2 Der Schlachthof

Perrin vermied es, zu der Stelle unten am Hang hinzusehen, zu der er reiten würde - zu der er heute morgen mit Rand hätte reiten sollen. Statt dessen hielt er vor den Wagen inne und ließ seinen Blick überall sonst hin schweifen, obwohl ihm alles, was er sah, Übelkeit verursachte. Ihm war, als würde sein Magen mit einem Hammer bearbeitet.

Hammerschlag. Neunzehn frische Gräber auf einem niedrigen Hügel im Osten, neunzehn Männer von den Zwei Flüssen, die die Heimat niemals Wiedersehen würden. Nur selten mußte ein Hufschmied Menschen wegen seiner Entscheidung sterben sehen. Zumindest hatten die Männer seinen Befehlen gehorcht, sonst wären es noch mehr Gräber gewesen. Hammerschlag. Rechtecke frisch aufgeworfener Erde auch auf dem gegenüberliegenden Hügel - annähernd hundert Mayener und noch mehr Cairhiener, die zu den Quellen Dumais gekommen waren, um zu sterben. Ungeachtet der Umstände, waren sie Perrin Aybara gefolgt.

Hammerschlag. Die Vorderseite des Hügels schien nur aus Gräbern zu bestehen, vielleicht tausend oder mehr. Eintausend Aiel, die aufrecht stehend verbrannt waren. Eintausend. Einige waren Töchter des Speers gewesen. Beim Gedanken an die Männer verkrampfte sich sein Magen. Der Gedanke an die Frauen erweckte in ihm das Gefühl, sich hinsetzen und weinen zu wollen. Er versuchte sich einzureden, daß sie es alle erwählt hatten, hier zu sein, daß sie hatten hier sein müssen. Beides stimmte, aber er hatte die Befehle gegeben, und dadurch trug er die Verantwortung für jene Gräber. Nicht Rand, nicht die Aes Sedai - er.

Die überlebenden Aiel hatten ihre Todesgesänge erst vor kurzem beendet, spukhafte Gesänge, auszugsweise gesungen, die im Geist verweilten.

Das Leben ist ein Traum, der keine Schatten kennt.

Das Leben ist ein Traum aus Schmerz und Weh.

Ein Traum, aus dem zu erwachen wir beten.

Ein Traum, aus dem wir erwachen und fortgehen.

Wer würde schlafen, wenn die neue Dämmerung wartet?

Wer würde schlafen, wenn die linden Winde wehen?

Ein Traum muß enden, wenn der neue Tag erwacht.

Dieser Traum, aus dem wir aufwachen und fortgehen.

Sie schienen in jenen Gesängen Trost zu finden. Perrin wünschte, er könnte das auch, aber die Aiel kümmerte es, soweit er erkennen konnte, wirklich nicht, ob sie lebten oder starben, und das war verrückt. Jeder vernünftige Mensch wollte leben. Jeder vernünftige Mensch würde so weit und so schnell wie möglich vor einer Schlacht davonlaufen.

Traber warf den Kopf hoch, die Nüstern weiteten sich aufgrund der von unten heranwehenden Gerüche, und Perrin tätschelte dem Hengst den Hals. Aram grinste, während er betrachtete, was Perrin zu vermeiden versuchte. Loials Gesicht war ausdruckslos, als wäre es aus Holz geschnitzt. Er bewegte leicht die Lippen, und Perrin glaubte zu hören: »Licht, laß mich so etwas nie wieder sehen.« Er atmete tief ein und zwang sich dann, ebenfalls hinzusehen - zu den Quellen von Dumai.

Es war in gewisser Weise nicht so schlimm wie der Anblick der Gräber - er hatte einige jener Menschen seit seiner Kinderzeit gekannt -, aber das alles traf ihn dennoch mit einer Wucht, als hätte der Geruch in seiner Nase Gestalt angenommen und ihn überwältigt. Die Erinnerungen, die er vergessen wollte, drängten wieder herauf. Die Quellen von Dumai waren ein Ort des Tötens geworden, ein Ort des Sterbens, aber jetzt war es noch schlimmer. Weniger als eine Meile entfernt standen die verkohlten Überreste der Wagen um ein Unterholz verteilt, das die niedrigen Mauerkrönungen der Brunnen fast verbarg. Und rings herum...

Ein brodelndes Meer von Schwarz: Geier, Raben und Krähen zu Zehntausenden, die in Wogen aufwirbelten und sich wieder niederließen. Die Asha'man hatten grausame Methoden. Sie vernichteten Menschen und Natur mit gleicher Unparteilichkeit. Zu viele Shaido waren gestorben, als daß man sie alle am ersten Tag hätte begraben können, aber es hatte sich niemand die Mühe gemacht, überhaupt welche zu begraben, so daß die Geier und Raben und Krähen sie jetzt verschlangen. Auch die toten Wölfe lagen dort unten. Perrin hatte sie begraben wollen, aber das widersprach der Art der Wölfe. Drei tote Aes Sedai waren gefunden worden, deren Fähigkeit, die Macht zu lenken, sie im Wahnsinn des Kampfes nicht vor Speeren und Pfeilen hatte retten können, und auch ein halbes Dutzend tote Behüter. Sie waren auf der Lichtung in der Nähe der Brunnen verbrannt.

Die Vögel waren nicht allein mit den Toten. Beileibe nicht. Schwarz gefederte Wogen stiegen um Lord Dobraine Taborwin und über zweihundert seiner berittenen cairhienischen Waffenträger sowie Lord Havien Nurelle mit den außer den Wächtern der Behüter verbliebenen Mayenern auf. Der Con mit zwei weißen Diamanten auf Blau kennzeichnete alle cairhienischen Offiziere außer Dobraine selbst. Die roten Rüstungen und mit roten Wimpeln versehenen Lanzen hatten sich inmitten des Gemetzels tapfer gehalten, aber Dobraine war nicht der einzige, der sich jetzt ein Tuch vor die Nase hielt. Hier und da lehnte sich ein Mann aus dem Sattel und versuchte, einen Magen zu entleeren, der schon vorher entleert worden war. Mazrim Taim, der fast so groß war wie Rand, war in seinem schwarzen Umhang mit den blaugoldenen, sich die Ärmel hinaufziehenden Drachen zu Fuß, wie auch ungefähr einhundert Asha'man. Einige von ihnen entleerten ebenfalls ihre Mägen. Da waren Dutzende Töchter des Speers, mehr

Siswai'aman als Cairhiener und Mayener und Asha'man zusammen und noch dazu mehrere Dutzend Weise Frauen. Alle vermutlich für den Fall, daß die Shaido zurückkehrten, oder vielleicht auch für den Fall, daß einige der Toten sich nur verstellten, obwohl Perrin glaubte, daß jedermann, der hier eine Leiche zu sein vorgab, bald verrückt werden müßte. Alle scharten sich um Rand.

Perrin hätte dort unten bei den Leuten von den Zwei Flüssen sein sollen. Rand hatte um sie gebeten, hatte davon gesprochen, Männern aus der Heimat trauen zu können, aber Perrin hatte nichts versprochen. Er wird sich mit mir begnügen müssen, wenn auch verspätet, dachte er. Bald, wenn es ihm gelang, sich in den Schlachthof dort unten zu begeben, obwohl Schlachtermesser keine Menschen niedermähten und genauer waren als Streitäxte und Geier.

Die schwarz gewandeten Asha'man verschwanden im Meer der Vögel, Tod von Tod verschlungen, und aufsteigende Raben und Krähen verbargen weitere. Nur Rand hob sich in dem zerrissenen weißen Hemd ab, das er getragen hatte, als die Rettung nahte. Wenn er zu jener Zeit vielleicht auch kaum Rettung gebraucht hätte. Beim Anblick Mins, in einem hellroten Umhang und gut sitzender Hose, verzog Perrin das Gesicht. Dies war kein Ort für sie oder sonst jemanden, aber sie blieb Rand seit seiner Rettung sogar noch näher, als Taim es tat. Rand hätte es irgendwie geschafft, sowohl sich selbst als auch sie einige Zeit vor Perrins Durchbruch oder dem der Asha'man zu befreien, und Perrin vermutete, daß Min Rands Gegenwart als die einzige wahre Sicherheit ansah.

Während Rand über den verkohlten Boden schritt, tätschelte er bisweilen Mins Arm oder beugte den Kopf, als spreche er mit ihr, aber ihr galt nicht seine eigentliche Aufmerksamkeit. Dunkle Vogelwolken bauschten sich um sie herum. Die kleineren Vögel schossen davon, um woanders zu fressen, während die Geier nur widerwillig wichen, die kahlen Hälse reckten und trotzig kreischten. Rand blieb hin und wieder stehen und beugte sich über einen Leichnam. Manchmal schoß Feuer aus seinen Händen und wehrte einen Geier ab, der nicht weichen wollte. Jedesmal stritten entweder Nandera, welche die Töchter des Speers anführte, oder Sulin, ihre Stellvertreterin, mit ihm. Manchmal übernahmen dies auch Weise Frauen, wie aus der Art zu ersehen war, wie sie am Umhang eines Leichnams zogen, als wollten sie etwas verdeutlichen. Rand nickte und ging weiter, jedoch nicht ohne zurückzublicken und auch erst dann, wenn ein anderer Leichnam seine Aufmerksamkeit erregte.

