14 Weiße Federn

Der Silberkreis hatte seinen Namen auf den ersten Blick nicht verdient, aber Ebou Dar liebte großartige Namen, und manchmal schien es, daß sie für desto angemessener gehalten wurden, je schlechter sie paßten. Die schmutzigste Schenke in der Stadt, die Mat je gesehen hatte und die nach sehr altem Fisch roch, trug den Namen Der strahlende Ruhm der Königin, während der Name Die Goldene Himmelskrone im Rahad jenseits des Flusses ein trübes Loch mit nur einer blauen Tür als Hervorhebung zierte, in dem schwarze Flecken von alten Dolchkämpfen den schmutzigen Boden sprenkelten. Der Silberkreis war für Pferderennen bekannt.

Mat nahm seinen Hut ab, fächelte sich mit der breiten Krempe Luft zu und ging sogar so weit, seinen schwarzen Seidenschal zu lösen, den er trug, um die Narbe an seinem Hals zu verdecken. Die Morgenluft flimmerte bereits vor Hitze, und doch waren die beiden langen Erdbänke, die die Rennbahn begrenzten, bereits dicht besetzt. Mehr hatte der Silberkreis nicht zu bieten. Das Murmeln von Stimmen übertönte beinahe die Schreie der Möwen über ihnen. Es kostete nichts zuzusehen, so daß Salinenarbeiter in der weißen Weste ihrer Zunft und Bauern mit hageren Gesichtern, die aus dem drachenverschworenen Inland geflohen waren, Schulter an Schulter mit rauhen Tarabonern mit durchsichtigen Schleiern über dichten Schnurrbärten, Webern mit senkrecht gestreiften Westen, Druckern mit waagerechten Streifen und Färbern mit bis zu den Ellenbogen befleckten Armen saßen. Das ungemilderte Schwarz der amadicianischen Landbewohner, bis zum Hals zugeknöpft, obwohl sie sich anscheinend fast zu Tode schwitzten, war neben murandianischen Dorfbewohnern mit langen, bunten, derart schmalen Schürzen, daß sie wohl nur zur Zierde getragen wurden, zu sehen. Sogar eine Handvoll Domani mit kupferfarbener Haut, die Männer in kurzen Mänteln, wenn sie überhaupt einen Mantel trugen, die Frauen in so dünner Wolle oder Leinen, daß sich die Kleidung wie Seide anschmiegte, hatte sich eingefunden. Es waren Lehrlinge und Arbeiter von den Docks und aus den Lagerhäusern da, Gerber, die aufgrund des für ihre Arbeit typischen Geruchs ein wenig Freiraum in der Menge hatten, und Straßenkinder mit schmutzigen Gesichtern, die genau beobachtet wurden, weil sie alles stehlen würden, worauf auch immer sie Hand legen konnten. Bei der arbeitenden Bevölkerung gab es jedoch kaum etwas zu stehlen.

Sie alle saßen oberhalb der dicken, um Pfosten gebundenen Hanfseile. Die Plätze unterhalb waren jenen vorbehalten, die Silber - und Gold - besaßen, den Menschen vornehmer Herkunft, die gut gekleidet und wohlhabend waren. Selbstgefällige Diener gössen für ihre Herren gewürzten Wein in Silberbecher, aufgeregte Mädchen fächerten ihren Herrinnen Kühle zu, und es war sogar ein Luftsprünge vollführender Narr mit weißbemaltem Gesicht und klingenden Messingglöckchen an seinem schwarzweißen Hut und Mantel zu sehen. Stolze Männer mit hohen Samthüten schritten mit schmalen Schwertern an den Hüften einher, und ihr Haar streifte über ihre Schultern geschlungene Seidenmäntel, die von Gold- oder Silberketten zwischen den schmalen, bestickten Revers gehalten wurden. Einige der Frauen trugen das Haar kürzer als die Männer, einige länger, und auf so viele Arten frisiert, wie Frauen anwesend waren. Sie trugen breite Hüte mit Federn oder manchmal feinen Netzen, die ihre Gesichter verbargen, und ihre Gewänder waren üblicherweise so geschnitten, daß entweder im Stil dieser Stadt oder einem anderen der Busen sichtbar war. Bei den Adligen, die unter bunten Sonnenschirmen saßen, glitzerten Ringe und Ohrringe, Halsketten und Armbänder in Gold und Elfenbein und kostbaren Edelsteinen, und sie betrachteten ihre Umgebung von oben herab. Gut genährte Händler und Geldverleiher, die nur einen Hauch Spitze oder vielleicht eine Nadel oder einen Ring mit einem dicken, glänzenden Stein trugen, verbeugten sich demütig oder vollführten Hofknickse vor den Höherstehenden, die ihnen wahrscheinlich ungeheure Summen schuldeten. Im Silberkreis wechselten Vermögen ihre Besitzer, und das nicht nur bei Wetten. Es hieß, daß unterhalb der Seile auch Leben und Ehre aus der Hand gegeben wurden.

Mat setzte sich seinen Hut wieder auf und hob eine Hand, und einer der Buchmacher kam heran - eine adlergesichtige Frau mit einer Nase wie eine Ahle. Die Frau spreizte die Hände, während sie sich verneigte, und sprach das rituelle »Ich werde wahrhaft niederschreiben, wie mein Lord zu wetten wünscht«. Der Ebou-Dari-Akzent klang trotz der jähen Endungen einiger Wörter dennoch weich. »Das Buch ist geöffnet.« Wie der Spruch stammte auch das auf die Vorderseite ihrer roten Weste gestickte Buch aus einer lange vergangenen Zeit, als die Wetten tatsächlich noch in ein Buch eingetragen wurden, aber Mat vermutete, daß er hier der einzige war, der das wußte. Er erinnerte sich an viele Dinge, die er niemals gesehen hatte, aus lange zu Staub zerfallenen Zeiten.

Mit einem schnellen Blick auf die Gewinnquoten des fünften Rennens an diesem Vormittag, die mit Kreide auf eine Schiefertafel geschrieben waren, nickte er. Wind war, trotz seiner Siege, nur als dritter Favorit genannt.

