9 Zwei Silberhechte

Egwene saß in ihrem Sessel, einer der wenigen richtigen Sessel im Lager mit ein wenig einfacher Schnitzerei, ausreichend geräumig und bequem, daß sie nur geringe Schuld deswegen empfand, dafür wertvollen Wagenplatz zu opfern. Sie saß da und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln, als Siuan den Zelteingang beiseite schob und das Zelt geduckt betrat. Siuan war nicht glücklich.

»Warum, im Licht, seid Ihr davongelaufen?« Ihre Stimme hatte sich nicht verändert wie ihr Gesichtsausdruck, und sie schalt üblicherweise auch mit den Besten, selbst wenn dies in respektvollem Tonfall geschah. In mühsam respektvoll gehaltenem Tonfall. »Sheriam hat mich wie eine Fliege beiseite gefegt.« Der überraschend zarte Mund verzog sich verbittert. »Sie war fast genauso schnell fort wie Ihr. Habt Ihr nicht bemerkt, daß sie sich Euch ausgeliefert hat? Gewiß tut sie das. Sie, und Anaiya und Morvrin und sie alle.«

Bei ihren letzten Worten betrat Leane das Zelt. Eine große, gertenschlanke Frau, deren kupferfarbenes Gesicht genauso jugendlich wirkte wie das Siuans, die aber in Wahrheit ebenfalls alt genug war, Egwenes Mutter sein zu können. Leane warf einen Blick zu Siuan und hob dann die Hände, soweit das Zeltdach es zuließ. »Mutter, dies ist ein törichtes Risiko.« Ihre dunklen Augen verloren ihre Verträumtheit und blitzten auf, aber ihre Stimme klang träge, selbst wenn sie verärgert war. Sie hatte nur einmal munter geklungen. »Wenn jemand Siuan und mich so zusammen sieht...«

»Es kümmert mich nicht, wenn das ganze Lager erfährt daß Eure Zankerei Schwindel ist«, unterbrach Egwene sie scharf, während sie eine schwache Barriere gegen Lauscher um sie drei wob. Mit der Zeit könnte sie durchdrungen werden, aber nicht, ohne daß es bemerkt würde, nicht solange sie das Gewebe festhielt, anstatt es abzubinden.

Sie sorgte sich, und vielleicht hätte sie nicht beide herbeirufen sollen, aber ihr erster halbwegs zusammenhängender Gedanke war gewesen, die beiden Schwestern zu rufen, denen sie vertrauen konnte. Niemand im Lager vermutete etwas. Jedermann wußte, daß die frühere Amyrlin und ihre ehemalige Behüterin einander genauso sehr verabscheuten, wie Siuan es verabscheute, ihre Nachfolgerin unterweisen zu müssen. Sollte irgendeine Schwester die Wahrheit aufdecken, könnte es sehr wohl geschehen, daß sie lange Zeit Buße tun müßten, und keine leichte Buße - Aes Sedai mochten es noch weniger als andere Menschen, zum Narren gehalten zu werden; sogar Könige hatten dafür bezahlen müssen -, aber derweil schlug sich ihre vorgebliche Feindseligkeit in einem gewissen Einfluß auf die anderen Schwestern, einschließlich der Sitzenden, nieder. Wenn sie beide das gleiche sagten, mußte es stimmen. Ein weiterer sehr nützlicher Nebeneffekt des Gedämpftseins, einer, von dem niemand sonst wußte, war der, daß die Drei Eide sie nicht mehr hielten. Sie konnten jetzt ungehindert lügen.

Arglist und Täuschung überall. Das Lager war wie ein stinkender Sumpf, in dem im Nebel unbemerkt seltsame Gewächse gediehen. Vielleicht war es überall so, wo sich Aes Sedai zusammenschlossen. Nach dreitausend Jahren Intrigen, wie notwendig auch immer sie gewesen sein mochten, war es kaum verwunderlich, daß das Ränkeschmieden zur zweiten Natur der meisten Schwestern geworden und für die anderen kaum erwähnenswert war. Wahrhaft schrecklich war, daß sie allmählich Spaß an all diesen Intrigen fanden. Nicht zu ihrem eigenen Nutzen, aber als Geduldspiel. Sie wollte lieber nicht wissen, was das über sie besagte. Nun, sie war eine Aes Sedai, was auch immer die anderen dachten, und sie mußte das Schlechte daran genauso hinnehmen wie das Gute.

»Moghedien ist entkommen«, fuhr sie ohne innezuhalten fort. »Ein Mann hat ihr das A'dam abgenommen. Ein Mann, der die Macht lenken kann. Ich denke, einer von ihnen hat die Halskette entfernt. Ich habe es in ihrem Zelt nicht mehr gesehen. Vielleicht könnten wir es mit Hilfe des Armbands finden, aber wenn nicht, weiß ich nicht weiter.«

Das nahm ihnen alle Kraft. Leanes Beine gaben nach, und sie sank auf den Stuhl, den Chesa manchmal benutzte. Siuan ließ sich langsam auf dem Bett nieder, den Rücken sehr gerade gehalten, die Hände regungslos auf den Knien. Egwene bemerkte unpassenderweise, daß kleine blaue Blumen in tairenischem Muster um den Saum ihres Gewandes gestickt waren. Weitere Stickereien zogen sich adrett über das Oberteil. Wenn man es auf eine Weise betrachtete, bedeutete es sicherlich nur eine kleine Veränderung, daß sie neuerdings auf ihr Äußeres achtete und ihre Kleidung nicht nur passend, sondern auch hübsch sein sollte - sie verfiel niemals in Extreme -, aber auf andere Weise besehen, wirkte es genauso drastisch wie ihr veränderter Gesichtsausdruck. Und rätselhaft. Siuan ärgerte sich über die Veränderungen und widerstand ihnen. Bis auf diese.

Leane hieß die Veränderungen nach wahrer Aes-Sedai-Art willkommen. Da sie wieder jung zu sein schien - Egwene hatte eine Gelbe verwundert ausrufen hören, daß beide absolut in gebärfähigem Alter zu sein schienen -, hätte sie genausogut niemals die Behüterin der Chronik sein und niemals ein anderes Gesicht bekommen können. Die reine Vorstellung des Praktischen und Wirkungsvollen wurde zum Ideal einer trägen und verlockenden Domanifrau. Sogar ihr Reitgewand war im Stil ihres Geburtslandes geschnitten, obwohl der fast durchsichtig scheinende, hellgrüne Seidenstoff für die Reise auf staubigen Straßen sehr unpraktisch war. Als man ihr sagte, daß das Dämpfen alle Bindungen und Verbindungen zunichte gemacht hatte, wählte Leane über eine Rückkehr zur Blauen Ajah die Grüne Ajah. Normalerweise wechselte man die Ajahs nicht, aber es war auch noch niemals zuvor jemand gedämpft und dann wieder Geheilt worden. Siuan war sofort in die Blaue Ajah zurückgekehrt und hatte über die unsinnige Notwendigkeit gemurrt, ›um die Aufnahme flehen und bitten zu müssen‹, wie es formell hieß.

»Oh, Licht!« keuchte Leane, während sie sich erheblich weniger anmutig als üblich auf einen Stuhl sinken ließ. »Wir hätten sie gleich am ersten Tag ihrer Verurteilung zuführen sollen. Nichts, was wir von ihr erfahren haben, ist es wert, sie wieder auf die Welt loszulassen. Nichts!« Ihre Worte verdeutlichten ihr Entsetzen, da sie sonst nicht das Offensichtliche feststellte. Ihr Verstand war nicht träge geworden, wie auch immer ihr äußerliches Benehmen wirkte. Domani-Frauen wirkten vielleicht nach außen hin träge und verführerisch, aber sie waren noch immer überall als die härtesten Händler bekannt.

»Blut und verdammte...! Wir hätten sie bewachen lassen sollen«, grollte Siuan.

