15 Insekten

Carridin schaute nicht sofort von dem Brief auf, den er gerade schrieb, als Lady Shiaine, wie sie sich nannte, hereingeführt wurde. Drei Ameisen kämpften vergebens in der nassen Tinte, waren gefangen. Alles andere mochte sterben, aber Ameisen und Schaben und alle anderen Arten von Ungeziefer schienen zu gedeihen. Er drückte den Tintenlöscher vorsichtig hinab. Er würde nicht wegen ein paar Ameisen von vorn beginnen. Das Versäumnis, diesen Bericht abzuschicken, oder der Bericht über das Versäumnis, würde ihn genauso verdammen wie diese widerlichen Insekten, aber die Angst vor noch einem anderen Versäumnis wütete in ihm.

Er sorgte sich nicht darum, daß Shiaine lesen könnte, was er geschrieben hatte. Es war in einer außer ihm nur zwei anderen Menschen bekannten Geheimschrift verfaßt. Es waren so viele Banden ›Drachenverschworener‹ am Werk, eine jede vom Kern ihrer vertrauenswürdigsten Männer gestärkt, und so viele andere, die Banditen oder sogar wahrhaftig diesem Schmutz al'Thor verschrieben sein mochten. Letzteres würde Pedron Niall vielleicht nicht gefallen, aber sein Befehl hatte gelautet, Altara und Murandy in Blut und Chaos zu tauchen, aus denen nur Niall und die Kinder des Lichts sie retten könnten, ein Wahnsinn, der eindeutig diesem sogenannten Wiedergeborenen Drachen zur Last gelegt werden sollte, und das hatte er getan. Angst hielt beide Länder gepackt. Erzählungen darüber, daß die Hexen durch das Land marschierten, waren ein zusätzlicher Lohn. Hexen Tar Valons und Drachenverschworene, Aes Sedai, die junge Frauen verschleppten und falsche Drachen ernannten, Dörfer in Flammen und an Scheunentore genagelte Männer -das war bei den auf der Straße gehandelten Gerüchten jetzt alles das gleiche. Niall wäre erfreut und würde weitere Befehle senden. Es war unvorstellbar, wie er von Carridin erwartete, Elayne Trakand aus dem Tarasin-Palast zu entführen.

Noch eine Ameise lief über den mit ElfenbeinEinlegearbeiten versehenen Tisch auf das Blatt Papier, die er mit dem Daumen zerdrückte. Und ein Wort bis zur Unleserlichkeit verschmierte. Der gesamte Bericht müßte neu geschrieben werden. Er sehnte sich sehr nach etwas zu trinken. Auf dem Tisch an der Tür stand eine Kristallflasche mit Weinbrand, aber er wollte nicht, daß die Frau ihn trinken sah. Er unterdrückte ein Seufzen, schob den Brief beiseite und zog ein Taschentuch aus seinem Ärmel, um sich die Hand abzuwischen. »Also, Shiaine, könnt Ihr endlich über Fortschritte berichten? Oder seid Ihr nur wegen des Geldes gekommen?«

Sie lächelte ihn von einem hohen, verzierten Armsessel aus träge an. »Eine Suche erfordert Ausgaben«, sagte sie fast im Akzent einer andoranischen Adligen. »Besonders wenn wir erreichen wollen, daß keine Fragen gestellt werden.«

