Morgase lag wach, starrte durch die monderleuchtete Düsternis an die Decke und versuchte, an ihre Tochter zu denken. Ein einziges helles Leintuch bedeckte sie, aber sie schwitzte in ihrem dicken, bis zum Hals geschlossenen Nachtgewand. Doch das war unwichtig. Ungeachtet des Umstands, wie häufig sie badete, ungeachtet dessen, wie heiß das Wasser war, fühlte sie sich nicht sauber. Elayne mußtc wohlbehalten in die Weiße Burg gelangt sein. Manchmal schien es ihr Jahre her, seit sie sich dazu bringen konnte, einer Aes Sedai zu trauen, aber welche Widersprüche auch immer aufkamen - die Burg war gewiß der sicherste Platz für Elayne. Sie versuchte, an Gawyn zu denken - er würde bei seiner Schwester in Tar Valon sein, voller Stolz auf sie und aufrichtig bemüht, sie zu beschützen, wenn sie Schutz brauchte. Und an Galad -warum durfte sie ihn nicht sehen? Sie liebte ihn so sehr, als hätte sie ihn selbst geboren, und er brauchte diese Liebe auf vielerlei Arten mehr als die beiden anderen. Sie bemühte sich, an sie zu denken. Es war schwierig, an irgend etwas anderes zu denken als... Sie starrte mit geweiteten, vor unvergessenen Tränen schimmernden Augen in die Dunkelheit.
Sie hatte stets geglaubt, sie sei ausreichend tapfer zu tun, was auch immer getan werden müßte, und sich dem zu stellen, was auch immer auf sie zukäme. Sie hatte stets geglaubt, sie könnte sich wieder aufraffen und weiter kämpfen. Rhadam Asunawa hatte sie in einer endlos scheinenden Stunde eines Besseren belehrt, ohne mehr als nur wenige blaue Flecke zu hinterlassen, die bereits verblaßten. Eamon Valda hatte ihre Ausbildung mit einer Frage vollendet. Der blaue Fleck, den ihre Antwort auf ihrem Herzen hinterlassen hatte, war nicht verblaßt. Sie hätte zu Asunawa zurückgehen und ihm sagen sollen, daß er machen könnte, was er wollte. Sie hatte... Sie betete darum, daß Elayne in Sicherheit war. Vielleicht war es ungerecht, für Elayne mehr zu erhoffen als für Galad oder Gawyn, aber Elayne wäre die nächste Königin von Andor. Die Burg würde die Gelegenheit nicht versäumen, eine Aes Sedai auf den Löwenthron zu bringen. Wenn sie Elayne nur noch einmal sehen könnte, wenn sie alle ihre Kinder nur noch einmal sehen könnte.
Etwas raschelte in dem dunklen Schlafraum, und sie hielt den Atem an und bekämpfte ein Zittern. Sie konnte im schwachen Mondlicht kaum die Bettpfosten erkennen. Valda und Asunawa waren gestern von Amador nordwärts geritten, mit lausenden von Weißmänteln, die sich dem Propheten entgegenstellen sollten, aber wenn er zurückgekommen war, wenn er...
Ein Umriß in der Dunkelheit schälte sich zu einer Frauengestalt heraus, die aber zu klein war, als daß es Lini hätte sein können. »Ich dachte mir schon, daß Ihr noch wach seid«, sagte Breanes Stimme sanft. »Trinkt dies - es wird Euch helfen.« Die Cairhienerin versuchte, Morgase einen Silberbecher in die Hand zu geben, der einen leicht säuerlichen Geruch verströmte.
»Wartet, bis man Euch befiehlt, mir etwas zu trinken zu bringen‹, fauchte Morgase und stieß den Becher fort. Warme Flüssigkeit ergoß sich über ihre Hand und auf das Leintuch. »Ich war bereits fast eingeschlafen, als Ihr hereinplatztet«, log sie. »Laßt mich allein!«
Die Frau stand da, das Gesicht in den Schatten verborgen, und sah auf sie herab, anstatt zu gehorchen. Morgase mochte Breane Taborwin nicht. Ob Breane wahrhaft adlig geboren und in die gewöhnliche Welt hinabgestiegen war, wie sie manchmal behauptete, oder ob sie nur eine Dienerin war, die gelernt hatte, ihre Vorgesetzten nachzuahmen - sie gehorchte, wann und wie sie wollte und ließ ihrer Zunge viel zu freien Lauf, wie sie jetzt bewies.
»Ihr jammert wie ein Schaf, Morgase Trakand.« Ihre Stimme klang, als brodele sie vor Zorn, obwohl sie leise sprach. Sie setzte den Becher geräuschvoll auf dem kleinen Nachttisch ab, wobei noch mehr Flüssigkeit verschüttet wurde. »Bah! Viele andere hat es weitaus schlimmer getroffen. Ihr lebt. Keiner Eurer Knochen ist gebrochen. Euer Verstand ist heil geblieben. Haltet durch. Laßt die Vergangenheit ruhen, und lebt Euer Leben weiter. Ihr wart so überaus gereizt, daß alle Menschen in Eurer Nähe auf Zehenspitzen einher gehen, sogar Meister Gill. Und Lamgwin hat in diesen drei Nächten kaum eine Sekunde geschlafen.«
Morgase errötete vor Zorn. Selbst in Andor durften Diener nicht so reden. Sie packte die Frau fest am Arm, während Besorgnis in ihr mit Mißfallen rang. »Sie wissen es nicht, oder?« Wenn sie es wüßten, würden sie sie zu rächen versuchen, zu retten versuchen. Sie würden sterben. Tallanvor würde sterben.
»Lini und ich lassen sie für Euch im dunkeln tappen«, höhnte Breane und entzog sich ihr. »Wenn ich Lamgwin umgehen könnte, würde ich sie alle wissen lassen, was für ein blökendes Schaf Ihr seid. Er sieht in Euch das Fleisch gewordene Licht. Ich sehe eine Frau ohne den Mut, sich dem Alltäglichen zu stellen. Ich werde nicht zulassen, daß Ihr ihn durch Eure Feigheit vernichtet.«
Feigheit. Zorn wallte in Morgase auf, aber ihr fehlten die Worte. Ihre Finger verkrampften sich in dem Laken. Sie glaubte nicht, daß sie kaltblütig hätte entscheiden können, mit Valda zu schlafen, aber wenn sie es getan hätte, hätte sie damit leben können. Das glaubte sie zumindest. Aber es war eine vollkommen andere Sache, dem zuzustimmen, weil sie Angst davor hatte, Asunawas verzwickten Fallen erneut entgegenzutreten. Wie auch immer sie in Asunawas Dienst geschrien hatte - Valda war derjenige, der ihr die wahren Grenzen ihres Mutes gezeigt hatte, den sie sehr unterschätzt hatte. Valdas Berührung und sein Bett konnte man mit der Zeit vergessen, aber sie würde immer Scham über dieses »Ja« von ihren Lippen empfinden. Breane schleuderte ihr die Wahrheit ins Gesicht, und sie wußte nicht, wie sie reagieren sollte.
Die Antwort wurde ihr durch Stiefelschritte im Vorzimmer erspart. Die Tür zum Schlafraum wurde aufgestoßen, und ein atemloser Mann blieb nach einem Schritt in den Raum stehen.
»Gut, daß Ihr wach seid«, hörte sie Tallanvors Stimme kurz darauf, wodurch ihr Herz wieder zu schlagen begann und sie wieder atmen konnte. Sie wollte Breanes Hand loslassen - sie konnte sich nicht daran erinnern, sie ergriffen zu haben -, aber zu ihrer Überraschung drückte die Frau ihre Hand, bevor sie sie losließ.
