13 Die Schale der Winde

Aviendha hätte sich gern auf den Boden gesetzt aber die drei anderen Frauen, die den wenigen Platz im Boot belegten, ließen ihr nicht genug Raum, so daß sie sich damit zufriedengeben mußte, ihre Beine auf einer der entlang den Wänden aufgestellten Holzbänke zu kreuzen. Die Tür war geschlossen, und es gab keine Fenster, nur phantasievolle, geschnitzte Schneckenornamente, die wie Oberlichter wirkten. Sie konnte das Wasser draußen nicht sehen, aber die Bohrungen ließen den Salzgeruch, das Schlagen der Wellen gegen den Schiffsrumpf und Wasserspritzer von den Rudern herein. Selbst die schrillen Schreie irgendwelcher Vögel hallten über das weite Wasser hinweg. Sie hatte Männer in Teichen sterben sehen, die sie hätten überschreiten können, aber diese Gewässer waren unvorstellbar beängstigend. Darüber zu lesen, war nicht dasselbe, wie es zu erleben. Und der Fluß war an der Stelle, an der sie an Bord dieses Schiffes mit seinen beiden, ihnen auf seltsame Art lüsterne Blicke zuwerfenden Ruderern gegangen waren, mindestens eine halbe Meile breit. Eine halbe Meile Wasser und kein Tropfen davon zum Trinken geeignet. Wer konnte sich vorstellen, daß Wasser nutzlos war?

Die Bewegungen des Schiffes hatten sich verändert, es schaukelte jetzt vor und zurück. Hatten sie den Fluß schon verlassen, bereits die sogenannte Bucht erreicht? Elayne hatte gesagt, diese sei noch weiter, noch breiter. Aviendha verschränkte die Hände um die Knie und versuchte verzweifelt, an etwas Erfreulicheres zu denken. Wenn die anderen ihre Angst sahen, würde sie sich bis ans Ende ihres Lebens schämen müssen. Und das schlimmste daran war, daß sie diese Fahrt vorgeschlagen hatte, nachdem sie Elayne und Nynaeve vom Meervolk hatte sprechen hören. Wie hatte sie wissen können, wie es sein würde?

Die blaue Seide ihres Gewands fühlte sich unglaublich weich an, und daran hielt sie sich fest. Sie war kaum an Röcke gewöhnt - sie sehnte sich noch immer nach dem Cadin'sor, den zu verbrennen die Weisen Frauen sie gezwungen hatten, als sie mit der Ausbildung begann - und hier trug sie ein Seidengewand, von denen sie inzwischen vier besaß, und Seidenstrümpfe anstatt derben Stoffs, und ein seidenes Nachthemd, das sie ihre Haut auf eine Art spüren ließ, wie sie sie niemals zuvor empfunden hatte. Sie konnte die Schönheit des Gewands nicht leugnen, gleichgültig, wie seltsam es ihr erschien, solche Dinge zu tragen, aber Seide war kostbar und rar. Eine Frau mochte einen Schal aus Seide besitzen, den sie an Festtagen trug und um den andere sie beneideten. Nur wenige Frauen besaßen zwei solche Schals. Aber unter diesen Feuchtländern war es anders. Nicht jedermann trug Seide, aber manchmal schien es ihr, als würde jeder zweite es tun. Große Bündel und sogar Ballen Seide kamen mit Schiffen aus den Ländern jenseits des Dreifaltigen Landes. Mit Schiffen! Über das Meer! Wasser, das sich bis zum Horizont erstreckte, und Schiffsreisen, bei denen man, wenn sie es richtig verstanden hatte, tagelang überhaupt kein Land mehr sehen konnte. Bei diesem unglaublichen Gedanken erschauderte sie beinahe.