Die meisten Menschen hätten sich beim Anblick Jaichim Carridins - durch sein stählernes Gesicht, die tiefliegenden Augen und den weißen Wappenrock über seinem Umhang mit der auf den karmesinroten Hirtenstab der Hand eingedrückten Sonne der Kinder des Lichts - unbehaglich gefühlt. Aber nicht Mili Skane. So lautete ihr richtiger Name, obwohl sie nicht wußte, ob er ihn kannte. Als Tochter eines Sattlers aus einem Dorf in der Nähe von Weißbrücke war sie im Alter von fünfzehn Jahren zur Weißen Burg gegangen, noch eine Sache, die sie geheimgehalten zu haben glaubte. Es war wohl kaum der beste Anfang, ein Schattenfreund zu werden, weil die Hexen ihr gesagt hatten, sie könnte nicht lernen, die Macht zu lenken, aber bevor ein Jahr vorüber war, hatte sie nicht nur in Caemlyn einen Kreis gefunden, sondern auch ihre erste Tötung vollzogen. In den seither vergangenen sieben Jahren hatte sie dieser einen neunzehn weitere Tötungen hinzugefügt. Sie war eine der besten verfügbaren Mörderinnen und eine Jägerin, die alle und alles finden konnte. Soviel hatte man ihm gesagt, als sie zu ihm geschickt wurde. Das hatte ein Kreis gesagt, der jetzt ihr berichtete. Tatsächlich waren mehrere seiner Mitglieder Adlige und fast alle älter, aber nichts davon hatte unter jenen Bedeutung, die dem Großen Herrn dienten. Ein weiterer Kreis, der für Carridin arbeitete, wurde von einem knorrigen, einäugigen Bettler angeführt, der keine Zähne und die Angewohnheit hatte, nur einmal im Jahr zu baden. Wären die Umstände andere gewesen, hätte Carridin selbst das Knie vor Old Cully gebeugt, der einzige Name, den der übelriechende Schurke zuließ. Mili Skane kroch gewiß vor Old Cully, und jeder andere Gefährte ihres Kreises ebenfalls, ob adlig oder nicht. Es ärgerte Carridin, daß ›Lady Shiaine‹ blitzartig auf die Knie fiel, wenn der alte Bettler mit den strähnigen Haaren den Raum betrat, aber vor ihm mit gekreuzten Beinen dasaß, lächelte und ungeduldig mit dem Fuß wippte. Sie hatte Befehl erhalten, ihm bedingungslos zu gehorchen, von jemandem, vor dem sogar Old Cully kriechen würde, und er brauchte verzweifelt einen Erfolg. Nialls Pläne durften ruhig zu Staub zerfallen, aber nicht dies.

»Man kann vieles entschuldigen.« Carridin steckte die Schreibfeder in ihren Elfenbeinständer und schob sein Haar zurück. »Bei jenen, welche die ihnen gestellten Aufgaben erfüllen.« Er war ein großer Mann und ragte drohend auf; zugleich war er sich sehr wohl des Umstands bewußt, daß die goldgerahmten Spiegel an den Wänden eine kraftvolle Gestalt, einen gefährlichen Mann zeigten. »Selbst Gewänder und Tand und Spiele, was alles mit Geld bezahlt wurde, das für Informationen verwendet werden sollte.« Der wippende Fuß verharrte einen Moment und begann dann erneut, aber ihr Lächeln wirkte jetzt gezwungen, ihr Gesicht blaß. Ihr Kreis gehorchte ihr im Augenblick, aber sie würden sie kopfüber hängen und lebendig häuten, wenn er das Wort aussprach. »Ihr habt nicht sehr viel erreicht, nicht wahr? Tatsächlich scheint Ihr überhaupt nichts erreicht zu haben.«

»Es gibt Probleme, wie Ihr sehr wohl wißt«, hauchte sie. Es gelang ihr jedoch, seinen Blick offen zu erwidern.

»Ausflüchte. Erzählt mir von überwundenen Problemen, nicht von solchen, über die Ihr stolpert und fallt. Ihr könnt tief fallen, wenn Ihr hierin versagt.« Er wandte ihr den Rücken zu und schritt zum nächstgelegenen Fenster. Er konnte ebenfalls tief fallen, und er wollte es nicht riskieren, daß sie dies in seinen Augen erkannte. Sonnenlicht fiel durch reichverzierte Steingitter. Der Raum mit der hohen Decke, dem grünweiß gefliesten Boden und den hellblauen Wänden blieb hinter den dicken Mauern des Palasts vergleichsweise kühl, aber die draußen herrschende Hitze sickerte durch die Fenster dennoch herein. Er konnte den Weinbrand auf der anderen Seite des Raumes fast spüren. Er konnte kaum erwarten, daß sie ging.

