12 Ein siegreicher Vormittag

Die gewundenen Hügel und Bergketten, die das Lager umgaben, zeigten alle Anzeichen von Trockenheit und für diese Jahreszeit ungewöhnlicher Hitze - tatsächlich unerträglicher Hitze. Selbst der schwerfälligste Küchenjunge, der Töpfe schrubbte, bemerkte die Berührung der Welt durch den Dunklen König. Der eigentliche Wald lag westlich hinter ihnen, aber verkrümmte Eichen wuchsen auch auf den felsigen Hängen, sowie Tupelobäume und ungewohnt geformte Kiefern und Bäume, deren Namen Egwene nicht kannte, braun und gelb und mit kahlen Zweigen. Es war keine Winterkahlheit oder Winterbraun. Sie dürsteten nach Feuchtigkeit und Kühle. Sie würden absterben, wenn sich das Wetter nicht bald änderte. Hinter den letzten Soldaten verlief ein Fluß von Süden nach Westen, der Reisendrelle, zwanzig Fuß breit und auf beiden Seiten von festgetretenem, mit Sternen durchsetzten Schlamm begrenzt. Zu anderen Zeiten hätten in Strudeln umherwirbelnde Steine die Überquerung gefährlich gemacht, aber heute war das Wasser nur wenige Handbreit tief. Egwene spürte, daß ihre eigenen Sorgen an Bedeutung verloren. Sie sprach, trotz ihrer Kopfschmerzen, ein kleines Gebet für Nynaeve und Elayne. Ihre Suche war genauso wichtig wie all ihr eigenes Handeln, wenn nicht wichtiger. Die Welt würde überleben, wenn sie versagte, aber die beiden mußten Erfolg haben.

Sie ritten in leichtem Galopp südwärts und zügelten ihre Pferde, wenn die Hänge zu steil wurden oder die Tiere durch Bäume und kärgliches Gestrüpp klettern mußten, aber sie hielten sich insgesamt soweit wie möglich ans Tiefland und kamen gut voran. Brynes Wallach, der trittsicher und kräftig war, schien es nichts auszumachen, wohin sich der Boden neigte oder ob er uneben war, und Daishar hielt leicht Schritt. Siuans molliges Tier hatte manchmal zu kämpfen, obwohl sich vielleicht nur die Angst seiner Reiterin auf es übertrug. Auch nicht die größtmögliche Übung hätte aus Siuan etwas anderes als eine schreckliche Reiterin gemacht, die fast die Arme um den Hals der Stute schlang, wenn es bergauf ging, und fast aus dem Sattel fiel, wenn es bergab ging, unbeholfen wie eine Ente auf dem Land und mit fast genauso erschreckten Augen wie ihr Pferd. Sogar Myrelle gewann ihren Humor ein Stück weit zurück, als sie Siuan beobachtete. Ihr weißfüßiger Mausgrauer suchte sich seinen Weg sehr genau, und Myrelle ritt mit einer Sicherheit, daß sogar Bryne schwerfällig wirkte.

Bevor sie noch sehr weit gekommen waren, erschienen Reiter auf einem Hügelkamm im Westen, vielleicht einhundert Mann in Kolonne, auf deren Brustharnischen, Helmen und Speerspitzen die Sonne glitzerte. Ihnen voraus wehte eine weiße Fahne, die Egwene nicht erkennen konnte, aber sie wußte, daß sie die Rote Hand trug. Sie hatte nicht erwartet, sie so nahe am Lager der Aes Sedai zu sehen.

»Drachenverschworene Tiere«, murrte Myrelle. Ihre behandschuhten Hände schlossen sich fester um die Zügel - vor Zorn, nicht vor Angst.

»Die Bande der Roten Hand schickt Patrouillen aus«, erklärte Bryne in aller Ruhe und fügte dann mit einem Blick auf Egwene hinzu: »Lord Talmanes schien sich um Euch zu sorgen, Mutter, als ich zuletzt mit ihm sprach.« Er betonte dies nicht mehr als seine sonstigen Worte.

»Ihr habt mit ihm gesprochen?« Myrelles Heiterkeit schwand vollkommen. Den Zorn, den sie in Egwenes Gegenwart im Zaum gehalten hatte, konnte sie unbeschadet an ihm auslassen. »Das kommt Verrat sehr nahe, Lord Bryne. Es könnte sogar Verrat sein!« Siuan richtete ihre Aufmerksamkeit sowohl auf ihr Pferd als auch auf die Männer auf dem Hügel, und sie sah Myrelle nicht an, aber sie versteifte sich. Niemand hatte die Bande zuvor mit Verrat in Verbindung gebracht.

Sie umrundeten eine Biegung im Tal unter dem Hügel. Ein Bauernhof klebte an einem Hang - oder zumindest die Überreste davon. Eine Wand des kleinen Sterngebäudes war eingestürzt, und einige wenige verkohlte Holzpfosten ragten wie schmutzige Finger neben dem rußbedeckten Schornstein auf. Die Scheune, der das Dach fehlte, war ein geschwärzter, ausgehöhlter Steinkasten, und verstreute Asche bezeichnete, wo einst vielleicht Schuppen gestanden hatten. Ähnliches hatten sie in ganz Altara gesehen, manchmal ganze verbrannte Dörfer, in denen die Toten auf den Straßen lagen, Nahrung für Krähen und Füchse und wilde Hunde, die flohen, wenn Menschen herankamen. Geschichten über Chaos und Mord in Tarabon und Arad Doman waren plötzlich Wirklichkeit geworden. Viele Menschen nutzten jede Entschuldigung, um zu Banditen zu werden oder alte Mißstimmigkeiten zu regeln - Egwene hoffte inbrünstig, daß es so war -, aber der Name auf den Lippen jedes Überlebenden lautete ›Drachenverschworener‹, und die Schwestern machten Rand genauso dafür verantwortlich, als hätte er die Fackeln selbst getragen. Sie würden ihn dennoch weiterhin benutzen, wenn sie es noch könnten, ihn kontrollieren, wenn sie eine Möglichkeit hätten. Sie war nicht die einzige Aes Sedai, die daran glaubte zu tun, was sie tun mußte.

Myrelles Zorn beeindruckte Bryne genauso wenig, wie Regen einen Felsblock beeindruckte. Egwene sah plötzlich ein Bild von um seinen Kopf tobenden Stürmen und um seine Knie wirbelnden Fluten, während er unbekümmert weiterritt. »Myrelle Sedai«, sagte er mit der Gelassenheit, die eigentlich sie hätte zeigen sollen, »wenn zehntausend oder mehr Männer mich verfolgen, mochte ich wissen, was sie beabsichtigen. Besonders bei diesen Zehntausend oder mehr.«

Das war ein gefährliches Thema. So froh Egwene auch darüber war, daß das Thema von Talmanes' Sorge um sie überstanden war, hätte sie verärgert darüber sein sollen, daß er es überhaupt erwähnt hatte, aber jetzt war sie so erschrocken, daß sie sich jäh im Sattel aufrichtete. »Zehntausend? Seid Ihr sicher?« Die Bande hatte kaum mehr als die Hälfte Männer umfaßt, als Mat sie auf der Jagd nach Elayne und ihr nach Salidar gebracht hatte.

Bryne zuckte nur die Achseln. »Ich hebe unterwegs Rekruten aus und er ebenfalls. Nicht so viele, aber manche Männer haben eine bestimmte Vorstellung vom Dienst für die Aes Sedai.« Die Mehrzahl der Leute hätte sich entschieden unbehaglich gefühlt, dies drei Schwestern gegenüber zu erwähnen, aber er sagte es sogar mit einem schiefen Lächeln. »Außerdem scheint es, daß sich die Bande bei den Kämpfen in Cairhien einen gewissen Ruf erworben hat. Es heißt, Shen an Calhar verlöre niemals, ungeachtet der Umstände.« Genau das trieb Männer, hier ebenso wie in Altara, dazu, sich ihnen anzuschließen; der Gedanke, daß zwei Heere einen Kampf bedeuten müßten. Der Versuch, sich herauszuhalten, könnte genauso verhängnisvoll enden, wie die falsche Seite zu erwählen. »Ich habe einige Fahnenflüchtige von Talmanes' Neulingen in meinen Reihen gehabt. Einige scheinen zu glauben, das Glück der Bande sei eng mit Mat Cauthon verbunden und könne nicht ohne ihn bestehen.«

Myrelle verzog beinahe spöttisch die Lippen. »Diese törichten Ängste der Murandianer sind gewiß nützlich, aber ich hätte nicht gedacht, daß Ihr ebenfalls ein Narr seid. Talmanes folgt uns, weil er befürchtet, wir könnten uns gegen seinen wertvollen Lord Drache wenden, aber wenn er wirklich anzugreifen beabsichtigte - glaubt Ihr nicht, daß er es dann bereits getan hätte? Um diese Drachenverschworenen können wir uns kümmern, wenn wichtigere Angelegenheiten geregelt sind. Aber mit ihm zu sprechen...!« Sie erschauderte, gewann aber ihre Gelassenheit zurück - zumindest nach außen hin.

Egwene achtete nicht auf Myrelles Worte. Bryne hatte sie angesehen, als er Mat erwähnte. Die Schwestern glaubten, die Situation bei der Bande und Mat zu kennen und dachten nicht weiter darüber nach, aber Bryne tat dies offensichtlich doch. Sie neigte den Kopf so weit, daß die Krempe ihres Huts ihr Gesicht verbarg, und betrachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er war durch einen Eid daran gebunden, das Heer zu bilden und anzuführen, bis Elaida gestürzt war, aber warum hatte er die Eide geleistet? Er hätte sicherlich einen weniger gewichtigen Eid leisten können, der auch zweifellos von den Schwestern anerkannt worden wäre, die all jene Soldaten nur als Narrenmaske benutzen wollten, um Elaida zu erschrecken. Ihn auf ihrer Seite zu wissen, war tröstlich. Selbst die anderen Aes Sedai schienen so zu empfinden. Wie ihr Vater war auch er ein Mensch, der einem in jeder Situation alle Furcht nahm. Ihn gegen sich zu haben, erkannte sie plötzlich, könnte genauso schlimm sein, wie den Saal gegen sich zu haben. Die einzige Anerkennung, die Siuan ihm jemals gezollt hatte, war ihre Bemerkung, daß er ungeheuerlich sei, obwohl sie diese Bemerkung dann sofort wieder abschwächte. Jeder Mann, den Siuan Sandte für ungeheuerlich erachtete, war bemerkenswert.

Sie durchquerten einen schmalen Fluß, eher ein Flüßchen, das kaum die Pferdehufe benetzte. Eine angeschlagene Krähe, die sich an einem in zu flachem Wasser gestrandeten Fisch nährte, schlug hilflos mit ihren zerfetzten Flügeln und fraß dann weiter.

Siuan beobachtete auch Bryne - ihre Stute lief viel leichter, wenn sie nicht an den Zügeln zerrte oder die Fersen im falschen Moment in ihre Flanken schlug. Egwene hatte sie nach Lord Brynes Beweggründen befragt, aber Siuans eigene verworrene Verbindung zu dem Mann erlaubte kaum mehr als Bissigkeit, wenn es um ihn ging. Entweder haßte sie Gareth Bryne abgrundtief, oder sie liebte ihn, und sich Siuan verliebt vorzustellen, war, als stelle man sich diese Krähe schwimmend vor.

Auf dem Hügelkamm waren jetzt keine Soldaten der Bande mehr auszumachen, sondern nur noch abgestorbene Nadelbäume. Egwene hatte nicht bemerkt, daß die Männer verschwunden waren. Mat hatte einen Ruf als Soldat? Schwimmende Krähen kamen nicht nahe. Sie hatte geglaubt, er befehlige die Männer nur Rand zuliebe, und das war ausreichend schwer zu schlucken gewesen. Es ist gefährlich zu glauben, weil man zu wissen meint, erinnerte sie sich, während sie Bryne betrachtete.

»...sollte ausgepeitscht werden!« Myrelles Stimme klang noch immer zornig. »Ich warne Euch. Wenn ich erfahre, daß Ihr Euch wieder mit diesem Drachenverschworenen getroffen habt...!«

Die Drohung prallte anscheinend wirkungslos an Bryne ab. Er ritt unbeeindruckt weiter, murmelte nur gelegentlich: »Ja, Myrelle Sedai« oder »Nein, Myrelle Sedai«, ohne Anzeichen von Sorge zu zeigen und ohne seine aufmerksame Beobachtung der Umgebung zu unterbrechen. Er hatte die Soldaten zweifellos davonreiten sehen. Wie auch immer er seine Geduld aufbot - und Egwene wußte innerlich, daß Angst nichts damit zu tun hatte -, war sie nicht in der Stimmung, dem zuzuhören.

»Seid still, Myrelle! Niemand wird Lord Bryne etwas anhaben.« Sie rieb sich die Schläfen und erwog, eine der Schwestern im Lager um Heilung zu bitten. Weder Siuan noch Myrelle besaßen ausreichende Fähigkeiten. Nicht daß das Heilen etwas nützen würde, wenn es nur am Schlafmangel und den Sorgen lag. Nicht daß sie Gerüchte hören wollte, die Anstrengung sei zuviel für sie. Außerdem gab es andere Möglichkeiten, mit Kopfschmerzen umzugehen, als das Heilen, wenn auch nicht hier.