Egwene wölbte die Augenbrauen. Siuan mußte genauso erschüttert sein wie Leane. »Durch wen, Siuan? Durch Faolain? Durch Theodrin? Sie wissen nicht einmal, daß ihr beide zu meiner Gemeinschaft gehört.« Eine Gemeinschaft? Fünf Frauen. Und Faolain und Theodrin waren wohl kaum eifrige Anhängerinnen - besonders Faolain nicht. Nynaeve und Elayne gehörten natürlich auch dazu, und sicherlich auch Birgitte, auch wenn sie keine Aes Sedai war, aber sie waren weit fort. List und Geschicklichkeit waren noch immer ihre Hauptstärken. Und der Umstand, daß niemand sie bei ihr erwartete. »Wie hätte ich irgendjemandem erklären sollen, warum sie meine Dienerin beobachten sollten? Und außerdem - was hätte es genützt? Es muß einer der Verlorenen gewesen sein. Glaubt ihr wirklich, Faolain und Theodrin hätten ihn zusammen aufhalten können? Ich weiß nicht einmal, ob ich es hätte tun können, selbst in der Verbindung mit Romanda und Lelaine nicht.« Sie waren die beiden nächststarken Frauen im Lager, die die Macht genauso gut beherrschten wie Siuan früher.

Siuan bezwang mühsam ihre Aufregung. Sie sagte häufig, daß sie, wenn sie nicht länger die Amyrlin sein konnte, Egwene lehren würde, die beste Amyrlin zu sein, die es jemals gegeben hätte, aber Siuans Übergang von einem Löwen auf einem Berg zu einer Maus am Boden war schwer. Deshalb gewährte Egwene ihr einige Bewegungsfreiheit.

»Ich möchte, daß ihr beide diejenigen befragt die sich in der Nähe des Zeltes aufhalten, in dem Moghedien geschlafen hat. Jemand muß den Mann gesehen haben. Er muß zu Fuß gekommen sein. Jeder, der auf solch kleiner Fläche ein Wegetor eröffnete, hätte riskiert, Moghedien zu töten, wie klein er es auch gestaltet hätte.«

Siuan äußerte laut ihren Unmut »Warum sollten wir uns die Mühe machen?« grollte sie. »Wollt Ihr hinter ihr herjagen wie irgendein törichter Held in der törichten Geschichte eines Narren und sie zurückbringen? Und vielleicht noch gleichzeitig alle Verlorenen bezwingen? Und die Letzte Schlacht gewinnen, wenn Ihr schon dabei seid? Selbst wenn wir eine ausführliche Beschreibung von ihm hätten, kann niemand einen Verlorenen vom anderen unterscheiden. Jedenfalls kann es hier niemand. Es ist der verdammt nutzloseste Haufen, den ich jemals...!«

»Siuan!« sagte Egwene barsch und setzte sich auf. Bewegungsfreiheit war eine Sache, aber es gab Grenzen. Sie duldete dies auch bei Romanda nicht.

Siuan errötete. Sie kämpfte um Haltung, wobei sie ihre Röcke knetete und Egwenes Blick mied. »Verzeiht, Mutter«, sagte sie schließlich. Es klang fast, als meine sie es ehrlich.

»Es war ein schwerer Tag für sie, Mutter«, wandte Leane mit schelmischem Lächeln ein. Sie war darin sehr gut, obwohl sie es für gewöhnlich nur einsetzte, um das Herz eines Mannes höherschlagen zu lassen, aber natürlich nicht bei allen Männern. Sie besaß eine gute Urteilskraft und Besonnenheit. »Aber andererseits gilt das für fast alle Tage. Wenn sie nur lernen könnte, Gareth Bryne nicht immer mit etwas zu bewerfen, wenn sie zornig ist... «

»Das genügt!« fauchte Egwene. Leane versuchte nur, Siuan ein wenig zu entlasten, aber sie war nicht in der entsprechenden Stimmung. »Ich möchte alles wissen, was ich über denjenigen erfahren kann, wer auch immer Moghedien befreit hat, und sei es nur seine Größe. Jede Einzelheit, die ihn zu mehr als einem Scharten in der Dunkelheit macht. Wenn das alles ist, was ich verlangen kann.« Leane saß ganz still und betrachtete die Blumen auf dem Teppich vor ihren Zehen.

Die Röte überzog jetzt fast Siuans ganzes Gesicht, wodurch sie, bei ihrer hellen Haut, an einen Sonnenuntergang erinnerte. »Ich ... bitte demütig um Verzeihung, Mutter.« Dieses Mal klang sie wirklich reuevoll. Aber es fiel ihr offenbar noch immer schwer, Egwenes Blick zu erwidern. »Es ist manchmal schwer... Nein, nein, keine Entschuldigungen. Ich bitte demütig um Verzeihung.«

Egwene betastete ihre Stola und verharrte schweigend, damit die Gemüter sich beruhigen konnten, während sie Siuan unbewegt ansah. Das hatte Siuan selbst sie gelehrt, aber bald regte sie sich doch unbehaglich. Wenn man wußte, daß man im Unrecht war, bedeutete Schweigen eine Qual, und die Qual brachte einem zu Bewußtsein, daß man tatsächlich im Unrecht war. Schweigen war in vielen Situationen ein nützliches Werkzeug. »Da ich mich nicht daran erinnern kann, was ich verzeihen sollte«, sagte sie schließlich ruhig, »ist es anscheinend auch nicht nötig. Aber, Siuan ... es sollte nicht wieder vorkommen.«

»Danke, Mutter.« Ein angedeutetes, verzerrtes Lächeln spielte um Siuans Mundwinkel. »Ich scheine Euch gut gelehrt zu haben, wenn ich das so sagen darf. Aber wenn ich einen Vorschlag machen dürfte...?« Sie wartete auf Egwenes ungeduldiges Nicken. »Jemand von uns sollte Euren Befehl Faolain oder Theodrin überbringen, um die Fragen zu stellen, und dabei natürlich vorgeben, verärgert zu sein, weil man sie zur Botin gemacht hat.«

Egwene stimmte ihr sofort zu. Sie konnte noch immer nicht klar denken, sonst wäre sie selbst darauf gekommen. Die Kopfschmerzen waren zurückgekehrt. Chesa behauptete, sie kämen von zu wenig Schlaf, aber es war fast unmöglich zu schlafen, wenn sich der Kopf so angespannt wie ein Trommelfell anfühlte. Nun, zumindest konnte sie jetzt die Geheimnisse preisgeben, die Moghedien verborgen gehalten hatte: wie man mit der Macht Verkleidungen wob und wie man seine Fähigkeit vor anderen Frauen verbarg, die die Macht lenken konnten. Es war zu riskant gewesen, sie preiszugeben, solange es dazu führen konnte, Moghedien zu enttarnen.

Ein wenig mehr Begeisterung, dachte sie verbittert. Als sie das einst verlorene Geheimnis des Schnellen Reisens, was zumindest ihr eigenes war, verkündet hatte, war große Begeisterung und Überraschung spürbar gewesen, und seitdem war weiteres Lob für jedes der Geheimnisse erhoben worden, die sie Moghedien so mühsam entlockt hatte. Keine der begeisterten Reaktionen änderte ihre Position jedoch nur im geringsten. Man konnte einem begabten Kind den Kopf tätscheln, ohne zu vergessen, daß es ein Kind war.

Leane zog sich mit einem Hofknicks und der trockenen Bemerkung zurück, es täte ihr nicht leid, daß auch jemand anderer einmal weniger als eine ganze Nacht Ruhe bekäme. Siuan wartete noch. Niemand durfte sie und Leane zusammen gehen sehen. Egwene betrachtete sie eine Zeitlang nur. Sie schwiegen. Siuan schien in Gedanken verloren. Schließlich gab sie sich einen Ruck, stand auf, richtete ihr Gewand und bereitete sich offensichtlich zum Aufbruch vor.

»Siuan«, sagte Egwene zögernd und stellte fest, daß sie nicht wußte, wie sie fortfahren sollte.