»Es geht etwas vor«, fuhr Tallanvor fort und schritt zu dem einzigen Fenster. Er stellte sich auf eine Seite, als wollte er nicht gesehen werden, und spähte in die Nacht. Das Mondlicht zeichnete seine große Gestalt ab. »Meister Gill, kommt und erzählt, was Ihr gesehen habt.«
Ein Kopf erschien im Eingang, dessen kahle Kopfhaut in der Dunkelheit schimmerte. Dahinter, im anderen Raum, bewegte sich ein breiter Schatten. Lamgwin Dorn. Als Basel Gill erkannte, daß sie noch im Bett lag, wandte er den Blick schnell ab, obwohl er wahrscheinlich nicht mehr als das Bett selbst hatte ausmachen können. Meister Gill war noch breiter als Lamgwin, aber nicht annähernd so groß. »Vergebt mir, meine Königin. Ich wollte nicht...« Er räusperte sich heftig, und seine Stiefel schabten über den Boden, als er sich unruhig bewegte. Hätte er eine Mütze dabei gehabt hätte er sie in den Händen gedreht oder nervös geknetet. »Ich war im Langen Gang, auf meinem Weg zu ... zu...« Zum Ingwerschnaps war er unterwegs gewesen, was er ihr nicht einzugestehen wagte. »Wie dem auch sei, ich schaute aus einem der Fenster und sah einen ... einen großen Vogel, glaube ich ... auf den Südkasernen landen.«
»Einen Vogel!« Linis dünne Stimme veranlaßte Meister Gill, den Eingang hastig freizugeben. Oder vielleicht war auch ein heftiger Rippenstoß der Grund. Lini nutzte normalerweise jeden Vorteil, den ihr graues Haar bot. Sie stolzierte an ihm vorbei, während sie noch mit dem Gürten ihres Nachtgewands beschäftigt war. »Narren! Trottel mit Spatzenhirnen! Ihr habt mein Ki...!« Sie hielt heftig hustend inne. Lini vergaß niemals, daß sie Morgases Amme gewesen war, und die ihrer Mutter ebenfalls, aber sie vergaß sich niemals vor anderen. Sie ärgerte sich, daß sie es jetzt getan hatte, was man an ihrer Stimme merkte. »Ihr habt Eure Königin wegen eines Vogels geweckt!« Sie tastete nach ihrem Haarnetz und stopfte mechanisch einige Strähnen darunter, die sich im Schlaf gelöst hatten. »Habt Ihr getrunken, Meister Gill?« Das fragte sich Morgase auch.
»Ich weiß nicht, ob es ein Vogel war«, protestierte Meister Gill. »Es sah nicht aus wie ein Vogel, aber was könnte es sonst gewesen sein? Der Vogel war groß. Männer stiegen von seinem Rücken, und einer saß noch auf seinem Nacken, als er wieder davonflog. Während ich mir ins Gesicht schlug, um wach zu werden, landete ein weiteres dieser ... dieser Wesen, und weitere Männer stiegen herab, und dann kam noch eines, und ich beschloß, es sei an der Zeit, Lord Tallanvor zu benachrichtigen.« Lini schwieg, aber Morgase konnte ihren starren Blick fast spüren, und er war nicht auf sie gerichtet. Der Mann, der sein Wirtshaus im Stich gelassen hatte, um ihr zu folgen, spürte es gewiß. »Des Lichtes eigene Wahrheit, meine Königin«, beharrte er.
»Licht!« verkündete Tallanvor wie ein Echo. »Etwas ... etwas ist gerade auf den Nordkasernen gelandet.« Morgase hatte ihn noch nie zuvor so erschüttert erlebt. Sie wollte nur, daß sie alle gingen und sie in ihrem Elend allein ließen, aber es bestand wohl keine Hoffnung darauf. Tallanvor war auf vielerlei Art noch schlimmer als Breane. Viel schlimmer.
»Mein Gewand«, sagte sie, und dieses eine Mal reagierte Breane schnell. Meister Gill wandte hastig das Gesicht zur Wand, während sie aus dem Bett stieg und sich ankleidete.
Sie schritt zum Fenster, während sie die Schärpe schloß. Die langen Nordkasernen ragten über dem breiten Hof auf, vier hohe Stockwerke aus dunklem Stein mit einem Flachdach. Es war weder dort noch sonst irgendwo in der Festung Licht zu sehen. Alles war ruhig und still. »Ich sehe nichts, Tallanvor.«
Er zog sie zurück. »Schaut nur«, sagte er.
Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie es bedauert, daß er seine Hand wieder von ihrer Schulter nahm, und wäre sowohl über ihr Bedauern als auch über seinen Tonfall verärgert gewesen. Jetzt, nach Valda, war sie eher erleichtert. Gleichwohl war sie sowohl über die Erleichterung als auch über seinen Tonfall verärgert. Er war viel zu respektlos, viel zu eigensinnig, zu jung. Nicht viel älter als Galad.
Schatten bewegten sich so langsam, wie der Mond höher stieg, aber sonst regte sich nichts. In der Stadt Amador bellte ein Hund, dem weitere antworteten. Dann, als Morgase den Mund öffnete, um Tallanvor und alle anderen zu entlassen, krümmte sich ein Schatten auf den wuchtigen Kasernen und stürzte sich vom Dach.
Ein Wesen, hatte Tallanvor es genannt, und ihr fiel keine bessere Bezeichnung ein. Der Eindruck eines Körpers, der dicker schien, als ein Mann groß war; breite, gerippte Schwingen wie die einer Fledermaus, die gesenkt wurden, als das Wesen auf den Hof hinabsank; eine Gestalt, ein Mann, der unmittelbar hinter einem gewundenen Hals saß. Und dann schlug es heftig mit den Schwingen und das ... Wesen ... schwang sich empor und schirmte das Mondlicht ab, als es über ihren Kopf hinweg flog und einen langen, dünnen Schwanz nach sich zog.
Morgase schloß langsam den Mund. Sie konnte nur denken: Schattengezücht. Trolloc und Myrddraal waren nicht die einzigen vom Schatten verkehrten Wesen in der Großen Fäule. Sie hatte niemals etwas hierüber erfahren, aber ihre Lehrer in der Burg hatten gesagt, daß dort Wesen lebten, die niemand jemals deutlich gesehen oder aber deren Anblick überlebt hätte, um sie zu beschreiben. Wie konnte dieses Wesen jedoch so weit in den Süden gelangt sein?
Plötzlich flammte in Richtung der Haupttore ein von einem gewaltigen Donnern begleiteter Lichtblitz auf, und dann erneut an zwei weiteren Stellen der Außenmauer. Auch dort befanden sich Tore.
»Was, im Krater des Verderbens, war das?« murrte Tallanvor in einem Moment des Schweigens, bevor Alarm geschlagen wurde. Rufe und Schreie und Pferdewiehern hallten durch die Dunkelheit. Feuer brach mit Donnerkrachen an mehreren Stellen aus.
»Die Eine Macht«, keuchte Morgase. Sie konnte die Macht vielleicht so gut wie gar nicht lenken, aber sie erkannte sie. Die Vorstellung von Schattengezücht schwand. »Es ... es müssen Aes Sedai sein.« Sie hörte jemanden hinter sich nach Atem ringen. Lini oder Breane. Basel Gill murmelte erregt: »Aes Sedai«, und Lamgwin flüsterte eine Erwiderung, die Morgase nicht verstand. In der Dunkelheit schlug Metall auf Metall, Feuer brüllte und Blitze zuckten vom wolkenlosen Himmel. Auch die Alarmglocken der Stadt klangen schließlich schwach durch den Lärm, aber eigenartig wenige.
»Aes Sedai.« Tallanvor klang zweifelnd. »Warum jetzt? Um Euch zu retten, Morgase? Ich dachte, sie könnten die Eine Macht nicht gegen Menschen lenken, sondern nur gegen Schattengezücht. Übrigens - wenn dieses Flugwesen kein Schartengezücht war, dann habe ich noch niemals welches gesehen.«
»Ihr wißt nicht, wovon Ihr sprecht!« fauchte sie und wandte sich ihm heftig zu. »Ihr...!« Ein Armbrustpfeil prallte gegen den Fensterrahmen und löste einen Steinsplitter schauer aus. Sie spürte eine Luftbewegung, als der Pfeil zwischen ihnen abprallte und in einem der Bettpfosten steckenblieb. Nur eine Handbreit weiter rechts - und alle ihre Sorgen waren beendet gewesen.
Sie regte sich nicht, aber Tallanvor zog sie mit einem Fluch vom Fenster fort. Selbst beim Mondlicht konnte sie sein Stirnrunzeln erkennen, während er sie forschend betrachtete. Einen Moment dachte sie, er würde vielleicht ihr Gesicht berühren. Wenn er es täte, wußte sie nicht, ob sie weinen oder schreien oder ihm befehlen würde, sie für immer zu verlassen, oder...