Myrelle preßte kurz die Lippen zusammen. Dann wandte sie den Kopf ruckartig und mit geröteten Wangen ab, und Bryne schien plötzlich in die Betrachtung eines Falken mit roten Schwingen vertieft, der zu ihrer Linken abdrehte. Auch ein tapferer Mann konnte Taktlosigkeit erkennen. Der Falke legte die Flügel an und schoß mit sich aufplusternden Federn auf eine unsichtbare Beute hinter einem Hain Lederblattbäume herab. Egwene fühlte sich auch so - als stoße sie in der Hoffnung, das Richtige erwählt zu haben, auf unsichtbare Ziele herab, und auch in der Hoffnung, daß es hier überhaupt ein Ziel gab.

Sie atmete tief ein und wünschte, sie wäre ruhiger. »Richtig, Lord Bryne, es ist wohl das beste, wenn Ihr Talmanes nicht wieder trefft. Ihr wißt sicherlich inzwischen so viel über seine Absichten wie nötig.« Das Licht gebe, daß Talmanes nicht bereits zu viel verraten hatte. Schade, daß sie Siuan oder Leane nicht auftragen konnte, ihn zur Vorsicht zu ermahnen, wenn er diese Warnung überhaupt annähme, aber wenn man die Stimmung unter den Schwestern bedachte, könnte sie es genauso gut riskieren, Rand aufzusuchen.

Bryne verbeugte sich im Sattel. »Wie Ihr befehlt, Mutter.« Er klang nicht spöttisch - das tat er niemals. Er hatte in Gegenwart der Aes Sedai offensichtlich gelernt, seine Stimme zu zähmen. Siuan zögerte und sah ihn stirnrunzelnd an. Vielleicht konnte sie herausfinden, wem seine Loyalität galt. Trotz all ihrer Feindseligkeit verbrachte sie viel Zeit in seiner Gesellschaft, weitaus mehr, als eigentlich nötig war.

Egwene umfaßte bewußt Daishars Zügel fester, um sich nicht an die Schläfen zu greifen. »Wie weit noch, Lord Bryne?« Es war mühsam, sich die Ungeduld nicht anmerken zu lassen.

»Es ist nicht mehr sehr weit, Mutter.« Aus einem unbestimmten Grund wandte er halbwegs den Kopf, um Myrelle anzusehen. »Es ist jetzt nicht mehr weit.«

Zunehmend sprenkelten Bauernhöfe die Landschaft, sowohl an den Hängen als auch in den Ebenen, obwohl die Emondsfelderin in Egwene ihr sagte, daß dies keinen Sinn ergab - niedrige graue Steingebäude und Scheunen und nicht eingezäunte Weiden mit nur wenigen mageren Kühen und traurig wirkenden Schafen mit schwarzen Schwänzen. Nicht alle waren verbrannt, nur hier und da. Die Brandstiftungen sollten den anderen vermutlich zeigen, was geschehen würde, wenn sie nicht für den Wiedergeborenen Drachen waren.

Auf einem der Gehöfte sah sie einige von Lord Brynes Kurieren mit einem Wagen. Daß sie zu ihm gehörten, war genauso durch den Umstand, daß er sie beobachtete und dann nickte, wie auch durch das Fehlen einer weißen Flagge offensichtlich. Die Bande zeigte sich stets stolz. Zusätzlich zu den Bannern waren in letzter Zeit auch einige dazu übergegangen, sich ein rotes Tuch um den Arm zu binden. Ein halbes Dutzend Vieh und vielleicht zwei Dutzend Schafe muhten und blökten unter der Bewachung von Reitern, und andere Männer schleppten an einem mit eingesunkenen Schultern dastehenden Bauern und seiner Familie vorbei Säcke aus der Scheune zum Wagen. Eines der kleinen Mädchen, das wie die anderen eine Haube trug, preßte ihr Gesicht an die Röcke ihrer Mutter und weinte offenbar. Einige der Jungen hatten die Fäuste geballt, als wollten sie kämpfen. Der Bauer würde eine Entschädigung erhalten, aber wenn er wirklich nicht erübrigen konnte, was ihm genommen wurde, wenn er fast zwanzig Männern in Brustharnischen und Helmen widerstehen wollte, hätten jene verbrannten Höfe ihn doch daran gehindert. Brynes Soldaten fanden recht häufig verkohlte Leichen in den Ruinen, Männer und Frauen und Kinder, die bei dem Versuch hinauszugelangen gestorben waren. Einige der Türen und Fenster waren von außen verriegelt worden.

Egwene fragte sich, ob man den Bauern und Dorfbewohnern irgendwie verständlich machen könnte, daß zwischen den Straßenräubern und dem Heer ein Unterschied bestand. Sie wollte sie so gern davon überzeugen, aber sie wußte nicht wie, wenn sie ihre Soldaten nicht hungern lassen wollte, bis sie desertierten. Wenn die Schwestern schon keinen Unterschied zwischen den Straßenräubern und der Bande erkennen konnten, schien bei der Landbevölkerung erst recht keine Hoffnung darauf zu bestehen. Als das Gehöft hinter ihnen verschwand, widerstand sie dem Drang, sich im Sattel umzudrehen und zurückzuschauen. Sich umzusehen würde nichts ändern.

Lord Bryne hielt Wort. Ungefähr drei oder vier Meilen vor dem Lager - drei oder vier Meilen Luftlinie, aber doppelt soviel über Land - umrundeten sie eine mit Gestrüpp und Bäumen bewachsene Bergflanke, und er verhielt sein Pferd. Die Sonne war fast auf halbem Weg zu ihrem höchsten Stand. Eine weitere Straße verlief unter ihnen, schmaler und weitaus gewundener als diejenige, die durch das Lager führte.

»Sie glaubten, sicher an den Straßenräubern vorbei zu gelangen, wenn sie bei Nacht ritten«, sagte er. »Es war anscheinend keine schlechte Idee, denn sonst müßten sie einfach das Glück des Dunklen Königs selbst gehabt haben. Sie kamen aus Caemlyn.«

Ein Händlerzug von etwa fünfzig Wagen hinter Gespannen von ungefähr zehn Pferden erstreckte sich die Straße entlang und hielt unter der Aufsicht weiterer Soldaten Brynes an. Einige der Soldaten waren zu Fuß und überwachten die Übergabe von Fässern und Säcken von den Händlerwagen an ein halbes Dutzend ihrer eigenen Leute. Eine Frau in einem einfachen dunklen Gewand winkte mit den Armen und deutete energisch auf den einen oder anderen Gegenstand, entweder protestierend oder weil sie verhandelte, aber ihre Leute standen nur bedrückt und schweigend zusammen. Ein kleines Stück weiter die Straße hinauf zierten schreckliche Früchte die ausladenden Zweige einer Eiche - Männer, die gehängt worden waren. Es saßen so viele Krähen in dem Baum, daß er fast schwarz belaubt wirkte. Diese Vögel nährten sich von mehr als nur von Fisch. Selbst auf die Entfernung war der Anblick für Egwenes Magen belastend.

»Wolltet Ihr mir das zeigen? Die Händler oder die Banditen?« Sie konnte an den Gehängten keine Kleidung erkennen, und wenn Straßenräuber Menschen hängten, gehörten dazu auch Frauen und Kinder. Jedermann hätte die Leichen hierherbringen können, Brynes Soldaten, die Bande - daß die Bande alle sogenannten Drachenverschworenen aufknüpfte, die sie erwischte, machte für die Schwestern kaum einen Unterschied - oder sogar ein ortsansässiger Lord oder eine Lady. Hätten die murandianischen Adligen zusammengewirkt, würden inzwischen vielleicht alle Straßenräuber an Bäumen hängen, aber das war, als würde man Katzen zum Tanz auffordern. Warte. Er hatte Caemlyn gesagt. »Hat es etwas mit Rand zu tun? Oder mit den Asha'man?«

Dieses Mal schaute er ganz offen von ihr zu Myrelle und dann wieder zu ihr. Myrelles Hut beschattete ihr Gesicht. Sie schien in Düsternis versunken, war in ihrem Sattel zusammengesackt und ähnelte nicht im geringsten der zuversichtlichen Reiterin von vorher. Anscheinend gelangte er zu einer Entscheidung. »Ich dachte, Ihr solltet es vor allen anderen erfahren, aber vielleicht habe ich mißverstanden... «Er sah Myrelle erneut an.

»Was erfahren, Ihr Lumpfisch mit den behaarten Ohren?« grollte Siuan und trieb ihre dicke Stute mit den Fersen näher an ihn heran.

Egwene wollte sie beschwichtigen. »Myrelle kann alles hören, was Ihr mir zu sagen habt, Lord Bryne. Ich vertraue ihr vollkommen.« Die Grüne Schwester wandte ruckartig den Kopf. Ihrem betroffenen Blick nach zu urteilen, hätte jedermann bezweifelt, daß sie Egwene richtig verstanden hatten, aber Bryne nickte kurz darauf.

»Ich sehe, daß sich die Dinge ... geändert haben. Ja, Mutter.« Er nahm seinen Helm ab und setzte ihn auf den Knauf seines Sattels. Er schien noch immer zu zögern und wählte seine Worte sorgfältig. »Händler tragen Gerüchte heran wie Hunde Flöhe. Ich will natürlich nicht behaupten, daß irgend etwas davon stimmt, aber...« Es war merkwürdig, ihn so zögerlich zu erleben. »Mutter, eine Geschichte, die sie unterwegs aufgeschnappt haben, besagt, daß Rand al'Thor zur Weißen Burg gegangen sei und Elaida die Treue geschworen habe.«

Myrelle und Siuan waren sich einen Moment sehr ähnlich, als alle Farbe aus ihren Gesichtern wich, während sie sich die Katastrophe vorstellten. Myrelle schwankte wahrhaftig im Sattel. Egwene starrte Bryne einen Moment nur an. Dann erschreckte sie sich und die anderen, indem sie in Lachen ausbrach. Dashar tänzelte überrascht, und ihn auf dem felsigen Hang beruhigen zu müssen, beruhigte auch ihre Nerven. »Lord Bryne«, sagte sie und tätschelte dem Wallach den Hals, »dem ist nicht so, glaubt mir. Ich weiß es zuverlässig, seit letzter Nacht.«

Siuan stieß sofort einen tiefen Seufzer aus, und Myrelle tat es ihr nur einen Herzschlag später gleich. Egwene hatte das Gefühl, erneut lachen zu müssen -über ihren Gesichtsausdruck. Sie waren so unglaublich erleichtert wie Kinder, denen man gesagt hatte, daß der Schattenmann nicht unter dem Bett war.

»Das ist erfreulich zu hören«, sagte Bryne tonlos, »aber selbst wenn ich jeden Mann dort unten fortschicke, wird die Geschichte meinen Leuten dennoch zu Ohren kommen. Sie wird sich wie ein Lauffeuer im Heer verbreiten.« Das nahm ihr jede Heiterkeit, denn das allein konnte schon eine Katastrophe sein.

»Ich werde die Schwestern anweisen, Euren Soldaten morgen die Wahrheit zu verkünden. Werden sechs energische Aes Sedai genügen? Myrelle und Sheriam, Carlinya und Beonin, Anaiya und Morvrin.« Die Schwestern würden den Weisen Frauen nicht gern begegnen, aber sie würden es ihr auch nicht verweigern können. Sie würden es gar nicht wollen, um die Verbreitung dieser Geschichte zu verhindern. Sie sollten es zumindest nicht wollen. Myrelle zuckte kaum wahrnehmbar zusammen und verzog dann den Mund.

Bryne stützte sich mit einem Ellenbogen auf seinen Helm und betrachtete Egwene und Myrelle. Siuan sah er nicht einmal flüchtig an. Sein Kastanienbrauner stampfte mit dem Huf auf den Fels, und eine Schar Möwen ähnlicher Vogel erhoben sich mit ausgebreiteten Flügeln aus nur wenige Schritt entfernten Büschen schwirrend in die Luft und ließen Daishar und Myrelles Pferd scheuen. Brynes Pferd rührte sich nicht. Er hatte zweifellos von den Wegetoren gehört, obwohl er sicherlich nicht wußte, was genau sie waren - Aes Sedai bewahrten ihre Geheimnisse gewohnheitsgemäß und hegten einige Hoffnung, dieses vor Elaida geheimhalten zu können -, und er wußte sicherlich überhaupt nichts über Tel'aran'rhiod - dieses lebenswichtige Geheimnis war leichter zu hüten, ohne sichtbare Anzeichen -, und doch fragte er nicht wie. Vielleicht war er inzwischen an die Aes Sedai und ihre Geheimnisse gewöhnt.