Siuan glaubte zu verstehen. »Ihr hattet nicht nur recht, Mutter«, sagte sie und sah Egwene direkt in die Augen, »Ihr wart auch nachsichtig. Zu nachsichtig, obwohl ich das nicht sagen sollte. Ihr seid der Amyrlin-Sitz, und niemand darf Euch gegenüber unverschämt oder ungehörig auftreten. Hättet Ihr mir eine Strafe auferlegt, derentwegen sogar Romanda Mitleid mit mir gehabt hätte, wäre es nicht mehr gewesen, als ich verdiene.«

»Ich werde beim nächsten Mal daran denken«, sagte Egwene, und Siuan beugte wie in Ergebenheit den Kopf. Vielleicht war es tatsächlich Ergebenheit. Wenn die Veränderungen in ihrem Wesen nicht tiefer griffen, als möglich schien, würde es ein nächstes Mal geben, und noch weitere danach. »Aber ich möchte Euch noch nach Lord Bryne befragen.« Siuans Gesicht wurde vollkommen ausdruckslos. »Seid Ihr sicher, daß Ihr es nicht gern säht, wenn ich ... eingriffe?«

»Warum sollte ich, Mutter? Meine einzigen Pflichten bestehen darin, Euch das Zeremoniell Eures Amtes zu lehren und Sheriam die Berichte von meinen Augen-und-Ohren auszuhändigen.« Sie hielt noch immer einen Teil ihres früheren Nachrichtennetzes aufrecht, obwohl bezweifelt werden durfte, daß irgend jemand wußte, zu wem ihre Berichte jetzt gelangten. »Gareth Bryne nimmt kaum genug meiner Zeit in Anspruch, daß eine Einmischung erforderlich wäre.« So sprach sie fast immer von ihm, und selbst wenn sie seinen Titel benutzte, lag eine gewisse Schärfe darin.

»Siuan, ein abgebrannter Viehstall und ein paar Kühe können nicht so viel kosten.« Sicherlich nicht, wenn man es mit dem Sold und der Verpflegung der Soldaten verglich. Aber sie hatte ihr Angebot schon früher unterbreitet, und die starre Antwort war die gleiche geblieben.

»Ich danke Euch, Mutter, aber nein. Ich möchte nicht, daß er behaupten kann, ich hätte mein Wort gebrochen, und ich habe geschworen, die Schuld abzuarbeiten.« Siuans Starrheit löste sich plötzlich in Lachen auf, was selten geschah, wenn sie über Lord Bryne sprach. »Wenn Ihr Euch um jemanden sorgen wollt, dann sorgt Euch um ihn, nicht um mich. Ich brauche keine Hilfe, um mit Gareth Bryne fertig zu werden.«

Das war seltsam. Siuan war jetzt vielleicht schwach im Lenken der Einen Macht, aber nicht so schwach, daß sie weiterhin seine Dienerin sein und Stunden damit verbringen mußte, die Arme bis zu den Ellbogen in heißes Seifenwasser zu tauchen und seine Hemden und Kniehosen zu waschen. Vielleicht hatte sie das getan, um jemanden zu haben, an dem sie ihre Launen auslassen konnte, die sie ansonsten unterdrücken mußte. Was auch immer der Grund war - es bewirkte nicht wenig Gerede und bestätigte vielen ihre Seltsamkeit. Sie war immerhin eine Aes Sedai, wenn auch eine niedrigstehende. Seine Art, mit ihren Launen umzugehen - insbesondere wenn sie einmal Teller und Stiefel warf - erzürnte sie und provozierte die Androhung schrecklicher Konsequenzen. Aber da sie ihn hätte einwickeln können, bis er nicht einmal mehr den kleinen Finger hätte rühren können, berührte Siuan in seiner Nähe niemals Saidar, nicht um schwierige Aufgaben zu erledigen und nicht einmal, wenn er sie übers Knie legte. Diese Tatsache hielt sie vor den meisten verborgen, aber wenn sie zornig war, entschlüpfte ihr einiges. Es schien keine Erklärung zu geben. Siuan war nicht schwach im Geist und auch keine Närrin, sie war weder sanftmütig noch ängstlich, sie war nicht...

»Ihr könntet genausogut schon unterwegs sein, Siuan.« Einige Geheimnisse würden offensichtlich auch heute abend nicht enthüllt werden. »Es ist schon spät, und ich weiß, daß Ihr Euch zu Bett begeben wollt.«

»Ja, Mutter. Danke«, fügte sie hinzu, obwohl Egwene nicht wußte, wofür sie sich bedankte.

Nachdem Siuan gegangen war, rieb sich Egwene erneut die Schläfen. Sie brauchte Bewegung. Das Zelt bot hierfür jedoch keinen Raum. Es war zwar das größte Zelt im Lager, das nur von einer Person bewohnt wurde, aber das bedeutete immer noch weniger als zwei mal zwei Spannen. Und es war mit Bett, Sessel und Stuhl, Waschtisch und Standspiegel und nicht weniger als drei Kisten voller Kleider vollgestellt. Chesa und Sheriam und Romanda und Lelaine und ein Dutzend weitere Sitzende hatten für letztere gesorgt.

Sie kümmerten sich ständig darum. Einige wenige weitere Seidenschals oder Strümpfe als Geschenke, ein weiteres Gewand, das sie zum Empfang eines Königs tragen könnte - und es würde eine vierte Kiste nötig. Vielleicht hofften Sheriam und die Sitzenden, daß all die edlen Gewänder sie für andere Dinge blind machten, und Chesa wollte nur, daß der Amyrlin-Sitz der Stellung angemessen gekleidet war. Diener hielten anscheinend genauso starr an den richtigen Ritualen fest, wie der Saal es seit jeher tat. Bald würde Selame hier sein. Sie war an der Reihe, Egwene beim Auskleiden zu helfen - ein weiteres Ritual. Aber Egwene war noch nicht bereit, zu Bett zu gehen.

Sie ließ die Lampen brennen und eilte aus dem Zelt, bevor Selame eintraf. Es würde ihren Kopf befreien, wenn sie ein wenig spazierenging, und sie vielleicht auch ausreichend ermüden, daß sie fest schlafen konnte. Es wäre ein leichtes, sich in Schlaf zu versetzen - die Traumgänger der Weisen Frauen hatten ihr dies früh beigebracht -, aber Ruhe darin zu finden, war eine andere Sache. Besonders wenn ihr Geist vor Sorgen brodelte, die mit Romanda und Lelaine und Sheriam begannen und mit Rand, Elaida, Moghedien, dem Wetter und endlosem anderen noch nicht endeten.

Sie mied Moghediens Zelt. Wenn sie selbst Fragen stellte, würde einer davongelaufenen Dienerin zuviel Aufmerksamkeit zuteil. Verschwiegenheit war ihre zweite Natur geworden. Das Spiel, das sie spielte, ließ nur wenige Fehler zu, und sorglos zu sein, wenn man wußte, daß es nicht wichtig war, konnte dazu führen, auch sorglos zu sein, wenn es wichtig war. Schlimmer noch, man würde vielleicht feststellen, daß man sich in der Bewertung der Wichtigkeit geirrt hatte. Das Schwache muß vorsichtig kühn sein. Das war wieder ein Satz Siuans. Sie tat wirklich ihr Bestes, sie zu lehren, und sie kannte dieses besondere Spiel sehr genau.