Statt dessen sagte er: »Ich glaube eher, daß es einige von diesen Männern sind, diesen Shamin oder wie auch immer sie sich nennen.« Er bestand darauf, die seltsamen, unmöglichen Geschichten zu glauben, die ihren Weg sogar in die Festung gefunden hatten. »Ich denke, ich kann Euch jetzt sofort hinausbringen. Alles wird im Chaos versinken. Kommt mit mir.«
Sie widersprach ihm nicht. Nur wenige Menschen wußten etwas über die Eine Macht und noch viel weniger über die Unterschiede zwischen Saidar und Saidin. Sein Vorschlag hatte einen gewissen Reiz. Sie könnten im Tumult eines Kampfes vielleicht wirklich entkommen.
»Sie dort hinausbringen!« kreischte Lini. Flammendes Licht fiel durch das Fenster. Krachen und Donnern erstickten den Lärm der Männer und Schwerter, »Ich hätte Euch mehr Verstand zugetraut, Martyn Tallanvor. ›Nur Narren küssen Hornissen oder beißen ins Feuer. ‹ Ihr habt sie sagen hören, es seien Aes Sedai. Glaubt Ihr, sie weiß es nicht? Glaubt Ihr das?«
»Mein Lord, wenn es Aes Sedai sind...« Meister Gill brach ab.
Tallanvor ließ sie los, und er brummte leise und wünschte, er hätte ein Schwert. Pedron Niall hatte ihm gestattet, seine Klinge zu behalten. Eamon Valda war nicht so vertrauensvoll.
Sie empfand einen Anflug von Enttäuschung. Wenn er nur beharrlich geblieben wäre, wenn er sie fortgezerrt hätte... Was war los mit ihr? Hätte er sie aus irgendeinem Grund fortgezerrt, hätte sie ihm die Haut abgezogen. Sie mußte sich zusammenreißen. Valda hatte ihr Vertrauen beeinträchtigt - nein, er hatte es tatsächlich zerstört -, aber sie mußte die Überreste wieder zusammenfügen. Irgendwie. Wenn es das noch wert war.
»Ich kann zumindest herauszufinden versuchen, was vor sich geht«, grollte Tallanvor und schritt zur Tür. »Wenn es nicht Eure Aes Sedai sind...«
»Nein! Ihr werdet hierbleiben. Bitte.« Sie war sehr froh, daß die fahle Dunkelheit ihr zorngerötetes Gesicht verbarg. Sie hätte sich eher die Zunge abgebissen, als das letzte Wort bewußt zu sagen, aber es war ihr entschlüpft, bevor sie es verhindern konnte. Sie fuhr mit festerer Stimme fort. »Ihr werdet hierbleiben und Eure Königin beschützen, wie es Eure Aufgabe ist.«
Sie konnte sein Gesicht in dem schwachen Licht sehen, und seine Verbeugung schien recht angemessen, aber sie hätte ihre letzte Münze verwettet, daß er verärgert war. »Ich bin in Eurem Vorraum.« Nun, seine Stimme ließ keinen Zweifel. Aber dieses eine Mal kümmerte es sie nicht, wie zornig er war und wie wenig er es verbarg. Es war durchaus möglich, daß sie diesen starrsinnigen Mann mit ihren eigenen Händen tötete, aber er würde nicht heute nacht sterben, von Soldaten niedergemetzelt, ohne daß man feststellen könnte, auf welcher Seite er stand.
Es gab jetzt keine Hoffnung mehr auf Schlaf, selbst wenn sie hatte schlafen können. Sie wusch sich das Gesicht und putzte sich die Zähne, ohne Licht zu entzünden. Breane und Lini halfen ihr, sich in blaue Seide mit grünen Schlitzen zu kleiden, die schneeweiße Spitze an den Handgelenken und unter dem Kinn aufwies. Dieses Gewand wäre überaus geeignet, Aes Sedai zu empfangen. Saidar wütete in der Nacht. Es mußten Aes Sedai sein. Wer sonst?
Als sie sich den Männern im Vorraum zugesellte, saßen sie bis auf das durch die Fenster hereinfallende Mondlicht und das gelegentliche Aufflammen von mit der Macht geschaffenem Feuer in Dunkelheit. Selbst eine Kerze mochte ungewollte Aufmerksamkeit erregen. Lamgwin und Meister Gill sprangen respektvoll von ihren Stühlen auf. Tallanvor erhob sich zögerlicher, und sie brauchte kein Licht, um zu wissen, daß er sie mit mürrischem Stirnrunzeln betrachtete. Wütend, daß sie ihn ignorieren mußte -sie war seine Königin! -, und kaum in der Lage, diese Wut aus ihrer Stimme zu verbannen, befahl sie Lamgwin, noch mehr der hohen Holzstühle von den Fenstern abzurücken. Dann saßen sie schweigend da und warteten. Zumindest war es auf ihrer Seite still. Draußen krachte Donner und hallte Brüllen wider, Hörner erklangen und Männer schrien, und durch dies alles spürte sie Saidar an- und abschwellen und dann erneut anschwellen.
Der Kampf nahm schließlich nach über einer Stunde ab und erstarb. Stimmen riefen noch immer unverständliche Befehle, Verwundete schrien, und manchmal erklangen diese seltsamen, heiseren Hörner erneut, aber kein Stahl klang mehr auf Stahl. Saidar verblaßte. Sie war sich sicher, daß Frauen in der Festung es noch immer umarmten, aber sie glaubte nicht, daß jetzt noch eine Frau die Macht lenkte. Alles schien nach dem Lärm und der Aufregung fast friedlich.
Tallanvor regte sich, aber sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung, Ruhe zu bewahren, bevor er sich erheben konnte. Einen Moment lang dachte sie, er würde nicht gehorchen. Die Nacht wich der Morgendämmerung, dann kroch das Sonnenlicht durch die Fenster herein und schimmerte auf Tallanvors finsterem Gesicht. Sie hielt die Hände noch immer im Schoß. Geduld war nur eine der Tugenden, die junge Männer lernen mußten. Geduld kam als edle Tugend direkt nach Mut. Die Sonne stieg höher. Lini und Breane begannen zunehmend besorgt miteinander zu flüstern und warfen Blicke in Morgases Richtung. Tallanvor runzelte die Stirn, die dunklen Augen glühten, und er saß in dieser dunkelblauen Jacke, die ihm so gut paßte, kerzengerade. Meister Gill war nervös, fuhr sich zunächst mit der einen, dann mit der anderen Hand durch sein angegrautes Haar und wischte sich mit einem Taschentuch über die geröteten Wangen. Lamgwin saß nachlässig auf seinem Stuhl, und die schweren Lider des einstigen Straßenschlägers ließen vermuten, daß er halbwegs schlief, aber als er Breane ansah, zog ein flüchtiges Lächeln über sein vernarbtes Gesicht mit der einst gebrochenen Nase. Morgase konzentrierte sich auf ihre Atmung, fast wie bei den Übungen, die sie während ihrer Zeit in der Burg durchgeführt hatte. Geduld. Wenn nicht bald jemand käme, würde sie einiges zu sagen haben, ob es um Aes Sedai ging oder nicht!
Sie sprang bei einem jähen Pochen an der Tür zum Gang wider Willen auf. Bevor sie Breane auffordern konnte nachzusehen, wer es wäre, schwang die Tür auf und prallte gegen die Wand. Morgase starrte den eintretenden Mann an.
Ein großer, dunkler Krieger mit einer Hakennase erwiderte ihren Blick kalt. Das lange Heft eines Schwertes ragte über seiner Schulter auf. Eine seltsame Rüstung bedeckte seine Brust einander überlappende, glitzernd golden und schwarz lackierte Platten, und er hielt einen Helm auf Hüfthöhe, der wie der Kopf eines Insekts aussah, schwarz und golden und grün, mit drei langen, dünnen grünen Federn. Zwei weitere, ebenso gerüstete Männer mit Helmen ohne Federn folgten ihm auf dem Fuße. Ihre Rüstungen schienen eher bemalt als lackiert, und sie trugen schußbereite Armbrüste. Weitere Männer mit goldschwarzen, mit Quasten versehenen Speeren standen draußen im Gang.
Tallanvor und Lamgwin und sogar der stämmige Meister Gill sprangen auf und stellten sich zwischen sie und ihre eigentümlichen Besucher. Sie mußte sich an ihnen vorbeidrängen.
Der Blick des Mannes mit der Hakennase schwenkte sofort zu ihr, bevor sie eine Erklärung fordern konnte. »Ihr seid Morgase, Königin von Andor?« Seine Stimme klang barsch, und er dehnte die Worte so stark, daß sie ihn kaum verstand. Er ließ ihr keine Gelegenheit zu antworten. »Ihr werdet mit mir kommen. Allein«, fügte er hinzu, als Tallanvor, Lamgwin und Meister Gill vortraten. Die Armbrustschützen hoben ihre Waffen. Die schweren Bolzen wirkten, als könnte man damit Löcher in Rüstungen stanzen. Ein Schild könnte sie kaum aufhalten.