»Was tut er?« fragte eine überhebliche Stimme an Perrins Knie. Er erkannte die Frau am Geruch, noch bevor er hinabblickte. Kiruna Nachiman, die Schwester König Paitars von Arafel und eine mächtige, unabhängige Adlige, wirkte in ihrem grünen, seidenen Reitgewand und dem dünnen Leinenstaubmantel statuenhaft und vornehm, und daß sie eine Aes Sedai geworden war, hatte ihre Haltung nicht verändert. Von dem Anblick gefangen, der sich ihm bot, hatte er sie nicht kommen hören. »Warum ist er dort unten in diesem Chaos? Das sollte nicht sein.«

Nicht alle Aes Sedai im Lager waren Gefangene, obwohl sich jene, die es nicht waren, seit gestern abseits hielten, nur untereinander sprachen, wie Perrin vermutete, und herauszufinden versuchten, was in den letzten Stunden geschehen war. Vielleicht versuchten sie auch einen Ausweg zu finden. Jetzt hatten sie ihre Kräfte versammelt. Bera Harkin, eine weitere Grüne, stand neben Kiruna. Bera Harkin wirkte trotz ihres alterslosen Gesichts und ihrer edlen Tuchkleidung wie eine Bauersfrau, die aber auf ihre Art genauso stolz wirkte wie Kiruna. Diese Bauersfrau konnte einem König befehlen, seine Stiefel zu säubern, bevor er ihr Haus betrat, und auch darauf bestehen. Sie und Kiruna führten die Schwestern gemeinsam an, die mit Perrin zu den Brunnen von Dumai gekommen waren, oder vielleicht wechselten sie sich auch in der Führung ab. Es war nicht ganz eindeutig, was bei Aes Sedai nicht ungewöhnlich war.

Die anderen sieben Frauen standen nicht weit entfernt in einer Gruppe zusammen. Stolze Löwinnen, die durch ihre geschäftig wirkende Haltung nicht verzagt aussahen. Ihre Behüter standen hinter ihnen aufgereiht, aber während die Schwestern äußerlich vollkommen heiter wirkten, machten die Behüter keinen Hehl aus ihren düsteren Empfindungen. Es waren grundverschiedene Männer, einige in jenen die Farbe verändernden Umhängen, die sie teilweise unsichtbar erscheinen ließen.

Perrin kannte zwei der Frauen gut: Verin Mathwin und Alanna Mosvani. Verin war klein und gedrungen und manchmal verwirrend mütterlich, wenn sie einen nicht gerade betrachtete wie ein Vogel einen Wurm. Sie gehörte der Braunen Ajah an. Alanna, schlank und auf düstere Art hübsch, wenn auch in letzter Zeit aus irgendeinem Grund ein wenig abgezehrt um die Augen, war eine Grüne. Insgesamt waren fünf der neun Frauen Grüne. Verin hatte ihm vor einiger Zeit geraten, Alanna nicht allzu weit zu trauen, und er nahm ihre Worte überaus ernst. Er traute auch keiner der anderen, einschließlich Verin. Rand tat dies ebenfalls nicht, trotz des Umstands, daß sie gestern auf seiner Seite gekämpft hatten, und trotz allem, was am Ende geschehen war. Auch Perrin war sich noch immer nicht sicher, das Geschehene glauben zu können, obwohl er deren Zeuge gewesen war.

Ein gutes Dutzend Asha'man lungerten an einem Wagen ungefähr zwanzig Schritte von den Schwestern entfernt herum. Heute morgen befehligte sie ein eingebildeter Bursche namens Charl Gedwyn, ein Mann mit hartem Gesicht. Sie alle trugen eine Anstecknadel in Form eines silbernen Schwertes an einer Seite ihrer hohen Kragen, und außer Gedwyn trugen noch vier oder fünf andere Männer einen Drachen in goldrotem Emaille an der anderen Seite. Perrin vermutete, daß dies irgendwie mit ihrem Rang zu tun hatte. Er hatte beide Anstecknadeln auch an einigen anderen Asha'man bemerkt. Sie waren nicht im eigentlichen Sinne Wächter, aber sie hielten sich stets dort auf, wo immer Kiruna und die übrigen sich aufhielten. Sie standen einfach ruhig da und hielten ein wachsames Auge auf alles. Nicht daß die Aes Sedai Notiz davon nahmen - nicht so, daß man es sehen konnte, aber die Schwestern rochen dennoch wachsam und verwirrt und zornig. Ein Teil dieser Empfindungen mußte den Asha'man zuzuschreiben sein.

»Nun?« Kirunas dunkle Augen blitzten ungeduldig auf. Perrin bezweifelte, daß viele Menschen sie warten ließen.

»Ich weiß es nicht«, log er und tätschelte erneut Trabers Hals. »Rand sagt mir nicht alles.«

Er begriff zwar ein wenig von alledem - zumindest glaubte er es -, aber er hatte nicht die Absicht, es jemandem zu erzählen. Das war Rands Aufgabe, wenn er es wollte. Perrin war davon überzeugt daß Rand ausschließlich die Leichname von Töchtern des Speers betrachtete, zweifellos Shaido-Tochter des Speers, aber er fragte sich, welchen Unterschied das für Rand machte. Gestern abend hatte Perrin sich von den Wagen entfernt, um allein zu sein, und als er das Lachen der überlebenden Männer hinter sich gelassen hatte, fand er Rand. Der Wiedergeborene Drache, der die Welt erzittern ließ, saß in der Dunkelheit allein auf dem Boden, die Arme um sich geschlungen, und wiegte sich vor und zurück.

Für Perrins Sehvermögen war Mondlicht fast genauso gut wie Sonnenlicht, aber in dem Moment wünschte er sich finstere Dunkelheit herbei. Rands Gesicht war schmerzverzerrt, das Gesicht eines Mannes, der schreien oder vielleicht weinen wollte, diesen Drang aber mit jeder Faser seines Seins bekämpfte. Welche List auch immer die Aes Sedai kannten, um von der Hitze nicht berührt zu werden - Rand und die Asha'man kannten sie ebenfalls, aber Rand benutzte sie jetzt nicht. Die Hitze der Nacht hatte einem überaus warmen Sommertag zur Ehre gereicht, und Schweiß lief genauso Rands wie Perrins Wangen hinab.

Rand sah sich nicht um, obwohl Perrins Stiefel in dem verdorrten Gras laut raschelten, aber er sprach heiser, wobei er sich noch immer wiegte. »Einhunderteinundfünfzig, Perrin. Einhunderteinundfünfzig Töchter des Speers sind heute gestorben. Für mich. Ich habe es ihnen versprochen, verstehst du. Streite nicht mit mir! Schweig! Geh weg!« Rand erschauderte trotz des Schweißes. »Nicht du, Perrin, nicht du. Ich muß mein Versprechen halten, verstehst du. Ich muß es tun, gleichgültig wie sehr es schmerzt. Aber ich muß auch mein Versprechen mir gegenüber halten. Gleichgültig wie sehr es schmerzt.«

Perrin wollte, nicht über das Schicksal der Menschen nachdenken, die die Macht lenken konnten. Die Glücklichen unter ihnen starben, bevor sie wahnsinnig wurden. Die Unglücklichen starben danach. Aber ob Rand zu den Glücklichen oder den Unglücklichen gehörte - alles lastete auf ihm. Alles. »Rand, ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber...«

Rand schien ihn nicht zu hören. Er wiegte sich vor und zurück, immer wieder. »Isan von der Jarra-Septime der Chareen Aiel. Sie ist heute für mich gestorben. Chuonde von den Miagoma vom Rückgrat der Welt. Sie ist heute für mich gestorben. Agirin von den Daryne...«

Er hätte nichts anderes zu tun vermocht, als sich hinzukauern und zuzuhören, wie Rand mit einer vor Schmerz fast brechenden Stimme alle einhunderteinundfünfzig Namen hersagte, und zu hoffen, daß er nicht wahnsinnig wurde.

Aber ob Rand noch geistig unversehrt war oder nicht - Perrin zweifelte nicht daran, daß jede Tochter des Speers, die gekommen war, um für ihn zu kämpfen und irgendwo dort unten gestorben war, zusammen mit den anderen anständig auf dem Hügel begraben würde.

Einhundertzweiundfünfzig Namen waren aufgelistet. Aber das ging Kiruna nichts an. Und auch Perrin nicht. Rand mußte sich seine geistige Gesundheit einfach so weit wie möglich bewahren. Licht, gebe, daß es so sei!

Und das Licht verbrenne mich dafür, daß ich diesen Gedanken so ungerührt hegen kann, dachte Perrin.