In dem mondbeschatteten Lager hielten sich auch jetzt nicht mehr Menschen draußen auf als zuvor. Nur wenige kauerten müde um niedrige Feuer, erschöpft von ihren abendlichen Aufgaben nach einem anstrengenden Reisetag. Diejenigen, die sie sahen, erhoben sich mühsam, wenn sie vorüberging, um ihr Respekt zu zollen, murmelten: »Möge das Licht Euch bescheinen, Mutter« oder etwas Ähnliches und erbaten gelegentlich ihren Segen, den sie dann mit einem einfachen »Das Licht segne dich, mein Kind« gewährte. Männer und Frauen, die alt genug waren, ihre Großeltern zu sein, ließen sich nach dem erhaltenen Segen mit strahlenden Gesichtern erneut nieder, aber Egwene fragte sich, wie sie wirklich über sie dachten. Alle Aes Sedai präsentierten sich der Außenwelt, einschließlich ihrer eigenen Diener, als geschlossene Front. Aber Siuan war der Meinung, wenn man glaubte, ein Diener wisse zweimal soviel wie er sollte, kenne man nur die halbe Wahrheit.

Als Egwene eine offene Fläche überquerte, flammte der Silberblitz eines sich gerade öffnenden Wegetors in der Dunkelheit auf. Es war jedoch nicht wirklich Licht. Es warf keine Schatten. Sie hielt inne, um die Szenerie zu beobachten. Niemand derjenigen, die an den nächstgelegenen Feuern kauerten, blickte auch nur auf. Sie waren hieran inzwischen gewöhnt. Ein Dutzend oder mehr Schwestern, doppelt so viele Diener und eine Anzahl Behüter eilten aus dem Tor hervor; sie kehrten mit Nachrichten und Weidenkörben voller Tauben von den Taubenschlägen im gut fünfhundert Meilen südwestlich gelegenen Salidar zurück.

Sie zerstreuten sich bereits, bevor das Wegetor wieder geschlossen wurde, trugen ihre Lasten zu Sitzenden, zu ihren Ajahs oder in ihre Zelte. In den meisten Nächten wäre Siuan bei ihnen gewesen. Sie traute selten jemand anderem soweit, daß sie ihn bestimmte Nachrichten überbringen ließ, auch wenn diese meist verschlüsselt waren. Manchmal schien es auf der Welt mehr Augen-und-Ohren zu geben als Aes Sedai, obwohl die meisten durch die Umstände ziemlich eingeschränkt waren. Die Mehrheit der Spione für die verschiedenen Ajahs schienen sich bedeckt zu halten, bis sich die ›Schwierigkeiten‹ der Weißen Burg legen würden, und viele der Augen-und-Ohren der einzelnen Schwestern hatten keine Ahnung, wo sich die Frau, der sie dienten, im Moment aufhielt.

Mehrere der Behüter erkannten Egwene und verbeugten sich sorgfältig und mit der Stola angemessenem Respekt. Schwestern sahen sie vielleicht fragend an, aber der Saal hatte sie zur Amyrlin erhoben, und Gaidin brauchten nicht mehr. Auch einige Diener verbeugten sich oder vollführten Hofknickse. Aber keine der Aes Sedai, die sich von dem Wegetor entfernten, warf auch nur einen Blick in ihre Richtung. Vielleicht bemerkten sie sie nicht. Vielleicht.

Es war in gewisser Weise einem von Moghediens Talenten zu verdanken, daß überhaupt noch jemand von einem Teil seiner Augen-und-Ohren hörte. Die Schwestern, die die Macht besaßen, Wegetore zu eröffnen, konnten dies, weil sie schon ausreichend lange in Salidar waren. Jenen, die ein Wegetor in sinnvoller Größe weben konnten, war es möglich, fast überallhin Schnell zu Reisen und punktgenau anzukommen. Der Versuch, nach Salidar Schnell zu Reisen, hätte jedoch bedeutet, die Hälfte jeder Nacht damit zu verbringen, das jeweils neue Lager ausfindig zu machen. Egwene hatte von Moghedien eine Möglichkeit erfahren, von einem Ort, den man nicht gut kannte, zu einem Ort, den man gut kannte, zu reisen. Das Gleiten, das langsamer vonstatten ging als das Schnelle Reisen, war keines der verlorenen Talente - niemand hatte jemals davon gehört -, so daß sogar die Bezeichnung Egwene zugeschrieben wurde. Jedermann, der das Schnelle Reisen beherrschte, beherrschte auch das Gleiten, so daß jede Nacht Schwestern nach Salidar Glitten, die die Taubenschläge auf Vögel überprüften, die an den Ort ihrer Geburt zurückgekehrt waren, und dann zurück Reisten.

Der Anblick hätte sie erfreuen sollen - die aufrührerischen Aes Sedai hatten Talente errungen, die die Weiße Burg für immer verloren geglaubt hatte, und hatten auch noch neue Talente erlernt, und jene Fähigkeiten würden helfen, Elaida den Amyrlin-Sitz zu nehmen, bevor alles vorüber war -, aber anstatt sich zu freuen, empfand Egwene nur Bitterkeit. Es hatte nicht so sehr damit zu tun, brüskiert worden zu sein. Während sie weiterging, wurden die Feuer seltener und schwanden dann ganz. Alles um sie herum lag in den tiefen Schatten der Wagen, von denen die meisten über Eisenringe gespannte Planen aufwiesen, und die Zelte schimmerten fahl im Mondlicht. Jenseits zogen sich die Lagerfeuer des Heeres überall die umgebenden Hügel hinauf - auf den Boden gebrachte Sterne. Die aus Caemlyn spürbare Stille ließ ihren Magen sich verkrampfen, was auch immer alle anderen dachten.

Am selben Tag, an dem sie Salidar verließen, war eine Nachricht eingetroffen, obwohl Sheriam sich erst vor einigen Tagen die Mühe gemacht hatte, sie ihr zu zeigen, und auch dann nur mit wiederholten Ermahnungen, daß der Inhalt geheimbleiben müßte. Der Saal kannte ihn, aber niemand sonst sollte ihn erfahren. Noch mehr der zehntausend Geheimnisse, die das Lager überschwemmten. Egwene war davon überzeugt, daß sie die Nachricht niemals zu sehen bekommen hätte, wenn sie nicht ständig weiter von Rand gesprochen hätte. Sie konnte sich an jedes sorgfältig gewählte Wort erinnern, das in kleiner Schrift auf sehr dünnem Papier festgehalten war.

Wir sind in dem Gasthaus, von dem wir gesprochen haben, gut untergebracht, und wir haben uns mit dem

Tuchhändler getroffen. Er ist ein sehr bemerkenswerter junger Mann - genau, wie Nynaeve uns erzählt hat. Dennoch war er höflich. Ich glaube, er hat ein wenig Angst vor uns, was nur nützlich ist. Es wird gutgehen! Ihr habt vielleicht Gerüchte über Männer gehört, die sich hier aufhalten, einschließlich eines Burschen aus Saldaea. Ich fürchte, die Gerüchte sind alle nur zu wahr, aber wir sind bisher keinem von ihnen begegnet und werden dies nach Möglichkeit auch vermeiden. Wenn man zwei Hasen verfolgt, werden beide entkommen. Verin und Alanna sind hier, mit einer Anzahl junger Frauen aus der gleichen Gegend, aus der der Tuchhändler kommt. Ich werde versuchen, sie zur Ausbildung zu Euch zu schicken. Alanna hat eine gewisse Zuneigung zu dem Händler entwickelt, was sich als nützlich erweisen könnte, obwohl es auch besorgt macht. Aber alles wird gut werden, dessen bin ich gewiß.

Merana Sheriam betonte die ihrer Meinung nach guten Nachrichten. Merana, eine erfahrene Unterhändlerin, hatte Caemlyn erreicht und wurde von Rand, dem ›Tuchhändler‹ gut aufgenommen. Wundervolle Nachrichten - für Sheriam. Und Verin und Alanna würden Mädchen von den Zwei Flüssen als Novizinnen herbringen. Sheriam war überzeugt, daß sie dieselbe Straße entlangkommen müßten, die sie selbst bereisten. Sie schien zu glauben, Egwene müßte von der Vorstellung, Gesichter von Zuhause zu sehen, vollkommen begeistert sein. Merana würde alles regeln. Merana wußte, was sie tat.