»So lange sie es geradeheraus sagen«, erwiderte er schließlich. »Wenn sie auch nur im geringsten ausweichen...« Sein Blick sollte nicht einschüchtern, nur verdeutlichen, und er schien durch das zufriedengestellt, was er auf ihrem Gesicht las. »Ihr kommt anscheinend gut zurecht, Mutter. Ich wünsche Euch weiterhin steten Erfolg. Setzt für heute nachmittag einen Zeitpunkt fest, und ich werde kommen. Wir sollten regelmäßig miteinander sprechen. Ich werde kommen, wann immer Ihr nach mir schickt. Wir sollten genaue Pläne ausarbeiten, wie wir Euch auf den Amyrlin-Sitz bringen können, wenn wir Tar Valon erreichen.«

Er sprach vorsichtig - er war sich höchstwahrscheinlich noch immer nicht vollkommen im klaren, was vor sich ging oder wie weit er Myrelle trauen konnte - und es dauerte einen Moment, bis sie erkannte, was er getan hatte. Dann hielt sie den Atem an. Vielleicht gewöhnte sie sich zu sehr an die Art der Aes Sedai, in Rätseln zu sprechen, aber ... Bryne hatte gerade gesagt, das Heer gehöre ihr. Sie war sich dessen sicher. Nicht dem Saal, und nicht Sheriam -ihr.

»Danke, Lord Bryne.« Das schien wenig genug, besonders, als sein vorsichtiges Nicken und sein stetig auf ihr ruhender Blick ihre Annahme zu bestätigen schienen. Sie hatte plötzlich tausend weitere Fragen, von denen sie die meisten nicht einmal stellen könnte, wenn sie allein wären. Schade, daß sie ihn nicht vollständig ins Vertrauen ziehen konnte. Sei vorsichtig, bis du Gewißheit hast, und dann sei noch ein wenig vorsichtiger. Ein altes Sprichwort, das sehr gut zu allem mit den Aes Sedai zusammenhängenden Handeln paßte. Selbst die besten Menschen besprachen Dinge mit ihren Freunden, besonders, wenn es um Dinge ging, die geheim bleiben sollten. »Ihr müßt Euch bestimmt den restlichen Vormittag um tausend Kleinigkeiten kümmern«, sagte sie und nahm die Zügel auf. »Kehrt unbesorgt zurück. Wir werden noch etwas weiterreiten.«

Bryne widersprach natürlich. Er klang fast wie ein Behüter, der von der Unmöglichkeit sprach, überallhin gleichzeitig zu schauen, und daß ein Pfeil im Rücken eine Aes Sedai genauso schnell töten könnte wie jeden anderen Menschen. Egwene beschloß, daß der nächste Mensch, der ihr das sagen würde, dafür bezahlen müßte. Drei Aes Sedai waren dreihundert Mann gewiß ebenbürtig. Letztendlich hatte er, trotz all seines Murrens, keine andere Wahl, als zu gehorchen. Er nahm seinen Helm und führte sein Pferd den abschüssigen Hang hinab auf den Händlerzug zu, anstatt den Weg zu nehmen, auf dem er gekommen war, aber das war aus ihrer Sicht sogar besser.

»Reitet voran, Siuan«, sagte sie, als er ein Dutzend Schritte hinabgelangt war.

Siuan sah hinter ihm her, als hätte er ihr die ganze Zeit zugesetzt. Sie richtete schnaubend ihren Strohhut, riß ihre Stute herum - nun, zog sie herum - und brachte das gedrungene Tier mit den Fersen in Gang. Egwene bedeutete Myrelle, ihr zu folgen. Die Frau hatte, genau wie Bryne, keine andere Wahl.

Zuerst sah Myrelle sie von der Seite an, denn sie erwartete eindeutig, daß sie das Thema der zur Weißen Burg geschickten Schwestern aufbrächte, und ersann Entschuldigungen dafür, warum dies sogar vor dem Saal geheimgehalten werden mußte. Je länger Egwene schweigend weiterritt, desto unbehaglicher regte sich Myrelle im Sattel. Sie benetzte ihre Lippen, und erste Risse zeigten sich in der Aes-Sedai-Gelassenheit. Schweigen war ein überaus nützliches Instrument.

Eine Zeitlang war außer den Pferdehufen und dem gelegentlichen Schrei eines Vogels im Gebüsch nichts zu hören, aber als deutlich wurde, in welche Richtung Siuan ritt - ein wenig westlich vom Rückweg zum Lager ab -, steigerte sich Myrelles Unbehagen. Vielleicht enthielten die Hinweise, die Siuan zusammengetragen hatte, letztendlich doch ein Körnchen Wahrheit.

Als Siuan noch einmal westwärts schwenkte, zwischen zwei unförmigen Hügeln hindurch, die sich einander zuneigten, verhielt Myrelle ihr Pferd. »In ... in dieser Richtung liegt ein Wasserfall«, sagte sie und deutete gen Osten. »Er ist nicht sehr hoch, war es auch vor der Dürre nicht, aber er ist auch jetzt noch recht hübsch.« Siuan hielt ebenfalls inne und schaute lächelnd zurück.

Was hatte Myrelle zu verbergen? fragte sich Egwene neugierig. Sie betrachtete die Grüne Schwester und bemerkte erschrocken einen Schweißtropfen auf deren Stirn, der auch im Schatten am Rande ihres grauen Haars schimmerte. Sie wollte zweifelsfrei wissen, was eine Aes Sedai ausreichend erschüttern konnte, sie zum Schwitzen zu bringen.

»Ich glaube, Siuans Weg wird noch interessante Einblicke gewähren, meint Ihr nicht?« fragte Egwene und wandte Daishar um. Myrelle schien in sich zusammenzusinken. »Kommt schon.«

»Ihr wißt alles, nicht wahr?« murrte Myrelle unsicher, während sie zwischen den Hügeln hindurchritten. Jetzt war mehr als nur ein Tropfen Schweiß auf ihrem Gesicht zu sehen. Sie war bis ins Mark erschüttert. »Alles. Wie konntet Ihr...?« Sie richtete sich plötzlich ruckartig im Sattel auf und starrte Siuans Rücken an. »Sie! Siuan war von Anfang an Eure Handlangerin!« Sie klang fast empört. »Wie konnten wir so blind sein? Aber ich verstehe noch immer nicht. Wir waren so vorsichtig.«

»Wenn Ihr etwas geheimhalten wollt«, sagte Siuan verächtlich über die Schulter, »dann versucht nicht, so weit im Süden Münzpfeffer zu kaufen.«

Was, um alles in der Welt, war Münzpfeffer? Und worüber redeten sie? Myrelle erschauderte. An dem Umstand, daß Siuans Tonfall keine heftige, zurechtweisende Erwiderung bewirkt hatte, konnte man ermessen, wie aufgebracht sie war. Statt dessen benetzte sie ihre Lippen, als wären sie plötzlich noch trockener geworden.

»Mutter, Ihr müßt verstehen, warum ich es getan habe, warum wir es getan haben.« Die Furcht in ihrer Stimme wäre auch angemessen gewesen, wenn sie der Hälfte der Verlorenen hätte gegenübertreten müssen. »Nicht nur, weil Moiraine darum gebeten hat, nicht nur, weil sie meine Freundin war. Ich hasse es, sie sterben zu lassen. Ich hasse es! Der Handel, den wir eingehen, fallt uns oft schwer, aber ihnen fällt er noch schwerer. Ihr müßt es verstehen. Ihr müßt!«

Gerade als Egwene dachte, sie würde alles preisgeben, verhielt Siuan ihre Stute und wandte sich zu ihnen um. Egwene hätte sie ohrfeigen können. »Vielleicht wäre es für Euch einfacher, Myrelle, wenn Ihr den restlichen Weg führt«, sagte sie kalt und wahrhaft angewidert. »Zusammenarbeit könnte Milderung bedeuten. Ein wenig.«

»Ja.« Myrelle nickte, während ihre Hände unablässig mit den Zügeln beschäftigt waren. »Ja, natürlich.«

Sie wirkte den Tränen nahe, als sie die Führung übernahm. Siuan, die ihr folgte, schien nur einen Moment erleichtert. Egwene dachte, auch sie würde in Tränen ausbrechen. Welcher Handel? Mit wem? Wen ließen sie sterben? Und wer waren »wir«? Sheriam und die anderen? Aber Myrelle hätte davon gehört, und es schien zu diesem Zeitpunkt kaum ratsam, ihr eigenes Unwissen zu offenbaren. Eine unwissende Frau, die den Mund hält, wird für weise erachtet werden, lautete ein Sprichwort. Und ein anderes lautete: Wenn man das erste Geheimnis bewahrt, bewahrt man auch zehn weitere. Sie konnte den beiden nur folgen und alles für sich behalten. Sie würde jedoch mit Siuan reden müssen. Die Frau sollte keine Geheimnisse vor ihr bewahren. Egwene bemühte sich zähneknirschend, Geduld zu beweisen und unbesorgt zu scheinen. Weise.

Fast auf dem Rückweg zum Lager, wenige Meilen westlich, führte Myrelle sie einen niedrigen, abgeflachten Hügel hinauf, der mit Kiefern und Lederblattbäumen bestanden war. Zwei gewaltige Eichen hielten alles andere Wachstum im Bereich ihrer weiten Kronen nieder. Unter dichten, ineinander verschlungenen Zweigen standen drei spitz zulaufende Zelte aus geflickter Leinwand und eine Reihe angepflockte Pferde in der Nähe eines Karrens, sowie fünf große Schlachtrosse, die sorgfältig von den anderen entfernt angepflockt waren. Nisao Dachen wartete in einem einfach geschnittenen, bronzefarbenen Reitgewand unter dem Sonnendach eines der Zelte, als wollte sie Gäste willkommen heißen. Neben ihr stand Sarin Hoigan in dem olivgrünen Umhang, den so viele Gaidin trugen. Nisaos Behüter, ein gedrungen wirkender, kahlköpfiger Mann mit dichtem schwarzen Bart, war größer als sie. Wenige Schritte entfernt beobachteten zwei von Myrelles drei Gaidin aufmerksam, wie sie in die Höhlung hinabstiegen: Croi Makin, schlank und blond, und Nuhel Dromand, dunkelhaarig und wuchtig und mit einem Bart, der seine Oberlippe frei ließ. Niemand wirkte im mindesten überrascht. Offensichtlich hatte einer der Behüter Wache gehalten und vorgewarnt. Jedoch schützte nichts Sichtbares die Heimlichkeit. Myrelle leckte sich nervös die Lippen. Wenn Nisao sie willkommen hieß - warum strichen Myrelles Hände dann unablässig über ihre Röcke? Sie wirkte, als würde sie lieber abgeschirmt Elaida gegenübertreten.

Zwei Frauen, die um die Ecke eines der Zelte gespäht hatten, wichen eilig wieder zurück, aber Egwene hatte sie bereits erkannt. Nicola und Areina. Sie fühlte sich plötzlich sehr unbehaglich. Wohin hatte Siuan sie geführt?

Siuan zeigte keinerlei Nervosität, als sie abstieg. »Bringt ihn heraus, Myrelle. Jetzt.« Sie richtete sich an ihrer Vergeltung wieder auf. Ihr Tonfall klang überaus schneidend. »Es ist zu spät, noch etwas zu verbergen.«

Myrelle brachte kaum Unmut über die Behandlung zustande. Sie riß sich sichtlich zusammen, zog sich ruckartig den Hut vom Kopf, stieg schweigend ab, trat zu einem der Zelte und verschwand darin. Nisaos Blick aus bereits geweiteten und sich ständig noch stärker weitenden Augen folgte ihr. Sie schien am Fleck festgewachsen.

Nur Siuan war nahe genug, um Egwene hören zu können. »Warum habt Ihr uns unterbrochen?« verlangte sie leise zu wissen, während sie abstieg. »Ich bin sicher, daß sie gerade gestehen wollte ... was auch immer es ist ... und ich habe noch immer keinen Anhaltspunkt. Was ist Münzpfeffer?«

»Er ist in Shienar und Malkier sehr bekannt«, antwortete Siuan genauso leise. »Ich habe erst davon gehört, als ich Aeldene heute morgen verließ. Ich mußte Myrelle die Führung überlassen. Ich wußte nichts, jedenfalls nichts Genaues. Es hätte wohl nicht viel genützt, sie das erkennen zu lassen, oder? Ich wußte auch nichts von Nisao. Ich dachte, sie hätten kaum jemals miteinander gesprochen.« Sie betrachtete die Gelbe Schwester und schüttelte verärgert den Kopf. Siuan konnte nur schlecht mit der Erkenntnis umgehen, ein Versagen nicht erkannt zu haben. »Es sei denn, ich bin blind und dumm geworden, was diese beiden...« Sie verzog den Mund und suchte nach einem angemessenen Schimpfwort. Plötzlich ergriff sie Egwenes Ärmel. »Da kommen sie. Jetzt werdet Ihr es selbst erkennen.«

Myrelle trat als erste aus dem Zelt, dann ein nur mit Stiefeln und einer Hose bekleideter Mann, der tief geduckt durch den Eingang treten mußte, ein blankgezogenes Schwert in der Hand und mit Narben kreuz und quer über seiner leicht behaarten Brust. Er war weitaus größer als Myrelle und auch als jeder der Behüter. Sein langes dunkles Haar, das von einem geflochtenen Lederband um seine Stirn gehalten wurde, war jetzt von mehr Grau durchzogen als zu dem Zeitpunkt, als Egwene ihn das letzte Mal gesehen hatte, aber es war nichts Sanftes an Lan Mandragoran. Teile des Puzzles fügten sich unvermittelt zusammen, und doch stimmte das Bild für sie noch immer nicht. Er war Moiraines Behüter gewesen, der Aes Sedai, die sie und Rand und die anderen vor scheinbar einem Zeitalter aus den zwei Flüssen herausgeführt hatte, aber Moiraine war nach der Tötung Lanfears gestorben, und Lan hatte kurz darauf in Cairhien als vermißt gegolten. Vielleicht war Siuan alles offenbar, aber sie selbst tappte zutiefst im dunkeln.

