs klang ein wenig gepreßt, fast so, als fiele es ihm doch nicht so leicht, seine Schmiedearbeiten zu verschenken, wie er zunächst beteuert hatte.
Alrik brauchte nicht lange zu suchen. In einer Ecke stand ein prächtiger, stahlschimmernder Plattenpanzer. Der Panzer war hervorragend gearbeitet. Zwei sich aufbäumende Einhörner schmückten seine Brustplatte. Armund Beinzeug waren mit stilisierten Blumen geschmückt. Der Ritter hörte, wie Andra und der Zwerg miteinander tuschelten.
Alrik wollte gerade die Rüstung anprobieren, als der Zwerg meinte: »Nein, mein Junge. Laß das da mal stehen. Nicht, daß ich dir das gute Stück nicht gönnen würde, aber Andra meint, die würde euch auf eurer weiten Reise nur behindern.«
»Na schön.« Der Ritter blickte finster zu der Jägerin hinüber. »Und was schwebt Euch vor. Sucht Ihr doch was aus. Seit ich Euch kenne, maßt Ihr Euch an, meine Entscheidungen zu fällen. Mit mir vorher mal ein Wort zu reden liegt Euch fern. Also, sucht aus!«
»Seht, wir müssen von diesem Berg auch wieder herunterkommen. In einer Ritterrüstung wäre das unmöglich. Außerdem würde eine schwere Rüstung uns auf der weiteren Reise behindern. Mein Brauner hat schon genug an uns zweien zu tragen. Da brauchen wir nicht noch all das Blech.« Der Zwerg räusperte sich leise und murmelte: »Blech ... das werd' ich mir merken. Kein Respekt vor solidem Handwerk.« Dann fügte er lauter hinzu. »Sucht Euch aus, was Ihr braucht. Ich geh nach nebenan ans Feuer.« »Nun, ich warte auf Eure Entscheidung.« Alrik hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sich breitbeinig vor der Rüstung aufgebaut.
»Ihr seid mir doch nicht etwa böse?« Andra lächelte kokett. Alrik antwortete nicht.
»Findet Ihr nicht auch, daß wir die Förmlichkeiten bleiben lassen sollten?« Die Jägerin stand nun unmittelbar vor dem Ritter. »Habe ich dir eigentlich schon gesagt, daß du außerordentlich gut aussiehst ...« Das kam Alrik vertraut vor. Langsam begann er dem Glauben zu schenken.
»... wenn ich daran denke, wie Leriella dich verführt hat, kommt mir die kalte Wut.« Andra strich ihm über die Schultern. »Du gehörst nicht in die Hände einer Frau, die kein wirkliches Feuer hat.«
Alrik war ernsthaft irritiert. Andra verhielt sich im Augenblick nicht sehr viel anders als die Fee, die sie so sehr verdammt hatte. Außerdem mißfiel ihm die Art, wie sie die Dinge in die Hand nahm. Er war es gewohnt, seine Entscheidungen selber zu treffen, und bislang hatte immer er die Frauen verführt und nicht umgekehrt. Selbst Leriella hatte sich an diese einfachen Anstandsregeln gehalten. Sie hatte ihm zwar gezeigt, daß sie ihn wollte, doch er war letztlich derjenige gewesen, der Zeit und Ort bestimmte.
»Du solltest diesen Flitterkram ablegen.« Andra nestelte an seinem Seidenhemd herum. Alrik ergriff ihren Arm. »Nicht so schnell, meine Schöne. Was stellst du dir eigentlich vor? Hinten in der Ecke liegen Felle. Dort haben wir es gemütlicher.«
»Fang jetzt keine Minnespiele an. Ich bin nicht die Frau, die endlos angebetet werden möchte, bevor irgend etwas passiert.«
»Und was ist mit Linosch?«
Andra hatte ihn zu den Fellen herübergezogen und sein Hemd endgültig abgestreift.
»Vergiß den Zwerg. Er denkt, daß wir uns erst einmal ausgiebig zanken. Der schaut hier so schnell nicht wieder herein ... und deine Stiefel zieh dir gefälligst selber aus! Ich bin nicht dein Knecht!«
Alrik war noch immer verwirrt, aber dann entschloß er sich dazu, erst morgen darüber nachzudenken, ob er jetzt einen Fehler machte.