»Das ist ein Eimer voller Pferdeschweiß«, murrte Egwene in die Nacht. Ein Bursche mit Zahnlücken, der einen großen Holzeimer trug, zuckte zusammen und starrte sie so verblüfft an, daß er sich zu verbeugen vergaß.

Rand... höflich? Sie hatte seine erste Begegnung mit Coiran Saeldain, Elaidas Abgesandter, erlebt. ›Anmaßend‹ traf es genauer. Warum sollte er sich Merana gegenüber anders verhalten? Merana dachte, er habe Angst, obwohl das gut war. Rand hatte selbst dann selten Angst, wenn er sie haben sollte, und wenn er sie jetzt hatte, sollte Merana daran denken, daß Angst selbst den sanftmütigsten Mann gefährlich machen konnte und daß Rand allein schon dadurch gefährlich war, daß er war, wer er war. Und was sollte es bedeuten, daß Alanna Zuneigung entwickelt hatte? Egwene traute Alanna nicht vollkommen. Die Frau tat manchmal äußerst seltsame Dinge, vielleicht unbedacht und vielleicht aus tieferliegenden Gründen. Egwene würde ihr durchaus zutrauen, einen Weg in Rands Bett zu finden. Er wäre in den Händen einer Frau wie ihr Wachs. Elayne würde Alanna den Hals brechen, wenn dem so war, aber das war noch das wenigste. Schlimmer war, daß keine der Tauben, die Merana mitgenommen hatte, in die Taubenschläge Salidars zurückkehrten.

Merana hätte eine Nachricht schicken sollen, und sei es nur, daß sie und die restliche Abordnung nach Cairhien gegangen waren. Die Weisen Frauen bestätigten in letzter Zeit kaum mehr, als daß Rand lebte, und doch war er anscheinend dort und blieb untätig, soweit sie unterrichtet wurde. Was eine Warnung hätte sein sollen. Sheriam sah es anders. Wer konnte wissen, warum irgendein Mann tat, was er tat? Wahrscheinlich meistens nicht einmal der Mann selbst, und wenn es um einen Mann ging, der die Macht lenken konnte... Das Schweigen bewies, daß alles in Ordnung war. Merana hätte sie über ernsthafte Schwierigkeiten sicherlich benachrichtigt. Sie mußte auf dem Weg nach Cairhien sein, wenn sie nicht bereits dort eingetroffen war, und es bestand keine Notwendigkeit, weitere Nachrichten zu schicken, bis sie Erfolg melden konnte. Demnach war Rands Aufenthalt in Cairhien schon ein gewisser Erfolg. Eines von Meranas Zielen, wenn nicht das wichtigste, war es gewesen, ihn aus Caemlyn fortzulocken, so daß Elayne sicher dorthin zurückkehren und den Löwenthron einnehmen könnte. So unglaublich es auch schien, behaupteten die Weisen Frauen, Coiren und ihre Abordnung hätten die Stadt auf dem Weg zurück nach Tar Valon verlassen. Oder vielleicht war es auch gar nicht so unglaublich. Alles ergab irgendwie einen Sinn, wenn man Rand bedachte und weiterhin bedachte, wie Aes Sedai Dinge angingen. Aber dennoch fühlte sich für Egwene alles ... falsch an.

»Ich muß zu ihm gehen«, murmelte sie. Eine Stunde, und sie könnte alles klären. Er war im Grunde immer noch Rand. »Nichts weiter. Ich muß zu ihm gehen.«

»Das ist nicht möglich, und Ihr wißt das.«

Hätte Egwene sich nicht so gut beherrscht, wäre sie zusammengeschreckt. So pochte ihr Herz aber selbst dann noch, als sie im Mondlicht Leane erkannt hatte. »Ich dachte, Ihr wärt...«, sagte sie, bevor sie sich zurückhalten konnte, und es gelang ihr nur knapp, nicht Moghediens Namen auszusprechen.

Die größere Frau paßte sich ihrem Schritt an und beobachtete aufmerksam andere Schwestern, während sie vorangingen. Leane konnte nicht Siuans Entschuldigung dafür vorbringen, Zeit mit ihr zu verbringen. Nicht daß es schaden sollte, zusammen gesehen zu werden, aber...

Sollte nicht‹ bedeutet nicht unbedingt wird nicht‹, rief sich Egwene in Erinnerung. Sie ließ die Stola von ihren Schultern gleiten, faltete sie zusammen und hielt sie in einer Hand. Wenn man aus der Ferne flüchtig hinsah, könnte Leane, trotz ihres Gewands, sehr wohl für eine Aufgenommene gehalten werden. Viele Aufgenommene besaßen zu wenige der mit Streifen versehenen weißen Gewänder, so daß sie nicht ständig eines tragen konnten. Auch Egwene mochte aus der Ferne für eine Aufgenommene gehalten werden. Das war kein allzu beruhigender Gedanke.

»Theodrin und Faolain haben in der Nähe von Marigans Zelt Fragen gestellt, Mutter. Sie waren nicht sehr angetan. Ich habe vorgegeben, verärgert zu sein, weil ich Nachrichten überbringen sollte. Theodrin mußte Faolain davon abhalten, mich deswegen zu schelten.« Leane lachte leise und kehlig. Sie amüsierte sich stets über Situationen, in denen Siuan die Zähne zusammenbeißen mußte. Sie wurde von den meisten Schwestern dafür gehätschelt, weil sie sich so gut angepaßt hatte.

»Gut, gut«, sagte Egwene abwesend. »Merana hat sich irgendwie falsch verhalten, Leane, sonst wäre er in Cairhien, und sie würde nicht schweigen.« In der Ferne bellte ein Hund den Mond an und dann weitere, bis sie von Rufen, die man, vielleicht zum Glück, nicht genau verstehen konnte, jäh zum Schweigen gebracht wurden. Einige Soldaten hatten Hunde bei sich. Im Lager der Aes Sedai gab es keine. Einige Katzen, aber keine Hunde.

»Merana weiß nicht, was sie tut, Mutter.« Es klang sehr nach einem Seufzen. Leane und Siuan und alle anderen außer ihr stimmten mit Sheriam überein. Jedermann außer ihr tat dies. »Wenn man jemandem eine Aufgabe überträgt, muß man sie ihm auch zutrauen.«

Egwene rümpfte die Nase und verschränkte die Arme. »Leane, dieser Mann könnte auch aus einem feuchten Tuch Funken schlagen, wenn es die Stola trüge. Ich kenne Merana nicht, aber ich habe noch niemals eine Aes Sedai erlebt, die als feuchtes Tuch geeignet wäre.«

»Ich bin einer oder zweien begegnet«, kicherte Leane. Dieses Mal seufzte sie eindeutig. »Aber es stimmt - Merana gehört nicht dazu. Glaubt er wirklich, er hätte in der Burg Freunde? Alviarin? Das macht es Merana vermutlich schwer, mit ihm zurechtzukommen, aber ich kann mir kaum vorstellen, daß Alviarin etwas tut, was sie ihren Platz kosten könnte. Sie hatte stets genug Ehrgeiz für drei.«

»Er sagt, er besitzt einen Brief von ihr.« Sie konnte noch immer vor sich sehen, wie Rand sich hämisch darüber gefreut hatte, vor ihrer Abreise aus Cairhien Briefe sowohl von Elaida als auch von Alviarin erhalten zu haben. »Vielleicht glaubt sie in ihrem Ehrgeiz, sie könnte Elaida mit ihm an ihrer Seite ersetzen. Das heißt, wenn sie diesen Brief wirklich geschrieben hat, wenn er wirklich existiert. Er hält sich für schlau, Leane - und vielleicht ist er es auch -, aber er glaubt, er brauche niemanden.« Rand würde weiterhin denken, er könnte alles allein regeln, bis ihn etwas vernichten würde. »Ich kenne ihn in- und auswendig, Leane. Der Umgang mit den Weisen Frauen scheint auf ihn abgefärbt zu haben oder vielleicht auch umgekehrt. Was auch immer die Sitzenden denken, was auch immer jemand von Euch denkt -eine Aes-Sedai-Stola beeindruckt ihn nicht mehr als die Weisen Frauen. Früher oder später wird er eine Schwester so weit erzürnen, bis sie etwas dagegen unternimmt, oder eine von ihnen wird ihn falsch angehen, ohne zu erkennen, wie stark er ist und in welcher Stimmung er sich gerade befindet. Danach gibt es vielleicht kein Zurück mehr. Ich bin die einzige, die ihn richtig zu nehmen weiß. Die einzige.«