Er sah aus den Augenwinkeln, wie Kiruna die vollen Lippen einen Moment zusammenpreßte. Sie mochte den Umstand, nicht alles zu wissen, genauso wenig wie warten zu müssen. Sie wäre auf eindrucksvolle Art schön gewesen, wenn ihr Gesichtsausdruck nicht besagt hätte, daß sie es gewohnt war zu bekommen, was sie wollte. Sie war nicht unverschämt, sondern sich nur vollkommen sicher, daß richtig und angemessen war, was immer sie wollte, und daß es so sein mußte. »Wenn sich so viele Krähen und Raben an einer Stelle aufhalten, gibt es sicherlich Hunderte, wenn nicht Tausende darunter, die bereit sind, einem Myrddraal über ihre Beobachtungen zu berichten.« Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Verärgerung zu verbergen. Sie klang, als hätte Perrin jeden einzelnen Vogel selbst hierhergebracht. »In den Grenzlanden töten wir sie, wen wir sie sehen. Ihr habt Männer, und sie haben Bogen.«

Es war richtig - ein Rabe oder eine Krähe konnte durchaus ein Spion des Schattens sein, aber dennoch wallte Abscheu in ihm auf. Abscheu und Erschöpfung. »Wozu?« Bei so vielen Vögeln konnten die Leute von den Zwei Flüssen und die Aiel jeden verfügbaren Pfeil abschießen, und es würden immer noch Spione berichten können. Es war meist nicht festzustellen, ob der Vogel, den man getötet hatte, der Spion war, oder derjenige, der davonflog. »Ist nicht genug getötet worden? Und es wird nur zu bald weiteres Blutvergießen geben. Licht, Frau, selbst die Asha'man sind übersättigt!«

Viele der zuschauenden Schwestern wölbten die Augenbrauen. Niemand sprach so von den Aes Sedai, kein König und keine Königin. Bera sah ihn mit einem Blick an, der besagte, daß sie ihn aus dem Sattel zu schleudern und ihm Ohrfeigen zu verpassen erwog. Kiruna betrachtete noch immer das Schlachtfeld unter ihnen und glättete mit entschlossenem Gesichtsausdruck ihre Röcke. Loials Ohren zitterten. Er besaß einen tiefen, fast ängstlichen Respekt vor den Aes Sedai. Obwohl er fast zweimal so groß war wie die Schwestern, benahm er sich mitunter, als könnte eine von ihnen ihn zertreten, ohne es zu bemerken, wenn er ihr in die Quere käme.

Perrin ließ Kiruna keine Gelegenheit mehr zu sprechen. Reiche einer Aes Sedai den kleinen Finger, und sie wird deinen ganzen Arm ergreifen, es sei denn, sie hat beschlossen, noch mehr zu nehmen. »Ihr habt Euch von mir ferngehalten, aber ich habe Euch einiges zu sagen. Ihr habt gestern Befehle mißachtet. Wenn Ihr den Plan geändert habt«, fuhr er schnell fort, als sie den Mund Öffnete, »dann sagt es offen, wenn Ihr glaubt, daß es das besser macht.« Sie und die anderen acht Frauen waren angewiesen worden, bei den Weisen Frauen zu bleiben, im Hintergrund der Kampfhandlungen, bewacht von Männern von den Zwei Flüssen und Mayenern. Statt dessen waren sie mitten hineingetaucht, hatten sich dort aufgehalten, wo Männer einander mit Schwertern und Speeren zu Hackfleisch zerstückelten. »Ihr habt Havien Nurelle mit Euch genommen, und die Hälfte der Mayener sind deshalb gestorben. Ihr werdet nicht länger nach Eurem eigenen Willen handeln, ohne die geringsten Rücksichten zu nehmen. Ich werde keine Männer mehr sterben sehen, weil Ihr plötzlich einen besseren Weg zu erkennen glaubt. Habt Ihr mich verstanden?«

»Seid Ihr fertig, Bauernjunge?« Kirunas Stimme klang gefährlich ruhig. Das ihm zugewandte Gesicht hätte aus Eis gehauen sein können, und sie roch beleidigt. Obwohl sie auf dem Boden stand, gelang es ihr, den Eindruck zu erwecken, als blicke sie auf Perrin herab. Es war kein Trick der Aes Sedai. Er hatte diesen Blick auch schon bei Faile gesehen. Er vermutete, daß die meisten Frauen ihn beherrschten. »Ich werde Euch etwas sagen, was auch ein Mensch mit nur geringer Intelligenz eigentlich von selbst erkennen müßte. Bei den drei Eiden - keine Schwester darf die Eine Macht als Waffe benutzen, außer gegen Schattengezücht oder um ihr Leben oder das ihrer Behüter oder das einer anderen Schwester zu verteidigen. Wir hätten bleiben können, wo Ihr uns haben wolltet, und bis Tarmon Gai'don weiterhin nur beobachten können, ohne jemals etwas Wirksames zu tun, solange wir nicht selbst in Gefahr waren. Ich mag es nicht, meine Handlungsweise erklären zu müssen, Bauernjunge. Zwingt mich nie wieder dazu. Habt Ihr verstanden?«

Loials Ohren erschlafften, und sein starr geradeaus gerichteter Blick verdeutlichte, daß er sich irgendwo anders als hier zu sein wünschte, vielleicht sogar bei seiner Mutter, die ihn verheiraten wollte. Arams Mund stand offen, obwohl er stets vorzugeben versuchte, daß ihn Aes Sedai nicht beeindruckten. Jondyn und Tod stiegen ein wenig zu nachlässig von ihrem Wagenrad herab. Jondyn schlenderte davon, aber Tod lief, wobei er über die Schulter zurückblickte.

Kirunas Erklärung klang vernünftig. Es war wahrscheinlich die Wahrheit. Nein, bei einem weiteren der Drei Eide - es war die Wahrheit. Aber es gab Hintertüren. So als würde man nicht die ganze Wahrheit sagen oder um die Wahrheit herumreden. Die Schwestern hätten sich genausogut in Gefahr bringen können, um die Eine Macht als Waffe zu benutzen, aber Perrin hegte den Verdacht, daß sie geglaubt hatten, sie könnten Rand vor allen anderen erreichen. Was dann geschehen wäre, konnte man nur vermuten, aber seiner Ansicht nach war in ihren Plänen nichts von alledem vorgesehen gewesen, was tatsächlich geschehen war.

»Er kommt«, sagte Loial plötzlich. »Seht nur! Rand kommt.« Und dann fügte er im Flüsterton hinzu: »Sei vorsichtig, Perrin.« Es war für einen Ogier wahrhaftig ein Flüstern. Aram und Kiruna hatten es wahrscheinlich auch gehört und vielleicht noch Bare, aber sicherlich niemand sonst. »Sie haben dir nichts geschworen!« Seine Stimme nahm wieder die übliche dröhnende Lautstärke an. »Glaubt Ihr, er würde vielleicht mit mir darüber sprechen, was im Lager vor sich gegangen ist? Für mein Buch?« Er schrieb ein Buch über den Wiedergeborenen Drachen oder machte sich zumindest Notizen dafür. »Ich habe wirklich nicht viel gesehen, als der ... der Kampf begann.« Er hatte neben Perrin mitten im Kampfgetümmel gestanden und eine Streitaxt mit einem Heft geschwungen, das fast so lang wie er groß war. Es war schwierig, auf anderes zu achten, wenn man um sein Leben kämpfte. Aber wenn man Loial zuhörte, konnte man glauben, er würde sich stets von Gefahren fernhalten. »Glaubt Ihr, er würde es vielleicht tun, Kiruna Sedai?«

Kiruna und Bera wechselten Blicke und schwebten dann wortlos über den Boden zu den anderen. Loial sah ihnen nach und seufzte dann, was wie ein durch Höhlen fegender Wind klang.

»Du solltest wirklich aufpassen, Perrin«, flüsterte er. »Du sprichst immer so voreilig.« Jetzt klang er wie eine Hummel von der Größe einer Katze anstatt einer Bulldogge. Perrin glaubte, daß er vielleicht noch zu flüstern lernen würde, wenn sie genug Zeit in der Nähe von Aes Sedai verbrächten. Jetzt bedeutete er dem Ogier aber, still zu sein, damit er lauschen konnte. Die Schwestern begannen sich sofort zu unterhalten, aber kein Laut erreichte Perrins Ohren. Sie hatten eindeutig mit der Einen Macht eine Barriere errichtet.

Und eindeutig auch den Asha'man gegenüber. Sie waren plötzlich aufgesprungen und vollkommen auf die Schwestern konzentriert. Nichts besagte, daß sie Saidin, die männliche Hälfte der Wahren Quelle, ergriffen hatten, aber Perrin hätte Traber darauf verwettet. Und Gedwyns zornighöhnischem Grinsen nach zu urteilen, war er ebenfalls zum Einsatz bereit.

Welches Hindernis auch immer die Aes Sedai errichtet hatten - inzwischen hatten sie es wieder beseitigt. Sie falteten die Hände und blickten schweigend den Hügel hinab. Die Asha'man wechselten Blicke, und Gedwyn konnte sie mit einer Handbewegung anscheinend beruhigen. Er wirkte enttäuscht. Perrin wandte sich verärgert um und blickte über die Wagen hinweg.

Rand schritt mit Min am Arm den Hügel hinauf, tätschelte ihre Hand und sprach mit ihr. Einmal warf er den Kopf zurück und lachte, und sie tat es ihm gleich, während sie ihre dunklen Locken zurückstrich, die ihr bis auf die Schultern reichten. Man hätte Rand für einen Landmann halten können, der mit seinem Mädchen spazierenging. Nur hatte er sein Schwert umgebunden und ließ manchmal eine Hand das lange Heft entlanggleiten. Taim befand sich unmittelbar rechts neben ihm, und die Weisen Frauen folgten fast genauso dichtauf. Wie auch die Töchter des Speers und die Siswai'aman, Cairhiener und Mayener, die die Prozession vervollständigten.

Welche Erleichterung, daß er zumindest nicht auf dieses Schlachtfeld hinabzureiten hatte. Aber er mußte Rand wegen all der verwirrenden Feindseligkeiten warnen, die er heute morgen bemerkt hatte. Was würde er tun, wenn Rand nicht zuhörte? Rand hatte sich verändert, seit er die Zwei Flüsse verlassen hatte, und besonders, seit er von Coiren und den anderen entführt worden war. Nein. Er war gewiß bei gesundem Verstand.