Mat wandte sich seinem Begleiter zu. »Setzt alles auf Wind, Nalesean.«

Der Tairener zögerte und zupfte nachdenklich an den Spitzen seines geölten Barts. Schweiß glänzte auf seinem Gesicht, und doch hielt er seinen Mantel mit den dicken, blaugestreiften Ärmeln bis obenhin geschlossen und trug eine blaue, eckige Samtkappe, die keinen Schutz vor der Sonne bot. »Alles, Mat?« Er sprach leise, wollte nicht, daß die Frau mithörte. Die Gewinnchancen konnten sich jederzeit ändern, bis man seine Wette tatsächlich plazierte. »Verdammt, aber dieser kleine Schecke sieht schnell aus, und der helle kastanienbraune Wallach mit der Silbermähne auch.« Sie waren heute die Favoriten, neu in der Stadt, und wie alles Neue mit großen Erwartungen behaftet.

Mat machte sich nicht die Mühe, zu den zehn Pferden zu blicken, die am nächsten Rennen teilnahmen und am Ende der Bahn aufgereiht standen. Er hatte bereits genau hingeschaut, als er Olver auf den Rücken von Wind setzte. »Alles. Irgendein Dummkopf hat dem Schecken den Schweif eingebunden. Die Fliegen machen ihn schon jetzt halbwegs verrückt. Der Kastanienbraune ist prächtig, aber er hat einen bösen Knick im Fesselgelenk. Vielleicht hat er Rennen auf dem Land gewonnen, aber heute wird er als letzter einlaufen.« Mit Pferden kannte Mat sich aus. Sein Vater hatte es ihm beigebracht, und Abell Cauthon besaß ein scharfes Auge für Pferde.

»Er wirkt auf mich mehr als prächtig«, grollte Nalesean, aber er stritt nicht mehr.

Die Buchmacherin blinzelte, als Nalesean seufzend eine dicke Geldbörse nach der anderen aus seinen Manteltaschen zog. Einmal öffnete sie den Mund, um Einspruch zu erheben, aber die Illustre und Ehrenwerte Gilde der Buchmacher behauptete schließlich stets, jede Wette in jeder Höhe anzunehmen. Sie wetteten sogar mit Schiffsbesitzern und Händlern, ob ein Schiff sinken oder sich die Preise ändern würden. Genauer gesagt, tat dies die Gilde selbst nicht einzelne Buchmacher. Das Gold verschwand in einer ihrer eisenbeschlagenen Kisten, deren jede von zwei Burschen mit Armen so dick wie Mats Beine getragen wurden. Ihre Wächter, mit harten Augen, Hakennasen und Lederwesten, die noch dickere Arme freigaben, hielten lange, mit Messing verstärkte Knüppel in der Hand. Ein anderer ihrer Männer reichte ihr eine weiße Marke mit einem genau gezeichneten blauen Fisch -jeder Buchmacher hatte ein anderes Zeichen -, und sie notierte die Wette, den Namen des Pferdes oder ein Symbol, das das Rennen anzeigte, mit einem feinen Pinsel, den sie einer von einem hübschen Mädchen gehaltenen Lackschachtel entnahm, auf der Rückseite der Marke. Das schlanke Mädchen mit den großen dunklen Augen lächelte Mat an. Die adlergesichtige Frau lächelte nicht. Sie verneigte sich erneut, gab dem Mädchen beiläufig einen Klaps und ging, mit dem Gildenvorsteher flüsternd, davon, der mit einem Tuch hastig die Schiefertafel abwischte. Als er sie erneut hochhielt, war Wind mit den schlechtesten Gewinnquoten aufgeführt. Das Mädchen rieb sich heimlich die Wange und blickte stirnrunzelnd zu Mat zurück, als sei der Klaps seine Schuld gewesen.

»Ich hoffe, Ihr habt Glück«, sagte Nalesean, der die Marke vorsichtig hochhielt, um die Tinte trocknen zu lassen. Buchmacher konnten sehr eigen sein, wenn sie auf eine Marke hin auszahlen sollten, auf der die Tinte verwischt war, und niemand war eigensinniger darin als ein Ebou Dari. »Ich weiß, daß Ihr nicht oft verliert, aber ich habe es schon geschehen sehen, verdammt, ich habe es schon erlebt. Ich möchte heute abend ein Mädchen zum Tanz ausführen. Nur eine Näherin...« Er war ein Lord, wenn auch wirklich kein schlechter Bursche, und solche Dinge schienen ihm wichtig zu sein. »...aber sehr hübsch. Sie mag Geschmeide. Goldgeschmeide. Sie mag auch Feuerwerk - ich habe gehört, daß für heute abend eines vorbereitet wird; das wird Euch interessieren -, aber Geschmeide läßt sie lächeln. Sie wird mir nicht freundlich gesonnen sein, wenn ich es mir nicht leisten kann, sie zum Lächeln zu bringen, Mat.«

»Ihr werdet sie zum Lächeln bringen«, sagte Mat abwesend. Die Pferde gingen an der Startposition noch immer im Kreis. Olver saß stolz auf Winds Rücken, den Mund zu einem sehr breiten Grinsen verzogen. Bei Ebou-Dari-Rennen waren alle Reiter Jungen. Wenige Meilen weiter landeinwärts ritten Mädchen. Olver war heute hier der kleinste und leichteste Reiter. Nicht daß der langbeinige graue Wallach den Vorteil gebraucht hätte. »Ihr werdet sie zum Lachen bringen, bis sie nicht mehr aufstehen kann.« Nalesean sah ihn stirnrunzelnd an, was Mat kaum bemerkte. Der Mann sollte wissen, daß Gold eine Sache war, über die sich Mat niemals Sorgen machte. Er gewann zwar vielleicht nicht immer, aber doch beinahe immer. Sein Glück hatte ohnehin nichts damit zu tun, ob Wind siegte. Dessen war er sich sicher.

Gold kümmerte ihn also nicht, aber Olver schon. Es gab keine Regel dagegen, daß die Jungen ihre Gerten gegeneinander anstatt bei den Pferden anwendeten. Bei jedem bisherigen Rennen hatte Wind die Führung übernommen und beibehalten, aber wenn Olver verletzt würde, auch wenn es nur eine leichte Prellung wäre, würde Mat schwere Vorwürfe gemacht bekommen - von Herrin Anan, seiner Wirtin, von Nynaeve und Elayne und von Aviendha oder Birgitte. Die ehemalige Tochter des Speers und die seltsame Frau, die Elayne als Behüterin erwählt hatte, waren die letzten, von denen er erwartet hätte, daß sie vor mütterlichen Gefühlen überströmten, und doch hatten sie bereits hinter seinem Rücken versucht, den Jungen aus der Wanderin heraus und in den Tarasin-Palast zu bringen. Ein Ort mit so vielen Aes Sedai war der schlechteste Platz für Olver oder sonst jemanden, aber anstatt Birgitte und Aviendha zu sagen, daß sie kein Recht hatten, den Jungen fortzubringen, würde Setalle Anan ihn wahrscheinlich selbst eilig davonzerren. Olver würde sich wahrscheinlich in den Schlaf weinen, wenn er keine Rennen mehr reiten durfte, aber Frauen verstanden diese Dinge nie. Mat verfluchte Nalesean zum ungefähr tausendsten Mal dafür, daß er Olver und Wind heimlich zu diesen ersten Rennen gebracht hatte. Natürlich mußten sie etwas finden, um all die vielen Mußesrunden auszufüllen, aber sie hätten etwas anderes finden können. Nach Ansicht der Frauen wäre Taschendiebstahl nicht schlimmer gewesen.