Niemand der anderen schien sich unterhalten zu wollen. Elayne drehte abwesend den Großen Schlangenring an ihrem Finger und blickte ins Leere. Häufig überkamen sie Sorgen. Sie hatte zwei Pflichten auferlegt bekommen, und obwohl ihr die eine mehr am Herzen lag als die andere, hatte sie sich für diejenige entschieden, die ihr wichtiger und ehrenvoller erschien. Sie hatte das Recht und die Pflicht die Herrscherin - die Königin - Andors zu werden, aber sie hatte sich entschieden, weiterhin zu jagen. Das war in gewisser Weise, wie wichtig ihre Suche auch war, als hätte sie etwas über den Clan oder die Gemeinschaft gestellt, aber Aviendha empfand dennoch Stolz. Elayne hegte über den Begriff Ehre manchmal genauso eigensinnige Ansichten wie über die Vorstellung einer Frau als Herrscherin oder die Tatsache, daß sie Herrscherin wurde, nur weil ihre Mutter es gewesen war, aber sie folgte diesem Kurs auf bewundernswert geradlinige Art. Birgitte, in der weiten roten Hose und dem kurzen gelben Mantel, um die Aviendha sie beneidete, saß ebenfalls gedankenverloren da und spielte mit ihrem Zopf. Oder vielleicht teilte sie auch Elaynes Sorgen. Sie war Elaynes erste Behüterin, was die Aes Sedai im Tarasin-Palast unendlich aufregte, obwohl es ihre Behüter nicht zu stören schien. Die Bräuche der Feuchtländer waren so merkwürdig, daß sie es kaum ertrugen, darüber nachzudenken.

Wenn Elayne und Birgitte von jeglichem Gedanken an ein Gespräch abgelenkt schienen, so lehnte Nynaeve al'Meara, die direkt gegenüber von Aviendha an der Tür saß, es schroff ab. Nynaeve, nicht Nynaeve al'Meara. Feuchtländer wurden gern nur mit der Hälfte ihres Namens benannt, und Aviendha versuchte sich zu erinnern, wie sehr dies dem Gefühl glich, mit einem Kosenamen angesprochen zu werden. Rand al'Thor war der einzige Geliebte, den sie jemals gehabt hatte, und sie dachte nicht einmal an ihn so vertraulich, aber sie mußte ihre Art lernen, wenn sie einen Feuchtländer heiraten sollte.

Nynaeves tiefbraune Augen blickten durch sie hindurch. Ihre Knöchel traten weiß hervor, während sie ihren Zopf umklammerte, der genauso dunkel wie Birgittes golden war, und ihr Gesicht, das zunächst blaß geworden war, zeigte jetzt ein schwaches Grün. Manchmal stieß sie ein unterdrücktes Stöhnen aus. Sie schwitzte normalerweise nicht - sie und Elayne hatten Aviendha den Trick gelehrt. Nynaeve war ein Rätsel. Manchmal übertrieben mutig, stöhnte sie jetzt vermutlich aus Feigheit und zeigte ihre Scham so offen, daß jedermann sie erkennen mußte. Wie konnte der Antrag sie so beunruhigen, wenn all dies Wasser es nicht tat?

Erneut Wasser. Aviendha schloß die Augen, um Nynaeves Gesicht nicht sehen zu müssen, aber dadurch wurde ihr Kopf nur von den Lauten der Vögel und dem Schwappen des Wassers erfüllt.

»Ich habe gerade nachgedacht«, sagte Elayne plötzlich und hielt dann inne. »Geht es Euch gut, Aviendha? Ihr...« Aviendhas Wangen röteten sich, aber zumindest erwähnte Elayne nicht, daß sie beim Klang ihrer Stimme wie ein Hase aufgeschreckt war. Elayne schien zu erkennen, wie nahe sie daran gewesen war, Aviendhas Unehre zu enthüllen. Sie errötete ebenfalls, während sie fortfuhr. »Ich habe gerade über Nicola und Areina nachgedacht und darüber, was Egwene uns gestern abend erzählt hat. Ihr vermutet doch wohl nicht, daß sie ihr irgendwelche Schwierigkeiten bereiten könnten, oder? Was soll sie tun?«

»Sie loswerden«, sagte Aviendha und fuhr mit dem Daumen über ihren Hals. Die Erleichterung zu sprechen, Stimmen zu hören, war so groß, daß sie fast gekeucht hätte. Elayne schien entsetzt. Sie war manchmal bemerkenswert weichherzig.