Als Rand und Min den Wagenkreis betraten, blieb der größte Teil der Prozession draußen. Taim mit seiner dunklen Haut und der leicht hakenförmigen Nase, den die meisten Frauen, wie Perrin vermutete, wohl als gutaussehend beurteilten, beschützte Rand natürlich. Als Taim hereintrat, schaute er zu Gedwyn, der fast unmerklich den Kopf schüttelte. Ein Grinsen überzog Taims Gesicht, das aber genauso schnell wieder verschwand, wie es gekommen war.

Nandera und Sulin folgten Rand ebenfalls dichtauf, und Perrin wunderte sich, daß sie nicht noch zwanzig weitere Töchter des Speers mitgebracht hatten. Sie schienen Rand kaum auch nur baden zu lassen, ohne daß Töchter des Speers die Wanne bewachten, soweit Perrin es erkennen konnte. Er verstand nicht, warum Rand es duldete. Sie alle hatten ihre Shoufa um die Schultern drapiert, so daß kurzgeschnittenes Haar mit einem Pferdeschwanz am Hinterkopf zu sehen war. Nandera war eine kräftige Frau mit eher grauem als blondem Haar, aber ihre harten Gesichtszüge wirkten dennoch hübsch, wenn nicht sogar schön. Sulin -drahtig, vernarbt lederartig und weißhaarig - ließ Nandera beinahe anmutig und fast sanft wirken. Sie beobachteten die Asha'man ebenfalls, ohne indes den Anschein zu erwecken, und betrachteten dann beide Gruppen Aes Sedai genauso wohlüberlegt. Nandera benutzte die Zeichensprache der Töchter des Speers. Perrin wünschte sich nicht zum ersten Mal, er könnte sie verstehen, aber eine Tochter des Speers würde eher den Speer aufgeben, um einen Schwächling zu heiraten, als daß sie einen Mann ihre Zeichensprache lehrte. Eine Tochter des Speers, die Perrin noch nicht bemerkt hatte und die an einem Wagen wenige Schritte von Gedwyn entfernt auf den Fersen hockte, antwortete gleichermaßen, wie auch eine weitere, die bis zu diesem Moment in der Nähe der Gefangenen mit einer Speerschwester Fadenfingerspiele gespielt hatte.

Amys brachte die Weisen Frauen herein und führte sie beiseite, um sich mit Sorilea und einigen anderen zu beraten, die in den Wagen geblieben waren. Trotz ihres für ihr hüftlanges weißes Haar zu jungen Gesichts, war Amys eine beeindruckende Frau, nach Sorilea die Zweite der Weisen Frauen. Sie benutzte die Eine Macht nicht, um ungehört zu bleiben, aber sieben oder acht Töchter des Speers bildeten sofort einen Kreis um sie und begannen leise vor sich hin zu singen. Einige saßen, andere standen, einige hockten auf den Fersen, jede für sich und alle wie zufällig. Wenn man töricht genug war, es zu glauben.

Perrin hatte den Eindruck, daß er sehr häufig seufzte, seit er mit Aes Sedai und Weisen Frauen und auch Töchtern des Speers zu tun hatte. Frauen schienen ihn in letzter Zeit nur noch aufzuregen.

Dobraine und Havien, die ihre Pferde führten und ohne ihre Soldaten kamen, bildeten die Nachhut. Havien hatte endlich einen Kampf gesehen. Perrin fragte sich, ob er jetzt noch genauso erpicht auf den nächsten war. Er war ungefähr im gleichen Alter wie Perrin, wirkte aber heute nicht mehr so jung wie zuvor. Dobraine, der den vorderen Teil seines langen, überwiegend grauen Haars in der Art der cairhienischen Soldaten geschnitten hatte, war nicht mehr jung, und der gestrige Kampf war bestimmt nicht sein erster gewesen, aber die Wahrheit war, daß auch er jetzt noch älter und besorgter aussah. Ihre Blicke suchten Perrin.

Zu einem anderen Zeitpunkt hätte er abgewartet, um zu erfahren, worüber sie sprechen wollten, aber jetzt glitt er aus dem Sattel, übergab Aram die Zügel und trat zu Rand. Andere waren vor ihm. Nur Sulin und Nandera schwiegen.

Kiruna und Bera waren in dem Moment zurückgewichen, als Rand den Wagenkreis betrat, und als Perrin sich näherte, sagte Kiruna gerade bedeutungsschwer zu Rand: »Ihr habt gestern das Heilen verweigert, aber jedermann kann erkennen, daß Ihr noch immer Schmerzen habt, auch wenn Alanna nicht bereit war, aus ihrer...« Sie brach ab, als Bera ihren Arm berührte, fuhr aber dann fast ohne Pause fort. »Vielleicht seid Ihr jetzt bereit, geheilt zu werden?« Es klang wie: »Vielleicht seid Ihr inzwischen wieder zur Vernunft gekommen?«

»Die Angelegenheit der Aes Sedai muß unverzüglich geklärt werden, Car'a'carn«, sagte Amys unmittelbar nach Kiruna förmlich.

»Sie sollten unserer Obhut überlassen werden, Rand al'Thor«, fügte Sorilea in dem Augenblick hinzu, als auch Taim zu sprechen begann.

»Die Angelegenheit der Aes Sedai braucht nicht geklärt werden, mein Lord Drache. Meine Asha'man wissen, wie man mit ihnen umgehen muß. Sie könnten ohne weiteres in der Schwarzen Burg festgehalten werden.« Dunkle, leicht schrägstehende Augen zuckten zu Kiruna und Bera, und Perrin erkannte bestürzt, daß Taim alle Aes Sedai meinte und nicht nur jene, die Gefangene waren. Amys und Sorilea sahen Taim stirnrunzelnd an, aber die Blicke, die sie den beiden Aes Sedai zuwarfen, bedeuteten das gleiche.

Kiruna lächelte Taim und den Weisen Frauen zu, ein dünnes Lächeln, das zu ihren Lippen paßte. Es wurde vielleicht ein wenig härter, als sie den Mann in dem schwarzen Umhang ansah, aber sie schien seine Absicht noch nicht erkannt zu haben. Es genügte, daß er war, wer er war. Und was er war. »Unter den gegebenen Umständen«, sagte sie kühl, »werden mir Coiren Sedai und die anderen sicherlich ihr Ehrenwort geben. Ihr braucht Euch keine Sorgen mehr zu machen...«

Die anderen sprachen alle auf einmal.

»Diese Frauen haben keine Ehre«, sagte Amys verächtlich, und dieses Mal wurde deutlich, daß sie alle meinte. »Wie könnte ihr Ehrenwort etwas bedeuten? Sie... «

»Sie sind Da'tsang«, sagte Sorilea mit grimmiger Stimme, und Bera sah sie stirnrunzelnd an. Perrin hielt es für ein Wort aus der Alten Sprache - er hatte erneut das Gefühl, als sollte er sich beinahe daran erinnern können -, aber er wußte nicht, warum es die Aes Sedai zu fragenden Blicken veranlaßte. Oder warum Sulin den Weisen Frauen plötzlich zustimmend zunickte, die wie eine ins Tal rollende Felslawine fortfuhren. »Sie verdienen nichts Besseres als jeder andere... «

»Mein Lord Drache«, sagte Taim, als deute er auf das Offensichtliche hin, »Ihr wollt die Aes Sedai, sie alle, doch sicherlich in der Obhut jener wissen, denen Ihr vertraut, jener, die mit ihnen umgehen können, und wer könnte besser...«

»Das genügt!« schrie Rand.

Alle verfielen augenblicklich in Schweigen, verhielten sich aber sehr unterschiedlich. Taims Gesicht wurde ausdruckslos, obwohl er zornig roch. Amys und Sorilea wechselten Blicke und richteten im Gleichklang ihre Stolen. Sie rochen ebenfalls gleich und zeigten den gleichen entschlossenen Gesichtsausdruck. Sie wollten, was sie wollten, und beabsichtigten es zu bekommen, ob mit oder ohne den Car'a'carn. Auch Kiruna und Bera wechselten so vielsagende Blicke, daß Perrin wünschte, er könnte sie auf die gleiche Weise deuten, wie seine Nase Gerüche zu deuten vermochte. Er sah zwei gelassene Aes Sedai, die sich selbst und alles, was sie wollten, unter Kontrolle hatten. Aber seine Nase roch zwei Frauen, die beunruhigt und überaus ängstlich waren. Bei Taim war er sich sicher. Sie schienen noch immer zu glauben, sie könnten Rand und die Weisen Frauen auf die eine oder andere Weise lenken, aber Taim und die Asha'man erfüllten sie mit der Angst des Lichts.

Min zog an Rands Hemdsärmel - sie hatte alle Anwesenden blitzartig überprüft und roch genauso besorgt wie die Schwestern. Rand tätschelte ihre Hand, während er alle anderen, einschließlich Perrin, genau beobachtete. Jedermann im Lager schaute zu, von den Leuten von den Zwei Flüssen bis zu den gefangenen Aes Sedai, wenn auch nur wenige Aiel nahe genug standen, um etwas hören zu können. Die Leute beobachteten Rand vielleicht, aber sie achteten nach Möglichkeit auch darauf, ihm aus dem Weg zu gehen.