»Hier ist der Diebefänger«, sagte Nalesean und stopfte die Marke in seinen Mantel. Er grinste recht höhnisch. »Er hat bisher nicht viel geleistet. Wir hätten statt dessen lieber weitere fünfzig Soldaten mitbringen sollen.«

Juilin schritt zielbewußt durch die Menge, ein dunkler, harter Mann mit einem Bambusstab als Gehstock, der genauso groß war wie er selbst. Mit der flachen, konischen roten Kappe der Taraboner auf dem Kopf und einem einfachen, um die Taille gebundenen und sich dann bis auf die Stiefel bauschenden Mantel, der recht abgetragen und offensichtlich nicht der Mantel eines Reichen war, hätte er sich eigentlich nicht unterhalb der Seile aufhalten dürfen, aber er gab vor, die Pferde zu studieren, und ließ prahlerisch eine wertvolle Münze auf seiner Handfläche tanzen. Einige der Wächter der Buchmacher beobachteten ihn mißtrauisch, aber das Goldstück verschaffte ihm Zugang.

»Nun?« sagte Mat verärgert und zog seinen Hut tief in die Stirn, sobald der Diebefänger ihn erreichte. »Nein, laßt mich raten. Sie sind dem Palast erneut entkommen. Und wieder sah sie niemand gehen. Wieder hat niemand eine verdammte Idee, wo sie sein könnten,«

Juilin steckte die Goldmünze sorgfältig in seine Manteltasche. Er wettete nicht. Er schien jedes Kupferstück zu sparen, das ihm in die Hände geriet. »Sie nahmen alle vier vom Palast aus eine geschlossene Kutsche zu einem Anlegesteg am Fluß, wo sie ein Boot mieteten. Thom hat ein weiteres gemietet und ist ihnen gefolgt, um zu sehen, wohin sie gehen. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, vermutlich an keinen düsteren oder unerfreulichen Ort. Aber es stimmt schon - Adlige tragen sogar Seide, wenn sie im Schlamm wühlen.« Er grinste Nalesean an, der die Arme kreuzte und vorgab, in die Betrachtung der Pferde vertieft zu sein. Das Grinsen war lediglich ein Entblößen der Zähne. Beide waren Tairener, aber in Tear bestand eine breite Kluft zwischen Adligen und Bürgerlichen, und keiner fühlte sich in Gegenwart des anderen wohl.

»Frauen!« Mehrere vornehm gekleidete Frauen in ihrer Nähe wandten sich um und sahen Mat unter hellen Sonnenschirmen fragend an. Er erwiderte ihre Blicke stirnrunzelnd, obwohl zwei von ihnen hübsch waren, und sie begannen zu lachen und miteinander zu tuscheln, als hätte er etwas Lustiges gesagt. Eine Frau tat etwas, bis man sicher war, daß sie es immer tun würde, und dann tat sie etwas anderes, nur um einen zu verwirren. Aber er hatte Rand versprochen, dafür zu sorgen, daß Elayne sicher nach Caemlyn gelangte, und Nynaeve und Egwene mit ihr. Zudem hatte er Egwene versprochen, dafür zu sorgen, daß die anderen beiden auf dieser Reise nach Ebou Dar wohlbehütet waren, ganz zu schweigen von Aviendha. Das war der Preis dafür, Elayne nach Caemlyn zu bekommen. Nicht, daß sie ihm gesagt hatten, warum sie hier sein mußten - o nein. Nicht daß sie seit ihrer Ankunft in dieser verdammten Stadt auch nur zwanzig Worte mit ihm gewechselt hätten!

»Ich werde für ihre Sicherheit sorgen«, murrte er leise. »Und wenn ich sie in Fässer stecken und auf einem Karren nach Caemlyn befördern muß.« Er war vielleicht der einzige Mann auf der Welt, der das über Aes Sedai sagen konnte, ohne über die Schulter sehen zu müssen, vielleicht sogar der einzige einschließlich Rand und jenen Burschen, die er um sich versammelte. Er berührte das Fuchskopf-Medaillon unter seinem Hemd, um sich zu vergewissern, daß es da war, obwohl er es niemals abnahm, nicht einmal beim Baden. Es hatte Fehler, aber ein Mann ließ sich gern erinnern.

»Tarabon muß jetzt furchtbar sein für eine Frau, die nicht daran gewöhnt ist, auf sich aufzupassen«, murmelte Juilin. Er beobachtete, wie drei verschleierte Männer in zerrissenen Mänteln und ausgebeulten, einstmals weißen Hosen vor zwei knüppelschwingenden Wächtern der Buchmacher die Bänke hinaufkletterten. Keine Regel bestimmte, daß arme Menschen sich nicht unterhalb der Seile aufhalten durften, aber die Wächter der Buchmacher bestimmten es. Die beiden hübschen Frauen, die Mat beobachtet hatten, schienen eine private Wette darauf abzuschließen, ob die Taraboner den Wächtern entkämen oder nicht.

»Wir haben hier mehr als genug Frauen ohne Verstand«, belehrte Mat ihn. »Geht wieder zu diesem Anlegesteg zurück und wartet auf Thom. Sagt ihm, daß ich ihn so bald wie möglich brauche. Ich will wissen, was diese törichten Frauen vorhaben.«

Juilins Blick wirkte recht verdutzt. Genau das hatten sie immerhin seit über einem Monat herauszufinden versucht, seitdem sie hierhergekommen waren. Mit einem letzten Blick auf den fliehenden Mann schlenderte er den Weg zurück, den er gekommen war, und ließ die Münze erneut auf seiner Handfläche tanzen.