»Das wäre vielleicht das beste«, sagte Birgitte. Sie hatte nur diesen Namen offenbart. Aviendha hielt sie für eine Frau mit Geheimnissen. »Areina hätte in angemessener Zeit etwas aus sich machen können, aber... Seht mich nicht so an, Elayne, und hört auf, Euch prüde und unwissend zu stellen.« Birgitte wechselte oft zwischen der Behüterin, die gehorchte, und der älteren Erstschwester, die unterwies, ob man lernen wollte oder nicht. Gerade jetzt, als sie ermahnend den Finger hob, war sie die Erstschwester. »Ihr beide wärt nicht gewarnt worden fernzubleiben, wenn es um ein Problem ginge, das die Amyrlin lösen könnte, indem sie die beiden die Wäsche oder Ähnliches erledigen ließe.«

Elayne rümpfte angesichts dessen, was sie nicht leugnen konnte, heftig die Nase und richtete ihre grünen Seidenröcke. Sie trug die örtliche Mode mit cremefarbener Spitze an den Handgelenken und um den Hals, ein Geschenk von Tylin Quintara, wie auch die eng anliegende Halskette aus geflochtenem Gold. Aviendha billigte es nicht. Die obere Hälfte des Gewands, das Mieder, lag genauso eng an wie die Halskette, und eine ovale Aussparung im Stoff gab die innere Wölbung ihrer Brüste frei. Dort damit herumzulaufen, wo jedermann es sehen konnte, war etwas anderes, als es in den Schwitzzelten zu zeigen. Die Menschen auf den Straßen der Stadt waren keine Gai'shain. Ihr eigenes Gewand hatte einen hohen Kragen, dessen Spitzenbesatz ihr Kinn streifte, und es gab keine Aussparungen im Stoff.

»Außerdem«, fuhr Birgitte fort, »sollte man glauben, Marigan würde Euch mehr beunruhigen. Mich beunruhigt sie sehr.«

Natürlich registrierte Nynaeve den Namen. Sie stöhnte heftiger und setzte sich auf. »Wenn sie uns holen kommt, werden wir uns mit ihr befassen müssen. Wir werden ... wir werden...« Sie atmete tief ein und sah die anderen scharf an, als stritten sie mit ihr. Aber dann sagte sie mit schwacher Stimme: »Glaubt Ihr, sie wird es tun?«

»Es nützt nichts, sich aufzuregen«, belehrte Elayne sie weitaus ruhiger, als Aviendha hätte bleiben können, wenn sie geglaubt hätte, daß einer der Schattenbeseelten sie ausersehen hätte. »Wir werden einfach tun müssen, was Egwene gesagt hat, und dabei möglichst vorsichtig sein.« Nynaeve murmelte etwas Unhörbares, was wahrscheinlich gut so war.

Erneut entstand Schweigen. Elayne blickte noch düsterer drein als zuvor, und Birgitte stützte ihr Kinn auf eine Hand, während sie stirnrunzelnd ins Leere blickte. Nynaeve murrte weiterhin leise, aber sie hielt jetzt beide Hände auf die Körpermitte gepreßt und hielt von Zeit zu Zeit inne, um zu schlucken. Das Spritzen des Wassers schien lauter denn je, und die Schreie der Vögel ebenso.

»Ich habe auch nachgedacht, Nächstschwester.« Aviendha und Elayne waren noch nicht soweit, sich als Erst-' Schwestern anzunehmen, aber sie war sich jetzt sicher, daß sie es tun würden. Sie strichen einander bereits übers Haar und teilten jede Nacht im Dunkeln ein weiteres Geheimnis, das sie noch niemals jemand anderem erzählt hatten. Diese Min jedoch... Das mußte später besprochen werden, wenn sie allein waren.

»Worüber?« fragte Elayne abwesend.