Myrelle flüsterte Lan etwas zu und berührte seinen Arm. Er zuckte leicht zusammen, wie ein nervöses Pferd, aber sein hartes Gesicht war beständig Egwene zugewandt. Schließlich nickte er jedoch, wandte sich auf dem Absatz um und schritt tiefer unter die Zweige der Eichen. Er hielt das Schwert mit beiden Händen über dem Kopf, die Klinge schräg nach unten, richtete sich auf die Zehenspitzen auf und blieb regungslos stehen.

Nisao sah ihn einen Moment stirnrunzelnd an, als wäre auch ihr etwas rätselhaft. Dann begegnete ihr Blick dem Myrelles, und sie beide schauten zu Egwene. Aber anstatt zu ihr zu kommen, traten sie zueinander und flüsterten einander hastig etwas zu. Es war zunächst einmal zumindest ein Austausch. Dann stand Nisao einfach ungläubig da und schüttelte abwehrend den Kopf. »Ihr habt mich mit hineingezogen«, stöhnte sie schließlich laut. »Ich war eine blinde Närrin, auf Euch gehört zu haben.«

»Dies sollte ... interessant sein«, bemerkte Siuan, als die beiden sich dann ihr und Egwene zuwandten. Die Art, wie sie das Wort aussprach, ließ es entschieden unerfreulich klingen.

Myrelle und Nisao berührten eilig ihr Haar und ihre Gewänder, während sie die kurze Entfernung überbrückten, um sicherzugehen, daß alles in Ordnung war. Vielleicht waren sie bei etwas erwischt worden -bei was?

fragte sich Egwene -, aber sie wollten offensichtlich das Beste aus der Situation machen.

»Wenn Ihr eintreten wollt, Mutter«, sagte Myrelle und deutete auf das nächststehende Zelt. Nur ein leichtes Zittern in ihrer Stimme strafte ihr unbewegtes Gesicht Lügen. Sie schwitzte nicht mehr. Sie hatte sich das Gesicht natürlich abgewischt, aber es war auch kein neuer Schweiß hinzugekommen.

»Danke, nein, Tochter.«

»Etwas gewürzten Wein?« fragte Nisao lächelnd. Die Hände über der Brust verschränkt, wirkte sie dennoch besorgt. »Siuan, geht und sagt Nicola, sie soll den gewürzten Wein bringen.« Siuan regte sich nicht, und Nisao blinzelte überrascht und preßte den Mund zusammen. Ihr Lächeln kehrte jedoch augenblicklich zurück, und sie hob ihre Stimme ein wenig. »Nicola? Kind, bringt den gewürzten Wein. Aus getrockneten Brombeeren, fürchte ich«, gestand sie Egwene ein, »aber recht stärkend.«

»Ich will keinen gewürzten Wein«, erwiderte Egwene kurz angebunden. Nicola tauchte hinter dem Zelt auf, machte jedoch keinerlei Anstalten, sofort gehorchen zu wollen. Statt dessen blieb sie stehen und starrte die vier Aes Sedai an, während sie auf der Unterlippe kaute. Nisao warf ihr einen Blick zu, der nur als Abneigung gedeutet werden konnte, aber sie schwieg. Ein weiteres Puzzleteil fügte sich plötzlich ein, und Egwene atmete ein wenig leichter. »Was ich will, Tochter, ist eine Erklärung.«

Ihr gelassener Gesichtsausdruck war nur eine dünne Fassade. Myrelle streckte bittend eine Hand aus. »Mutter, Moiraine hat mich nicht nur auserwählt, weil wir Freundinnen sind. Zwei meiner Behüter gehörten zunächst Schwestern, die gestorben sind - Avar und Nuhel. Keine andere Schwester hat seit Jahrhunderten mehr als einen Behüter gerettet.«

»Ich bekam nur durch seinen Geist hiermit zu tun«, erklärte Nisao hastig. »Ich habe ein gewisses Interesse an Geisteskrankheiten, und dies muß wirklich als solche bezeichnet werden. Myrelle hat mich geradezu hineingezogen.«

Myrelle glättete ihre Röcke und sah die Gelbe mit finsterem Blick an, der lediglich interessiert erwidert wurde. »Mutter, wenn die Aes Sedai eines Behüters stirbt, ist es, als verinnerliche er ihren Tod und würde von innen davon vereinnahmt. Er...«

»Das weiß ich, Myrelle«, unterbrach Egwene sie scharf. Siuan und Leane hatten ihr genug darüber erzählt, obwohl sie nicht wußten, daß sie die beiden nur darum gebeten hatte, weil sie wissen wollte, was bezüglich Gawyn zu erwarten war. Einen armseligen Handel, hatte Myrelle es genannt, und vielleicht war es das auch. Wenn der Behüter einer Schwester starb, wurde sie von Kummer vereinnahmt. Sie konnte diesen Kummer teilweise kontrollieren, ihm manchmal Einhalt gebieten, aber früher oder später fraß er sich doch nach außen. Wie gut sich Siuan auch immer unter Kontrolle hatte, wenn andere dabei waren, weinte sie dennoch manche Nacht, wenn sie allein war, um ihren Alric, der am Tage ihrer Absetzung getötet worden war. Aber was waren auch monatelange Tränen, verglichen mit dem Tod selbst? Viele Geschichten erzählten von Behütern, die gestorben waren, um ihre Aes Sedai zu rächen, was in der Tat sehr häufig geschah. Ein Mann, der sterben wollte, ein Mann, der danach suchte, was ihn töten könnte, nahm Risiken auf sich, die nicht einmal ein Behüter überleben konnte. Der schrecklichste Teil dieser Geschichte war für sie vielleicht, daß sie wußten, wie ihr Schicksal aussehen würde, wenn ihre Aes Sedai starb, daß sie wußten, was sie trieb, wenn es geschah, und keine Möglichkeit sahen, etwas daran zu ändern. Sie konnte sich nicht vorstellen, wieviel Mut nötig war, diesen Handel, dieses Wissen zu akzeptieren.

Sie trat beiseite, damit sie Lan deutlich sehen konnte. Er stand regungslos, schien nicht einmal zu atmen. Nicola hatte die Getränke offensichtlich vergessen, saß mit gekreuzten Beinen auf dem Boden und beobachtete ihn. Areina hockte neben Nicola, die ihren Zopf über die Schulter gezogen hatte, auf den Fersen und beobachtete ihn noch aufmerksamer. Tatsächlich weitaus aufmerksamer, da Nicola manchmal verstohlene Blicke zu Egwene und den anderen warf. Die übrigen Behüter bildeten eine kleine Gruppe und gaben vor, ihn ebenfalls zu beobachten, während sie ihre Aes Sedai aufmerksam bewachten.

Eine überaus warme Brise regte sich, ließ das tote Laub, das den Boden bedeckte, rascheln, und mit erschreckender Plötzlichkeit regte sich Lan, wechselte von einem Bein aufs andere, die Klinge in seinen Händen herumwirbelnd, immer schneller, bis er von einem Bein aufs andere zu springen schien, aber das alles so präzise wie die Bewegungen einer Uhr. Egwene erwartete, daß er einhalten oder seine Bewegungen zumindest verlangsamen würde, aber er tat nichts dergleichen. Er wurde eher noch schneller. Areinas Kinn sank allmählich herab, ihre Augen weiteten sich staunend, und das gleiche geschah mit Nicola. Sie beugten sich vor wie Kinder, die Kandiszucker auf dem Küchentisch beim Trocknen zusahen. Sogar die anderen Behüter teilten ihre Aufmerksamkeit jetzt zwischen ihren Aes Sedai und ihm auf, aber im Gegensatz zu den Frauen beobachteten sie einen Löwen, der jeden Moment angreifen konnte.

»Ich sehe, daß Ihr ihn hart fordert«, sagte Egwene. Das war ein Teil des Vorgehens, einen Behüter zu retten. Nur wenige Schwestern waren bereit, den Versuch zu wagen, da sie die Versagensrate und den Preis kannten, den sie selbst dafür zahlen mußten. Ein weiterer Teil des Vorgehens bestand darin, ihn von Risiken abzuhalten und ihn erneut zu binden. Das war der erste Schritt. Myrelle hatte sich zweifellos um dieses kleine Detail gekümmert. Arme Nynaeve. Es konnte durchaus sein, daß sie Myrelle erwürgte, wenn sie es erfuhr. Andererseits würde sie vielleicht alles unterstützen, was Lan am Leben hielt. Vielleicht. Was Lan betraf, so verdiente er das Schlimmste, was er bekam, wenn er sich von einer anderen Frau binden ließ, obwohl er wußte, daß Nynaeve sich nach ihm verzehrte.

Sie dachte, ihre Stimme klänge fest, aber etwas von ihren Empfindungen mußte sich hineingeschlichen haben, da Myrelle erneut zu erklären versuchte.

»Mutter, es ist nicht so schlimm, eine Bindung weiterzugeben. Nun, tatsächlich bedeutet es nicht mehr, als daß eine Frau entscheidet, wer ihren Ehemann bekommen soll, wenn sie stirbt, damit er in die richtigen Hände kommt.«

Egwene sah sie so starr an, daß Myrelle zurücktrat und beinahe über ihre Röcke stolperte. Es war jedoch nur der Schreck. Jedes Mal, wenn Egwene glaubte, nun von dem merkwürdigsten Brauch gehört zu haben, tauchte ein noch merkwürdigerer auf.

»Wir sind nicht alle Ebou Dari, Myrelle«, sagte Siuan trocken, »und ein Behüter ist kein Ehemann. Für die meisten von uns nicht.« Myrelle hob trotzig den Kopf. Manche Schwestern heirateten ihren Behüter, eine Handvoll, nur wenige heirateten überhaupt. Niemand forschte dem allzu genau nach, aber Gerüchte besagten, sie hätte ihre Behüter alle drei geheiratet, was gewiß sogar in Ebou Dar Gebräuche und Gesetze verletzte. »Nicht so schlimm, sagt Ihr, Myrelle? Nicht so schlimm?« Siuans Gesicht und Stimme drückten gleichermaßen Verärgerung aus. Sie klang, als hätte sie einen üblen Geschmack im Mund.

»Es gibt kein Gesetz dagegen«, protestierte Nisao an Egwene gewandt, nicht an Siuan. »Kein Gesetz dagegen, einen Bund weiterzugeben.« Siuan wurde ein derart düsterer Blick zugedacht, daß sie zurücktrat und schwieg. Sie dachte jedoch ganz anders.

»Das ist doch nicht der Punkt«, bemerkte Egwene. »Selbst wenn es während - wieviel? vierhundert oder mehr Jahren? - bereits einmal geschah, selbst wenn sich die Bräuche tatsächlich geändert haben, wärt Ihr vielleicht mit einigen schiefen Blicken und einem geringfügigen Verweis davongekommen, wenn ihr seinen Bund nur untereinander weitergegeben hättet. Ihr hättet ihn vielleicht sogar gegen seinen Willen binden können. Tatsächlich habt Ihr es, verdammt noch mal, sogar getan!«

Schließlich fügte sich das Puzzle für Egwene vollständig zusammen. Sie wußte, daß sie denselben Abscheu empfinden sollte wie Siuan. Aes Sedai setzen das Binden eines Mannes gegen seinen Willen einer Vergewaltigung gleich. Er hatte eine genauso große Chance, sich dagegen zu wehren, wie ein Bauernmädchen sie hätte, wenn ein Mann von der Statur Lans sie in einer Scheune in die Enge triebe -wenn drei Männer von der Statur Lans es täten. Schwestern waren jedoch nicht immer so rücksichtsvoll gewesen - tausend Jahre zuvor wäre es kaum erwähnt worden -, und selbst heutzutage konnte man sich darüber streiten, ob ein Mann tatsächlich gewußt hatte, worauf er sich einließ. Manche Aes Sedai beherrschten Heuchelei als ebenso große Kunst wie Intrigen oder das Bewahren von Geheimnissen. Der Punkt war, daß sie wußte, daß er Nynaeve seine Liebe zu ihr nicht eingestanden hatte, sondern irgendwelchen Unsinn darüber erzählt hatte, daß er gebunden wurde, um früher oder später getötet zu werden, und sie nicht als Witwe zurücklassen wollte. Männer redeten stets Unsinn, wenn sie vernünftig zu sein glaubten. Hätte Nynaeve ihn ungebunden gehen lassen, wenn sie eine andere Chance gehabt hätte, gleichgültig, was er gesagt hatte? Hätte sie selbst Gawyn gehen lassen? Er hatte gesagt, er würde annehmen, aber wenn er seine Meinung änderte?