Mat spähte stirnrunzelnd über die Rennbahn. Die gegenüberliegende Zuschauermenge war kaum fünfzig Fuß entfernt, und einige Gesichter fielen ihm auf - ein gebeugter, weißhaariger alter Mann mit einer Hakennase, eine Frau mit einem scharfgeschnittenen Gesicht unter einem Hut, der fast nur aus Federn zu bestehen schien, ein großer Bursche, der wie ein Storch in grüner Seide mit Goldborte wirkte und eine recht dralle junge Frau mit vollen Lippen, die oben aus ihrem Gewand herauszuquellen schien. Je länger die Hitze anhielt desto weniger und dünnere Kleidung trugen die Frauen in Ebou Dar, aber dieses Mal achtete er kaum darauf. Wochen waren vergangen, seit er die Frauen auch nur angesehen hatte, die ihn jetzt beschäftigten.

Birgitte brauchte gewiß niemanden, der ihr die Hand hielt. Sie war eine Jägerin des Horns, und jedermann, der ihr Ärger bereitete, würde seinen Irrtum sehr schnell einsehen. Und Aviendha... Sie brauchte nur jemanden, der sie davon abhielt, alle zu erstechen, die sie schief ansahen. Soweit es ihn betraf, konnte sie erstechen, wen immer sie wollte, solange es nicht Elayne war. Auch wenn die verdammte Tochter-Erbin eingebildet einherstolzierte, sah sie sich doch mit großen Augen zu Rand um, und wenn Aviendha sich auch verhielt, als wollte sie jeden Mann erdolchen, der in ihre Richtung schaute, tat sie es ihr doch gleich. Rand wußte für gewöhnlich, wie er mit Frauen umgehen mußte, aber er hatte sich eine schwere Bürde aufgeladen, als er diese beiden zusammengebracht hatte. Die Katastrophe war unausweichlich, und es war Mat ein Rätsel, warum sie noch nicht eingetreten war.

Aus einem unbestimmten Grund schwenkte sein Blick zu der Frau mit den scharf geschnittenen Gesichtszügen zurück. Sie war hübsch, wenn sie auch etwas Fuchsartiges hatte. Er schätzte sie ungefähr auf Nynaeves Alter. Es war auf die Entfernung schwer festzustellen, aber er konnte Frauen genauso gut einschätzen wie Pferde, wenn Frauen einen natürlich auch schneller narren konnten als jedes Pferd. Sie war schlank. Warum mußte er bei ihr an Stroh denken? Ihr unter dem Federhut herauslugendes Haar war dunkel. Gleichgültig.

Birgitte und Aviendha konnten ohne seine Anleitung zurechtkommen, und normalerweise hätte er dasselbe von Elayne und Nynaeve behauptet wie verbohrt, eingebildet und regelrecht unverschämt sie auch sein konnten. Daß sie die ganze Zeit davongeschlichen waren, besagte jedoch etwas anderes. Verbohrtheit war der Schlüssel. Sie gehörten zu der Sorte Frauen, die einen Mann davonjagten, wenn er sich einmischte, und ihn aber erneut abwiesen, wenn er da war, wenn sie ihn brauchten. Nicht daß sie zugeben würden, daß er gebraucht wurde, selbst dann nicht, nicht sie. Erhebe eine helfende Hand, und du mischst dich ein, tue nichts, und du bist ein unwürdiger Schurke.

Sein Blick fiel erneut auf die Frau mit dem fuchsähnlichen Gesicht ihm gegenüber. Nicht Stroh, vielmehr ein Stall. Was nicht mehr Sinn machte. Er hatte schöne Zeiten mit manch einer jungen Frau und einigen nicht mehr ganz so jungen Frauen in Ställen verbracht, aber diese trug hochgeschlossene blaue Seide mit schneeweißer Spitze an Kragen und Manschetten. Eine Lady, und er mied adlige Damen wie die Pest. Sie spielten die Stolzen und erwarteten stets, daß ein Mann zu ihrer Verfügung stand. Nicht Mat Cauthon. Seltsamerweise fächelte sie sich mit einem Sprühregen von Federn Kühle zu. Wo war ihre Zofe? Ein Messer. Warum sollte sie ihn an ein Messer denken lassen? Und ... an Feuer? Auf jeden Fall an etwas Brennendes.

Mat schüttelte den Kopf und versuchte, sich auf Wichtigeres zu konzentrieren. Die Erinnerungen anderer Menschen an Schlachten und Höfe und vor Jahrhunderten verschwundene Länder füllten Lücken in seinen Erinnerungen, Momente, in denen sein eigenes Leben plötzlich dürftig wurde oder gar nicht mehr zählte. Er konnte sich recht deutlich daran erinnern, den Zwei Flüssen mit Moiraine und Lan entflohen zu sein, aber dann an fast nichts mehr, bis sie Caemlyn erreichte, und auch vorher und nachher bestanden Lücken. Wenn vollständige Jahre seines eigenen Aufwachsens im Dunkellagen - warum sollte er dann erwarten können, sich an jede Frau zu erinnern, der er begegnet war? Vielleicht erinnerte sie ihn an irgendeine Frau, die schon tausend Jahre oder länger tot war. Das Licht wußte, daß dies häufig genug geschah. Selbst Birgitte regte manchmal seine Erinnerung an. Nun, es gab hier und jetzt vier Frauen, die seinen Geist gefangenhielten. Sie waren wichtig.

Nynaeve und die anderen mieden ihn, als hätte er Flöhe. Fünfmal war er im Palast gewesen, und das einzige Mal, daß sie ihn vorgelassen hatten, war nur geschehen, um ihm zu sagen, daß sie zu beschäftigt seien, um sich um ihn zu kümmern, woraufhin sie ihn davonschickten wie einen Botenjungen. Alles lief auf eines hinaus: Sie glaubten, er würde sich in das einmischen, was immer sie vorhatten, doch der einzige Grund, warum er das täte, wäre, wenn sie sich in Gefahr begaben. Sie waren keine Närrinnen, häufig unbedacht, aber keine vollständigen Närrinnen. Wenn sie eine Gefahr sahen, bestand eine Gefahr. An einigen Orten in dieser Stadt würde man sich ein Messer zwischen den Rippen einhandeln, wenn man ein Fremder war oder Geld offen zeigte, und nicht einmal das Lenken der Einen Macht könnte dies verhindern, wenn sie es nicht rechtzeitig bemerkten. Und hier war er, mit Nalesean und einem Dutzend guten Männern der Bande, ganz zu schweigen von Thom und Juilin, die Räume in den Bedienstetenquartieren des Palasts belegten, wo sie nur die Daumen drehen konnten. Diese dickköpfigen Frauen würden dennoch getötet werden. »Nicht, wenn ich es verhindern kann«, grollte er.