»Über unsere Suche. Wir rechnen mit Erfolg, aber wir sind noch immer genauso weit davon entfernt wie zu Anfang. Ist es sinnvoll, verfügbare Waffen nicht einzusetzen? Mat Cauthon ist ein Ta'veren, aber wir meiden ihn tunlichst. Warum nehmen wir ihn nicht mit uns? Mit seiner Hilfe könnten wir die Schale endlich finden.«

»Mat?« rief Nynaeve ungläubig aus. »Genausogut könntest du dich in Nesseln setzen! Ich würde den Mann nicht einmal ertragen, wenn er die Schale in seiner Manteltasche hätte.«

»Oh, sei doch still, Nynaeve«, murmelte Elayne leidenschaftslos. Sie schüttelte verwundert den Kopf und bemerkte den plötzlich finsteren Blick der anderen Frau nicht. Die Bezeichnung »heikel« beschrieb Nynaeve nur schwach, aber sie waren alle an ihre Art gewöhnt. »Warum habe ich nicht daran gedacht? Es ist so offensichtlich!«

»Vielleicht«, murmelte Birgitte trocken. »Ihr hattet eine solch schlechte Meinung von dem Schurken, daß Ihr nicht erkennen konntet, daß Mat nützlich sein könnte.« Elayne sah sie kühl an, das Kinn emporgereckt, dann grinste sie plötzlich und nickte widerwillig. Sie nahm Kritik nicht leicht an.

»Nein«, sagte Nynaeve mit einer Stimme, die gleichzeitig scharf und schwach klang. Die kränkliche Hautfarbe ihres Gesichts hatte sich noch verstärkt, aber sie schien nicht mehr durch das Heben und Senken des Schiffes verursacht. »Das kannst du nicht wirklich meinen! Elayne, du weißt, wie wütend er werden kann und wie stur er ist. Er wird darauf bestehen, seine Soldaten wie eine Festtagsparade heranzubringen. Versuche einmal, im Rahad etwas zu finden, wenn dir Soldaten über die Schulter sehen. Versuche es nur! Er wird nach zwei Schritten anführen wollen und mit diesem Ter'angreal vor uns protzen. Er ist tausendmal schlimmer als Vandene oder Adeleas oder sogar Merilille. So wie er sich verhält, könnte man durchaus denken, wir schritten in die Höhle des Löwen, nur um den Löwen zu sehen!«

Birgitte stieß einen Laut aus, der vielleicht Belustigung ausdrücken sollte, und wurde drohend angesehen. Daraufhin nahm sie wieder einen solch unschuldigen Gesichtsausdruck an, daß Nynaeve vor Empörung schnaubte.

Elayne war vernünftiger. »Er ist ein Ta'veren, Nynaeve. Er ändert das Muster, ändert das Schicksal einfach dadurch, daß er da ist. Ich gebe zu, daß wir Glück brauchen, und ein Ta'veren bedeutet mehr als Glück. Außerdem können wir so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wir hätten ihn nicht die ganze Zeit unbeobachtet lassen sollen, gleichgültig, wie beschäftigt wir waren. Das hat niemandem genützt, und ihm am allerwenigsten. Er muß lernen, ein angenehmer Gesellschafter zu werden. Wir werden ihn von Anfang an im Auge behalten.«

Nynaeve glättete energisch ihre Röcke. Sie behauptete, nicht mehr Interesse an Kleidung zu haben als Aviendha - worin sie sich ohnehin ähnlich sahen; sie erwähnte stets, guter, einfacher Stoff sei für jedermann ausreichend -, aber ihr blaues Gewand war an den Röcken und Ärmeln gelb geschlitzt, und das Muster hatte sie selbst ausgesucht. Jedes Kleidungsstück, das sie besaß, war entweder aus Seide oder bestickt oder beides und mit der auserlesenen Sorgfalt zugeschnitten, die Aviendha zu erkennen gelernt hatte.

Endlich einmal schien Nynaeve zu begreifen, daß es nicht nach ihrem Kopf gehen würde. Sie bekam manchmal beachtenswerte Wutanfälle, bevor es geschah, ohne daß sie hinterher zugeben würde, daß es Wutanfälle gewesen waren. Der finstere Gesichtsausdruck wurde zu einem verdrießlichen Schmollen. »Wer wird ihn fragen? Wer auch immer es tut - er wird sie betteln lassen. Ihr wißt, daß er es tun wird!«

Elayne zögerte und sagte dann entschlossen: »Birgitte wird diejenige sein. Und sie wird nicht betteln -sie wird es ihm sagen. Die meisten Menschen tun, was man sagt, wenn man in festem, zuversichtlichen Tonfall spricht.« Nynaeve wirkte skeptisch, und Birgitte richtete sich jäh auf ihrer Bank auf - es war das erste Mal, daß Aviendha sie bestürzt erlebte. Bei jedem anderen hätte Aviendha zudem behauptet, sie wirke auch ein wenig ängstlich. Für eine Feuchtländerin wäre Birgitte eine gute Far Dareis Mai gewesen. Sie konnte bemerkenswert gut mit dem Bogen umgehen.