Nisao bewegte den Mund, fand aber nicht die richtigen Worte. Sie sah Siuan an, als wäre alles ihr Fehler, aber das war noch nichts gegen den Blick, den sie Myrelle zugedachte. »Ich hätte niemals auf Euch hören sollen«, grollte sie. »Ich muß verrückt gewesen sein!«

Myrelle behielt ihren unbewegten Gesichtsausdruck noch immer irgendwie bei, aber sie schwankte ein wenig, als wollten ihre Knie nachgeben. »Ich habe es nicht für mich getan, Mutter. Das müßt Ihr mir glauben. Ich mußte ihn retten. Sobald er außer Gefahr ist, werde ich ihn an Nynaeve weitergeben, so wie Moiraine es wollte, sobald sie...«

Egwene hob ruckartig eine Hand, und Myrelle brach so jäh ab, als hätte sie ihr auf den Mund geschlagen. »Ihr wollt seinen Bund an Nynaeve weitergeben?«

Myrelle nickte unsicher und Nisao weitaus heftiger. Siuan murmelte stirnrunzelnd etwas darüber, daß ein Fehler dreimal schlimmer wurde, wenn man ihn wiederholte. Lan war noch immer nicht langsamer geworden. Zwei Grashüpfer schwirrten aus dem Laub hinter ihm hervor, und er wirbelte herum und zerteilte sie mit dem Schwert in der Luft, ohne innezuhalten.

»Haben Eure Bemühungen Erfolg? Ist er in guter Verfassung? Wie lange habt Ihr ihn schon hier?«

»Erst knapp drei Wochen«, erwiderte Myrelle. »Heute ist der zwanzigste Tag. Mutter, es könnte Monate dauern, und es gibt keine Garantie.«

»Vielleicht ist es an der Zeit, etwas anderes zu versuchen«, sagte Egwene mehr zu sich selbst als zu jemand anderem und eher, um sich selbst zu überzeugen als andere. Unter diesen Umständen war Lan wohl kaum ein leicht zu überreichendes Geschenk für irgend jemanden, aber Bund hin oder her - er gehörte stärker zu Nynaeve, als er jemals zu Myrelle gehören würde.

Als sie zu ihm hinüberging, stiegen jedoch starke Zweifel in ihr auf. Er wirbelte in seinem Tanz zu ihr herum, das Schwert auf sie zustoßend. Irgend jemand keuchte, als die Klinge nur um Haaresbreite vor ihrem Kopf innehielt. Sie war erleichtert, daß nicht sie gekeucht hatte.

Strahlend blaue Augen in einem wie aus Stein gemeißelten, ebenmäßigen Gesicht betrachteten sie unter gesenkten Brauen eingehend. Lan senkte das Schwert langsam. Schweiß bedeckte seinen Körper, und doch atmete er nicht einmal schwer. »Also seid Ihr jetzt die Amyrlin. Myrelle hat mir erzählt, daß sie eine Amyrlin erhoben haben, aber nicht wen. Anscheinend haben wir beide eine Menge gemeinsam.« Sein Lächeln wirkte genauso kalt wie seine Stimme, genauso kalt wie seine Augen.

Egwene unterdrückte den Wunsch, ihre Stola zurechtzurücken, und rief sich ins Bewußtsein, daß sie die Amyrlin und eine Aes Sedai war. Sie wollte Saidar umarmen. Bis zu diesem Moment hatte sie nicht wirklich erkannt, wie gefährlich er war. »Nynaeve ist jetzt ebenfalls eine Aes Sedai, Lan. Sie braucht einen guten Behüter.« Eine der anderen Frauen stieß einen Laut aus, aber Egwene hielt ihren Blick weiterhin auf ihn gerichtet.

»Ich hoffe, sie findet einen Helden aus der Legende.« Er lachte bellend. »Sie braucht einen Helden, der ihrem Temperament standhalten kann.«

Sein eishartes Lachen überzeugte sie. »Nynaeve befindet sich in Ebou Dar, Lan. Ihr wißt, wie gefährlich es in dieser Stadt ist. Sie sucht etwas, das wir verzweifelt brauchen. Wenn die Schwarze Ajah davon erfährt, werden sie Nynaeve töten, um es zu bekommen. Wenn die Verlorenen es herausfinden...« Sein Gesicht war ihr schon zuvor blaß erschienen, aber die in seinen sich verengenden Augen erkennbare Qual angesichts der Gefahr, in der Nynaeve schwebte, bekräftigte ihren Plan. Nynaeve, nicht Myrelle, hatte das Recht. »Ich schicke Euch als ihren Behüter zu ihr.«

»Mutter«, sagte Myrelle hinter ihr drängend.

Egwene hob rasch eine Ruhe gebietende Hand. »Ihr werdet für Nynaeves Sicherheit verantwortlich sein, Lan«

Er zögerte nicht und schaute auch nicht zu Myrelle.

»Es wird mindestens einen Monat dauern, Ebou Dar zu erreichen. Areina, sattelt Mandarb!« Er wollte sich gerade umwenden, hielt aber dann inne und hob seine freie Hand, als wollte er ihre Stola berühren. »Ich entschuldige mich dafür, daß ich Euch jemals geholfen habe, die Zwei Flüsse zu verlassen. Euch und Nynaeve.« Er schritt davon und verschwand in dem Zelt, aus dem er zuvor gekommen war, und bevor er nur zwei Schritte getan hatte, scharten sich Myrelle und Nisao und Siuan bereits alle um Egwene zusammen.

»Mutter, Ihr versteht nicht, was Ihr da vorhabt«, sagte Myrelle atemlos. »Ihr könntet genausogut einem Kind eine Laterne in die Hand geben und es damit in einem Heuschober spielen lassen. Ich habe Nynaeve vorbereitet, sobald ich spürte, daß sein Bund auf mich überging. Ich glaubte, ausreichend Zeit zu haben. Aber sie wurde in Windeseile zur Aes Sedai erhoben. Sie ist noch nicht bereit, mit ihm umzugehen, Mutter. Nicht mit ihm, nicht so, wie er jetzt ist.«

Egwene bewahrte mühsam die Geduld. Sie verstanden noch immer nicht. »Myrelle, selbst wenn Nynaeve die Macht überhaupt nicht beherrschte« - sie konnte es tatsächlich nicht, es sei denn, sie war verärgert -, »würde das keinen Unterschied machen, und das wißt Ihr. Nicht in bezug darauf, ob sie mit ihm umgehen kann, denn eines habt Ihr nicht vermocht - ihm eine so wichtige Aufgabe zu erteilen, daß er am Leben bleiben muß, um sie auszuführen.« Das war das letzte Argument Es würde vermutlich besser greifen als die anderen. »Nynaeves Sicherheit ist für ihn sehr wichtig. Er liebt sie, Myrelle, und sie liebt ihn.«

»Das erklärt...«, begann Myrelle leise, aber Nisao unterbrach sie unglaublich schroff.

»Oh, bestimmt nicht. Nicht er. Sie liebt ihn vielleicht, oder sie glaubt, daß sie ihn liebt, aber Frauen jagen Lan schon hinterher, seit er noch ein bartloser Junge war und fangen ihn einen Tag oder einen Monat lang ein. Er war ein recht hübscher Junge, wie schwer das jetzt auch zu glauben sein mag. Dennoch besitzt er anscheinend noch immer eine gewisse Anziehungskraft.« Sie warf Myrelle, die leicht die Stirn runzelte und deren Wangen etwas gerötet waren, einen Seitenblick zu. Ansonsten ließ sie sich nichts anmerken, aber das genügte vollkommen. »Nein, Mutter. Jede Frau, die Lan Mandragoran an sich gebunden zu haben glaubt, wird feststellen, daß sie nur Luft gefangen hat.«

Egwene seufzte wider Willen. Einige Schwestern waren der Ansicht, es gehöre noch etwas dazu, einen Behüter zu retten, dessen Bund durch den Tod gebrochen war: ihn in die Arme - ins Bett - einer Frau zu bringen. Dann konnte sich kein Mann mehr auf den Tod konzentrieren, glaubte man. Myrelle hatte dafür anscheinend selbst gesorgt. Zumindest hatte sie ihn nicht tatsächlich geheiratet, nicht, wenn sie ihn weitergeben wollte. Es wäre genauso gut, wenn Nynaeve es niemals herausfände.

»Sei es, wie es sei«, belehrte sie Nisao abwesend.

Areina zurrte Mandarbs Sattel gekonnt und energisch fest, während der große schwarze Hengst den Kopf zwar hoch erhoben hatte, es aber zuließ. Sie hatte eindeutig nicht zum ersten Mal mit diesem Tier zu tun. Nicola stand neben dem dicken Stamm einer entfernter stehenden Eiche, die Arme über der Brust gekreuzt, und beobachtete Egwene und die anderen. Sie wirkte bereit davonzulaufen. »Ich weiß nicht, was Areina Euch entlockt hat«, sagte Egwene ruhig, »aber die zusätzlichen Lektionen für Nicola haben jetzt ein Ende.«

Myrelle und Nisao zuckten zusammen, ein Spiegelbild der Überraschung. Siuans Augen wurden so groß wie Teetassen, aber glücklicherweise erholte sie sich wieder, bevor es jemand merkte. »Ihr wißt wirklich alles«, flüsterte Myrelle. »Areina will nur in Lans Nähe sein. Sie glaubt vermutlich, daß er sie Dinge lehren wird, die sie als Jägerin gebrauchen kann. Oder daß er vielleicht mit ihr auf die Jagd gehen wird.«

»Nicola will eine zweite Caraighan werden«, murmelte Nisao sarkastisch. »Oder eine zweite Moiraine. Sie dachte wohl, sie könnte Myrelle dazu bringen, Lans Bund an sie weiterzugeben. Nun, zumindest können wir mit diesen beiden verfahren, wie sie es verdienen, jetzt, wo Lan entdeckt ist. Was auch immer mit mir geschieht - ich werde mich freuen, daß sie lange schreien werden.«

Siuan erkannte schließlich, was geschehen war, und Zorn und Verwunderung kämpften auf ihrem Gesicht.

Sie warf Egwene verwunderte Blicke zu. Daß jemand anderes die Angelegenheit zuerst geklärt hatte, erzürnte sie wahrscheinlich genauso sehr wie der Umstand, daß Nicola und Areina Aes Sedai erpreßten. Oder vielleicht auch nicht. Nicola und Areina waren immerhin keine Aes Sedai. Das änderte Siuans Sichtweise drastisch. Andererseits galt das gleiche für die Schwestern.

Als Nicola so viele unfreundliche Blicke auf sich gerichtet sah, wich sie so weit wie möglich an die Eiche zurück. Die Flecken auf ihrer weißen Weste würden ihr Schwierigkeiten bereiten, wenn sie ins Lager zurückkehrte. Areina war noch immer mit Lans Pferd beschäftigt und sich nicht bewußt, was da auf sie zukam.

»Das wäre gerecht«, stimmte Egwene Nisao zu, »aber nur, wenn Ihr beide ebenfalls eine gerechte Behandlung erfahrt.«

Niemand sah mehr Nicola an. Myrelles Augen weiteten sich, und Nisaos weiteten sich noch stärker. Anscheinend wagten beide keinen Widerspruch. Siuans Gesicht überzog grimmige Zufriedenheit wie eine zweite Haut. Sie verdienten wahrhaftig keine Gnade - nicht, daß Egwene sie ihnen zu gewähren beabsichtigte.

»Wir werden weiter darüber sprechen, wenn ich zurückkomme«, belehrte Egwene die beiden, als Lan wieder auftauchte, das Schwert über einen grünen, geöffneten Umhang geschnürt, der ein ebenfalls geöffnetes Hemd freigab, und mit gepackten Satteltaschen über der Schulter. Der die Farbe verändernde Umhang eines Behüters hing seinen Rücken hinab und zog die Blicke auf sich, als er hinter ihm herwehte.

Egwene überließ die Schwestern ihrer Bestürzung und trat zu Lan. Siuan würde ihre Bestürzung noch schüren, wenn sie Anzeichen neuerlichen Übermuts zeigten. »Ich kann Euch schneller als in einem Monat nach Ebou Dar bringen«, sagte sie. Er nickte nur ungeduldig und rief Areina zu, sie solle Mandarb zu ihm führen. Seine Anspannung war zermürbend, eine im Lösen begriffene Lawine, die nur noch an einem Faden hing.

Egwene eröffnete an der Stelle, an der er seine Schwertübungen durchgeführt hatte, ein Wegetor von acht mal acht Fuß und trat durch es hindurch auf ein Floß, das in der sich endlos erstreckenden Dunkelheit dahintrieb. Zum Gleiten benötigte man eine Plattform, und obwohl alles als solche dienen konnte, was man sich vorzustellen beliebte, schien jede Schwester eine bevorzugte Vorstellung von dieser Plattform zu haben. Für sie war es dieses Holzboot mit fester Reling. Wenn sie herabfiele, könnte sie unter sich ein zweites Floß bilden, obwohl es dann fraglich wäre, wo sie herauskäme, aber für jedermann, der die Macht nicht lenken konnte, würde der Sturz so ewig dauern wie die Schwärze, die sich überallhin erstreckte. Nur an diesem Ende des Flosses gab es etwas Licht durch das Wegetor, das einen verengten Blick auf die Öffnung gewährte. Dieses Licht vermochte die Dunkelheit nicht zu durchdringen, und doch war eine Art Licht vorhanden. Zumindest konnte sie recht deutlich sehen - wie in Tel'aran'rhiod. Sie fragte sich nicht züm ersten Mal, ob dies tatsächlich ein Teil der Welt der Träume war.