»Was?« fragte Nalesean. »Seht, sie stellen sich auf, Mat. Das Licht verbrenne meine Seele, aber ich hoffe, Ihr habt recht. Dieser Schecke wirkt auf mich nicht halb verrückt, sondern sehr eifrig.«

Die Pferde tänzelten, nahmen ihre Plätze zwischen hohen, in den Boden gesteckten Stangen ein, an deren Spitzen in einer warmen Brise Wimpel in Blau und Grün und jeder anderen Farbe sowie einige gestreift wehten. Fünfhundert Schritte die Bahn aus festgetretener roter Erde hinab bildeten eine identische Anzahl Stangen eine weitere Reihe. Jeder Reiter mußte um die Stange mit dem Wimpel, der die gleiche Farbe trug wie derjenige, der am Start zu seiner Rechten flatterte, herum- und wieder zurückreiten. Je ein Buchmacher stand an beiden Enden der Reihe Pferde, eine rundliche Frau und ein noch rundlicherer Mann, die beide ein weißes Tuch über den Kopf hielten. Die Buchmacher übernahmen den Start und durften für ein Rennen, das sie starteten, keine Wetten annehmen.

»Verdammt«, murrte Nalesean.

»Licht, Mann, beruhigt Euch. Ihr werdet Eure Näherin bald unter dem Kinn kraulen.« Ein Tosen übertönte das letzte Wort, als die Tücher gesenkt wurden und die Pferde vorwärts preschten. Selbst das Geräusch ihrer Hufe ging im Lärm der Menge unter. Wind hatte bereits nach zehn Schritten die Führung übernommen. Olver drückte sich flach an seinen Hals, und der Kastanienbraune mit der Silbermähne lag nur eine Kopflänge zurück. Der Schecke lief im Hauptfeld mit, wo die Reiter ihre Gerten bereits heftig benutzten.

»Ich habe Euch gesagt, daß der Kastanienbraune gefährlich ist«, stöhnte Nalesean. »Wir hätten nicht alles verwetten sollen.«

Mat machte sich nicht die Mühe zu antworten. Er hatte noch einen Geldbeutel in seiner Tasche und außerdem noch lose Münzen. Er nannte den Geldbeutel sein Saatgut. Damit, auch wenn sich nur wenige Münzen darin befanden, und mit einem Würfelspiel konnte er sein Vermögen wieder aufstocken, gleichgültig, was heute morgen geschah. Auf halber Strecke hielt Wind noch immer die Spitze, während sich der Kastanienbraune, der ihm auf den Fersen blieb, eine volle Länge vor dem nächsten Pferd befand. Der Schecke lief auf fünfter Position. Nach der Wende würde es gefährlich. Es war bekannt, daß die Jungen auf den Nachzügler-Pferden auf diejenigen einschlugen, die die Stangen vor ihnen umrundeten.

Als Mats Blick den Pferden folgte, schwenkte er auch wieder über die Frau mit dem scharfgeschnittenen Gesicht ... und zuckte zurück. Die Rufe und Schreie der Menge verklangen. Die Frau deutete mit ihrem Fächer auf die Pferde und hüpfte aufgeregt auf und ab, aber plötzlich sah er sie in Hellgrün und einem üppig grauen Umhang, das Haar in einem glänzenden Spitzennetz, die Röcke elegant gerafft, während sie von einem Stall nicht weit von Caemlyn herankam.

Rand lag noch immer stöhnend dort im Stroh, obwohl das Fieber gesunken zu sein schien. Zumindest schrie er keine Menschen mehr an, die nicht da waren. Mat betrachtete die Frau mißtrauisch, als sie sich neben Rand kniete. Vielleicht konnte sie helfen, wie sie behauptet hatte, aber Mat traute ihr nicht mehr so wie früher. Was tat eine edle Dame wie sie in einem Dorfstall? Er betastete das mit Rubinen besetzte Heft seines vom Umhang verborgenen Dolchs und fragte sich, warum er ihr jemals getraut hatte. Es zahlte sich niemals aus. Niemals.

»...schwach wie ein einen Tag altes Kätzchen«, sagte sie gerade, während sie unter ihren Umhang griff. »Ich glaube...«

Ein Dolch blitzte so plötzlich in ihrer Hand auf, mit dem sie auf Mats Kehle zielte, daß er tot gewesen wäre, wenn er nicht vorbereitet gewesen wäre. Er ließ sich flach zu Boden fallen, ergriff ihr Handgelenk und stieß es einfach von sich fort, während die gebogene Shadar-Logoth-Klinge emporschoß und an ihrem weißen Hals zu liegen kam. Die Frau erstarrte und versuchte, auf die ihre Haut eindrückende, scharfe Schneide hinabzublicken. Er wollte sie verletzen. Besonders als er die Stelle sah, an der ihr Dolch in die Stallwand eingedrungen war. Um die schmale Klinge bildete sich ein verkohlter Kreis, und eindünner grauer Rauchfaden stieg von dem Holz auf, das gleich entflammen würde.

Mat rieb sich zitternd mit der Hand über die Augen.

Es hatte ihn schon fast das Leben gekostet, diesen Shadar-Logoth-Dolch zu tragen, da er die Lücken in seine Erinnerung gefressen hatte, aber wie konnte er eine Frau vergessen, die ihn zu töten versucht hatte? Eine Schattenfreundin - das hatte sie zugegeben -, die ihn mit einem Dolch zu töten versuchte, der einen Eimer Wasser fast zum Kochen brachte, als sie ihn hineinwarfen, nachdem sie sie eingesperrt hatten. Eine Schattenfreundin, die Rand und ihn gejagt hatte. War es ein Zufall, daß sie zum gleichen Zeitpunkt wie er in Ebou Dar war - bei denselben Rennen, am gleichen Tag? Vielleicht war Ta'veren die Antwort - er dachte daran ungefähr genauso gern wie an das verdammte Horn von Valere -, aber Tatsache war, daß die Verlorenen seinen Namen kannten. Der Stall war nicht die letzte Gelegenheit gewesen, bei der Schattenfreunde Mat Cauthon ein Ende bereiten wollten.