»Mein Lord Carridin, wie kann ich jemanden zu offene Fragen über Gegenstände der Macht stellen lassen? Das würde Fragen bewirken, und es sind Aes Sedai in der Stadt, wie Ihr Euch vielleicht erinnert.«

Carridin spähte auf die Straße hinab und rümpfte bei dem heraufdringenden Geruch die Nase. Dort unten waren alle Arten von Menschen zusammengedrängt. Ein Arafelle mit zu zwei langen Zöpfen geflochtenem Haar und einem gebogenen Schwert auf dem Rücken warf einem einarmigen Bettler eine Münze zu, der das Geschenk stirnrunzelnd betrachtete, bevor er es unter seine Lumpen steckte und seine kläglichen Rufe an die Vorbeigehenden wieder aufnahm. Ein Bursche in einem zerrissenen hellroten Umhang und heller gelber Hose kam aus einem Laden gelaufen und preßte einen Stoffballen an seine Brust, verfolgt von einer schreienden hellhaarigen Frau, die ihre Röcke bis über die Knie gerafft hatte und schneller lief als der stämmige Wächter, der sich, seinen Knüppel schwingend, schwerfällig hinter ihr herschleppte. Der Kutscher einer rot lackierten Kutsche mit den Goldmünzen und der geöffneten Hand eines Geldverleihers auf der Tür drohte dem Wagenlenker eines Planwagens mit der Peitsche, dessen Pferdegespann dem Gespann der Kutsche ins Gehege geraten war, während beide über die Straße hinweg fluchten. Verdreckte Straßenjungen kauerten hinter einem klapprigen Karren, während sie sich winzige, verschrumpelte Früchte schnappten, die vom Land hierhergebracht worden waren. Eine verschleierte Tarabonerin, das dunkle Haar zu dünnen Zöpfen geflochten, bahnte sich ihren Weg durch die Menge und zog in ihrem staubigen roten Gewand, das sich schamlos an ihren Körper anschmiegte, die Augen aller Männer auf sich.

»Mein Lord, ich brauche Zeit. Ich brauche sie! Ich kann nicht das Unmögliche tun, und gewiß nicht innerhalb weniger Tage.«

Gesindel, sie alle. Goldgräber und Jäger des Horns, Diebe, Flüchtlinge und sogar Kesselflicker. Abschaum. Es wäre leicht, Aufstände zu schüren, eine Säuberung von all diesem Unrat zu bewirken. Fremde waren stets das erste Ziel, ihnen wurde regelmäßig die Schuld an dem zugeschoben, was falsch war, ebenso wie den Nachbarn, die das Pech hatten, auf der falschen Seite der Mißgunst zu stehen, den Frauen, die mit Kräutern und Heilmitteln hausieren gingen, und Menschen ohne Freunde, besonders, wenn sie allein lebten. Richtig und so behutsam, wie in solchen Fällen möglich, angeleitet, könnte ein guter Aufstand sehr wohl den Tarasin-Palast rund um dieses nutzlose Weibsbild Tylin und auch um die Hexen herum niederbrennen. Er betrachtete den Menschenschwarm unter dem Fenster. Aufstände hatten die Tendenz, außer Kontrolle zu geraten. Die Bürgerwehr würde sich vielleicht regen, und eine Handvoll wahrer Freunde würden unausweichlich hart herangenommen werden. Er durfte es nicht riskieren, daß einige jener vielleicht den Kreisen entstammten, die er gejagt hatte. Auch nur einige wenige Tage eines Aufstands würden ihre Arbeit unterbrechen. Dafür war Tylin nicht wichtig genug. Sie war tatsächlich überhaupt nicht wichtig. Nein, noch nicht. Er konnte riskieren, Niall zu enttäuschen, aber nicht seinen wahren Herrn.