Lan folgte ihr, ohne dazu aufgefordert werden zu müssen, und führte sein Pferd mit sich. Er untersuchte das Wegetor, während er hindurchschritt, und betrachtete die Dunkelheit als er mit dem Hengst mit dumpfen Stiefel- und Hufgeräuschen über die Decksplanken auf sie zukam. Seine einzige Frage war: »Wie schnell werde ich hiermit nach Ebou Dar gelangen?«

»Gar nicht«, sagte sie und lenkte die Macht um das Wegetor zu schließen. »Nicht direkt in die Stadt« Nichts bewegte sich, was man hätte erkennen können. Es war kein Wind, keine Brise, nichts zu spüren. Dennoch bewegten sie sich. Und zwar schnell, schneller, als sie sich jegliche Bewegung vorstellen konnten. Sie mußten sechshundert Meilen oder mehr zurücklegen. »Ich kann Euch fünf oder sechs Tage nördlich von Ebou Dar absetzen.« Sie hatte zugesehen, wie das Wegetor gewoben wurde, als Nynaeve und Elayne südwärts reisten, und sie erinnerte sich ausreichend gut daran, um zum gleichen Ort zu gleiten.

Er ruckte und spähte voraus, als könne er ihr Ziel bereits erkennen. Er erinnerte sie an einen Pfeil, der in einen gespannten Bogen eingelegt war.

»Lan, Nynaeve wohnt im Tarasin-Palast, als Gast Königin Tylins. Sie könnte leugnen, in Gefahr zu sein.« Was sie gewiß entrüstet tun würde, wenn Egwene sie richtig einschätzte, und das zu Recht »Versucht nicht, darüber zu streiten. Ihr wißt, wie eigensinnig sie ist, aber Ihr dürft nicht darauf achten. Wenn nötig, beschützt sie einfach, ohne daß sie es merkt.« Er schwieg und sah sie auch nicht an. Sie hätte in diesem Augenblick hundert Fragen stellen mögen. »Lan, wenn Ihr sie findet, müßt Ihr Nynaeve sagen, daß Myrelle Euren Bund an sie weitergeben wird, sobald Ihr drei Zusammensein könnt.« Sie hatte erwogen, diese Nachricht selbst weiterzugeben, aber es schien besser, Nynaeve nicht wissen zu lassen, daß er kam. Sie war so vernarrt in ihn wie ... wie... Wie ich in Gawyn, dachte sie reumütig. Wenn Nynaeve wüßte, daß er unterwegs war, würde sie kaum noch an etwas anderes denken. Sie würde, obwohl sie es gewiß nicht wollte, Elayne die weitere Suche allein überlassen. Nicht, daß sie sich zurückziehen und tagträumen würde, aber sie wäre zu keiner gründlichen Suche mehr fähig. »Hört Ihr mir zu, Lan?«

»Tarasin-Palast«, sagte er tonlos und ohne den Blick zu wenden. »Gast Königin Tylins. Könnte leugnen, in Gefahr zu sein. Eigensinnig - als wenn ich das nicht bereits wüßte.« Nun sah er sie an, und sie wünschte fast, er hätte es nicht getan. Sie war von Saidar, von der Wärme und der Freude, dem reinen Leben erfüllt, aber in seinen kalten blauen Augen tobte etwas Starres und Ursprüngliches, ein Leugnen des Lebens. Sein Blick wirkte schlichtweg erschreckend. »Ich werde ihr alles sagen, was sie wissen muß.

Wie Ihr seht, habe ich zugehört.«

Sie zwang sich, seinem Blick fest zu begegnen, aber er wandte sich ihr wieder ab. Er hatte ein Mal am Nacken, einen Bluterguß. Es könnte - es könnte - ein Biß sein. Vielleicht sollte sie ihn warnen, ihm sagen, daß er nicht zu viele ... Einzelheiten über sich selbst und Myrelle preiszugeben brauchte. Der Gedanke ließ sie erröten. Sie versuchte, den Bluterguß nicht zu beachten, aber jetzt, wo sie ihn bemerkt hatte, konnte sie anscheinend nichts anderes mehr sehen. Aber Lan würde wohl nicht so töricht sein. Man konnte von einem Mann kein Zartgefühl erwarten, aber selbst Männer waren nicht so zerstreut.

Sie trieben lautlos dahin, bewegten sich, ohne sich selbst zu bewegen. Sie hatte keine Angst, daß die Verlorenen oder sonst jemand plötzlich hier auftauchen könnten. Es war etwas Seltsames am Gleiten, wovon einiges Sicherheit und Zurückgezogenheit gewährte. Wenn zwei Schwestern nur Augenblicke nacheinander am selben Fleck Wegetore eröffneten, um zum gleichen Ort zu gleiten, würden sie einander nicht sehen, wenn es nicht genau derselbe Fleck war und die Gewebe nicht genau gleich gewoben wurden und eine solche Genauigkeit war in beiden Fällen nicht so leicht zu erreichen, wie es vielleicht schien.

Nach einiger Zeit - es war schwer zu sagen, wieviel Zeit tatsächlich vergangen war, aber sie glaubte, es wäre noch keine halbe Stunde gewesen - stoppte das Floß jäh. Nichts änderte sich an dem Gefühl oder an den Geweben, die sie festhielt. Sie wußte einfach, daß sie in einem Moment noch durch die Dunkelheit eilten und im nächsten stillstanden. Sie eröffnete unmittelbar am Bug des Flosses ein Wegetor - sie war sich nicht sicher, wohin ein Wegetor führen würde, das sie am Heck eröffnete, und wollte es, um ehrlich zu sein, auch nicht herausfinden; Moghedien war allein der Gedanke daran schon erschreckend erschienen - und bedeutete Lan vorauszugehen. Das Floß existierte nur so lange, wie sie da war, anders als in Tel'aran'rhiod.

Lan öffnete die Schranke des Flosses und führte Mandarb hinab, und als sie ihm folgte, saß er bereits im Sattel. Sie ließ das Wegetor für ihre Rückkehr offen. Niedrige, mit verdorrtem Gras bedeckte Hügel erstreckten sich in alle Richtungen. Kein Baum war zu sehen und nur vereinzelt vertrocknetes Unterholz. Die Hufe des Hengstes wirbelten kleine Staubwolken auf. Die Morgensonne am wolkenlosen Himmel brannte hier noch heißer als in Murandy. Geier mit großer Flügelspannweite kreisten im Süden und Westen.

»Lan«, begann sie, um sicherzugehen, daß er verstanden hatte, was er Nynaeve sagen sollte, aber er kam ihr zuvor.

»Fünf oder sechs Tage, sagtet Ihr«, erwiderte er, während er gen Süden blickte. »Ich kann es schneller schaffen. Sie wird in Sicherheit sein, ich verspreche es.« Mandarb tänzelte, war genauso ungeduldig wie sein Reiter, aber Lan hatte ihn gut im Griff. »Ihr seid seit Emondsfelde sehr weit gekommen.« Er blickte auf sie herab und lächelte. Alle diesem Lächeln innewohnende Wärme wurde von seinen Augen verschluckt. »Myrelle und Nisao gehören jetzt Euch. Laßt nicht zu, daß sie erneut mit Euch diskutieren. Ihr befehlt, Mutter. Die Wache ist noch nicht vorüber.« Er verbeugte sich leicht, stieß dem Tier die Fersen in die Flanken und ließ es gerade ausreichend weit im Schrittempo gehen, daß sie nicht von Staub umhüllt wurde, bevor er das Pferd zum Galopp antrieb.

Sie sah ihn südwärts eilen und schloß den Mund. Nun, er hatte während seiner Schwertübungen alles mitbekommen und richtig kombiniert. Offensichtlich mit den Dingen, die er nicht hätte vermuten können, bevor er sie mit der Stola gesehen hatte. Nynaeve sollte besser aufpassen. Sie hielt Männer stets für einfältiger, als sie waren. »Zumindest können sie nicht in wirkliche Schwierigkeiten geraten«, sagte sie sich laut. Lan erreichte einen Hügelkamm und verschwand auf der anderen Seite. Wenn Ebou Dar eine reale Gefahr darstellen würde, hätten Elayne oder Nynaeve etwas gesagt. Sie trafen sich nicht oft - sie hatte einfach zuviel zu tun -, aber sie hatten einen Weg gefunden, im Salidar Tel'aran'rhiods Nachrichten zu hinterlassen, wann immer es nötig war.

Der Wind wirbelte Staub auf. Sie hustete, bedeckte dann mit einer Ecke der gestreiften Stola der Amyrlin Mund und Nase und zog sich durch das Wegetor eilig auf ihr Floß zurück Die Rückreise verlief still und war langweilig, so daß sie sich Gedanken machen konnte, ob es richtig gewesen war, Lan nach Ebou Dar zu schicken, und ob es richtig war, Nynaeve im unklaren zu lassen. Es ist getan, sagte sie sich immerzu, aber es half nicht.

Als sie erneut die Stelle unter den Eichen betrat hatte sich Myrelles dritter Behüter, Avar Hachami, den anderen angeschlossen, ein Mann mit einer Hakennase und einem dichten, von Grau durchzogenen, wie Hörner abwärts gebogenen Schnurrbart. Alle vier Gaidin arbeiteten hart. Die Zelte waren bereits abgebaut und fast vollständig zusammengelegt Nicola und Areina liefen hin und her und luden die gesamte Lagerausrüstung auf den Karren, angefangen von Decken bis hin zu Kochtöpfen und dem schwarzen, eisernen Waschkessel. Sie hielten nicht einmal inne, richteten aber mindestens ihre halbe Aufmerksamkeit auf Siuan und die anderen beiden Schwestern, die drüben nahe der Baumlinie standen. Die Behüter gewährten den drei Aes Sedai weitaus mehr Aufmerksamkeit. Ihre Öhren hätten genauso gut gespitzt aufrecht stehen können. Es war auf den ersten Blick fraglich, wer wen schmoren ließ.

»...nicht so mit mir sprechen, Siuan«, sagte Myrelle gerade. Nicht nur laut genug, daß es über die ganze Lichtung zu hören war, sondern auch kalt genug, daß alle erstarrten. Die Arme fest über der Brust gekreuzt, richtete sie sich zu ihrer vollen Große auf, gebieterisch bis zum Bersten. »Hört Ihr mich? Das werdet Ihr nicht mehr tun!«

»Seid Ihr vollkommen verrückt geworden, Siuan?« Nisao hatte die Hände in ihren Röcken verkrampft, um nicht sichtbar zu zittern, und die Heftigkeit ihrer Stimme entsprach durchaus Myrelles kaltem Tonfall.

»Wenn Ihr die einfachsten Anstandsregeln vergessen habt, wird man sie Euch wieder lehren!«

Siuan stellte sich ihnen mit in die Hüften gestemmten Händen entgegen, drehte ruckartig den Kopf und kämpfte sowohl darum, ihr Gesicht unter Kontrolle zu behalten, als auch die beiden weiterhin zu betrachten.

»Ich... Ich bin die einzige...« Als sie Egwene nähertreten sah, stieg Erleichterung in ihr auf. »Mutter...«, es klang fast wie ein Keuchen, »ich habe gerade mögliche Strafen erklärt.« Sie atmete tief durch und fuhr bestimmter fort. »Der Saal wird es natürlich erklären müssen, wenn sie gehen, aber ich denke, man könnte sehr wohl damit beginnen, diese beiden dazu zu bringen, ihre Behüter an andere weiterzugeben, da sie so begeistert davon zu sein scheinen.«

Myrelle schloß fest die Augen, und Nisao wandte sich zu den Behütern um. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht - ruhig, wenn auch ein wenig gerötet -, aber Sarin kam stolpernd auf die Füße und tat drei schnelle Schritte auf sie zu, bevor sie eine Hand hob, um ihn aufzuhalten. - Ein Behüter konnte die Gegenwart, den Schmerz und die Angst seiner Aes Sedai genauso sehr spüren, wie Egwene dies bei Moghedien spüren konnte, wenn sie das A'dam trug. Kein Wunder, daß sich alle Gaidin auf Zehenspitzen bewegten und sprungbereit wirkten. Sie wußten vielleicht nicht, was ihre Aes Sedai an den Rand der Verzweiflung getrieben hatte, aber sie wußten, daß die beiden Frauen genau dort angelangt waren.