»Die Weisen Frauen werden sich um die Gefangenen kümmern«, sagte Rand schließlich, und Sorilea roch plötzlich so zufrieden, daß Perrin sich heftig die Nase rieb. Taim schüttelte verärgert den Kopf, aber Rand rügte ihn, noch bevor er etwas sagen konnte. Er hatte einen Daumen hinter den Verschluß seines Schwertgürtels gehakt - in Form eines vergoldeten Drachen -, und seine Knöchel traten unter dem festen Griff weiß hervor. Seine andere Hand lag auf dem Schwertheft. »Die Asha'man sollen ausbilden - und rekrutieren -, nicht wachen. Vor allem bei Aes Sedai nicht.« Perrins Nackenhaare richteten sich auf, als er den Duft erkannte, der von Rand heranschwebte, als er Taim ansah: Haß, durchdrungen von Angst. Licht, er mußte geistig gesund sein.

Taim nickte widerwillig. »Wie Ihr befehlt, mein Lord Drache.« Min betrachtete den schwarz gewandeten Mann unbehaglich und trat noch näher an Rand heran.

Kiruna roch erleichtert, aber mit einem letzten Blick auf Bera verlegte sie sich auf eigensinnige Bestimmtheit. »Diese Aiel-Frauen sind recht ehrenwert - einige hätten ihre Sache vielleicht gut gemacht, wenn sie zur Burg gelangt wären -, aber Ihr könnt ihnen die Aes Sedai nicht einfach übergeben. Das ist undenkbar! Bera Sedai und ich werden...«

Rand erhob eine Hand und erstickte ihre Worte. Vielleicht war es auch sein Blick oder der Anblick eines durch seinen zerrissenen Ärmel deutlich sichtbaren rotgoldenen Drachen, die sich um seine Unterarme wanden. Der Drache glänzte im Sonnenlicht. »Habt Ihr mir Treue geschworen?« Kirunas Augen traten hervor, als hätte sie etwas in die Magengrube getroffen.

Kurz darauf nickte sie, wenn auch sehr widerwillig. Sie wirkte jetzt genauso ungläubig wie am Tag zuvor, als sie sich am Ende der Schlacht dort unten am Brunnen niedergekniet und unter dem Licht und bei ihrer Hoffnung auf Seelenheil und Wiedergeburt geschworen hatte, dem Wiedergeborenen Drachen zu gehorchen und ihm zu dienen, bis die Letzte Schlacht begonnen und vergangen war. Perrin verstand ihre Bestürzung. Wenn sie es, selbst ohne die Drei Eide, geleugnet hätte, hätte er seinen eigenen Erinnerungen nicht mehr getraut. Neun Aes Sedai auf Knien, die Gesichter voller Entsetzen über die Worte, die aus ihrem Mund strömten, und die ungläubig rochen. Jetzt war Beras Mund zusammengepreßt, als hätte sie in eine schlechte Pflaume gebissen.

Ein Aielmann schloß sich der kleinen Gruppe an, ein Mann, der ungefähr genauso groß war wie Rand, mit wettergegerbtem Gesicht und Spuren von Grau in seinem dunkelroten Haar; er nickte Perrin zu und berührte leicht Amys' Hand. Vielleicht drückte sie seine Hand als Erwiderung kurz, denn Rhuarc war ihr Ehemann, aber mehr Zuneigung zeigten Aiel vor anderen nicht. Er war auch der Clanhäuptling der Tardaad Aiel - er und Gaul waren die einzigen beiden Männer, die das Siswai'aman-Stirnband nicht trugen -, und er und eintausend Speerträger hatten seit gestern abend verstärkt gekundschaftet.

Sogar ein blinder Mann in einem anderen Land hätte die Stimmung um Rand erspüren können, und Rhuarc war kein Narr. »Komme ich gelegen, Rand al'Thor?« Als Rand ihm zu sprechen bedeutete, fuhr er fort. »Die Shaido fliehen so schnell wie möglich nach Osten. Ich habe im Norden berittene Männer mit grünen Umhängen gesehen, aber sie gingen uns aus dem Weg, und Ihr sagtet, wir sollten sie ziehen lassen, es sei denn, sie bereiteten uns Ärger. Ich glaube, sie haben Aes Sedai verfolgt, die entkommen konnten. Es waren mehrere Frauen bei ihnen.« Kalte blaue Augen betrachteten die beiden Aes Sedai vollkommen ausdruckslos und hart. Früher hatte sich Rhuarc in Gegenwart von Aes Sedai ungezwungen bewegt -jeder Aiel hatte das getan -, aber das war spätestens seit gestern vorbei.

»Das sind gute Neuigkeiten. Ich würde fast alles darum geben, Galina zu ergreifen, aber es sind dennoch gute Nachrichten.« Rand berührte erneut sein Schwertheft und lockerte die Klinge in ihrer dunklen Scheide, ohne sich dieser Bewegung bewußt zu sein. Galina, eine Rote, hatte die Schwestern angeführt, die ihn gefangengehalten hatten, und auch wenn er sich heute nicht mehr über sie aufregte, war er gestern doch zornig gewesen, als sie entkommen war. Selbst jetzt wirkte seine Ruhe frostig. Es war die Art Ruhe, die schwelenden Zorn verbarg, und sein Geruch verursachte Perrin eine Gänsehaut. »Sie werden bezahlen. Jeder einzelne von ihnen.« Es wurde nicht deutlich, ob Rand die Shaido oder die entkommenen Aes Sedai oder beide meinte.

Bera wandte unbehaglich den Kopf, und er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf sie und Kiruna. »Ihr habt mir Treue geschworen, und darauf vertraue ich.« Er hob die Hand, Daumen und Zeigefinger fast zusammen, um zu verdeutlichen, wie weit er ihnen traute. »Aes Sedai wissen immer alles besser als andere, oder zumindest glauben sie es. Also vertraue ich darauf, daß Ihr tut, was ich sage, aber Ihr werdet ohne meine Erlaubnis nicht einmal ein Bad nehmen. Oder ohne die Erlaubnis einer Weisen Frau.«

Jetzt wirkte Bera, als wäre sie geschlagen worden. Ihre hellbraunen Augen glitten erstaunlich würdevoll zu Amys und Sorilea, und Kiruna zitterte vor Anstrengung, es ihr nicht gleichzutun. Die beiden Weisen Frauen richteten nur ihre Stolen, aber ihre Gerüche waren erneut gleich. Zufriedenheit strömte wellenförmig von ihnen aus, eine äußerst grimmige Zufriedenheit. Perrin war froh darüber, daß die Aes Sedai nicht seinen Geruchssinn besaßen, sonst wären sie auf der Stelle zum Kampf bereit gewesen. Oder vielleicht auch davonzulaufen und ihre Würde aufzugeben. Das hätte er getan.

Rhuarc stand da und betrachtete müßig die Spitze eines seiner Kurzspeere. Dies war eine Angelegenheit der Weisen Frauen, und er sagte stets, es kümmere ihn nicht, was die Weisen Frauen taten, solange sie ihre Finger aus den Angelegenheiten der Clanhäuptlinge heraushielten. Aber Taim... Er gab vor, sich nicht zu sorgen, kreuzte die Arme und sah sich mit gelangweiltem Gesichtsausdruck im Lager um, und doch roch er seltsam, schwierig. Perrin hätte behauptet, der Mann sei belustigt und entschieden besserer Stimmung als zuvor.

»Der Eid, den wir geleistet haben«, sagte Bera schließlich mit in die Hüften gestemmten Fäusten, »bindet jedermann außer einen Schattenfreund.« Nein, ihnen gefiel nicht, was sie geschworen hatten. »Wagt Ihr es, uns zu beschuldigen...?«

»Wenn ich das glaubte«, fuhr Rand sie an, »wärt Ihr bereits mit Taim auf dem Weg zur Schwarzen Burg. Ihr habt geschworen zu gehorchen. Nun, dann gehorcht!«

Bera zögerte einen langen Moment, wirkte aber wieder so hoheitsvoll, wie eine Aes Sedai nur sein konnte. Eine Aes Sedai konnte eine Königin auf ihrem Thron wie eine Schlampe aussehen lassen. Sie vollführte andeutungsweise einen Hofknicks und neigte steif den Kopf.

Kiruna wiederum bemühte sich sichtlich, sich zusammenzureißen, die Ruhe, die sie annahm, so hart und spröde wie ihre Stimme. »Müssen wir also diese würdigen Aiel um Erlaubnis bitten, Euch fragen zu dürfen, ob Ihr jetzt bereit seid, geheilt zu werden? Ich weiß, daß Galina Euch schlecht behandelt hat. Ich weiß, daß Ihr von Kopf bis Fuß mit Wunden übersät seid. Nehmt das Heilen an. Bitte.« Sogar dieses ›Bitte‹ klang wie ein Befehl.