»Mein Lord Carridin...« In Shiaines Stimme klang jetzt ein wenig Trotz mit. Er hatte sie zu lange schmoren lassen. »Mein Lord Carridin, einige der Mitglieder meines Kreises stellen in Frage, warum wir die Suche nach...«

Er wollte sich umwenden und sie barsch zurechtweisen - er brauchte einen Erfolg, keine Ausflüchte, keine Fragen! -, aber ihre Stimme wurde unhörbar, als sein Blick auf einen jungen Mann fiel, der in einem blauen Mantel mit genug rotgoldener Stickerei an Ärmeln und Aufschlägen für zwei Adlige schräg gegenüber auf der Straße stand. Größer als die meisten anderen, fächelte er sich mit einem breitkrempigen schwarzen Hut Luft zu und richtete sein Halstuch, während er mit einem gebeugten weißhaarigen Mann sprach. Carridin erkannte den jungen Mann.

Er fühlte sich plötzlich, als wäre eine Schlinge um seinen Kopf gelegt worden, die immer fester zugezogen wurde. Einen Augenblick sah er ein hinter einer roten Maske verborgenes Gesicht. Nachtdunkle Augen starrten ihn an, und dann waren da unergründliche Flammenhöhlen, die ihn noch immer anstarrten. Die Welt brach in seinem Kopf in Feuer aus, in wasserfallartig herabstürzende Bilder, die ihn so zerschlugen, daß er nicht einmal schreien konnte. Die Gestalten dreier junger Männer schwebten in der Luft, und eine der Gestalten begann zu glühen, die Gestalt des Mannes auf der Straße, heller und immer heller, bis sie alle lebendigen Augen zu Asche versengt haben mußte, und noch heller - bis sie brannte. Ein gedrehtes goldenes Horn schoß auf Carridin zu, und sein Schrei zerrte an seiner Seele, brach dann in einen Ring goldenen Lichts auf, verschlang ihn und durchdrang ihn mit Kälte, bis das letzte Bruchstück seiner selbst, das sich noch an seinen Namen erinnerte, sicher war, seine Knochen müßten zersplittern. Ein Dolch mit Rubinspitze wirbelte direkt auf ihn zu, die gebogene Klinge traf ihn zwischen die Augen und versank in ihm, bis das goldumwickelte Heft vollkommen verschwunden war, und er erfuhr Qualen, die alle Gedanken in einer Woge von Schmerz fortspülten. Er hätte zu einem Schöpfer gebetet, den er schon lange aufgegeben hatte, wenn er sich daran erinnert hätte, wenn er sich erinnert hätte, daß Menschen schrien, daß er ein Mensch war. Immer weiter, immer mehr...

Er hob eine Hand an seine Stirn und fragte sich, warum sie zitterte. Sein Kopf schmerzte heftig. Da war etwas gewesen... Er sah erschreckt auf die Straße unter ihm. Alles hatte sich im Handumdrehen verändert, die Menschen waren anders, die Wagen waren entfernt worden, bunte Kutschen und Sänften waren durch andere ersetzt worden. Und was noch schlimmer war - Cauthon war fort. Er hätte am liebsten die ganze Flasche Weinbrand in einem Zug getrunken.

Plötzlich erkannte er, daß Shiaine aufgehört hatte zu sprechen. Er wandte sich um, bereit, sie weiterhin in ihre Schranken zu verweisen.

Sie beugte sich vor, um aufzustehen, eine Hand auf der Sessellehne, die andere zu einer Geste erhoben. Ihr schmales Gesicht war in einem Ausdruck verdrießlicher Herausforderung erstarrt. Aber sie sah nicht Carridin an. Sie regte sich nicht. Sie blinzelte nicht. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie atmete. Er spürte kaum Leben in ihr.