Genau das hatte Egwene bewirken wollen. Ihr gefiel dieser Teil der Aufgabe nicht. Alles Manövrieren war wie ein Spiel, aber dies... Ich tue, was getan werden muß, dachte sie, unentschlossen ob dies ein Versuch war, sich den Rücken zu stärken oder der Versuch, zu entschuldigen, was sie jetzt tun würde. »Siuan, bitte schickt Nicola und Areina ins Lager zurück.« Was sie nicht sahen, konnten sie nicht erzählen. »Wir können es uns nicht leisten, daß sie reden, also sorgt dafür, daß sie wissen, was mit ihnen geschehen wird. Sagt ihnen, sie bekommen noch eine Chance, weil die Amyrlin gnädiger Laune ist, aber sie werden keine weitere bekommen.«

»Ich denke, das kann ich bewerkstelligen«, erwiderte Siuan, raffte ihre Röcke und schritt davon. Niemand konnte wie Siuan schreiten, und doch schien sie vor allem eifrig bemüht, von Myrelle und Nisao fortzukommen.

»Mutter«, sagte Nisao und wählte ihre Worte sorgfältig, »bevor Ihr fortgingt, sagtet Ihr etwas ... deutetet Ihr an, daß es vielleicht eine Möglichkeit gäbe ... daß wir vermeiden könnten ... eine Möglichkeit wie wir vielleicht nicht...« Sie schaute erneut zu Sarin. Myrelle hatte ein gutes Studienobjekt für Aes Sedai-Gelassenheit geboten, während sie Egwene forschend betrachtete, wenn ihre Finger nicht so fest verschränkt gewesen wären, daß ihre Knöchel das dünne Leder ihrer Handschuhe spannten. Egwene bedeutete ihnen zu warten.

Nicola und Areina wandten sich von dem Karren ab, sahen Siuan herankommen und wurden stocksteif, was kein Wunder war, wenn man bedachte, daß Siuan sich ihnen näherte, als wollte sie die beiden und den Karren überrennen. Areina drehte suchend den Kopf, aber bevor sie auch nur daran denken konnte, tatsächlich davonzulaufen, schossen Siuans Hände vor und packten sie beide jeweils an einem Ohr. Was sie sagte, wurde zu leise gesprochen, um es verstehen zu können, aber Areina hörte auf, sich zu wehren. Ihre Hände lagen um Siuans Handgelenk, aber es schien fast, als hielte sie sich daran nur aufrecht. Ein Blick abgrundtiefen Entsetzens machte sich auf Nicolas Gesicht breit, und Egwene fragte sich, ob Siuan vielleicht zu weit ging. Aber andererseits war es unter den gegebenen Umständen vielleicht auch nicht so. Sie würden mit ihrem Verbrechen ungestraft davonkommen. Schade, daß sie keine Möglichkeit sah, ein solches Talent, Verborgenes aufzuspüren, zu nutzen. Eine Möglichkeit, es ungefährdet zu nutzen.

Was auch immer Siuan gesagt hatte - als sie ihre Ohren losließ, wandten sie sich augenblicklich Egwene zu und versanken in Hofknickse. Nicola knickste so tief, daß sie mit der Stirn fast den Boden berührte, und Areina fiel beinahe vornüber. Siuan klatschte laut in die Hände, und die beiden Frauen sprangen auf und bemühten sich dann, zwei zottige Zugpferde von der Pflockleine loszubinden. Sie schwangen sich auf deren bloße Rücken und galoppierten so schnell davon, daß man sich wunderte, daß sie keine Flügel besaßen.

»Sie werden nicht einmal im Schlaf reden«, bemerkte Siuan verärgert, als sie zurückkam. »Ich kann wenigstens immer noch mit Novizinnen und Schurken umgehen.« Ihr Blick blieb auf Egwenes Gesicht gerichtet und mied die beiden anderen Schwestern völlig.

Egwene unterdrückte ein Seufzen und wandte sich Myrelle und Nisao zu. Sie mußte wegen Siuan etwas unternehmen, aber eines nach dem anderen. Die Grüne und die Braune Schwester beobachteten sie aufmerksam. »Es ist ganz einfach«, sagte sie mit fester Stimme. »Ohne meinen Schutz werdet Ihr Eure Behüter sehr wahrscheinlich verlieren und fast sicher wünschen, Ihr wärt lebendig gehäutet worden, wenn der Saal mit Euch fertig ist. Eure Ajahs haben Euch vielleicht ebenfalls einiges zu sagen. Es kann Jahre dauern, bevor ihr die Köpfe wieder stolz erheben könnt, und es kann ebenfalls Jahre dauern, bis Euch keine Schwester mehr ständig über die Schulter schaut. Aber warum sollte ich Euch vor dem Lauf der Gerechtigkeit schützen? Damit erlege ich mir eine Verpflichtung auf. Ihr könntet dasselbe erneut tun, oder Schlimmeres.« Die Weisen Frauen hatten ihren Anteil daran, obwohl es nicht im eigentlichen Sinne Ji'e'toh war. »Wenn ich diese Verantwortung übernehmen soll, muß auch Euch eine Verpflichtung auferlegt werden. Ich muß Euch vollkommen vertrauen können, und ich sehe nur eine Möglichkeit, das zu erreichen.« Die Weisen Frauen, und dann Faolain und Theodrin. »Ihr müßt Treue schwören.« Sie hatten sie stirnrunzelnd angesehen und sich gefragt worauf sie hinauswollte, aber woran auch immer sie gedacht hatten - Egwene hatte sie überrascht. Ihre Gesichter waren sehenswert. Nisaos Kinn sank herab, und Myrelle schaute drein, als habe man ihr mit einem Hammer vor den Kopf geschlagen. Sogar Siuan keuchte ungläubig.

»Unm-möglich«, brachte Myrelle stotternd hervor. »Keine Schwester hat jemals...! Keine Amyrlin hat bisher verlangt...! Ihr könnt doch nicht wirklich glauben...!«

»Oh, seid still, Myrelle«, fauchte Nisao,'»Das alles ist Euer Fehler! Ich hätte niemals auf Euch hören sollen...! Nun, geschehen ist geschehen, daran ist nichts mehr zu ändern.« Sie spähte unter gesenkten Lidern zu Egwene und sagte leise: »Ihr seid eine gefährliche junge Frau, Mutter. Eine sehr gefährliche Frau. Ihr könntet die Burg noch stärker spalten, als sie es bereits ist, bevor Ihr fertig seid. Wenn ich dessen sicher wäre und ich den Mut hätte, meine Pflicht zu tun und mich dem zu stellen, was auch immer kommt...« Aber sie kniete sich mit einer geschmeidigen Bewegung hin und preßte ihre Lippen auf den Großen Schlangenring an Egwenes Finger. »Unter dem Licht und bei meiner Hoffnung auf Wiedergeburt und Rettung...« Es war nicht der gleiche Wortlaut wie bei Faolain und Theodrin, aber die Worte waren genauso aussagekräftig. Noch aussagekräftiger. Keine Aes Sedai konnte einen Schwur bei den Drei Eiden leisten, den sie nicht ernst meinte. Außer der Schwarzen Ajah natürlich. Es schien offensichtlich, daß sie eine Möglichkeit zu lügen gefunden haben mußten. Ob eine dieser Frauen eine Schwarze war, wäre jedoch ein später zu behandelndes Problem. Siuan, deren Augen hervorgetreten waren und deren Mund sich unaufhörlich bewegte, wirkte wie ein auf einer Sandbank gestrandeter Fisch.

Myrelle versuchte erneut, Einspruch zu erheben, aber Egwene streckte einfach ihre rechte Hand mit dem Ring aus, und Myrelle beugte ruckartig die Knie. Sie sprach mit verbitterter Stimme den Eid und schaute dann auf. »Ihr habt getan, was niemals zuvor getan worden ist, Mutter. Das ist stets gefährlich.«

»Es wird nicht das letzte Mal sein«, belehrte Egwene sie. »Tatsächlich lautet mein erster Befehl für Euch, niemandem zu erzählen, daß Siuan alles andere ist, als jedermann glaubt. Mein zweiter lautet, daß ihr jedem Befehl gehorchen werdet, den sie Euch gibt, als käme er von mir.«

Sie wandten die Köpfe mit gelassenen Gesichtern zu Siuan. »Wie Ihr befehlt, Mutter«, murmelten sie gleichzeitig. Es war Siuan, die einer Ohnmacht nahe schien.

Sie blickte noch immer ins Leere, als sie die Straße erreichten und ihre Pferde ostwärts auf das Aes-Sedai-Lager und das Heer zu wandten. Die Sonne befand sich noch auf ihrem Aufstieg zum Zenit, den sie jetzt beinahe erreicht hatte. Es war ein ebenso ereignisreicher Vormittag gewesen wie an den meisten Tagen. Und wie in den meisten Wochen. Egwene ließ Daishar im Paßgang gehen.

»Myrelle hatte recht«, murmelte Siuan schließlich. Da ihre Reiterin in Gedanken woanders war, bewegte sich die Stute geschmeidig voran. Tatsächlich ließ sie Siuan wie eine erfahrene Reiterin wirken. »Treue. Niemand hat das jemals getan. Niemand. Es gibt auch in den geheimen Geschichtsbüchern nicht den kleinsten Hinweis darauf. Und daß sie mir gehorchen sollen... Ihr ändert nicht nur wenige Dinge, sondern baut das Boot um, während Ihr durch einen Sturm segelt! Alles ändert sich. Und Nicola! Zu meiner Zeit hätte sich eine Novizin eher die Zunge abgebissen, als daran zu denken, eine Schwester zu erpressen!«

»Es war nicht ihr erster Versuch«, belehrte Egwene sie und erzählte ihr die Fakten mit so wenigen Worten wie möglich.

Sie hatte erwartet, daß Siuan vor Zorn über das Paar explodieren würde, aber statt dessen sagte die Frau recht gefaßt: »Ich fürchte, unsere beiden abenteuerlustigen Mädchen werden Unfälle erleiden.«

»Nein!« Egwene verhielt ihr Pferd so plötzlich, daß Siuans Stute noch ein Dutzend Schritte im Paßgang weiterlief, bevor sie das Tier unter Kontrolle bringen und umwenden konnte, wobei sie unentwegt leise Verwünschungen murmelte. Dann saß sie da und gönnte Egwene einen geduldigen Blick, der Lelaine auf schlimmste Art übertraf.

»Mutter, sie werden Euch steinigen, wenn sie jemals klug genug sind, dies zu Ende zu denken. Selbst wenn der Saal Euch nicht zu einer Strafe zwingt, könntet Ihr alle Eure Hoffnungen mit ihnen schwinden sehen.« Sie schüttelte angewidert den Kopf. »Ich wußte, daß Ihr es tun würdet als ich Euch aussandte -ich wußte, daß Ihr es tun mußtet -, aber ich hätte niemals gedacht, Elayne und Nynaeve wären ausreichend einfältig, jemanden mitzubringen, der wußte. Diese beiden Mädchen verdienen alles, was sie bekommen, wenn dies herauskommt. Aber Ihr könnt es Euch nicht leisten, es ans Licht kommen zu lassen.«

»Nicola oder Areina wird nichts geschehen, Siuan! Wenn ich ihre Tötung für das billige, was sie wissen -wer wird dann der nächste sein? Romanda und Lelaine, weil sie nicht mit mir übereinstimmen? Wo hört das auf?« Sie war in gewisser Weise von sich selbst angewidert. Früher hätte sie nicht verstanden, was Siuan meinte. Es war stets besser zu wissen, als unwissend zu sein, aber manchmal war Unwissen weitaus bequemer. Sie trieb Daishar voran. »Ich werde mir einen siegreichen Tag nicht durch Mordgerede verderben lassen. Myrelle war noch nicht einmal der Anfang, Siuan. Heute morgen warteten Faolain und Theodrin...« Siuan führte ihre Stute näher heran, um zuzuhören, während sie weiterritten.

Die Nachricht dämpfte Siuans Sorgen über Nicola und Areina nicht, aber Egwenes Pläne bewirkten immerhin einen Hoffnungsschimmer in ihren Augen und ein anerkennendes Lächeln um ihre Lippen. Als sie das Lager der Aes Sedai erreichten, drängte es sie zu ihrer nächsten Aufgabe, die darin bestand, Sheriam und den übrigen Freundinnen Myrelles mitzuteilen, daß sie mittags im Arbeitszimmer der Amyrlin erwartet würden. Sie konnte sogar recht wahrheitsgemäß erwähnen, daß von ihnen nur das gefordert würde, was andere Schwestern schon zuvor getan hatten.

Egwene fühlte sich, obwohl sie von einem siegreichen Tag gesprochen hatte, nicht sehr zufrieden. Sie hörte die Glückwünsche und Hochrufe kaum, reagierte nur mit einem Winken darauf und war sicher, mehr zu verpassen als zu bemerken. Sie konnte Mord nicht unterstützen, aber Nicola und Areina würden beobachtet werden müssen. Werde ich jemals irgendwo ankommen, wo sich keine Schwierigkeiten auftürmen? fragte sie sich. Irgendwie sollte auf einen Sieg keine neuerliche Gefahr folgen.

Als sie ihr Zelt betrat, sank ihr Mut endgültig. Ihr Kopf pochte. Sie begann zu glauben, sie sollte dem Zelt lieber vollkommen fernbleiben.

Zwei sorgfältig gefaltete Blätter Pergament lagen ordentlich auf dem Schreibtisch, beide mit Wachs verschlossen und mit der Aufschrift: »Der Flamme versiegelt«. Hätte jemand anderer als die Amyrlin diese Siegel gebrochen, wäre das als ernstlicher Angriff auf die Person der Amyrlin aufgefaßt worden. Sie wünschte, sie müßte sie nicht erbrechen. Sie hegte keinen Zweifel, wer die Nachrichten geschickt hatte. Leider hatte sie recht.