Er schwankte, als Nalesean ihm plötzlich auf den Rücken schlug. »Seht ihn Euch an, Mat! Licht des Himmels, seht ihn Euch an!«

Die Pferde hatten die Stangen am anderen Ende der Bahn umrundet und befanden sich bereits auf dem Rückweg. Den Kopf vorgestreckt, Mähne und Schweif hinter ihm herflatternd, raste Wind die Rennbahn hinab, während Olver sich an seinen Rücken schmiegte, als wäre er ein Teil des Sattels. Der Junge ritt, als sei er auf dem Pferderücken geboren. Vier Längen hinter ihm mühte sich der Schecke ab, dessen Reiter in dem nutzlosen Unterfangen aufzuholen die Gerte gebrauchte. In dieser Formation ritten sie über die Ziellinie, wobei das direkt auf Wind folgende Pferd noch immer drei Längen zurücklag. Der Kastanienbraune mit der Silbermähne lief als letzter ein. Das Stöhnen und Murren der Wetter, die verloren hatten, übertönte die Rufe der Gewinner. Die Marken der verlorenen Wetten regneten weiß auf die Bahn, und Dutzende von Dienern von Buchmachern eilten hin, um sie vor dem nächsten Rennen aufzusammeln.

»Wir müssen diese Frau finden, Mat. Ich halte es für durchaus möglich, daß sie davonläuft, ohne uns zu bezahlen, was sie uns schuldet.« Nach dem, was Mat gehört hatte, ging die Gilde der Buchmacher überaus hart mit Mitgliedern um, die zum ersten Mal so etwas versuchten, und beim zweiten Mal endete es tödlich, aber sie waren Bürgerliche, und das genügte Nalesean.

»Sie steht gut sichtbar direkt dort drüben.« Mat deutete hin, ohne die Schattenfreundin mit dem fuchsartigen Gesicht aus den Augen zu lassen. Sie betrachtete eine Marke in ihrer Hand, warf sie zu Boden und raffte sogar die Röcke, um daraufzutreten. Sie hatte offensichtlich nicht auf Wind gesetzt. Mit noch immer verzerrtem Gesicht bahnte sie sich ihren Weg durch die Menge. Mat erstarrte. Sie ging. »Holt unsere Gewinne, Nalesean, und bringt Olver dann zur Schenke. Wenn er seine Lesestunden verpaßt, werdet Ihr mit der Schwester des Dunklen Königs Bekanntschaft machen, bevor Herrin Anan ihn ein weiteres Rennen bestreiten läßt.«

»Wohin geht Ihr?«

»Ich habe eine Frau gesehen, die mich einmal zu töten versucht hat«, sagte Mat über die Schulter.

»Schenkt Ihr das nächste Mal Geschmeide«, rief Nalesean ihm nach.

Es war nicht weiter schwer, der Frau zu folgen, da ihr weiß befiederter Hut wie ein Banner durch die Menge zog. Die Sitzbänke mündeten auf eine große, offene Fläche, auf der unter den wachsamen Augen der Kutscher und Sänftenträger bunt lackierte Karossen und Sänften warteten. Mats Pferd Pips stand unter Aufsicht der Alten und Angesehenen Gilde der Stallknechte. In Ebou Dar gab es für die meisten Berufe eine Gilde, und wehe demjenigen, der ihr Terrain unbefugt betrat. Er hielt inne, aber die Frau ging an den Transportmitteln vorbei, die die Hochrangigen und Reichen hierhergebracht hatten. Keine Dienerin, und jetzt nicht einmal ein Sitzplatz. Niemand lief in dieser Hitze zu Fuß, der sich eine Kutsche leisten konnte. War es Mylady schlecht ergangen?

Der Silberkreis lag unmittelbar südlich der großen, weiß getünchten Stadtmauer, und sie schlenderte die ungefähr hundert Schritte bis zum breiten, spitz zulaufenden Bogen des Moldine-Tores entlang und dann hindurch. Mat versuchte, ihr unauffällig zu folgen. Das Tor bildete einen zehn Spann langen, düsteren Tunnel, aber ihr Hut hob sie von der übrigen Menge ab. Menschen, die zu Fuß gehen mußten, trugen selten Federn. Sie schien zu wissen, wohin sie auf der anderen Seite wollte. Die Federn schoben sich vor ihm durch die Menge, nicht eilig, aber stets in Bewegung.

Ebou Dar schimmerte in der Sonne weiß. Weiße Paläste mit marmornen Säulen und sonnengeschützten Balkonen mit schmiedeeisernen Gittern Seite an Seite mit weiß getünchten Geschäften von Webern und Fischhändlern und mit Ställen und großen weißen Häusern mit schräggestellten Fensterläden, die Bogenfenster verbargen, neben weißen Schenken mit davor hängenden gemalten Schildern und offenen Marktständen unter langgezogenen Dächern, wo Schafe und Hühner, Kälber und Gänse und Enten neben ihren bereits geschlachteten und aufgehängten Artgenossen ein Scheunenhof-Getöse veranstalteten. Alles war weiß, Steine oder Tünche, außer hier und dort sichtbaren roten oder blauen oder goldenen Bändern auf wie Rüben geformten Kuppeln und spitz zulaufenden Erkern, um die Balkone verliefen. Überall gab es Plätze, immer mit einer überlebensgroßen Statue auf einem Podest oder einem spritzenden Springbrunnen, der die Hitze nur noch unterstrich, und immer gedrängt voller Menschen. Flüchtlinge erfüllten die Stadt sowie Kaufleute und Händler aller Art. Es gab niemals Schwierigkeiten, die einem anderen nicht Profit einbrachten. Was Saldaea einst nach Arad Doman gesandt hatte, kam jetzt den Fluß hinab nach Ebou Dar, und ebenso das, womit Amadicia in Tarabon gehandelt hatte. Jedermann hastete umher, für eine oder tausend Münzen, für einen Bissen zu essen für den heutigen Tag. Der in der Luft liegende Duft bestand zu gleichen Teilen aus Parfüm, Staub und Schweiß. Und irgendwie roch alles nach Verzweiflung.

Kanäle voller Lastkähne durchschnitten die Stadt, von Dutzenden von Brücken überspannt, einige so schmal, daß zwei Menschen sich aneinander vorbeiquetschen mußten, andere ausreichend groß, daß sie sogar von Geschäften gesäumt wurden, die über das Wasser ragten. Auf einer dieser Brücken erkannte Mat plötzlich, daß der weiß befiederte Hut stehengeblieben war. Menschen eilten um Mat herum, als er ebenfalls stehenblieb. Die Brückengeschäfte waren genau betrachtet nur offene Holzbuden mit schweren, aus Bohlen gezimmerten Läden, die heruntergelassen wurden, um die Geschäfte nachts zu schließen. In hochgestellter Position wiesen sie Schilder der Geschäfte auf. Dasjenige über dem Federhut zeigte eine goldene Waage und einen Hammer, das Zeichen der Gilde der Goldschmiede, wenn auch eindeutig nicht dasjenige eines sehr wohlhabenden Mitglieds. Durch eine kurzzeitig bestehende Lücke in der Menge sah Mat die Frau zu sich zurückschauen und wandte sich schnell dem kleinen Stand zu seiner Rechten zu. An der Rückwand hingen Fingerringe, und auf Brettern waren in allen Formen geschliffene Steine ausgelegt.