»Er kann kaum so ... herausfordernd sein wie diese Aielfrauen«, murmelte Leane verbissen. Selbst ihr fiel es schwer, sich über ihre Erfahrungen mit den Weisen Frauen zu amüsieren. »Aber das ist kaum wichtig. ›Der Amyrlin-Sitz wird im Zusammenhang mit der Weißen Burg selbst beurteilt...««

Zwei Frauen tauchten zwischen den Zelten vor ihnen auf, die langsam vorwärtsgingen, während sie sich unterhielten. Durch die Entfernung und die Scharten waren ihre Gesichter undeutlich, und doch waren sie durch ihre Haltung eindeutig als Aes Sedai zu erkennen, zuversichtlich, daß ihnen nichts etwas anhaben konnte, was sich vielleicht in der Dunkelheit verbarg. Keine Aufgenommene konnte diesen Grad der Zuversicht auch nur annähernd erreichen. Nicht einmal eine Königin mit einem Heer hinter sich könnte dies. Die Frauen kamen auf Egwene und Leane zu. Leane tauchte schnell ins tiefere Halbdunkel zwischen zwei Wagen.

Egwene runzelte enttäuscht die Stirn und hätte sie fast wieder hervorgezogen, ging dann aber weiter. Sollte doch alles herauskommen. Sie würde vor den Saal treten und sagen, es sei an der Zeit zu erkennen, daß die Stola der Amyrlin mehr als nur ein hübsches Tuch sei. Sie würde... Aber dann folgte sie Leane und bedeutete ihr weiterzugehen. Sie würde nicht im Zorn alles wegwerfen.

Nur ein Burggesetz beschränkte die Macht des Amyrlin-Sitzes. Es gab zwar einige verwirrende Gebräuche und viele unbequeme Gegebenheiten, aber nur ein Gesetz, und doch hätte es ihren Zwecken nicht stärker im Weg stehen können. »Der Amyrlin-Sitz wird im Zusammenhang mit der Weißen Burg selbst beurteilt, im tiefsten Kern der Weißen Burg, und darf nicht ohne Grund gefährdet werden, weshalb der Amyrlin-Sitz, außer wenn sich die Weiße Burg laut Erklärung der Halle der Burg im Krieg befindet, den Konsens mit der Halle der Burg suchen soll, bevor sie wohlüberlegt eine Gefahr eingeht, und sie soll sich an diesen Konsens halten.« Welches unüberlegte Handeln einer Amyrlin dieses Gesetz bewirkt hatte, wußte Egwene nicht, aber es bestand schon seit etwas mehr als zweitausend Jahren. Für die meisten Aes Sedai umgab jedes so alte Gesetz eine Aura der Heiligkeit. Es war undenkbar, es zu ändern.

Romanda hatte es zitiert ... dieses verdammte Gesetz, als hätte sie einen Dummkopf belehren wollen. Wenn die Tochter-Erbin von Andor nicht näher als auf hundert Meilen an den Wiedergeborenen Drachen herankommen durfte - wieviel stärker mußten sie dann den Amyrlin-Sitz beschützen? Lelaine klang fast, als bedauere sie es, höchstwahrscheinlich, weil sie mit Romanda übereinstimmte. Das hatte fast beider Zungen gelähmt. Ohne sie - ohne sie beide -läge der Konsens außer Reichweite! Wenn sie also die Erlaubnis nicht bekäme ..

Leane räusperte sich. »Ihr könnt kaum etwas erreichen, wenn Ihr heimlich geht, Mutter, und der Saal wird es früher oder später herausfinden. Ich glaube, Ihr würdet danach kaum noch eine Stunde Zeit für Euch allein haben. Nicht daß sie es wagen würden, Euch bewachen zu lassen, aber es gibt andere Möglichkeiten. Ich kann Beispiele aus ... gewissen Quellen nennen.« Sie zitierte die verborgenen Aufzeichnungen nur dann, wenn sie sich hinter einem Schutz befanden.

»Bin ich so durchschaubar?« fragte Egwene kurz darauf. Nur Wagen waren hier um sie herum und jenseits der Wagen die dunklen Erhebungen schlafender Wagenführer und Pferdehändler und aller anderen, die nötig waren, um so viele Fahrzeuge mitzuführen. Es war bemerkenswert, wie viele Fahrzeuge über dreihundert Aes Sedai benötigten, wenn nur wenige sich herabließen, auch nur eine Meile weit in einem Wagen oder auf einem Karren zu reisen. Aber da waren Zelte und die Ausrüstung und Nahrungsmittel und tausend andere Dinge, die zum Unterhalt der Schwestern und ihrer Bediensteten nötig waren.

»Nein, Mutter«, antwortete Leane leise lachend. »Ich habe mir einfach überlegt, was ich tun würde. Aber es ist allgemein bekannt, daß ich meine Würde und meinen Verstand verloren habe. Der Amyrlin-Sitz kann mich kaum als Vorbild nehmen. Ich glaube, Ihr müßt den jungen Meister al'Thor nach seinem Gutdünken handeln lassen, zumindest für eine Weile, während Ihr Euch um das unmittelbar vor Euch Liegende kümmert.«

»Sein Gutdünken führt uns vielleicht alle zum Krater des Verderbens«, murrte Egwene, aber das war kein Argument. Es mußte eine Möglichkeit geben, sich um das unmittelbar vor ihr Liegende zu kümmern, und Rand dennoch davon abzuhalten, gefährliche Fehler zu begehen, aber sie konnte sie noch nicht erkennen. »Dies ist der schlechteste Platz für einen tröstlichen Spaziergang, den ich jemals gesehen habe. Ich denke, ich könnte genausogut zu Bett gehen.«

Leane neigte den Kopf. »In diesem Fall, Mutter, wenn Ihr verzeiht - in Lord Brynes Lager ist ein Mann... Wer hat schließlich schon einmal von einem Grünen ohne auch nur einen einzigen Behüter gehört?« Da sie plötzlich schneller sprach, hätte man glauben können, sie wollte zu einem Geliebten. Wenn Egwene bedachte, was sie über Grüne gehört hatte, bestand vielleicht gar kein solch großer Unterschied.

Bei den Zelten war inzwischen auch das letzte Feuer mit Erde erstickt worden. Niemand riskierte einen Flächenbrand, wenn das Land zundertrocken war. Einige wenige Rauchfäden stiegen im Mondlicht träge von Stellen auf, wo nicht genug Erde aufgehäuft worden war. In einem Zelt murmelte ein Mann im Schlaf etwas, und hier und dort drang ein Husten oder Schnarchen hervor, aber ansonsten lag das Lager still und ruhig da. Egwene war überrascht, als jemand aus den Schatten vor ihr heraustrat, besonders da es jemand mit dem einfachen weißen Gewand einer Novizin war.

»Mutter, ich muß mit Euch sprechen.«

»Nicola?« Egwene hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich Namen und Gesichter aller Novizinnen einzuprägen, was keine einfache Aufgabe war, wenn man bedachte, daß Schwestern die ganze Heerstraße entlang nach Mädchen und jungen Frauen suchten, die lernen konnten. Obwohl die aktive Suche schlecht angesehen war - der Brauch forderte, daß das Mädchen fragen mußte oder daß man wartete, bis sie zur Burg kam -, wurden im Lager jetzt zehnmal so viele Novizinnen ausgebildet, wie die Weiße Burg in Jahren aufgenommen hatte. Nicola war jedoch eine derjenigen, an die man sich erinnern mußte, auch weil Egwene häufig genug bemerkt hatte, daß die junge Frau sie ansah. »Tiana wäre nicht erfreut, wenn sie Euch so spät noch wach fände.« Tiana Noselle war die Herrin der Novizinnen und gleichermaßen für eine tröstliche Schulter, wenn eine Novizin Kummer hatte, wie für eine unnachgiebige Haltung bekannt wenn es um Regeln ging.