Romanda schlug vor - ›forderte‹ war ein besseres Wort -, daß die Amyrlin eine Verordnung erlassen sollte, ›der Halle versiegelt‹ und nur den Sitzenden zugänglich. Die Schwestern sollten alle nacheinander herbeizitiert werden, und jede, die sich weigerte, sollte als vermutliches Mitglied der Schwarzen Ajah abgeschirmt und eingesperrt werden. Es blieb eher ungewiß, warum sie herbeizitiert werden sollten, aber Lelaine hatte heute morgen mehr als nur Andeutungen gemacht. Lelaines Sendschreiben war sehr von ihrem Wesen geprägt eine Mutter, die ihrem Kind riet, was zu seinem eigenen Nutzen und dem Nutzen aller getan werden sollte. Sie wollte eine Verordnung erlassen sehen, die nur »dem Ring versiegelt« sein sollte. Jede Schwester durfte davon wissen und würde tatsächlich in diesem Falle auch davon Kenntnis haben müssen. Die Erwähnung der Schwarzen Ajah sollte als das Schüren von Uneinigkeit, unter dem Burggesetz ein ernsthaftes Vergehen mit entsprechenden Strafen, verboten werden.

Egwene sank stöhnend in ihren Faltsessel; natürlich rutschten die Beine weg, und sie landete fast auf dem Teppich. Sie sollte sie hinhalten und ausweichen, aber sie würden immer wieder mit diesem Unsinn ankommen. Früher oder später würde eine von ihnen ihren bescheidenen Vorschlag dem Saal vortragen, und das hätte die Wirkung eines Fuchses im Hühnerstall. Waren sie blind? Das Schüren von Uneinigkeit? Lelaine würde jede Schwester nicht nur davon überzeugen, daß es eine Schwarze Ajah gab, sondern auch davon, daß Egwene dazugehörte. Eine wilde Flucht von Schwestern, die nach Tar Valon und Elaida zurückeilten, würde bald folgen. Romanda wollte einfach eine Meuterei auslösen. In den verborgenen Chroniken wurde über sechs Meutereien berichtet. Ein halbes Dutzend in über dreitausend Jahren war vielleicht nicht sehr viel, aber jede Meuterei hatte damit geendet, daß die Amyrlin zurückgetreten war und der gesamte Saal mit ihr. Lelaine wußte das, und Romanda wußte es ebenfalls. Lelaine war fast vierzig Jahre lang eine Sitzende gewesen, mit Zugriff auf alle verborgenen Geschichtsüberlieferungen. Romanda hatte, bevor sie zurückgetreten war, um sich aufs Land zurückzuziehen, wie es viele Schwestern im Alter taten, so lange einen Sitz für die Gelben innegehabt, daß einige behaupteten, sie hätte genauso viel Macht gehabt wie jede Amyrlin, unter der sie diente. Es war kaum bekannt, daß jemand ein zweites Mal gebeten wurde, eine Sitzende zu werden, aber Romanda war ein Mensch, der Macht nach Möglichkeit nicht aus der Hand gab.

Nein, sie waren nicht blind. Sie hatten nur Angst. Jedermann hatte Angst, sie eingeschlossen, und selbst Aes Sedai dachten nicht immer vernünftig, wenn sie Angst hatten. Sie faltete die Blätter wieder zusammen und hätte sie am liebsten zerknüllt und in den Staub getreten. Ihr Kopf würde bersten.

»Darf ich hereinkommen, Mutter?« Halima Saranov fegte ins Zelt, ohne auf eine Antwort zu warten. Die Art, in der Halima sich stets bewegte, zog jedes männliche Auge von Zwölfjährigen bis hin zu Greisen auf sich, und auch wenn sie sich in einen schweren Umhang einhüllte, schauten die Männer dennoch hin.

Langes schwarzes Haar, das glänzte, als wüsche sie es jeden Tag mit Regenwasser, umrahmte ein Gesicht, das gleichermaßen Blicke auf sich zog. »Delana Sedai dachte, Ihr wolltet dies vielleicht sehen. Sie präsentiert es heute morgen dem Saal.«

Der Saal trat zusammen, ohne sie auch nur davon in Kenntnis zu setzen? Nun, sie war fort gewesen, aber die Gebräuche, wenn nicht das Gesetz besagten, daß die Amyrlin benachrichtigt werden mußte, bevor der Saal überhaupt zusammentreten konnte. Es sei denn, er trat zusammen, um sie abzusetzen. In diesem Moment hätte sie das fast als Segen empfunden. Sie betrachtete das gefaltete Blatt Papier, das Halima auf den Tisch gelegt hatte, wie eine giftige Schlange. Nicht versiegelt. Selbst die jüngste Novizin könnte es lesen, soweit es Delana betraf. Es war natürlich die Erklärung, daß Elaida eine Schattenfreundin war. Sie war nicht ganz so schlimm wie Romanda oder Lelaine, aber wenn sie erführe, daß der Saal in Aufruhr geraten war, würde sie wohl nicht einmal blinzeln.

»Halima, ich könnte mir wünschen, daß Ihr nach Hause gezogen wärt, als Cabriana starb.« Oder daß Delana zumindest soviel Verstand besessen hätte, die Nachricht für den Saal zu versiegeln - oder auch für die Flamme -, anstatt jeder Schwester zu erzählen, sie könnte ihre Gegner aufhalten.

»Das konnte ich wohl kaum tun, Mutter.« Halimas grüne Augen blitzten provozierend oder trotzig auf, aber sie konnte Menschen nur auf zwei verschiedene Arten ansehen: mit einem geweiteten, direkten Blick, der herausforderte, oder mit einem verhangenen Blick, der schwelte. Ihre Augen führten häufig zu Mißverständnissen. »Nachdem Cabriana Sedai mir erzählt hatte, was sie von Elaida erfahren hatte? Und von ihren Plänen? Cabriana war meine Freundin und Eure Freundin, die Freundin aller, die gegen Elaida eingestellt sind, also hatte ich keine Wahl. Ich danke dem Licht nur dafür, daß sie Salidar erwähnte, so daß ich wußte, wo ich hingehen mußte.« Sie stützte die Hände in die Taille, die genauso schmal war, wie Egwenes in Tel'aran'rhiod gewesen war, neigte den Kopf zu einer Seite und betrachtete Egwene angespannt. »Ihr habt wieder Kopfschmerzen, nicht wahr? Cabriana hatte immer solche Schmerzen, daß sich sogar ihre Zehen verkrampften. Sie mußte in heißem Wasser baden, bis sie es ertragen konnte, Kleidung anzulegen. Die Schmerzen dauerten manchmal Tage. Wenn ich nicht gekommen wäre, dann wären Eure Kopfschmerzen schließlich genauso schlimm geworden.« Sie trat hinter den Sessel und begann Egwenes Kopf zu massieren. Halimas Finger waren so geschickt, daß der Schmerz dahinschmolz. »Ihr könntet kaum eine andere Schwester so oft zu Heilen bitten, wie Ihr diese Schmerzen habt. Es ist nur Angespanntheit. Ich kann es spüren.«

»Vermutlich«, murmelte Egwene. Sie mochte die Frau recht gern, gleichgültig, was andere sagten, und nicht nur wegen ihres Talents, Kopfschmerzen zu lindern. Halima war bodenständig und offen, eine Frau vom Lande, gleichgültig, wieviel Zeit sie damit verbracht hatte, einen flüchtigen Anschein der Erfahrenheit einer Städterin zu erlangen, die ihren Respekt für die Amyrlin mit einer Art gutnachbarlichem Verhalten abwog, die Egwene als erfrischend empfand. Sie wirkte manchmal erschreckend, aber auch belebend. Selbst Chesa machte es nicht besser, aber Chesa war stets die Dienerin, auch wenn sie sich freundschaftlich verhielt, während Halima niemals auch nur die geringste Unterwürfigkeit zeigte. Und doch wünschte Egwene insgeheim, sie wäre nach Hause zurückgekehrt, als Cabriana von jenem Pferd fiel und sich den Hals brach.

Es wäre vielleicht nützlich gewesen, wenn die Schwestern Cabrianas Glauben übernommen hätten, daß Elaida noch immer beabsichtigte, die Hälfte von ihnen zu dämpfen und die übrigen zu zerbrechen, aber jedermann war überzeugt, daß Halima das irgendwie falsch dargestellt hatte. Sie schossen sich auf die Schwarze Ajah ein. Frauen, die nicht daran gewöhnt waren, vor irgend etwas Angst zu haben, hatten akzeptiert, daß das, was sie stets geleugnet hatten, existierte, und das brachte sie vor Angst halbwegs um den Verstand. Wie sollte sie die Schattenfreunde ausfindig machen, ohne die anderen Schwestern wie verschreckte Hühner auseinanderzutreiben? Wie sollte sie sie überhaupt daran hindern, früher oder später auseinanderzustieben? Licht, wie?

»Entspannung«, sagte Halima leise. »Euer Gesicht ist entspannt. Euer Nacken ist entspannt. Eure Schultern...« Ihre Stimme hatte etwas Hypnotisches, ein Summen, das fast jeden Teil von Egwenes Körper zu liebkosen schien, den sie entspannen wollte.

Einige Frauen mochten sie natürlich allein schon wegen ihres Aussehens nicht obwohl ein besonders lüsterner Mann sie erträumt hatte, und viele behaupteten, sie schäkere mit allem, was Hosen trug, was Egwene nicht gutgeheißen hätte, aber Halima gab zu, daß sie gern Männer anschaute. Nicht einmal ihre schärfsten Kritiker behaupteten, sie habe jemals mehr getan als zu schäkern, und sie selbst reagierte auf jegliche Andeutung empört. Sie war keine Närrin -Egwene hatte das seit ihrer ersten Unterhaltung am Tag nach Logains Flucht gewußt, als die Kopfschmerzen begonnen hatten - und absolut nicht dumm oder verantwortungslos. Egwene vermutete, daß es sich mit ihr ähnlich verhielt wie mit Meri. Halima konnte nichts für ihr Gesicht oder ihre Art. Ihr Lächeln schien durch die Form ihres Mundes verlockend oder neckend. Sie lächelte Männer, Frauen und Kinder auf die gleiche Weise an. Es war wohl kaum ihr Fehler, daß die Leute glaubten, sie schäkere, wenn sie nur schaute. Außerdem hatte sie ihre Kopfschmerzen niemals jemand anderem gegenüber erwähnt Hätte sie es getan, würden sie alle anwesenden Gelben Schwestern belagern. Daraus konnte man auf Freundschaft schließen, wenn nicht sogar auf Treue.

Egwenes Blick fiel auf die Papiere auf dem Schreibtisch, und ihre Gedanken schweiften unter Halimas massierenden Fingern ab. Fackeln, die in einen Heuhaufen gesteckt werden sollten. Es waren noch zehn Tage bis zur Grenze von Andor, es sei denn, Lord Bryne wäre bereit vorzudringen, ohne zu wissen warum und ohne daß vorher Widerstand geleistet wurde. Konnte sie diese Fackeln zehn Tage lang zurückhalten? Südhafen. Nordhafen. Die Schlüsselpositionen zu Tar Valon. Wie konnte sie Nicolas und Areinas sicher sein, angesichts Siuans Andeutungen? Sie mußte anordnen, daß jede Schwester geprüft wurde, bevor sie Andor erreichten. Sie besaß das Talent, mit Metallen und Erzen umzugehen, aber es war unter den Aes Sedai selten. Nicola. Areina. Die Schwarze Ajah.

»Ihr spannt Euch schon wieder an. Hört endlich auf, Euch Gedanken über den Saal zu machen.« Die massierenden Finger hielten inne und begannen dann erneut. »Es würde heute abend besser wirken, wenn Ihr ein heißes Bad genommen hättet. Ich könnte Euch Schultern und Rücken massieren, alles massieren. Das haben wir noch nicht ausprobiert. Ihr seid stocksteif. Ihr solltet geschmeidig genug sein, um Euch zurückbeugen und den Kopf zwischen die Knöchel nehmen zu können. Geist und Körper. Eines kann sich ohne das andere nicht lockern. Gebt Euch einfach in meine Hände.«

Egwene schlief fast ein. Es war nicht der Schlaf einer Traumgängerin. Nur Schlaf. Wie lange hatte sie nicht mehr geschlafen? Das Lager würde in Aufruhr geraten, wenn Delanas Antrag bekannt wurde, was nur zu bald der Fall sein würde - noch bevor sie Romanda und Lelaine sagen mußte, daß sie nicht die Absicht hatte, diese Verordnungen zu erlassen. Aber es gab auch heute noch etwas zu beachten - ein Grund mehr, wach zu bleiben. »Das wird schön werden«, murmelte sie und meinte damit mehr als nur die versprochene Massage. Sie hatte vor langer Zeit gelobt, daß sie Sheriam eines Tages gefügig machen würde, und heute war dieser Tag. Sie begann letztendlich, die Amyrlin zu sein, Kontrolle auszuüben. »Sehr schön.«

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