»Ich habe keine Einwände dagegen, daß meine Männer hierbleiben, bis ich zurückkomme«, sagte Morgase ruhiger, als sie sich fühlte. Wer waren diese Leute? Sie kannte sonst die Akzente jeder Nation und auch ihre Rüstungen. »Ihr werdet gewiß gut für meine Sicherheit sorgen, Hauptmann...«
Er nannte keinen Namen, sondern bedeutete ihr nur, ihm zu folgen. Tallanvor machte zu ihrer Erleichterung trotz seines zornigen Blicks kein Aufhebens, und Meister Gill und Lamgwin schauten zu ihrer großen Verärgerung zu ihm, bevor sie zurücktraten. Im Gang formierten sich die Soldaten um sie, und der hakennasige Offizier und die beiden Armbrustschützen führten die Gruppe an. Eine Ehrengarde, versuchte sie sich zu sagen. So kurz nach einem Kampf wäre es überaus töricht, ungeschützt umherzuwandern. Sie wünschte, sie könnte es glauben.
Sie versuchte, den Offizier zu befragen, aber er sagte kein Wort, verlangsamte seinen Schritt nicht und sah sich nicht um, so daß sie ihre Bemühungen aufgab. Keiner der Soldaten sah sie auch nur an. Sie waren Männer mit hartem Blick, wie sie sie von ihrer eigenen Garde her kannte, Männer, die mehr als einen Kampf ausgefochten hatten. Aber wer waren sie? Ihre Stiefel schlugen unheilvoll im gleichen Takt auf dem Steinboden auf, ein Klang, der von den dicken Festungsmauern widerhallte. Es gab hier nur wenig Farbe, nichts, was das Auge erfreute außer vereinzelten Wandteppichen, die Weißmäntel in blutigem Kampf zeigten.
Sie erkannte, daß sie auf das Quartier des kommandierenden Lordhauptmanns zugeführt wurde, und Übelkeit machte sich in ihrem Magen breit. Sie hatte sich fast freudig an den Weg gewöhnt, als Pedron Niall noch lebte. Aber sie hatte ihn in den wenigen Tagen, seit er gestorben war, fürchten gelernt. Als sie um die Ecke kamen, zuckte sie dennoch beim Anblick der ungefähr zwei Dutzend Bogenschützen, die hinter ihrem Offizier hermarschierten, zusammen, Männer in bauschigen Hosen und Lederbrustpanzern, die mit waagerechten Streifen in Blau und Schwarz bemalt waren. Jeder Mann trug einen konischen Stahlhelm mit einer Maske aus grauem Stahlkettenpanzer, die sein Gesicht bis auf die Augen verdeckte. Hier und da waren Schnurrbärte unter den Masken zu erahnen. Der Offizier der Bogenschützen verbeugte sich vor dem Anführer ihrer Gruppe, der zur Erwiderung jedoch nur die Hand hob.
Taraboner. Sie hatte seit vielen Jahren keine tarabonischen Soldaten mehr gesehen, aber diese Männer waren trotz der Streifen Taraboner - oder sie hätte ihre Schuhe verspeist -, was jedoch keinen Sinn ergab. Tarabon war ein lebendig gewordenes Chaos. Es herrschte ein von hundert verschiedenen Seiten geführter Bürgerkrieg zwischen Thronbewerbern und Drachenverschworenen. Tarabon hatte diesen Angriff auf Andor niemals selbst durchführen können. Es sei denn, ein Anwärter hätte unglaublicherweise alle anderen, und auch die Drachenverschworenen, ausgestochen und... Es war unmöglich, und es erklärte auch diese merkwürdig gerüsteten Soldaten und das Flügelwesen nicht, oder...
Sie dachte, sie wäre schon Fremdartigem begegnet. Sie dachte, sie hätte Unwohlsein kennengelernt. Dann umrundeten sie und ihre Wache eine weitere Ecke und standen zwei Frauen gegenüber.
Die eine war schlank, kleiner als jede Cairhienerin und dunkler als jede Tairenerin, in einem blauen Gewand, das fast bis auf ihre Knöchel reichte. Silberne, gezackte Lichtblitze zogen sich über rote Applikationen auf ihrer Brust und an den Seiten ihrer weiten, geteilten Röcke. Die andere Frau in langweiligem Dunkelgrau war größer als die meisten Männer. Ihr blondes, glänzend gebürstetes Haar reichte ihr bis auf die Schultern, und sie hatte verschüchterte grüne Augen. Eine silberne Koppel verband ein Silberarmband am Handgelenk der kleineren Frau mit der von der größeren getragenen Halskette.
Sie traten für Morgases Wache beiseite, und als der hakennasige Offizier »Der'sul'dam« murmelte -zumindest glaubte Morgase das verstanden zu haben, wobei sein gedehnter Akzent das Verstehen erschwerte -, beugte die dunkle Frau leicht den Kopf und zog an der Koppel, woraufhin die blonde Frau zu Boden sank und Kopf, Knie und Handflächen flach auf den Stein preßte. Als Morgase und ihre Wächter vorübergegangen waren, beugte sich die dunkle Frau herab und tätschelte der anderen liebevoll den Kopf wie einem Hund, und die kniende Frau schaute, was noch schlimmer war, freudig und dankbar auf.
Morgase brachte mühsam die notwendige Anstrengung auf weiterzugehen, ihre Knie am Nachgeben zu hindern, ihren Magen vor dem Entleeren zu bewahren. Die reine Unterwürfigkeit war schon schlimm genug, aber sie war sich zudem sicher, daß die kniende Frau die Macht lenken konnte. Unmöglich! Sie ging wie benommen weiter und fragte sich, ob dies ein Traum sein konnte, ein schrecklicher Alptraum; sie betete, daß es so war. Sie war sich vage bewußt, daß sie bei weiteren Soldaten stehenblieben, die rot und schwarz gerüstet waren, und dann...
Pedron Nialls Empfangsraum - jetzt Valdas oder wer auch immer die Festung inzwischen eingenommen hatte - war verändert. Die goldene aufgehende Sonne, die in den Boden eingelassen war, war geblieben, aber alle eroberten Banner Nialls, die Valda behalten hatte, als wären es seine, waren verschwunden, und ebenso die Einrichtung, bis auf den einfachen, mit Schnitzereien versehenen, hochlehnigen Stuhl, den Niall und dann Valda benutzt hatten und der jetzt von zwei hohen, unheimlich bemalten Schirmen flankiert wurde. Der eine zeigte einen schwarzen Raubvogel mit weißem Federschopf und grausamem Schnabel, der die weiß gesäumten Schwingen weit ausgebreitet hatte, und der andere eine schwarz gesprenkelte gelbe Katze, die eine Pranke auf ein totes, einem Hirsch ähnliches Tier mit langen, geraden Hörnern und weißen Streifen gestellt hatte, das nur halb so groß war wie die Katze.
Es befanden sich etliche Menschen in dem Raum, aber mehr konnte sie nicht wahrnehmen, bevor eine Frau mit scharf geschnittenem Gesicht in einem blauen Gewand vortrat, die eine Seite des Kopfes rasiert und das übrige Haar zu einem vor ihrer rechten Schulter herabhängenden Zopf geflochten. Ihre blauen Augen, die äußerste Verachtung zeigten, hätten dem Adler oder der Raubkatze gehören können. »Ihr befindet Euch in Gegenwart der Hohen Dame Suroth, die jene, die zuvor kommen, anführt und die Wiederkehr unterstützt«, intonierte sie mit schleppendem Akzent.
Der hakennasige Offizier packte Morgase ohne Vorwarnung am Nacken und drückte sie neben sich nieder. Benommen, nicht zuletzt weil ihr der Atem geraubt wurde, sah sie ihn den Boden küssen.
»Laßt sie los, Elbar«, befahl eine andere Frau. »Die Königin von Andor darf nicht so behandelt werden.«
Der Mann, Elbar, erhob sich auf die Knie und beugte den Kopf. »Ich erniedrige mich, Hohe Dame. Ich bitte um Vergebung.« Seine Stimme war so kalt und tonlos, wie es sein Akzent zuließ.