Min regte sich neben Rand. »Du solltest genauso dankbar dafür sein, wie ich es war, Schafhirte. Du hast nicht gern Schmerzen. Jemand muß es tun, sonst...« Sie grinste schelmisch, fast wie die Min, an die Perrin sich von der Zeit her erinnerte, bevor sie entführt wurde. »...sonst wirst du nicht auf einem Sattel sitzen können.«

»Junge Männer und Narren«, sagte Nandera plötzlich zu niemandem im besonderen, »ertragen manchmal Schmerzen, die sie nicht ertragen müßten, um ihren Stolz zu zeigen. Und ihre Torheit.«

»Der Car'a'carn«, fügte Sulin trocken und ebenfalls an die Luft gewandt hinzu, »ist kein Narr. Das glaube ich jedenfalls.«

Rand erwiderte Mins Lächeln herzlich und sah dann Nandera und Sulin an, aber als er seinen Blick wieder zu Kiruna hob, wirkten seine Augen erneut steinhart. »Nun gut.« Als sie vortrat, fügte er hinzu: »Aber nicht Ihr sollt es tun.« Ihr Gesicht wurde so starr, daß es zu zerspringen drohte. Taim verzog den Mund zu einem Lächeln und trat auf Rand zu, aber Rand streckte hinter ihm plötzlich eine Hand aus. »Ihr sollt es tun. Kommt her, Alanna.«

Perrin zuckte zusammen. Rand hatte direkt auf Alanna gedeutet, ohne auch nur hinzusehen. Dadurch begann es in Perrins Nacken zu kribbeln, wenn er auch nicht wußte warum. Dieses Gefühl schien auch Taim ergriffen zu haben. Das Gesicht des Mannes wurde eine höfliche Maske, aber sein Blick flackerte zwischen Rand und Alanna hin und her, und die einzige Bezeichnung, die Perrin für den sich in seine Nase windenden Geruch einfiel, war ›verwirrt‹.

Auch Alanna zuckte zusammen. Aus welchem Grund auch immer, sie war schon gereizt, seit sie sich Perrin auf dem Weg hierher angeschlossen hatte. Ihre Heiterkeit war bestenfalls eine dünne Maske. Jetzt glättete sie ihre Röcke, warf einen trotzigen Blick zu Kiruna und Bera und stellte sich schließlich vor Rand. Die anderen beiden Schwestern beobachteten sie wie Lehrer, die sichergehen wollten, daß ein Schüler seine Sache gut machte, aber nicht davon überzeugt waren. All das ergab keinen Sinn. Vielleicht war eine von ihnen die Anführerin, aber Alanna war immerhin genauso eine Aes Sedai wie sie. Das erhärtete Perrins Verdacht noch. Sich mit Aes Sedai einzulassen, ähnelte zu sehr dem Waten in den Strömen des Wasserwaldes nahe dem Mire: Wie friedlich die Oberfläche auch schien - die unterschwelligen Strömungen konnten einen von den Füssen reißen. Hier schienen jeden Moment neue Unterströmungen aufzutauchen, und nicht nur von Seiten der Schwestern.

Ungehörigerweise umfaßte Rand Alannas Kinn und wandte ihr Gesicht zu sich. Bera sog zischend den Atem ein, und Perrin mußte ihr zum ersten Mal recht geben. Rand wäre nicht einmal bei einem Tanzfest zu Hause einem Mädchen gegenüber so forsch gewesen, und Alanna war kein Mädchen auf einem Tanzfest. Genauso überraschend war, daß sie errötete und unsicher roch. Aes Sedai erröteten nach Perrins Erfahrung nicht, und sie waren niemals unsicher.

»Heilt mich«, sagte Rand, und es klang wie ein Befehl, nicht wie eine Bitte. Alanna errötete noch stärker und roch jetzt auch ein wenig verärgert. Ihre Hände zitterten, als sie sie hob, um seinen Kopf zu umfassen.

Perrin rieb sich unbewußt die Handfläche, diejenige, die ein Shaidospeer gestern aufgerissen hatte. Kiruna hatte mehrere seiner Wunden Geheilt, und er war auch schon früher Geheilt worden. Es fühlte sich an, als würde man mit dem Kopf zuerst in einen gefrorenen Teich getaucht. Man keuchte und zitterte und bekam schwache Knie. Und man wurde für gewöhnlich hungrig. Rand zeigte jedoch nur durch ein leichtes Zittern an, daß etwas mit ihm geschah.

»Wie ertragt Ihr den Schmerz?« flüsterte Alanna ihm zu.

»Also ist es vorbei«, erwiderte er und nahm ihre Hände fort. Rand wandte sich ohne ein Wort des Dankes von ihr ab. Dann schien er noch etwas sagen zu wollen, hielt inne, wandte sich halbwegs um und schaute zu den Brunnen von Dumai zurück.

»Sie sind alle gefunden worden, Rand al'Thor«, sagte Amys sanft.

Er nickte und nickte dann noch einmal heftiger. »Es ist an der Zeit zu gehen. Sorilea, wollt Ihr die Weisen Frauen benennen, die die Gefangenen von den Asha'man übernehmen? Und auch Begleiter für Kiruna und ... meine anderen Gefolgsfrauen.« Er grinste flüchtig. »Ich will nicht, daß sie durch Unwissen auf Abwege geraten.«

»Alles wird Euren Wünschen gemäß geschehen, Car'a'carn.« Die Weise Frau mit dem lederartigen Gesicht richtete entschlossen ihre Stola und wandte sich dann an die drei Schwestern. »Schließt Euch zunächst Euren Freunden an.« Wie nicht anders zu erwarten, runzelte Bera die Stirn und Kiruna wurde der fleischgewordene Frost. Alanna schaute ergeben, fast schwermütig zu Boden. Sorilea tat nichts von alledem. Sie klatschte laut in die Hände und vollführte rasche, scheuchende Bewegungen. »Nun? Geht!

Geht!«

Die Aes Sedai ließen sich widerwillig davontreiben, vermittelten aber den Eindruck, als gingen sie nur hin, wo sie hingehen wollten. Amys schloß sich Sorilea an und flüsterte etwas, was Perrin nicht verstehen konnte. Die drei Aes Sedai hatten es aber offensichtlich verstanden. Sie blieben jäh stehen, und drei sehr bestürzte Gesichter blickten zu den Weisen Frauen zurück. Sorilea klatschte nur erneut in die Hände, noch lauter als zuvor, und scheuchte sie noch rascher voran.

Perrin kratzte sich den Bart, während er Rhuarcs Blick begegnete. Der Clanhäuptling lächelte versonnen und zuckte die Achseln. Es war eine Angelegenheit der Weisen Frauen. Das war für ihn in Ordnung. Aiel waren genauso schicksalsergeben wie Wölfe. Perrin schaute zu Gedwyn. Der Bursche beobachtete, wie Sorilea den Aes Sedai eine Lektion erteilte. Nein, er beobachtete die Schwestern wie ein Fuchs, der Hühner in einem Hühnerhof beobachtete, die sich gerade außerhalb seiner Reichweite befanden. Die Weisen Frauen müssen besser sein als die Asha'man, dachte Perrin. Sie müssen besser sein.

Wenn Rand das stumme Spiel bemerkt hatte, zeigte er es zumindest nicht. »Taim, Ihr bringt die Asha'man zur Schwarzen Burg zurück, sobald die Weisen Frauen die Gefangenen übernommen haben. Denkt daran, auf jeden Mann zu achten, der zu schnell lernt. Und erinnert Euch an meine Worte über das Anwerben.«

»Das könnte ich wohl kaum vergessen, mein Lord Drache«, erwiderte der schwarz gewandete Mann trocken. »Ich werde mich persönlich um diese Reise kümmern. Aber wenn ich das Thema noch einmal anschneiden dürfte... Ihr braucht eine angemessene Ehrengarde.«

»Das haben wir bereits besprochen«, sagte Rand kurz angebunden. »Ich weiß bessere Verwendungsmöglichkeiten für die Asha'man. Wenn ich eine Ehrengarde brauche, werden die Männer genügen, die ich bereits bei mir habe. Perrin, würdest du...?«

»Mein Lord Drache«, unterbrach Taim ihn, »Ihr braucht mehr als nur einige Asha'man in Eurer Nähe.«

Rand wandte sich Taim zu. Sein Gesichtsausdruck gab ebenso wenig preis wie die Mienen der Aes Sedai, aber sein Geruch erweckte in Perrin den Wunsch, die Ohren verschließen zu können. Rasiermesserscharfe Wut verwandelte sich plötzlich in schwache und versuchsweise Neugier und nebelhafte Vorsicht. Dann vereinnahmte heftiger, mörderischer Zorn jede Empfindung. Rand schüttelte nur ganz leicht den Kopf und roch jetzt kalt entschlossen. Niemandes Geruch änderte sich so schnell. Niemandes.

Taim konnte sich natürlich nur auf seine Augen verlassen, und sie hatten ihm lediglich gezeigt, daß Rand ganz leicht den Kopf geschüttelt hatte. »Denkt nach. Ihr habt vier Geweihte und vier Soldaten erwählt. Ihr hättet Asha'man erwählen sollen.« Perrin verstand das nicht. Er hatte geglaubt, sie seien alle Asha'man.

»Ihr meint, ich könnte sie nicht genauso gut lehren wie Ihr?« Rands Stimme klang sanft, das Flüstern einer in ihre Scheide gleitenden Klinge.