»Wünscht mein Lord einen neuen Siegelring?« fragte der vogelähnliche Bursche hinter dem Ladentisch, während er sich verbeugte und sich die Hände rieb. Er war dünn wie eine Bohnenstange und machte sich keine Sorgen darum, daß jemand seine Waren stehlen könnte, denn in einer Ecke des Stands kauerte ein einäugiger Bursche auf einem Stuhl, der vielleicht Mühe gehabt hatte, aufrecht darin zu stehen, mit einem langen, mit Nägeln beschlagenen Knüppel zwischen den wuchtigen Knien. »Ich kann Euch jedes Muster anfertigen, wie mein Lord sehen kann, und ich habe natürlich Proberinge da, um die erforderliche Größe festzustellen.«

»Zeigt mir diesen.« Mat deutete blindlings irgendwohin. Er brauchte einen Grund, um hier stehenzubleiben, bis die Frau weiterging. Vielleicht konnte er die Zeit nutzen, um zu entscheiden, was er tun sollte.

»Ein gutes Beispiel für den jetzt sehr beliebten Längsstil. Dieser Ring ist aus Gold, aber ich fertige auch Silberarbeiten an. Nun, ich glaube, die Größe ist richtig. Wenn mein Lord ihn anprobieren möchte? Wollen mein Lord vielleicht den ausgezeichneten Schliff betrachten? Bevorzugt mein Lord Gold oder Silber?«

Mit einem Brummen, von dem er hoffte, daß es als Antwort auf irgendeine dieser Fragen gewertet würde, schob Mat den angebotenen Ring auf den Ringfinger seiner linken Hand und gab vor, das dunkle Oval des geschliffenen Steins zu betrachten. Aber in Wahrheit sah er nur, daß er so lang wie sein Fingergelenk war. Mit gesenktem Kopf beobachtete er aus den Augenwinkeln die Frau - so gut es durch Lücken in der Menge möglich war. Sie hielt eine breite, flache, goldene Halskette ins Licht.

In Ebou Dar gab es eine Bürgerwehr, aber keine sehr erfolgreiche, die in den Straßen nur selten zu sehen war. Wenn er die Frau anzeigte, würde sein Wort gegen ihres stehen, und selbst wenn man ihm glaubte, würde sie vielleicht sogar bei dieser Anschuldigung gegen ein paar Münzen freikommen. Die Bürgerwehr war preiswerter als ein Richter, aber beide konnten gekauft werden, wenn nicht ein Mächtiger zusah, und selbst dann war es möglich, wenn genug Gold geboten wurde.

Ein Aufruhr in der Menge gab plötzlich einen Weißmantel frei, dessen konischer Helm und langes Kettenhemd wie Silber schimmerten und dessen weißer Umhang mit der flammenden goldenen Sonne sich bauschte, als er einherschritt, zuversichtlich, daß sich ein Weg vor ihm eröffnen würde. Was natürlich geschah. Kaum jemand war bereit, sich den Kindern des Lichts in den Weg zu stellen. Dennoch wurden die Blicke eines jeden, der die Augen von dem Mann mit dem steinernen Gesicht abwandte, durch anerkennende Blicke anderer ersetzt. Die Frau mit dem scharfgeschnittenen Gesicht sah ihn nicht nur offen an, sie lächelte sogar. Eine gegen sie vorgebrachte Beschuldigung würde sie vielleicht - oder vielleicht auch nicht - ins Gefängnis bringen, aber das konnte dann der Funke sein, der in der ganzen Stadt Erzählungen über Schattenfreunde im Tarasin-Palast anregte. Weißmäntel waren gut darin, den Pöbel aufzuwiegeln, und für sie waren Aes Sedai Schattenfreunde. Als das Kind des Lichts an der Frau vorüberging, legte sie die Kette, offensichtlich bedauernd, zurück und wandte sich zum Gehen.

»Gefällt der Stil meinem Lord?«

Mat zuckte zusammen. Er hatte den mageren Mann und den Ring vergessen. »Nein, ich möchte nicht...« Er zog stirnrunzelnd an dem Ring. Er wollte sich nicht bewegen!

»Nicht ziehen. Ihr könntet den Stein zerbrechen.« Jetzt, wo er kein potentieller Kunde mehr war, war Mat auch nicht länger ein Lord. Der Bursche rümpfte die Nase und beobachtete ihn scharf, damit er nicht davonliefe. »Ich habe etwas Fett. Deryl, wo ist die Dose mit dem Fett?« Der Wächter blinzelte und kratzte sich den Kopf, als frage er sich, was eine Dose mit Fett sei. Der weiß befiederte Hut hatte die Brücke bereits halbwegs überquert.

»Ich werde ihn nehmen«, fauchte Mat. Es war keine Zeit zu feilschen. Er nahm eine Handvoll Münzen aus seiner Umhangtasche und warf sie auf den Ladentisch - überwiegend Gold und ein wenig Silber. »Genügt das?«

Die Augen des Ringmachers quollen hervor. »Es ist etwas zu viel«, erwiderte er mit zitternder Stimme. Seine Hand zögerte über den Münzen, und dann schob er Mat mit zwei Fingern einige Silbermünzen wieder zu. »Soviel?«

»Gebt sie Deryl«, grollte Mat, als der verdammte Ring plötzlich doch noch von seinem Finger glitt. Der magere Mann sammelte schnell die restlichen Münzen ein. Es war zu spät, um den Handel rückgängig zu machen. Mat fragte sich, wie viele Goldstücke er zuviel bezahlt hatte. Er stopfte den Ring in seine Tasche und eilte hinter der Schattenfreundin her. Der Hut war nirgends mehr zu sehen.