»Ich kann Euch dies kaum vergeben, Elbar.« Morgase schaute auf. Suroth überraschte sie. Ihr Kopf war auf beiden Seiten geschoren, so daß nur ein glänzender schwarzer Kamm auf dem Kopf und eine ihren Rücken hinabfallende Mähne geblieben waren. »Vielleicht, wenn Ihr bestraft seid. Und jetzt meldet Euch wieder zur Stelle. Laßt mich allein! Geht!« Bei einer entsprechenden Handbewegung blitzten mindestens zweieinhalb Zentimeter lange Fingernägel auf, von denen die ersten beiden jeder Hand blau glänzten.
Elbar verbeugte sich auf den Knien, erhob sich dann ruhig und verließ rückwärts den Raum. Morgase erkannte zum ersten Mal, daß keiner der anderen Soldaten ihnen in den Raum gefolgt war. Und sie erkannte noch etwas anderes. Er sah sie noch ein letztes Mal an, bevor er ging, und anstatt aufflammenden Groll gegenüber dem Menschen zu zeigen, der seine Bestrafung verursacht hatte, wirkte er ... nachdenklich. Es würde keine Bestrafung geben. Der gesamte Vorfall war im voraus vereinbart worden.
Suroth wandte sich jäh zu Morgase um, wobei sie sorgsam ihr blaues Gewand festhielt, damit die schneeweißen, mit Hunderten winziger Falten versehenen Röcke sichtbar blieben. Aufgestickte Reben und üppig rote und gelbe Blumen breiteten sich über das Gewand aus. Aber Morgase bemerkte trotz der jähen Bewegung, daß die Frau sie nicht eher erreichen würde, als bis sie selbst wieder aufgestanden war.
»Seid Ihr wohlauf?« fragte Suroth. »Wenn Ihr Schaden genommen habt, werde ich seine Bestrafung verdoppeln.«
Morgase strich über ihr Gewand, damit sie das falsche Lächeln nicht ansehen mußte, das sich nicht bis zu den Augen der Frau fortsetzte. Sie nahm die Gelegenheit wahr, sich in dem Raum umzusehen. Vier Männer und vier Frauen knieten an einer Wand, alle jung und überaus gutaussehend, und alle trugen... Sie wandte ruckartig den Blick ab. Diese langen weißen Gewänder waren fast durchsichtig! Auf der anderen Seite der Schirme knieten jeweils zwei weitere Frauen, von denen jeweils eine ebenfalls ein graues und eine ein mit Silberpfeilen besticktes blaues Gewand trug, und beide waren ebenfalls von Handgelenk zu Hals durch eine Koppel verbunden, Morgase war nicht nahe genug, um es genau sagen zu können, aber sie war sich sicher, daß die beiden grau gewandeten Frauen die Macht lenken konnten. »Es geht mir recht gut, dan...« Ein großer, rötlichbrauner Umriß lag auf dem Boden ausgebreitet - ein Haufen gegerbte Kuhhäute vielleicht. Dann bewegte er sich. »Was ist das?«
Es gelang ihr, nicht den Mund aufzusperren, aber die Frage entschlüpfte ihr dennoch, bevor sie es verhindern konnte.
»Ihr bewundert meinen Lopar?«‹ Suroth entfernte sich erheblich schneller, als sie gekommen war. Der gewaltige Umriß hob einen großen runden Kopf, damit sie ihn mit einem Knöchel unter dem Kinn streicheln konnte. Das Wesen erinnerte Morgase an einen Bär, obwohl es gewiß noch um die Hälfte größer als der größte Bär war, von dem sie je erzählen gehört hatte, und er war noch dazu unbehaart, hatte keine nennenswerte Schnauze und hohe Wülste um die Augen. »Ich habe Almandaragal als Jungtier zu meinem ersten wahren Namenstag bekommen. Sein erster Versuch, mich zu töten, mißlang ihm noch im gleichen Jahr, als er erst ein Viertel seiner jetzigen Größe hatte.« In der Stimme der Frau schwang wahre Zuneigung mit. Der ... Lopar... zog die Lippen zurück und zeigte dicke, spitze Zähne, während sie ihn streichelte. Er beugte die Vorderpranken, wobei die Krallen an jeweils sechs langen Zehen sichtbar wurden und wieder verschwanden. Und er begann zu schnurren, ein tiefes Rumpeln wie von hundert Katzen.
»Bemerkenswert«, sagte Morgase matt. Wahrer Namenstag? Wie viele Versuche hatte es noch gegeben, diese Frau zu töten, daß sie so beiläufig von ›dem ersten‹ sprechen konnte?
Der Lopar wimmerte kurz, als Suroth ihn verließ, legte sich aber rasch wieder mit dem Kopf auf den Pranken nieder. Sein Blick folgte ihr beunruhigenderweise nicht, sondern ruhte hauptsächlich auf Morgase und zuckte nur hin und wieder zur Tür oder zu den schmalen, wie Schießscharten aussehenden Fenstern.
»Aber wie treu der Lopar auch ist, kann er doch mit den Damane nicht mithalten.« Jetzt bemerkte Morgase keine Zuneigung mehr in Suroths Stimme. »Pura und Jinjin könnten hundert Mörder töten, bevor Almandaragal auch nur einmal geblinzelt hätte.« Bei der Erwähnung der beiden Namen zog je eine der blau gewandeten Frauen an ihrer Koppel, und die Frau am anderen Ende beugte sich herab, wie diejenige im Gang es getan hatte. »Wir haben seit unserer Rückkehr weitaus mehr Damane als zuvor. Dies ist ein reicher Jagdgrund für Marath'damane. Pura«, fügte sie beiläufig hinzu, »war einst eine ... Frau der Weißen Burg.«
Morgases Knie gaben nach. Eine Aes Sedai? Sie betrachtete den gebeugten Rücken der Frau namens Pura und weigerte sich, es zu glauben. Keine Aes Sedai konnte dazu gebracht werden, sich so unterwürfig zu verhalten. Zudem sollte jede Frau, welche die Macht lenken konnte, nicht nur eine Aes Sedai, imstande sein, diese Koppel zu nehmen und ihren Peiniger zu erwürgen. Jedermann sollte dazu in der Lage sein. Nein, diese Pura konnte keine Aes Sedai gewesen sein. Morgase fragte sich, ob sie um einen Stuhl bitten durfte. »Das ist sehr ... interessant« Zumindest klang ihre Stimme fest. »Aber ich glaube nicht, daß Ihr mich hergebeten habt, um mit mir über Aes Sedai zu sprechen.« Natürlich war sie nicht gebeten worden. Suroth sah sie an, und kein Muskel regte sich an ihr, außer daß die Finger ihrer linken Hand mit den langen Nageln zuckten.
»Thera!« rief die Frau mit dem scharf geschnittenen Gesicht und dem halb geschorenen Kopf plötzlich. »Kaf für die Hohe Dame und ihren Gast!«
Eine der Frauen in den durchscheinenden Gewändern, die älteste, die aber immer noch jung war, sprang anmutig auf. Ihr Mädchenmund ließ sie gereizt erscheinen, aber sie schoß hinter den hohen, mit dem Adler bemalten Schirm und kam nur Momente später mit einem Silbertablett mit zwei kleinen weißen Bechern zurück. Sie kniete sich geschmeidig vor Suroth und beugte den Kopf, während sie das Tablett darbot. Morgase schüttelte den Kopf. Jede Dienerin in Andor, die aufgefordert würde, das zu tun - oder dieses Gewand zu tragen! -, wäre äußerst aufgebracht davongestürzt.
»Wer seid Ihr? Woher kommt Ihr?«
Suroth nahm einen der Becher mit ihren Fingerspitzen und inhalierte den daraus aufsteigenden Dampf.
Ihr Nicken war für Morgases Geschmack eine übertriebene Erlaubnis, dennoch nahm sie ebenfalls einen Becher. Ein Schluck, und sie blickte überrascht in ihr Getränk. Schwärzer als jeder Tee, war die Flüssigkeit auch bitterer. Keine wie auch immer bemessene Honigzugabe hätte sie trinkbar gemacht. Suroth führte ihren eigenen Becher an die Lippen und seufzte erfreut.