»Grübelst du?« fragte Sammael. »Darf ich zumindest hoffen, daß du darüber nachgrübelst, was du hier für mich finden sollst?« Er war nur ein wenig größer als der Durchschnitt ein muskulöser, kompakter Mann in einem Umhang mit einem hohen Kragen in illianischem Stil, der so sehr mit Goldstickerei verziert war, daß der grüne Stoff darunter nur schwer zu erkennen war, aber mehr als nur der Umstand, daß er einer der Auserwählten war, verlieh ihm Statur. Seine blauen Augen waren kälter als der Odem des Winters. Eine bläuliche Narbe zog sich von der blonden Haarlinie bis zum Rand des blonden, eckig geschnitten Bartes hinab, und diese Zierde schien zu ihm zu passen. Was auch immer ihm in den Weg geriet, wurde fortgewischt, zertreten oder ausgelöscht. Carridin wußte, daß Sammael ihm die Hölle heiß gemacht hätte, wenn der Mann einfach jemand gewesen wäre, den er zufällig getroffen hätte.

Er trat eilig vom Fenster fort und fiel vor dem Auserwählten auf die Knie. Carridin verachtete die Hexen Tar Valons. Tatsächlich verachtete er jedermann, der die Eine Macht gebrauchte, sich in das einmischte, was die Welt einst zerstört hatte, mit dem umging, was bloße Sterbliche nicht berühren sollten. Dieser Mann gebrauchte die Macht ebenfalls, aber die Auserwählten konnten nicht als bloße Sterbliche bezeichnet werden. Vielleicht überhaupt nicht als Sterbliche. Und wenn er seinen Dienst gut versah, wäre er auch nicht mehr sterblich. »Großer Meister, ich sah Mat Cauthon.«

»Hier?« Sammael schien seltsamerweise einen Moment überrascht. Er murmelte leise etwas, und bei einem Wort wich alles Blut aus Carridins Gesicht.

»Großer Lord, Ihr wißt, daß ich Euch niemals betrügen würde...«

»Du Narr! Du hast nicht einmal den Mut dazu. Bist du sicher, daß es Cauthon war, den du gesehen hast?«

»Ja, Großer Meister. Auf der Straße. Ich kann ihn bestimmt wiederfinden.«

Sammael schaute stirnrunzelnd auf ihn hinab, strich sich über den Bart und blickte durch Jaichim Carridin hindurch und über ihn hinaus. Carridin mochte es nicht, sich bedeutungslos zu fühlen, besonders wenn er wußte, daß es der Wahrheit entsprach.

»Nein«, sagte Sammael schließlich. »Deine Suche ist die wichtigste Sache, die einzige Sache, soweit es dich betrifft. Cauthons Tod käme mir gewiß gelegen, aber nicht, wenn er hier Aufmerksamkeit erregt. Wenn bereits Aufmerksamkeit besteht und er Interesse an deiner Suche zeigen sollte, dann stirbt er, aber ansonsten kann er warten.«

»Aber...«

»Hast du mich nicht verstanden?« Sammaels Narbe ließ sein Lächeln einseitig höhnisch geraten. »Ich sah kürzlich deine Schwester Vanora. Sie sah zunächst nicht wohl aus. Sie schrie und weinte, zuckte ständig zusammen und zog sich an den Haaren. Frauen leiden unter den Gefälligkeiten von Myrddraals stärker als Männer, aber selbst Myrddraals müssen irgendwo ihr Vergnügen suchen. Sorge dich nicht, daß sie zu lange gelitten hätte. Trollocs sind immer hungrig.« Das Lächeln schwand. Seine Stimme war steinhart. »Jene, die nicht gehorchen, können sich auch über einem Herdfeuer wiederfinden. Vanora schien zu lächeln, Carridin. Glaubst du, du würdest lächeln, wenn man dich auf einem Spieß dreht?«

Carridin schluckte ungewollt und unterdrückte den Schmerz um Vanora mit ihrem bereitwilligen Lachen und ihrem geschickten Umgang mit Pferden, die dort zu galoppieren wagte, wo andere sich zu Fuß zu gehen fürchteten. Sie war seine Lieblingsschwester gewesen, und doch war sie tot, und er war es nicht. Wenn es überhaupt Barmherzigkeit auf der Welt gab, hatte sie nicht erfahren, warum. »Ich lebe, um zu dienen und zu gehorchen, Großer Meister.« Er glaubte nicht, daß er ein Feigling war, aber niemand verweigerte einem der Auserwählten den Gehorsam. Nicht häufiger als ein Mal.