»Ich glaube, daß der Lord Drache zu beschäftigt ist zu lehren«, erwiderte Taim glatt, aber der zornige Geruch schwebte erneut von ihm heran. »Und zu wichtig. Nehmt die am besten ausgebildeten Männer. Ich kann die Fortgeschrittensten erwählen...«

»Einen«, unterbrach Rand ihn. »Und ich werde ihn selbst erwählen.« Taim lächelte und spreizte ergeben die Hände, aber der Geruch der Enttäuschung überwältigte fast den Zorn. Rand deutete erneut auf jemanden, ohne hinzusehen. »Er.« Dieses Mal schien er überrascht, als er feststellte, daß er direkt auf einen Mann mittleren Alters gedeutet hatte, der auf einem umgedrehten Faß auf der anderen Seite des Wagenkreises saß und der Versammlung um Rand keinerlei Beachtung schenkte. Statt dessen hatte der Mann die Ellbogen auf die Knie und das Kinn in die Hand gestützt und betrachtete stirnrunzelnd die gefangenen Aes Sedai. Schwert und Drache schimmerten am hohen Kragen seines schwarzen Umhangs. »Wie heißt er, Taim?«

»Dashiva«, sagte Taim zögernd, während er Rand forschend betrachtete. Er roch noch überraschter als Rand und auch verärgert. »Corlan Dashiva. Von einem Bauernhof in den Schwarzen Bergen.«

»Er wird genügen«, sagte Rand, aber er klang sich dessen selbst nicht sicher.

»Dashiva gewinnt schnell an Kraft, aber er schwebt oft mit dem Kopf in den Wolken. Und selbst wenn es nicht so ist, befindet er sich nicht immer vollkommen hier. Vielleicht ist er nur ein Tagträumer, aber vielleicht berührt auch der Makel Saidins bereits seinen Geist. Ihr solltet lieber Torval oder Rochaid erwählen oder...«

Taims Widerstand schien Rands Unsicherheit fortzuwischen. »Ich sagte, Dashiva wird genügen. Teilt ihm mit, daß er mit mir kommen soll, und dann übergebt die Gefangenen den Weisen Frauen und geht. Ich beabsichtige nicht, den ganzen Tag hier zu stehen und zu streiten. Perrin, bereite alle auf den Aufbruch vor. Und sag mir Bescheid, wenn sie fertig sind.« Damit schritt er ohne ein weiteres Wort davon, während sich Min an seinen Arm klammerte und Nandera und Sulin ihm wie Schatten folgten. Taims dunkle Augen glitzerten. Dann stolzierte auch er davon und rief nach Gedwyn und Rochaid, Torval und Kisman. Die schwarz gewandeten Männer liefen herbei.

Perrin verzog das Gesicht. Obwohl er Rand so vieles zu sagen hätte, hatte er den Mund nicht einmal aufgemacht. Vielleicht sollten es ihm besser die Aes Sedai und die Weisen Frauen sagen. Und Taim.

Es gab für ihn nicht viel zu tun. Er sollte die Aufsicht übernehmen, da er die Retter hierhergeführt hatte, aber Rhuarc wußte besser, was getan werden mußte, als er es jemals wissen würde, und ein Wort zu Dobraine und Havien genügte für die Cairhiener und Mayener. Ihnen brannte noch immer etwas auf der Seele, obwohl sie sich zurückhielten, bis sie allein waren und Perrin fragte, was los sei.

Da brach es aus Havien heraus. »Lord Perrin, es ist der Lord Drache. Dieses Abschreiten der Leichname...«

»Es schien ein wenig ... übertrieben«, unterbrach Dobraine ihn ruhig. »Wir sorgen uns um ihn, wie Ihr sicherlich verstehen werdet. Zu vieles hängt von ihm ab.« Er sah vielleicht aus wie ein Soldat, und er war ein Soldat, aber er war auch ein cairhienischer Herr, jedoch im Spiel der Häuser mit all seinen diplomatischen Reden genauso ungeübt wie jeder andere Cairhiener. »Er hat sich seine geistige Gesundheit noch immer bewahrt«, sagte Perrin geradeheraus. Dobraine nickte nur, als habe er das erwartet, und zuckte die Achseln, als habe er es niemals in Frage stellen wollen, aber Havien wurde tiefrot. Perrin beobachtete, wie sie zu ihren Männern zurückkehrten, und schüttelte den Kopf. Er hoffte, daß er nicht gelogen hatte.

Er versammelte die Männer von den Zwei Flüssen, befahl ihnen, ihre Pferde zu satteln, und ignorierte die fast überschwenglichen Verbeugungen. Sogar Faile sagte manchmal, daß die Leute von den Zwei Flüssen das Verbeugen übertrieben. Sie glaubte, sie versuchten noch herauszufinden, wie man sich einem Herrn gegenüber benimmt. Er erwog, ihnen zuzurufen: »Ich bin kein Herr.« Aber er hatte es schon früher versucht, und es hatte nichts bewirkt.

Während alle anderen zu ihren Pferden eilten, blieben Dannil Lewin und Ban al'Seen zurück. Sie waren Cousins, beide hager und einander sehr ähnlich, aber Dannil trug seinen Schnurrbart auf Taraboner Art wie Hörner nach unten gebogen, während Ban nach Arad-Doman-Art schmale Striche dunklen Haars unter seiner wie eine Breithacke geformten Nase trug.

Flüchtlinge hatten viel Neues in die Zwei Flüsse gebracht.

»Diese Asha'man kommen mit uns?« fragte Dannil. Als Perrin den Kopf schüttelte, atmete er so erleichtert aus, daß sich sein dichter Schnurrbart bewegte.

»Und was ist mit den Aes Sedai?« fragte Ban besorgt. »Sie werden jetzt freikommen, nicht wahr? Ich meine, Rand ist befreit. Der Lord Drache, meine ich. Sie können nicht gefangen bleiben, nicht Aes Sedai.«

»Sorgt ihr beide einfach dafür, daß jedermann zum Aufbruch bereit ist«, sagte Perrin. »Überlaßt Rand die Sorge um die Aes Sedai.« Die beiden zuckten sogar gleichzeitig zusammen. Zwei Finger wurden gehoben, um besorgt die Schnurrbärte zu kratzen, während Perrin ruckartig die Hand vom Kinn nahm. Es wirkte, als habe er Flöhe.

Das Lager brach im Handumdrehen in Geschäftigkeit aus. Alle hatten bald aufzubrechen erwartet, und doch hatte auch jedermann noch Dinge zu erledigen. Die Diener der gefangenen Aes Sedai und die Wagenführer luden hastig letzte Gegenstände in die Wagen und spannten die Pferde ein. Überall schienen Cairhiener und Mayener zu sein und Sättel und Zaumzeuge zu überprüfen. Unbekleidete Gai'shain liefen in alle Richtungen, obwohl die Aiel nicht viel zu tun zu haben schienen, um aufbruchbereit zu sein.

Lichtblitze außerhalb der Wagen verkündeten den Aufbruch Taims und der Asha'man. Danach fühlte Perrin sich besser. Von den neun verbliebenen

Asha'man war noch einer außer Dashiva in mittlerem Alter, ein untersetzter Bursche mit dem Gesicht eines Bauern. Ein anderer, der hinkte und dessen Gesicht von weißen Haaren umrahmt war, hätte leicht ein Großvater sein können. Die anderen waren jünger, einige kaum mehr als Jungen, und doch beobachteten sie das ganze Durcheinander mit der Selbstbeherrschung von Männern, die dies schon ein Dutzend Male mitgemacht hatten. Sie hielten sich jedoch abseits, bis auf Dashiva, der nur wenige Schritte von Perrin entfernt stand und ins Leere blickte. Perrin erinnerte sich an Taims Warnung in bezug auf den Burschen und hoffte, daß er wirklich nur tagträumte.

Perrin fand Rand auf einer Holzdeichsel sitzend, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Sulin und Nandera hockten auf beiden Seiten Rands und vermieden angestrengt den Blick auf das Schwert an seiner Hüfte. Sie hielten ihre Speere und Schilde hier inmitten der Menschen, die Rand treu ergeben waren, nur lose umfaßt und behielten alles im Auge, was sich in seiner Nähe bewegte. Min saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden zu seinen Füßen und blickte lächelnd zu ihm auf.

»Ich hoffe, du weißt, was du tust, Rand«, sagte Perrin und verlagerte das Heft seiner Streitaxt, damit er sich hinhocken konnte. Niemand außer Min und Rand und den beiden Töchtern des Speers war nahe genug, um ihn hören zu können. Wenn Sulin oder Nandera zu den Weisen Frauen laufen wollten, dann sollte es so sein. Er berichtete ohne weitere Vorrede über das, was er heute morgen beobachtet hatte. Was er außerdem gerochen hatte, erwähnte er jedoch nicht. Rand gehörte nicht zu den wenigen, die von ihm und den Wölfen wußten. Er gab vor, alles nur gesehen und gehört zu haben. Die Asha'man und die Weisen Frauen. Die Asha'man und die Aes Sedai. Die Weisen Frauen und die Aes Sedai. Der ganze durcheinandergeratene Zunder, der jeden Moment in Flammen aufgehen konnte. Und er ließ auch die Leute von den Zwei Flüssen nicht aus. »Sie machen sich Sorgen, Rand, und wenn sie schwitzen, kannst du sicher sein, daß irgendein Cairhiener daran denkt, etwas zu unternehmen. Oder ein Tairener. Vielleicht wollen sie den Gefangenen nur zur Flucht verhelfen, vielleicht aber auch etwas Schlimmeres. Licht, ich könnte mir bei Dannil und Ban und fünfzig weiteren vorstellen, wie sie ihnen zur Flucht verhelfen, wenn sie wüßten, wie sie es anstellen sollten.«

»Du glaubst also, etwas anderes wäre soviel schlimmer?« bemerkte Rand ruhig, und Perrins Haut kribbelte.