»Wir müssen über vieles reden, Morgase, aber ich werde mich bei dieser ersten Unterhaltung kurz fassen. Wir Seanchaner sind zurückgekehrt, um zu beanspruchen, was uns von den Erben des Hochkönigs, Artur Paendrag Tanreall, gestohlen wurde.« Die Freude über den Kaf in ihrer Stimme wurde zu etwas anderem - Erwartung und auch Genugtuung -, und sie beobachtete Morgases Gesicht genau. Morgase konnte ihren Blick nicht abwenden. »Was uns gehörte, wird wieder unser sein. In Wahrheit war es das immer. Ein Dieb besitzt nicht. Ich habe die Wiedererlangung in Tarabon begonnen. Viele Adlige dieses Landes haben bereits geschworen zu gehorchen, abzuwarten und zu dienen. Es wird nicht lange dauern, bis alle dies getan haben. Ihr König - ich erinnere mich nicht an seinen Namen - hat sich mir und dem Kristallthron entgegengestellt. Hätte er überlebt, wäre er gepfählt worden. Seine Familie konnte nicht gefunden werden, um sie uns zu eigen zu machen, aber es gibt einen neuen König und einen neuen Panarchen, die der Kaiserin, möge sie ewig leben, und dem Kristallthron bereits Treue geschworen haben. Die Räuber werden ausgerottet. Es wird in Tarabon keinen Krieg oder Hunger mehr geben, denn die Menschen werden unter den Schwingen der Kaiserin Schutz suchen. Jetzt beginne ich damit auch in Amadicia. Bald werden alle vor der Kaiserin, möge sie ewig leben, der direkten Nachfahrin des großen Artur Falkenflügel, niederknien.«
Wäre die Dienerin mit dem Tablett nicht gegangen, hätte Morgase ihren Becher zurückgestellt. Die dunkle Oberfläche des Kaf war unbewegt, aber vieles, was die Frau äußerte, ergab für sie keinen Sinn. Kaiserin? Seanchan? Es hatte vor gut einem Jahr Gerüchte gegeben, daß Artur Falkenflügels Heere von jenseits des Aryth-Meers zurückgekommen seien, aber nur die Leichtgläubigsten hätten sie wirklich für bare Münze nehmen können, und sie bezweifelte, daß auch die schlimmsten Klatschmäuler auf den Märkten sie noch erzählten. Konnte es wahr sein? Allerdings genügte vollkommen, was sie verstand.
»Alle ehren den Namen Artur Falkenflügels, Suroth...« Die Frau mit dem scharf geschnittenen Gesicht öffnete verärgert den Mund, blieb aber bei der Bewegung eines Fingers mit einem blauen Nagel der Hohen Dame still. »...aber diese Zeit ist längst vergangen. Jede hiesige Nation hat eine lange Abstammung. Kein Land wird sich Euch oder Eurer Kaiserin ergeben. Wenn Ihr einen Teil Tarabons eingenommen habt...« Suroth sog zischend den Atem ein, und ihre Augen glitzerten »...dann bedenkt, daß es ein geplagtes, in sich geteiltes Land ist. Amadicia wird nicht kampflos fallen, und viele Nationen werden ihm zu Hilfe kommen, wenn sie von Euch erfahren.« Konnte es wahr sein? »Wie viele Ihr auch seid - Ihr werdet kein leichtes Spiel haben. Wir haben schon größeren Bedrohungen gegenübergestanden und sie bewältigt. Ich rate Euch, Frieden zu schließen, bevor Ihr vernichtet werdet.« Morgase erinnerte sich, daß Saidar in der Nacht gewütet hatte, und vermied es, die ... Damane hatte sie sie genannt? ... anzusehen. Es kostete sie große Mühe, sich keine Blöße zu geben.
Suroth lächelte wieder dieses maskenhafte Lächeln, während ihre Augen wie polierte Steine schimmerten. »Alle müssen eine Wahl treffen. Einige werden gehorchen, abwarten und dienen und ihre Länder im Namen der Kaiserin, möge sie ewig leben, regieren.«
Sie nahm eine Hand von ihrem Becher, um eine Geste zu vollführen, eine leichte Bewegung mit den langen Fingernägeln, woraufhin die Frau mit dem scharf geschnittenen Gesicht rief: »Thera! Die Position des Schwans!«
Suroth preßte aus einem unbestimmten Grund die Lippen zusammen. »Nicht der Schwan, Alwhin, Ihr blinde Närrin!« zischte sie leise, obwohl ihr Akzent das Verstehen erschwerte. Dann kehrte das frostige Lächeln augenblicklich zurück.
Die Dienerin erhob sich erneut von ihrem Platz an der Wand und lief auf seltsame Art, auf Zehenspitzen, die Arme zurückgenommen, zur Mitte des Raumes. Dann begann sie auf der flammenden goldenen Sonne, dem Symbol der Kinder des Lichts, langsam einen stilisierten Tanz. Sie streckte die Arme aus wie Schwingen und zog sie wieder an den Körper heran. Sie drehte sich, ließ den linken Fuß vorgleiten und beugte sich über das angewinkelte Knie, beide Arme wie flehend ausgestreckt, bis Arme und Körper und rechtes Bein eine gerade, schräg verlaufende Linie bildeten. Ihr hauchdünnes weißes Gewand ließ ihre gesamte Erscheinung anstößig wirken. Morgase spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg, während der Tanz, wenn man es so nennen konnte, fortgeführt wurde.
»Thera ist neu und noch nicht gut dressiert«, murmelte Suroth. »Die Posen werden oft von zehn oder zwanzig Da'covale gleichzeitig ausgeführt, Männer und Frauen, die aufgrund der reinen Klarheit ihrer Linien ausgesucht wurden, aber manchmal ist es angenehm, nur einer zuzusehen. Es ist sehr erfreulich, schöne Dinge zu besitzen, nicht wahr?«
Morgase runzelte die Stirn. Wie konnte jemand einen Menschen besitzen? Suroth hatte schon zuvor davon gesprochen, sich ›jemanden zu eigen zu machen‹. Sie kannte die Alte Sprache, aber das Wort Da'covale war ihr nicht vertraut, doch wenn sie darüber nachdachte, mußte es ›Person, die besessen wird‹ bedeuten. Es war widerlich. Entsetzlich! »Unglaublich«, sagte sie tonlos, »Vielleicht sollte ich Euch verlassen, damit Ihr den ... Tanz genießen könnt.«
»Gleich.« Suroth lächelte der posierenden Thera zu. Morgase vermied es hinzusehen. »Alle müssen eine Entscheidung treffen, wie ich bereits sagte. Der alte König von Tarabon erwählte es, sich aufzulehnen, und starb. Die alte Panarchin wurde gefangengenommen und verweigerte dennoch den Eid. Jedem von uns ist ein bestimmter Platz zugedacht, es sei denn, wir werden von der Kaiserin erhoben, aber jene, die ihren angemessenen Platz zurückweisen, können niedergeworfen werden und sehr tief sinken. Thera besitzt eine gewisse Anmut. Seltsamerweise zeigt Alwin sich als vielversprechende Lehrerin, so daß ich erwarte, daß Thera innerhalb weniger Jahre lernen wird, die Posen mit ihrer Anmut in Einklang zu bringen.« Nun gewährte sie ihr Lächeln und diesen glitzernden Blick Morgase.
Ein sehr bedeutungsvoller Blick, aber warum? Hatte es etwas mit der Tänzerin zu tun? Ihr Name war so häufig erwähnt worden, als sollte er hervorgehoben werden. Aber was...? Morgase wandte ruckartig den Kopf und sah die andere Frau an, die auf Zehenspitzen stand und sich langsam auf einem Fleck drehte, die Hände flach zusammengelegt und die Arme so hoch wie möglich erhoben. »Ich glaube es nicht«, keuchte sie. »Ich kann es nicht glauben!«
»Thera«, sagte Suroth, »wie lautete dein Name, bevor du mein Besitz wurdest? Welchen Titel hattest du inne?«
Thera erstarrte in ihrer gestreckten Position, erzitterte und warf panische Blicke zu Alwhin und zu Suroth. »Thera hieß Amathera, wenn es der Hohen Dame beliebt«, sagte sie hastig. »Thera war die Panarchin von Tarabon, wenn es der Hohen Dame beliebt.«
Morgase ließ ihren Becher fallen, der auf dem Boden zerschmetterte, so daß sich der schwarze Kaf auf die Fliesen ergoß. Es mußte eine Lüge sein. Sie war Amathera niemals begegnet, aber sie hatte einmal eine Beschreibung gehört. Nein. Viele Frauen in entsprechendem Alter konnten große dunkle Augen und einen gereizten Zug um den Mund haben. Pura war niemals eine Aes Sedai gewesen, und diese Frau...