»Dann finde, was ich haben will!« brüllte Sammael. »Ich weiß, daß es irgendwo in diesem kjasic Fliegenschiß von Stadt verborgen ist! Ter'angreale, angreale, sogar Sa'angreale! Ich habe ihnen nachgespürt, bin ihnen gefolgt! Jetzt wirst du sie finden, Carridin. Stelle meine Geduld nicht auf die Probe.«

»Großer Meister...« Sein Mund war ausgetrocknet. »Großer Meister, hier sind Hexen... Aes Sedai... Ich weiß nicht genau, wie viele. Wenn sie auch nur ein Flüstern hören...«

Sammael gebot ihm zu schweigen und tat dreimal einige schnelle Schritte hin und zurück, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er wirkte nicht besorgt, nur ... nachdenklich. Schließlich nickte er. »Ich werde ... jemanden ... schicken, der sich um diese Aes Sedai kümmert.« Er lachte kurz scharf auf. »Ich wünschte fast, ich könnte ihre Gesichter sehen. Sehr gut. Dir bleibt noch ein wenig Zeit. Dann bekommt vielleicht jemand anderer eine Chance.« Er hob mit einem Finger eine Strähne von Shiaines Haar an. Sie bewegte sich noch immer nicht. Ihre Augen starrten regungslos ins Leere. »Dieses Kind würde die Gelegenheit gewiß nur zu gern ergreifen.«

Carridin kämpfte gegen plötzliche Angst an. Die Auserwählten warfen genauso schnell nieder, wie sie erhoben, und auch genauso häufig. Versagen blieb niemals unbestraft. »Großer Meister, die Gunst, um die ich Euch bat... Wenn ich wissen dürfte... Habt Ihr... Werdet Ihr...?«

»Du bist kein Glückspilz, Carridin«, sagte Sammael mit neuerlichem Lächeln. »Du solltest besser hoffen, meine Befehle bald ausführen zu können. Anscheinend stellt zumindest jemand sicher, daß einige von Ishamaels Befehlen noch ausgeführt werden.« Er lächelte, aber er schien nicht im mindesten belustigt. Oder vielleicht machte das nur die Narbe. »Du hast ihm gegenüber versagt und deshalb deine ganze Familie verloren. Nur meine Hand schützt dich jetzt noch. Ich sah vor länger Zeit einmal drei Myrddraals einen Mann dazu bringen, ihnen nach und nach seine Frau und seine Töchter zu übergeben, und sie dann zu bitten, ihm das rechte Bein abzuhacken, dann das linke, dann seine Arme und ihm die Augen auszubrennen.« Der vollkommen beiläufig gehaltene Tonfall machte den Vortrag noch schlimmer, als alles Schreien oder Höhnen es gekonnt hätte. »Es war für sie ein Spiel, verstehst du? Sie wollten sehen, wie weit sie ihn bringen konnten, worum er sie schließlich bitten würde. Sie bewahrten sich seine Zunge natürlich bis zum Schluß auf, aber bis dahin war nicht mehr viel von ihm übriggeblieben. Er war recht mächtig, gutaussehend und berühmt gewesen. Beneidet. Aber niemand würde jemals beneiden, was sie schließlich den Trollocs vorwarfen. Du würdest nicht glauben, welche Töne dieser Überrest von sich gab. Finde, was ich haben will, Carridin. Es wird dir nicht gefallen, wenn ich meine Hand zurückziehe.«

Plötzlich erschien in der Luft vor dem Auserwählten eine senkrechte Linie. Sie schien sich irgendwie zu drehen und erweiterte sich dabei zu einem Viereck ... eine Öffnung. Carridin starrte sie fassungslos an. Er blickte durch einen Spalt in der Luft auf etwas voller grauer Säulen und dichtem Nebel. Sammael trat hindurch, und die Öffnung schloß sich ruckartig, wurde zu einem glänzenden Lichtstab, der verschwand und nur eine purpurfarbene Nachempfindung zurückließ, die in CarridLns Augen glühte.