Die andere Frau regte sich, als wollte sie davoneilen, richtete sich aber dann gerade auf. Schweiß glänzte auf ihren Wangen. In der Dunkelheit war es kühler, als es am Tage gewesen war, aber niemand würde es als kühl bezeichnen, und der einfache Trick, Hitze oder Kälte zu ignorieren, wurde erst gelehrt, wenn man die Stola trug. »Ich weiß, daß ich zuerst Tiana Sedai hätte bitten sollen, Euch aufsuchen zu dürfen, Mutter, aber sie hätte niemals zugelassen, daß sich eine Novizin dem Amyrlin-Sitz nähert.«

»Worüber wollt Ihr mit mir sprechen, Kind?« fragte Egwene. Die Frau war mindestens sechs oder sieben Jahre älter als sie, aber dies war die angemessene Anrede für eine Novizin.

Nicola machte sich an ihrem Rock zu schaffen und trat dann näher. Große Augen begegneten Egwenes Blick vielleicht offener, als es bei einer Novizin hätte der Fall sein sollen. »Mutter, ich möchte so viel wie möglich lernen.« Sie zupfte an ihrem Gewand, aber ihre Stimme klang kühl und beherrscht und einer Aes Sedai angemessen. »Ich möchte nicht behaupten, sie hielten mich zurück, aber ich bin sicher, daß ich stärker werden kann, als sie sagen. Ich weiß einfach, daß ich es kann. Ihr wurdet niemals zurückgehalten, Mutter. Niemand hat jemals so schnell soviel Kraft erlangt wie Ihr. Ich möchte nur die gleiche Chance erhalten.«

Eine Bewegung in den Schatten hinter Nicola erwies sich als eine weitere Frau mit verschwitztem Gesicht, in einem Kurzmantel und weiter Hose und mit einem Bogen. Ihr Haar hing ihr, mit sechs Bändern zum Zopf geflochten, bis auf die Taille herab, und sie trug Stiefel mit hohen Absätzen.

Nicola Baumhügel und Areina Nermasiv bildeten ein merkwürdiges Freundespaar. Wie viele der älteren Novizinnen - es wurden jetzt auch Frauen geprüft, die fast zehn Jahre älter waren als Egwene, obwohl viele Schwestern murrten, sie seien zehn Jahre zu alt, um die Disziplin der Novizin zu erlernen -, wie viele jener älteren Frauen war Nicola, allen Berichten nach, begierig darauf zu lernen, und sie besaß ein Potential, das unter den lebenden Aes Sedai nur von dem Nynaeves, Elaynes und Egwenes selbst übertroffen wurde. Tatsächlich machte Nicola offensichtlich große Fortschritte, häufig in dem Umfang, daß ihre Lehrer sie zurückhalten mußten. Einige behaupteten, sie hätte begonnen, Gewebe aufzunehmen, als kenne sie sie bereits. Nicht nur das, sie zeigte bereits zwei Talente, obwohl die Fähigkeit, Ta'veren zu ›sehen‹ geringer war, während das Haupttalent, das Vorhersagen, sich auf eine Art zeigte, daß niemand verstand, was sie Vorhergesagt hatte. Sie selbst erinnerte sich im nachhinein an keines ihrer Worte. Alles in allem war Nicola von den Schwestern bereits als eine Novizin hervorgehoben worden, auf die man, trotz ihres späten Beginnens, achten müßte. Die umstrittene Übereinkunft, Frauen zu prüfen, die älter als siebzehn oder achtzehn Jahre waren, war wahrscheinlich Nicola zu verdanken.

Areina war jedoch eine Jägerin des Horns, die genauso prahlte wie ein Mann und herumsaß und von Abenteuern erzählte, die sie erlebt hatte und noch erleben würde, wenn sie nicht mit ihrem Bogen übte. Sie hatte diese Waffe wahrscheinlich von Birgitte übernommen, ebenso wie ihre Art, sich zu kleiden. Sie schien gewiß an kaum etwas anderem als dem Bogen Gefallen zu finden, außer gelegentlich auf recht kühne Art zu schäkern, wenn auch nicht mehr in letzter Zeit. Vielleicht machten die langen Tage unterwegs sie zu müde dafür, wenn auch nicht fürs Bogenschießen. Egwene konnte nicht verstehen, warum sie noch immer mit ihnen reiste. Es war kaum wahrscheinlich, daß Areina glaubte, das Horn von Valere würde auf ihrer Marschroute auftauchen, und sie konnte unmöglich auch nur vermuten, daß es in der Weißen Burg versteckt war. Sehr wenige Menschen wußten das. Egwene war sich nicht einmal sicher, daß Elaida es wußte.

Areina trat wie eine Närrin auf, aber für Nicola empfand Egwene eine gewisse Zuneigung. Sie verstand die Unzufriedenheit der Frau, verstand, daß sie alles sofort lernen wollte. Sie war genauso gewesen. Und vielleicht war sie noch immer so. »Nicola«, sagte sie freundlich, »wir unterliegen alle bestimmten Beschränkungen. Ich werde, um ein Beispiel zu nennen, niemals an Nynaeve Sedai heranreichen, was auch immer ich tue.«

»Aber wenn ich doch nur die Chance bekäme, Mutter.« Nicola rang tatsächlich flehend die Hände und auch ihre Stimme klang flehentlich, aber sie begegnete Egwenes Blick noch immer vollkommen offen. »Die Chance, die Ihr hattet.«

»Weil ich keine Wahl hatte - weil ich es nicht besser wußte - habe ich es erzwungen, Nicola, und das ist gefährlich.« Sie hatte diesen Begriff zum ersten Mal gehört, als Siuan sich dafür entschuldigte, etwas bei ihr erzwungen zu haben. Dies war eine der wenigen Gelegenheiten gewesen, bei denen Siuan wirklich reumütig gewirkt hatte. »Ihr wißt, daß Ihr, wenn Ihr mehr von Saidar lenkt, als Ihr könnt, riskiert, ausgebrannt zu werden, bevor Ihr jemals Eure volle Stärke erreicht. Ihr solltet Euch besser in Geduld üben. Die Schwestern werden Euch ohnehin erst etwas anderes sein lassen, wenn Ihr bereit dazu seid.«

»Wir sind auf demselben Flußboot nach Salidar gekommen wie Nynaeve und Elayne«, sagte Areina plötzlich. Ihr Blick war mehr als direkt - er war herausfordernd. »Und Birgitte.« Sie sprach den Namen aus irgendeinem Grund verbittert aus.

Nicola machte eine abwehrende Handbewegung. »Das ist unwichtig.« Aber sie klang seltsamerweise nicht, als meinte sie das ernst.

Egwene hoffte, daß ihr Gesicht nur halb so ausdruckslos blieb wie Nicolas und versuchte, ein plötzliches Unbehagen zu unterdrücken. ›Marigan‹ war auch auf diesem Boot nach Salidar gekommen. Eine Eule schrie, und sie erschauderte. Einige Menschen glaubten, daß der Schrei einer Eule im Mondlicht schlechte Nachrichten bedeutete. Sie war nicht abergläubisch, aber... »Was ist unwichtig?«

Die beiden Frauen wechselten Blicke, und Areina nickte.