»Posiert!« fauchte Alwhin, und Thera nahm ihre anmutigen Bewegungen wieder auf, ohne Suroth oder sonst jemandem auch nur noch einen Blick zu gönnen. Wer auch immer sie war - der vorrangige Gedanke in ihrem Kopf war jetzt der dringende Wunsch, keinen Fehler zu machen. Morgase bemühte sich sehr, sich nicht zu übergeben.
Suroth trat ganz nahe an sie heran, das Gesicht vollkommen kalt. »Alle müssen eine Wahl treffen«, sagte sie ruhig und stahlhart. »Einige meiner Gefangenen behaupten, Ihr hättet einige Zeit in der Weißen Burg verbracht. Dem Gesetz nach darf kein Marath'damane der Koppel entkommen, aber ich garantiere Euch, daß Ihr, die Ihr mich eine Lügnerin genannt habt, diesem Schicksal nicht gegenüberstehen werdet.« Ihre Betonung machte recht deutlich, daß dieses Versprechen kein anderes mögliches Schicksal einschloß. Das Lächeln, das ihre Augen niemals erreichte, kehrte zurück. »Ich hoffe, daß Ihr erwählen werdet, den Schwur zu leisten, Morgase, und Andor im Namen der Kaiserin, möge sie ewig leben, zu regieren.« Morgase war sich zum erstenmal vollkommen sicher, daß die Frau log. »Ich werde morgen wieder mit Euch sprechen, oder vielleicht übermorgen, wenn ich Zeit habe.«
Suroth wandte sich ab und glitt an der einsamen Tänzerin vorbei zu dem hochlehnigen Stuhl. Sie breitete anmutig ihre Röcke aus, während sie sich hinsetzte und Alwhin erneut schrie: »Alle! Position des Schwans!« Die jungen Männer und Frauen, die an der Wand entlang knieten, sprangen vor, um sich Thera anzuschließen, und nahmen in einer geraden Linie vor Suroths Stuhl ihre Bewegungen auf. Nur der Blick des Lopar bewies noch Morgases Anwesenheit. Sie glaubte nicht, daß sie schon jemals in ihrem Leben so gründlich entlassen worden war. Sie raffte ihre Röcke und nahm all ihre Würde zusammen und ging.
Sie ging allerdings nicht weit allein. Die rot und schwarz gerüsteten Soldaten standen mit ihren mit roten und schwarzen Quasten versehenen Speeren wie Statuen im Vorraum, die Gesichter in ihren lackierten Helmen unbewegt, während die harten Augen den Eindruck erweckten, als blickten sie hinter den Kinnbacken gräßlicher Insekten hervor. Einer, der nicht viel größer war als sie, schloß sich ihr wortlos an und begleitete sie zu ihren Räumen zurück, deren Zugang von zwei Tarabonern mit Schwertern und ebenfalls mit waagerechten Streifen bemalten StahlBrustpanzern flankiert wurde. Sie verbeugten sich tief, die Hände auf den Knien, und sie dachte, es geschähe wegen ihr, bis ihr Begleiter zum erstenmal sprach.
»Genug der Ehre«, sagte er mit barscher, nüchterner Stimme, und die Taraboner richteten sich wieder auf, sahen Morgase aber nicht an, bis er sagte: »Bewacht sie gut. Sie hat den Eid noch nicht geleistet.« Dunkle Augen zuckten über Stahlschleiern zu ihr, aber ihre knappen, bestätigenden Verbeugungen galten dem Seanchaner.
Sie bemühte sich, nicht zu eilig in ihre Räume zu flüchten, aber als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, lehnte sie sich dagegen und versuchte, ihre umherschwirrenden Gedanken zu ordnen. Seanchaner und Damane, Kaiserinnen und Eide und Menschen, die ein Besitz waren. Lini und Breane standen mitten im Raum und sahen sie an.
»Was ist geschehen?« fragte Lini geduldig und ungefähr im gleichen Tonfall, wie sie das Kind Morgase nach einem gelesenen Buch befragt hatte.
»Alpträume und Wahnsinn«, seufzte Morgase. Plötzlich richtete sie sich starr auf und sah sich im Raum um, »Wo ist...? Wo sind die Männer?«
Breane beantwortete die ungestellte Frage in nüchternspöttischem Tonfall. »Tallanvor wollte sehen, was er herausfinden kann.« Sie stemmte die Fäuste in die Hüften, und ihre Miene wurde todernst. »Lamgwin ist mit ihm gegangen, und Meister Gill ebenfalls. Was habt Ihr herausgefunden? Wer sind diese ... Seanchaner?« Sie sprach den Namen merkwürdig aus und runzelte dabei die Stirn. »Soviel haben wir schon selbst gehört.« Sie gab vor, Linis scharfen Blick nicht zu bemerken. »Was sollen wir jetzt tun, Morgase?«
Morgase trat zwischen den Frauen hindurch zum nächstgelegenen Fenster. Es war nicht so schmal wie jene im Empfangsraum und führte auf den zwanzig Fuß oder noch tiefer gelegenen gepflasterten Hof hinaus. Eine mutlose Kolonne kahlköpfiger, wirrer Menschen, von denen einige blutbefleckte Verbände trugen, schlurften unter den wachsamen Blicken von mit Speeren bewaffneten Tarabonern über den Hof. Mehrere Seanchaner standen auf einem nahe gelegenen Turm und spähten zwischen den Zinnen hindurch in die Ferne. Einer trug einen mit drei schmalen Federn geschmückten Helm. Eine Frau erschien an einem Fenster auf der anderen Seite des Hofs, die mit einem Lichtblitz bestickte rote Applikation deutlich auf der Brust, und beobachtete die WeißmäntelGefangenen stirnrunzelnd. Die dahinstolpernden Männer wirkten benommen als könnten sie nicht glauben, was geschehen war.
Was sollten sie tun? Eine Entscheidung, die Morgase fürchtete. Es schien, als hätte sie seit Monaten keine wichtige Entscheidung mehr getroffen, die nicht ins Unglück geführt hätte. Eine Wahl, hatte Suroth gesagt. Hilf diesen Seanchanern, Andor einzunehmen, oder... Ein letzter Dienst, den sie Andor erweisen konnte. Das Ende der Kolonne erschien, gefolgt von weiteren Tarabonern, denen sich ihre Landsleute anschlossen, an denen sie vorübergingen. Ein zwanzig Fuß tiefer Fall, und Suroth verlor ihr moralisches Druckmittel. Vielleicht war es der Ausweg eines Feiglings, aber sie hatte sich bereits als solcher erwiesen. Dennoch sollte die Königin von Andor nicht so sterben.
Sie sprach leise die unwiderruflichen Worte, die in der tausendjährigen Geschichte Andors erst zweimal zuvor gebraucht worden waren. »Unter dem Licht überlasse ich den Hochsitz des Hauses Trakand Elayne Trakand. Unter dem Licht entsage ich der Rosenkrone und verzichte zugunsten Elaynes, dem Hochsitz des Hauses Trakand, auf den Thron. Unter dem Licht unterwerfe ich mich dem Willen Elaynes von Andor als ihre gehorsame Untertanin.« Nichts von alledem machte Elayne natürlich zur Königin, aber es ebnete den Weg.
»Worüber lächelt Ihr?« fragte Lini.
Morgase wandte sich langsam um. »Ich dachte an Elayne.« Sie glaubte nicht, daß ihre alte Amme nahe genug gestanden hatte, um hören zu können, was wirklich niemand zu hören brauchte.
Linis Pupillen weiteten sich jedoch, und sie hielt den Atem an. »Ihr kommt augenblicklich von dort fort!« fauchte sie und ließ den Worten Taten folgen, indem sie Morgases Arm ergriff und sie vom Fenster fortzog.
»Lini, Ihr vergeßt Euch! Ihr seid schon seit langer Zeit nicht mehr meine Amme...!« Morgase atmete tief durch und besänftigte ihre Stimme. Es war nicht leicht, diesem furchtsamen Blick zu begegnen, denn sonst erschreckte Lini nichts. »Ich tue nur das, was zum Besten Andors ist, glaubt mir«, belehrte sie die beiden sanft. »Es gibt keine andere Möglichkeit...«
»Keine andere Möglichkeit?« unterbrach Breane sie verärgert und umklammerte ihre Röcke so fest, daß ihre Hände zitterten. Sie hätte sie eindeutig lieber um Morgases Kehle gelegt. »Welch törichten Unsinn gebt Ihr jetzt von Euch? Was ist, wenn diese Seanchaner denken, wir hätten Euch getötet?« Morgase preßte die Lippen zusammen. War sie inzwischen so leicht zu durchschauen?