Er richtete sich schwankend auf. Ein Versagen wurde stets bestraft, aber niemand überlebte es, dem Befehl eines der Auserwählten den Gehorsam zu verweigern.

Plötzlich bewegte sich Shiaine und vollendete die Bewegung, aus dem Sessel aufzustehen. Sie wollte etwas sagen, brach aber dann wieder ab und blickte zum Fenster, wo Carridin zuvor gestanden hatte. Ihr Blick suchte ihn hektisch, fand ihn, und sie zuckte zusammen. So wie ihre Augen hervortraten, hätte er selbst einer der Auserwählten sein können.

Niemand überlebte es, dem Befehl der Auserwählten den Gehorsam zu verweigern. Er preßte die Hände gegen seine Schläfen. Sein Kopf schien platzen zu wollen. »Ein Mann ist in der Stadt, Mat Cauthon. Ihr werdet...« Sie zuckte abermals leicht zusammen, und er runzelte die Stirn. »Ihr kennt ihn?«

»Ich habe den Namen gehört«, sagte sie vorsichtig. Und ärgerlich, hätte er behauptet. »Nur wenige, die mit al'Thor verbunden sind, bleiben lange unbekannt.« Als er näher herantrat, kreuzte sie schützend die Arme vor sich und blieb nur zögerlich am Fleck stehen. »Was macht ein schäbiger Bauernjunge in Ebou Dar? Wie ist er...«

»Belästigt mich nicht mit törichten Fragen, Shiaine.« Er hatte noch niemals solche Kopfschmerzen gehabt. Noch nie. Es fühlte sich an, als würde ihm zwischen den Augen ein Dolch in den Schädel getrieben. Niemand überlebte... »Ihr werdet Euren Kreis anweisen, Cauthon sofort ausfindig zu machen. Sie alle.« Old Cully kam heute nacht durch die Rückfront der Ställe herein. Sie brauchte nicht zu wissen, daß auch noch andere da sein würden. »Nichts anderes darf dazwischen kommen.«

»Aber ich dachte...«

Sie brach keuchend ab, als er ihren Nacken ergriff. Ein schmaler Doich erschien in ihrer Hand, aber er entwand ihn ihr. Sie drehte sich und versuchte, sich ihm zu entziehen, aber er zwang ihr Gesicht auf die Tischplatte, wobei sie mit der Wange noch feuchte Tinte auf dem vergessenen Brief an Pedron Niall verwischte. Der Dolch, der unmittelbar vor ihren Augen niedersauste, ließ sie erstarren. Zufällig hatte die Klinge, die das Papier durchbohrt hatte, auch eine Ameise an einem Bein erwischt. Sie kämpfte genauso nutzlos, wie das Tier es getan hatte.

»Ihr seid ein Insekt, Mili.« Der Schmerz in seinem Kopf ließ seine Stimme rauh klingen. ›»Es ist an der Zeit, daß Ihr das begreift. Ein Insekt ist wie das andere, und wenn eines seine Aufgabe nicht erfüllt...« Ihr Blick folgte seinem herabsinkenden Daumen, und als er die Ameise zerdrückte, zuckte sie zurück.

»Ich lebe, um zu dienen und zu gehorchen, Meister«, keuchte sie. Sie hatte das jedes Mal zu Old Cully gesagt, wenn sie ihnen zusammen begegnete, aber niemals zuvor zu ihm.

»Und so werdet Ihr gehorchen...« Niemand überlebte Ungehorsam. Niemand.

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