»Ich ging vom Fluß zum Dorf.« Nicola sah Egwene, trotz ihres vermeintlichen Zögerns, gerade in die Augen. »Areina und ich hörten Thom Merrilin und Juilin Sandar miteinander sprechen. Der Gaukler und der Diebefänger. Juilin sagte, wenn Aes Sedai in dem Dorf wären - wir waren noch nicht sicher - und sie erführen, daß Nynaeve und Elayne vorgegeben hatten, Aes Sedai zu sein, wären wir alle gefährdet.«

»Der Gaukler sah uns und bedeutete Juilin zu schweigen«, warf Areina ein, während sie den Köcher an ihrer Taille betastete, »aber wir hatten es gehört.« Ihre Stimme war genauso hart wie ihr Blick.

»Ich weiß, daß sie jetzt beide Aes Sedai sind, Mutter, aber wären sie nicht noch immer in Schwierigkeiten, wenn jemand es herausfände? Ich meine - die Schwestern? Jeder, der vorgibt, eine Schwester zu sein, ist in Schwierigkeiten, wenn sie es herausfinden - auch noch Jahre später.« Nicolas Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber ihr Blick schien Egwenes plötzlich festhalten zu wollen. Sie beugte sich eifrig ein wenig vor. »Jedermann. Nicht wahr?«

Durch Egwenes Schweigen ermutigt, grinste Areina.

Ein bei Nacht unangenehmes Grinsen. »Ich hörte, Elayne und Nynaeve wurden aus der Burg geschickt, um irgendeine Aufgabe für Siuan Sanche zu erledigen, als sie noch Amyrlin war. Außerdem hörte ich, daß Ihr gleichzeitig von ihr fortgeschickt wurdet. Und in alle möglichen Schwierigkeiten gerietet, als Ihr zurückkamt.« Sie war eine Meisterin der Andeutungen. »Erinnert Ihr Euch, daß sie Aes Sedai zu sein vorgaben?«

Sie standen da und sahen sie an, Areina unverschämt auf ihrem Bogen lehnend und Nicola so erwartungsvoll, daß die Luft hätte knistern sollen.

»Siuan Sanche ist eine Aes Sedai«, sagte Egwene kalt. »Und Nynaeve al'Meara und Elayne Trakand ebenfalls. Ihr werdet ihnen den angemessenen Respekt erweisen. Für Euch sind sie Siuan Sedai, Nynaeve Sedai und Elayne Sedai.« Die beiden blinzelten überrascht. Egwenes Magen rebellierte vor Zorn. Nach allem, was sie heute nacht durchgemacht hatte, wurde sie noch von diesen beiden erpreßt...? Ihr fiel kein Wort ein, das hart genug gewesen wäre, dies zu beschreiben. Elayne wäre sicherlich eines eingefallen. Elayne hörte den Stallburschen und Wagenführern und anderen zu und merkte sich Worte, die sie gar nicht hören sollte. Egwene entfaltete ihre Stola und legte sie sich sorgfältig um die Schultern.

»Ich glaube, Ihr versteht nicht, Mutter«, sagte Nicola hastig, aber nicht ängstlich, sondern nur in dem Bemühen, ihre Ansicht zu verdeutlichen. »Ich war nur besorgt, daß jemand herausfinden könnte, daß Ihr...« Egwene ließ sie nicht weitersprechen.

»Oh, ich verstehe durchaus, Kind.« Die törichte Frau war ein Kind, wie alt sie auch sein mochte. Alle älteren Novizinnen machten Schwierigkeiten, üblicherweise dadurch, daß sie Aufgenommenen gegenüber, die sie lehren sollten, unverschämt auftraten, aber selbst die Dümmsten besaßen genug Verstand, Unverschämtheit den Schwestern gegenüber zu vermeiden. Es verwandelte ihre Wut in glühenden Zorn, daß diese Frau die Frechheit besaß, es bei ihr weiterhin zu versuchen. Beide waren größer als Egwene, wenn auch nicht wesentlich, aber sie stemmte die Fäuste in die Hüften und machte sich gerade, und sie wichen zurück, als rage sie tatsächlich über ihnen auf. »Habt Ihr überhaupt eine Vorstellung davon, wie ernst es ist, eine Schwester zu beschuldigen, besonders wenn eine Novizin dies tut? Beschuldigungen, die Ihr angeblich von zwei Männern gehört habt, die jetzt tausend Meilen weit entfernt sind. Tiana würde Euch bei lebendigem Leibe die Haut abziehen und Euch Euer restliches Leben lang Töpfe schrubben lassen, wenn sie es erführe.« Nicola versuchte weiterhin, etwas einzuwenden - es klang jetzt nach Entschuldigungen und weiteren Einwänden, die Egwene nicht verstand, hastige Versuche, alles zu ändern -, aber Egwene ignorierte sie und wandte sich an Areina. Die Jägerin trat einen weiteren Schritt zurück, benetzte ihre Lippen und wirkte bemerkenswert unsicher. »Ihr müßt nicht glauben, daß Ihr ungeschoren davonkommt. Selbst eine Jägerin könnte für ein solches Vergehen vor Tiana gezerrt werden - wenn Ihr das Glück habt, nicht an einem Wagenrad ausgepeitscht zu werden, wie sie es mit Soldaten machen, die beim Stehlen erwischt werden. Wie auch immer - ihr würdet mit Striemen bedeckt ausgestoßen werden.«

Egwene atmete tief durch und faltete ihre Hände über der Taille. Wenn sie sie zusammenpreßte, würden sie nicht zittern. Die beiden wirkten zwar nicht eingeschüchtert, aber doch angemessen gerügt. Sie hoffte, daß ihre niedergeschlagenen Augen, eingesunkenen Schultern und unruhigen Füße nicht vorgetäuscht waren. Rein rechtlich sollte sie die beiden sofort zu Tiana schicken. Sie hatte keine Ahnung, welche Strafe auf den Versuch stand, den Amyrlin-Sitz zu erpressen, aber es schien wahrscheinlich, daß der Ausschluß aus dem Lager die geringste Strafe wäre. Obwohl in Nicolas Fall damit gewartet werden müßte, bis ihre Lehrer der Meinung waren, sie könne die Macht ausreichend gut lenken, um sich selbst oder andere nicht versehentlich zu verletzen. Nicola Baumhügel würde jedoch niemals eine Aes Sedai werden, wenn diese Beschuldigung gegen sie erhoben wurde. All dieses Potential wäre vergeudet.

Es sei denn... Jede Frau, die bei der Lüge ertappt wurde, eine Aes Sedai zu sein, wurde so hart bestraft, daß sie noch Jahre später wimmerte, und eine Aufgenommene, die dabei ertappt wurde, mochte die andere sehr wohl als glücklich ansehen, aber Nynaeve und Elayne waren jetzt, da sie wirkliche Schwestern waren, sicher. Und sie selbst auch. Aber vielleicht war nur ein Hauch eines Gerüchts hierüber nötig, um jede Chance zunichte zu machen, daß der Saal sie wahrhaft als Amyrlin-Sitz anerkannte. Oder die Chance, zu Rand zu gehen und es dem Saal dann offen einzugestehen. Sie wagte es nicht, die beiden Novizinnen merken oder auch nur vermuten zu lassen, daß sie zweifelte.

»Ich werde dies vergessen«, sagte sie scharf. »Aber wenn ich noch einmal von irgend jemandem auch nur andeutungsweise etwas darüber höre...« Sie atmete unstet ein - wenn sie konkret davon hörte, würde sie kaum noch etwas tun können -, aber ihrer Reaktion nach hörten sie eine Drohung heraus, die sie tief traf. »Und nun geht zu Bett, bevor ich meine Meinung wieder ändere.«

Sie knicksten sofort und flüsterten »Ja, Mutter« und »Nein, Mutter« und »Wie Ihr befehlt, Mutter«. Sie eilten davon, während sie über die Schulter zu ihr zurückblickten und immer schneller wurden, bis sie schließlich tatsächlich liefen. Egwene zwang sich dazu, ruhig weiterzugehen, aber sie wäre am liebsten auch gelaufen.

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