»Schweigt, Frau!« Lini wurde sonst niemals ärgerlich oder erhob ihre Stimme, aber jetzt tat sie beides. Sie hob eine knochige Hand. »Ihr haltet den Mund, sonst schlage ich Euch, bis Ihr noch einfältiger seid als jetzt!«
»Schlagt sie, wenn Ihr jemanden schlagen wollt!« schrie Breane wild zurück. »Königin Morgase! Sie wird Euch und mich und meinen Lamgwin an den Galgen bringen, und ihren kostbaren Tallanvor ebenfalls, weil sie den Mut einer Maus hat!«
Die Tür öffnete sich; Tallanvor trat ein und beendete damit den Streit. Niemand würde in seiner Gegenwart schreien. Lini gab vor, Morgases Ärmel zu betrachten, als müsse er ausgebessert werden, während Meister Gill und Lamgwin Tallanvor in den Raum folgten. Breane setzte ein strahlendes Lächeln auf und glättete ihre Röcke. Die Männer merkten natürlich nichts.
Morgase merkte viel. Tallanvor hatte ein Schwert umgeschnallt, und Meister Gill und sogar Lamgwin ebenfalls, obwohl seines ein Kurzschwert war. Sie hatte stets das Gefühl gehabt, daß er sich wohler fühlte, wenn er die Gelegenheit hatte, sich mit Fäusten anstatt mit einer Waffe zu verteidigen. Bevor sie fragen konnte, schloß der dünne Mann, der als letzter hereinkam, sorgfältig die Tür hinter sich.
»Majestät«, sagte Sebban Balwer, »verzeiht unser Eindringen.« Seine Verbeugung und sein Lächeln schienen nüchtern und korrekt, aber als sein Blick von ihr zu den anderen Frauen zuckte, war sich Morgase sicher, daß Pedron Nialls ehemaliger Sekretär die Stimmung im Raum bemerkte, auch wenn das für die anderen nicht galt.
»Es überrascht mich, Euch zu sehen, Meister Balwer«, sagte sie. »Wie ich hörte, gab es einige Unerfreulichkeiten mit Eamon Valda.« Tatsächlich war ihr zu Ohren gekommen, daß Valda gesagt hätte, wenn er Balwer sähe, würde er ihn bis zu den Festungswällen treten. Balwers Lächeln wurde starr. Er wußte, was Valda gesagt hatte.
»Er plant, uns alle hier herauszubringen«, schaltete sich Tallanvor ein. »Heute noch. Jetzt.« Sein Blick war nicht der des Untertans einer Königin. »Wir nehmen sein Angebot an.«
»Wie?« fragte sie zögernd und bemühte sich, aufrecht stehen zu bleiben. Welche Hilfe konnte dieser zimperliche kleine Mann ihnen bieten? Flucht. Sie hätte sich sehr gern hingesetzt, aber sie würde es nicht tun, nicht, wenn Tallanvor sie auf diese Weise ansah. Natürlich war sie jetzt nicht mehr seine Königin, aber das wußte er nicht. Eine weitere Frage tauchte auf. »Und warum? Meister Balwer, ich werde kein ehrliches Hilfsangebot ablehnen, aber warum wollt Ihr Euer Leben aufs Spiel setzen? Diese Seanchaner werden es Euch büßen lassen, wenn sie es herausfinden sollten.«
»Ich hatte meine Pläne schon geschmiedet, bevor sie kamen«, sagte er zögernd. »Es schien ... unklug ... die Königin von Andor in Valdas Händen zu belassen. Betrachtet es als meine Art, es ihm heimzuzahlen. Ich weiß, ich stelle nicht viel dar, Majestät...« Er verbarg ein Husten hinter vorgehaltener Hand, »...aber der Plan ist ausgezeichnet. Diese Seanchaner erleichtern ihn sogar noch. Ich wäre ohne sie erst Tage später fertig gewesen. Sie gewähren jedermann, der bereit ist, den Eid zu leisten, für eine neu eroberte Stadt erstaunlich viele Freiheiten. Bereits eine Stunde nach Sonnenaufgang erhielt ich einen Paß, der es mir und bis zu zehn anderen, die den Eid geleistet haben, erlaubt, Amador zu verlassen. Sie glauben, ich beabsichtigte, im Osten Wein und Wagen zum Transport einzukaufen.«
»Es muß eine Falle sein.« Die Worte schmeckten bitter. Besser das Fenster, als in irgendeine Falle zu tappen. »Sie würden nicht zulassen, daß Ihr die Nachricht ihrer Anwesenheit ihrem Heer voraustragt.«
Baiwer legte den Kopf auf eine Seite und begann seine Hände zu kneten, hielt aber dann jäh inne. »Das habe ich bedacht, Majestät. Der Offizier, der mir den Paß aushändigte, sagte, es sei ohne Belang. Seine genauen Worte lauteten: ›Erzählt, wem Ihr wollt, was Ihr gesehen habt, und laßt sie wissen, daß sie uns nicht trotzen können. Eure Länder werden es ohnehin nur zu bald erfahren.‹ Ich habe heute morgen mehrere Händler den Eid leisten und mit ihren Wagen aufbrechen sehen.«
Tallanvor trat nahe an sie heran. Zu nahe. Sie konnte fast seinen Atem, seinen Blick spüren. »Wir nehmen sein Angebot an«, sagte er, nur für sie hörbar. »Und wenn ich Euch fesseln und knebeln muß - ich glaube, er kann selbst dann einen Weg finden. Er scheint ein sehr findiger kleiner Bursche zu sein.«
Sie erwiderte seinen Blick fest. Das Fenster oder ... ein Hoffnungsschimmer. Wenn Tallanvor nur den Mund halten würde, wäre es viel leichter zu sagen: »Ich nehme Euer Angebot dankbar an, Meister Balwer«, aber sie sagte es. Sie trat von Tallanvor fort, als wollte sie Balwer sehen, ohne den Kopf recken zu müssen. Es beunruhigte sie stets, ihm so nahe zu sein. Er war zu jung. »Was werden wir zuerst tun? Ich bezweifle, daß die Wächter vor der Tür Euren Paß auch für uns gelten lassen.«
Balwer beugte den Kopf, wie in Anerkennung ihrer Voraussicht. »Ich fürchte, sie müssen sich den Umständen anpassen, Majestät.« Tallanvor lockerte seinen Dolch in der Scheide, und Lamgwin streckte die Hände, wie der Lopar seine Krallen gestreckt hatte.
Sie glaubte nicht, daß es so leicht sein konnte, selbst nachdem sie gepackt hatten, was sie tragen konnten, und die beiden Taraboner überwältigt und unter ihr Bett verfrachtet hatten. An den Haupttoren, den leinenen Staubmantel wegen des Bündels auf ihrem Rücken unbeholfen zuhaltend, verbeugte sie sich, die Hände auf den Knien, wie Balwer es ihr gezeigt hatte, während er den Wächtern sagte, sie hätten alle zu gehorchen, abzuwarten und zu dienen geschworen. Sie überlegte, wie sie sicherstellen könnte, daß sie nicht lebendig gefangengenommen würde. Erst als sie tatsächlich an den letzten Wachen vorbei auf den Pferden aus Amador hinaus ritten, die Balwer hatte bereithalten lassen, begann sie es zu glauben. Natürlich erwartete Balwer eine angemessene Belohnung für die Rettung der Königin von Andor. Sie hatte niemandem gesagt, daß sie dem Thron unwiderruflich entsagt hatte. Sie wußte, daß sie die Worte ausgesprochen hatte, und sonst brauchte es niemand zu wissen. Es war sinnlos, sie zu bereuen. Jetzt würde sie abwarten, welche Art Leben sie ohne einen Thron führen könnte. Ein Leben weit entfernt von einem Mann, der viel zu jung und viel zu beunruhigend war.
»Warum wirkt Euer Lächeln so traurig?« fragte Uni, während sie ihre braune Stute näher an Morgase heranführte. Das Tier wirkte mottenzerfressen. Morgases Kastanienbrauner war in keinem besseren Zustand, ebensowenig wie auch die anderen Pferde. Die Seanchaner hatten Balwer vielleicht bereitwillig mit seinem Paß gehen lassen, nicht aber mit anständigen Pferden.
»Vor uns liegt noch ein langer Weg«, belehrte Morgase sie, trieb ihre Stute zu einem Trab an und folgte Tallanvor.