»Ihr seid einstimmig gewählt, Birgitte«, fuhr Elayne schnell fort. »Nynaeve und ich sind Aes Sedai, und Aviendha wird es vielleicht ebenfalls. Wir können es unmöglich tun. Nicht, ohne unsere Würde zu verlieren. Nicht bei ihm. Ihr wißt, wie er ist.« Was war aus dem ganzen Gerede über eine feste, zuversichtliche Stimme geworden? Nicht, daß Aviendha jemals bemerkt hätte, daß es bei jemand anderem als Sorilea gewirkt hätte. Es hatte bisher auch sicherlich nicht bei Mat Cauthon gewirkt, soweit sie es miterlebt hatte. »Birgitte, er kann Euch nicht wiedererkannt haben. Wenn dem so wäre, hätte er inzwischen etwas verlauten lassen.«

Was auch immer es bedeutete - Birgitte lehnte sich an die Wand zurück und verschränkte die Finger über dem Bauch. »Ich hätte wissen sollen, daß Ihr es mir heimzahlen würdet, seit ich gesagt habe, es wäre gut, daß Euer Hintern kein...« Sie hielt inne, und ein kleines, zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen. An Elaynes Gesichtsausdruck änderte sich nichts, aber Birgitte glaubte eindeutig, ein gewisses Maß an Rache erreicht zu haben. Es mußte etwas gewesen sein, was durch den Behüter-Bund zu spüren war. Was jedoch Elaynes Hintern damit zu tun hatte, konnte Aviendha sich nicht denken. Feuchtländer waren so ... seltsam ... manchmal. Birgitte fuhr fort, während sie noch immer lächelte. »Was ich nicht verstehe, ist, warum er sich ärgert, sobald er Euch beide sieht. Es kann nicht daran liegen, daß Ihr ihn hier behindert habt. Egwene hatte genauso viel Anteil daran wie Ihr, aber ich habe bemerkt, daß er sie respektvoller behandelt, als die meisten Schwestern es tun. Außerdem hatte er sich jedesmal, wenn ich ihn aus der Wanderin kommen sah, anscheinend gut amüsiert.« Ihr Lächeln wurde zu einem Grinsen, das Elayne dazu veranlagte, mißbilligend die Nase zu rümpfen.

»Das ist eines der Dinge, die wir ändern müssen. Eine anständige Frau kann nicht denselben Raum mit ihm teilen. Oh, nehmt dieses Grinsen von Eurem Gesicht, Birgitte. Ich schwöre Euch, Ihr seid manchmal genauso schlimm wie er.«

»Der Mann wurde einfach als Prüfung geboren«, murrte Nynaeve verärgert.

Als plötzlich alles schwankte und dann sich rundum drehend zum Halt kam, wurde Aviendha eindringlich daran erinnert daß sie sich auf einem Schiff befanden. Die Frauen erhoben sich, glätteten ihre Gewänder und nahmen die leichten Umhänge auf, die sie mitgenommen hatten. Aviendha zog den ihren nicht an. Das Sonnenlicht war hier nicht so hell, daß sie die Kapuze zum Schutz ihrer Augen benötigt hätte. Birgitte legte ihren Umhang über eine Schulter, stieß die Tür auf und stieg die drei Stufen hinauf, nachdem Nynaeve mit einer vor den Mund gehaltenen Hand an ihr vorbeigerauscht war.

Elayne hielt inne, um ihren Umhang zu schließen und die Kapuze um ihr Gesicht zurechtzuziehen, wobei die rotgoldenen Locken überall herauslugten. »Ihr habt nicht viel gesagt, Nächstschwester.«

»Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte. Die Entscheidung mußtet Ihr treffen.«

»Aber der Schlüsselgedanke kam von Euch.