Zwei Statuen zierten das Ende der Brücke, über einen Spann große Frauengestalten aus hellem Marmor, jede mit einer entblößten Brust und einer himmelwärts erhobenen Hand. In Ebou Dar bedeutete eine entblößte Brust Offenheit und Ehrlichkeit. Mat ignorierte die Blicke, kletterte neben eine der Frauengestalten hinauf und hielt sich, einen Arm um ihre Taille gelegt, fest. Entlang dem Kanal verlief eine Straße, und zwei weitere zweigten im Winkel davon ab, alle voller Leute und Karren, Sänften und Wagen und Kutschen. Jemand rief mit rauher Stimme, lebendige Frauen seien wärmer, und ein Teil der Menge lachte. Weiße Federn erschienen hinter einer blau lackierten Kutsche in der linken Abzweigung der Straße.

Mat sprang hinab und eilte die Straße entlang hinter der Frau her, wobei er die Flüche jener ignorierte, die er anstieß. Bei den vielen Leuten und mit ihm ständig in den Weg geratenden Wagen und Kutschen konnte er den Hut von der Straße aus nicht deutlich im Auge behalten. Er sprang die breiten Marmorstufen eines Palasts hinauf, erblickte den Hut erneut, lief wieder hinab und drängte weiter vorwärts. Der Rand eines großen Springbrunnens ermöglichte ihm einen weiteren Blick, dann ein umgedrehtes Faß an einer Wand und eine Kiste, die gerade von einem Ochsenkarren geladen worden war. Einmal klammerte er sich an die Seite eines Wagens, bis ihn die Kutscherin mit ihrer Peitsche bedrohte. Durch all sein Klettern und Schauen kam er der Schattenfreundin nicht wesentlich näher. Aber andererseits wußte er auch nicht, was er tun sollte, falls er sie einholte. Plötzlich, als er sich auf die schmale Mauerkrönung vor einem der großen Häuser zog, war sie nicht mehr da.

Er blickte erschreckt die Straße hinauf und hinab. Die weißen Federn wogten nicht mehr durch die Menge. Er konnte leicht ein halbes Dutzend Häuser wie dasjenige, an dem er kauerte, mehrere Paläste unterschiedlicher Größen, zwei Gasthäuser, drei Schenken, den Laden eines Scherenschleifers mit einem Messer und einer Schere auf dem Ladenschild, einen Fischhändler mit fünfzig Sorten Fisch, zwei Teppichknüpfer mit eingerollten Teppichen auf Tischen unter den Planen, einen Schneiderladen und vier Stoffverkäufer, zwei Läden mit Lackwaren, einen Goldschmied, einen Silberschmied, einen Mietstall und anderes überblicken. Die Liste war zu lang. Sie hätte in jedes dieser Gebäude hineingehen können. Sie hätte, von ihm unbemerkt, um eine Ecke gehen können.

Er sprang wieder hinab, richtete seinen Hut und murrte leise vor sich hin ... und sah sie plötzlich oben auf einer breiten, zu einem ihm fast gegenüberstehenden Palast führenden Marmortreppe stehen, bereits halbwegs von hohen, kannelierten Säulen verborgen. Es war kein großer Palast, er wies nur zwei schmale Erker und eine einzige birnenförmige, gestreifte Kuppel auf. In den Palästen Ebou Dars war das Erdgeschoß stets Dienern und Küchen und ähnlichem vorbehalten. Die besseren Räume waren höher angesiedelt, um jede Brise zu nutzen. Schwarz und Gelb livrierte Türsteher verbeugten sich tief und öffneten die verzierten Türen bereits weit, noch bevor die Frau sie erreicht hatte. Eine Dienerin im Innern vollführte einen Hofknicks, sagte offensichtlich etwas, wandte sich dann sofort um und führte sie weiter hinein. Die Frau war dort bekannt. Er hätte alles darauf verwettet.

Nachdem sich die Türen geschlossen hatten, stand Mat eine Weile nur da und beobachtete den Palast. Es war bei weitem nicht der wohlhabendste in der Stadt, aber nur ein Adliger würde es wagen, ein solches Gebäude zu errichten. »Aber wer, im Krater des Verderbens, lebt dort?« murmelte er schließlich, während er seinen Hut abnahm, um sich Luft zuzufächeln. Nicht sie, nicht, wenn sie zu Fuß gehen mußte. Einige in den Schenken entlang der Straße gestellte Fragen würden ihm Aufschluß geben. Und die Nachricht, daß er Fragen stellte, würde gewiß auch bis zum Palast durchsickern.

Jemand sagte: »Carridin.« Es war ein dürrer, weißhaariger Bursche, der in der Nähe in den Schatten herumlungerte. Mat sah ihn fragend an, und er grinste, wodurch Zahnlücken sichtbar wurden. Seine gebeugten Schultern und das verwitterte Gesicht paßten nicht zu seinem edlen grauen Umhang. Trotz etwas Spitze an seinem Hals war er das Abbild schlechter Zeiten. »Ihr habt gefragt, wer dort lebt. Der Chelsaine-Palast wurde an Jaichim Carridin verpachtet.«

Mat hielt in seiner Bewegung inne, sich Luft zuzufächeln. »Ihr meint den Gesandten der Weißmäntel?«

»Ja. Und den Inquisitor der Hand des Lichts.« Der alte Mann tippte mit einem knotigen Finger seitlich an seine Hakennase. Beide schienen mehrmals gebrochen gewesen zu sein. »Kein Mann, den man stören sollte, wenn man nicht unbedingt muß, und selbst dann würde ich noch dreimal darüber nachdenken.«

Mat summte unbewußt einige Töne aus ›Sturm von den Bergen‹ vor sich hin. Tatsächlich - kein Mann, den man stören sollte. Zweifler waren die unangenehmsten Weißmäntel. Ein Weißmantel-Inquisitor, dessen Ruf eine Schattenfreundin folgte.

»Danke...« Mat zuckte zusammen. Der Bursche war fort, von der Menge verschluckt. Seltsam, aber er war ihm irgendwie vertraut erschienen. Vielleicht ein weiterer, vor langer Zeit gestorbener Bekannter aus jenen alten Erinnerungen. Vielleicht... Dann traf es ihn, als wäre das Schauspiel eines Feuerwerkers in seinem Kopf explodiert. Ein weißhaariger Mann mit Hakennase. Dieser alte Mann war im Silberkreis gewesen, hatte nicht weit von der Frau entfernt gestanden, die gerade in Carridins Palast verschwunden war. Mat drehte seinen Hut in den Händen und blickte unbehaglich die Stirn runzelnd zum Palast. Er konnte die Würfel in seinem Kopf plötzlich fallen spüren, und das war stets ein schlechtes Zeichen.

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