Er erwiderte Rands Blick offen. »Tausendmal schlimmer«, antwortete er mit ebenso ruhiger Stimme. »Ich will nicht an einem Mord teilhaben. Wenn du das willst, werde ich mich dir in den Weg stellen.« Es entstand ein ausgedehntes Schweigen, bei dem unbewegte blaugraue Augen unbewegten goldenen Augen begegneten.

Während sie sich gegenseitig stirnrunzelnd betrachteten, stieß Min einen verärgerten Laut aus. »Ihr zwei Wollköpfe! Rand, du weißt, daß du niemals einen solchen Befehl erteilen oder zulassen würdest, daß jemand anderer ihn erteilt. Perrin, du weißt, daß er das nicht tun würde. Und jetzt hört auf, euch wie zwei feindliche Hähne im Hühnerhof zu benehmen.«

Sulin kicherte, aber Perrin hätte Min gern gefragt, wie sicher sie sich dessen sei. Er konnte ihr diese Frage jedoch nicht stellen. Rand fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und schüttelte dann den Kopf wie jemand, der sich gegen Worte eines Unsichtbaren wehrte. Gegen eine Stimme, wie Wahnsinnige sie hörten.

»Es ist schließlich niemals leicht«, sagte Rand nach einer Weile und wirkte traurig. »Die bittere Wahrheit ist, daß ich nicht weiß, was schlimmer wäre. Ich habe keine guten Wahlmöglichkeiten. Dafür haben sie selbst gesorgt.« Sein Gesicht wirkte verzagt, aber er roch zornig. »Lebendig oder tot - sie sind ein Mühlstein an meinem Hals und könnten ihn mir so oder so brechen.«

Perrin folgte seinem Blick zu den gefangenen Aes Sedai. Sie standen jetzt alle zusammen, obwohl es ihnen dennoch gelang, ein wenig Abstand zwischen die drei Gedämpften und die übrigen zu bringen. Die Weisen Frauen um sie herum gaben nur mit Gesten und angespannten Gesichtern knappe Befehle. Vielleicht waren die Weisen Frauen auch besser, als Rand glaubte. Wenn er nur Gewißheit hätte.

»Hast du etwas gesehen, Min?« fragte Rand.

Perrin zuckte zusammen und warf einen warnenden Blick zu Sulin und Nandera, aber Min lachte weich. Sie lehnte an Rands Knie und schien wirklich zum ersten Mal, seit sie sie bei den Brunnen gefunden hatten, wieder so wie die Min, die Perrin kannte. »Perrin, sie wissen über mich Bescheid. Die Weisen Frauen, die Töchter des Speers, vielleicht alle. Und es kümmert sie nicht.« Sie besaß ein Talent, das sie genauso verborgen hielt wie er die Wölfe. Sie sah mitunter Menschen umgebende Bilder und Auren und erkannte manchmal, was sie bedeuteten. »Du kannst nicht wissen, wie das ist, Perrin. Ich war zwölf, als es angefangen hat, und ich wußte es damals nicht zu verbergen. Jedermann glaubte, ich würde einfach Dinge erfinden. Bis ich erzählte, daß ein Mann aus der nächsten Straße eine Frau heiraten würde, mit der ich ihn sah, der aber bereits verheiratet war. Als er dann mit ihr davonlief, führte seine Frau eine Menschenmenge zum Haus meiner Tanten und behauptete, ich sei dafür verantwortlich, da ich bei ihrem Mann die Eine Macht benutzt oder den beiden eine Art Trank verabreicht hätte.« Min schüttelte den Kopf. »Sie war nicht allzu scharfsichtig. Sie mußte einfach jemanden beschuldigen. Es hieß auch, ich sei eine Schattenfreundin. Kurz vor dieser Geschichte waren einige Weißmäntel in der Stadt gewesen und hatten versucht, die Menschen aufzuwiegeln. Tante Rana überzeugte mich davon zu erzählen, ich hätte die beiden einfach belauscht, Tante Miren versprach mich zu versohlen, wenn ich Geschichten verbreitete, und Tante Jan sagte, sie würde mir Medizin verabreichen. Sie haben es natürlich nicht getan - sie kannten die Wahrheit -, aber wären sie nicht so unbefangen umgegangen, zumal ich noch ein Kind war, hätte ich verletzt oder sogar getötet werden können. Die meisten Menschen mögen Leute nicht, die Dinge über ihre Zukunft wissen. Die meisten Menschen wollen nichts davon hören, es sei denn natürlich, es wäre etwas Gutes. Das galt selbst für meine Tanten. Aber für die Aiel bin ich aus Höflichkeitsgründen eine Art Weise Frau.«

»Einige Menschen vermögen Dinge, die andere nicht können«, sagte Nandera, als genüge das als Erklärung.

Min lachte erneut, streckte die Hand aus und berührte das Knie der Tochter des Speers. »Danke.« Sie schaute zu Rand auf. Jetzt, wo sie wieder lachte, besaß sie eine besondere Ausstrahlung. Das hielt sogar noch an, nachdem sie wieder ernst geworden war. Ernst und nicht sehr froh. »Um auf deine Frage zurückzukommen - ich habe nichts Nützliches gesehen. Bei Taim sehe ich in der Vergangenheit und in der Zukunft Blut, aber das dürfte dich nicht überraschen. Er ist ein gefährlicher Mann. Sie scheinen wie die Aes Sedai Bilder auf sich zu vereinen.« Ein Seitenblick durch gesenkte Wimpern zu Dashiva und den anderen Asha'man verdeutlichte, wen sie meinte. Um die meisten Menschen waren nur wenige Bilder zu sehen, aber Min sagte, bei Aes Sedai und Behütern sei dies anders. »Das Problem ist, daß die Bilder, die ich sehen kann, verschwommen sind. Ich glaube, das kommt dadurch, daß sie die Macht halten. Das ist bei Aes Sedai anscheinend häufig der Grund, und es wird noch schwieriger, wenn sie die Macht gerade lenken. Um Kiruna und die anderen kann ich viele Dinge sehen, aber sie bleiben stets so dicht zusammen, daß alles, nun ... die meiste Zeit durcheinandergerät. Und bei den Gefangenen ist es noch unklarer.«

»Mach dir keine Gedanken um die Gefangenen«, riet Rand ihr. »Sie werden Gefangene bleiben.«

»Aber Rand, ich habe weiterhin das Gefühl, daß da noch etwas Wichtiges ist - wenn ich es nur herauslösen könnte. Du mußt es erfahren.«

»Wenn man nicht alles weiß, muß man mit dem weitermachen, was man weiß«, zitierte Rand. »Anscheinend weiß ich niemals alles, und die meiste Zeit kaum genug. Aber ich habe keine andere Wahl, als weiterzumachen, nicht wahr?« Es war eigentlich keine Frage, sondern eine Feststellung.

Loial schlenderte heran, trotz seiner offensichtlichen Müdigkeit fast vor Tatendrang berstend. »Rand, sie sagen, sie seien aufbruchbereit, aber du hast versprochen, mir alles zu erzählen, solange es dir noch frisch in Erinnerung ist.« Seine Ohren zuckten plötzlich verlegen, und die dröhnende Stimme wurde traurig. »Es tut mir leid. Ich weiß, daß es nichts Erfreuliches ist. Aber ich muß es wissen. Für das Buch. Für die Generationen.«

Rand stand lachend auf und zog am geöffneten Umhang des Ogiers. »Für die Generationen? Reden Dichter alle so? Mach dir keine Sorgen, Loial. Es wird mir noch immer frisch in Erinnerung sein, wenn ich es dir erzähle. Ich werde es nicht vergessen.« Ein grimmiger, verärgerter Geruch schwebte trotz des Lächelns blitzartig von ihm heran und verging wieder. »Aber erst, wenn wir wieder in Cairhien sind, alle ein Bad genommen und in einem Bett geschlafen haben.« Rand bedeutete Dashiva, näher zu treten.

Der Mann war nicht hager, bewegte sich aber dennoch auf zögerliche, kriecherische Art, die Hände an der Taille gefaltet, wodurch er diesen Eindruck erweckte. »Mein Lord Drache?« sagte er mit geneigtem Kopf.

»Könnt Ihr ein Wegetor eröffnen, Dashiva?«

»Natürlich.« Dashiva rieb sich die Hände und benetzte mit der Zungenspitze die Lippen, und Perrin fragte sich, ob der Mann immer so unruhig war oder nur dann, wenn er mit dem Wiedergeborenen Drachen sprach. »Genauer gesagt, lehrt der M'hael das Schnelle Reisen, sobald sich ein Schüler als ausreichend stark dafür erweist.«

»Der M'hael?« fragte Rand blinzelnd.

»Der Titel Lord Mazrim Taims, Mylord Drache. Er bedeutet in der Alten Sprache ›Anführer‹.« Das Lächeln des Burschen wirkte gleichzeitig beunruhigt und herablassend. »Ich habe auf dem Bauernhof viel gelesen. Jedes Buch, das die Hausierer mitbrachten.«

»Der M'hael«, murrte Rand mißbilligend. »Nun, sei es, wie es sei. Gestaltet mir ein Wegetor nach Cairhien, Dashiva. Es ist an der Zeit nachzusehen, was in der Welt geschehen ist, während ich fort war, und was ich dagegen tun muß.« Dann lachte er kläglich, und dieser Klang verursachte Perrin eine Gänsehaut.

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