Manchmal denke ich, daß wir anderen allmählich verdummen.« Elayne wandte sich halb zu den Stufen um und hielt dann inne. »Die Weite des Meeres beunruhigt mich manchmal. Ich glaube, ich werde nur aufs Schiff sehen und auf nichts anderes.« Aviendha nickte - ihre Nächstschwester besaß ein gutes Einfühlungsvermögen -, und sie stiegen die Stufen hinauf.

An Deck lehnte Nynaeve gerade Birgittes Angebot zu helfen ab und stieß sich von der Reling hoch. Die beiden Ruderer sahen belustigt zu, wie sie sich mit dem Handrücken den Mund abwischte. Sie waren Burschen mit nacktem Oberkörper und Messingringen in beiden Ohren und hatten die hinter ihre Schärpen gesteckten gebogenen Dolche sicherlich schon häufig benutzt. Aber ihr Hauptaugenmerk galt der Bewegung ihrer Ruder, die sie an Deck vor und zurück führten, um das Boot neben einem Schiff stabil zu halten, das Aviendha durch seine Größe fast den Atem nahm und das über ihrem plötzlich sehr klein wirkenden Boot aufragte, seine drei großen Masten höher als die meisten Bäume, die sie hier in den Feuchtlanden gesehen hatte. Sie hatte es auserwählt, weil es das größte von Hunderten von Meervolk-Schiffen war, die in der Bucht ankerten. Auf einem solch riesigen Schiff mußte es gewiß möglich sein, all das Wasser rundum zu vergessen. Außer...

Elayne hatte ihre Schande nicht wirklich zugegeben, und wenn sie es getan hätte, durfte eine Nächstschwester ruhig von der tiefen Demütigung wissen, ohne daß es wichtig wäre, aber ... Amys sagte, sie sei zu stolz. Sie zwang sich, sich umzudrehen und vom Boot fortzuschauen.

Sie hatte noch niemals in ihrem Leben soviel Wasser erlebt, nicht einmal wenn jeder Tropfen Wasser, den sie bisher gesehen hatte, zusammengeschüttet würde, und es rollte graugrün und hier und da weiß schäumend heran. Sie wandte den Blick ruckartig ab, versuchte, es zu ignorieren. Selbst der Himmel schien hier weiter, riesig, mit einer von Osten heraufziehenden Sonne wie flüssiges Gold. Ein heftiger Wind blies, kühler als an Land und niemals einhaltend. Wolken von Vögeln schwirrten durch die Luft, grau und weiß und manchmal schwarz getupft, die schrille Schreie ausstießen. Ein Vogel, der bis auf den Kopf vollkommen schwarz war, glitt an der Wasseroberfläche entlang, wobei sein langer, gesenkter Schnabel das Wasser durchschnitt, und eine Reihe plumper brauner Vögel - Pelikane hatte Elayne sie genannt -falteten plötzlich nacheinander die Schwingen, tauchten spritzend ins Wasser ein und stießen dann wieder an die Oberfläche, wo sie dahintrieben, die unglaublich großen Schnäbel aufwärts gerichtet. Überall waren Schiffe, viele fast so groß wie dasjenige hinter ihr, die nicht alle den Atha'an Miere gehörten, und kleinere Schiffe mit nur einem oder zwei Masten, die unter dreieckigen Segeln fuhren. Auch kleinere Schiffe, wie das Boot, auf dem sie sich befanden, ohne Masten, mit einem hohen, spitzen Bug und einem niedrigen, flachen Bootshaus im Heck, zogen, von einem oder zwei oder auch drei Paar Rudern bewegt übers Wasser. Ein langes, schmales Boot, das wohl zwanzig Ruder pro Seite aufwies, wirkte wie ein dahingleitender Tausendfüßler. Und da war Land. Vielleicht sieben oder acht Meilen entfernt schimmerte Sonnenlicht auf den weiß getünchten Häusern der Stadt. Sieben oder acht Meilen Wasser.

Sie schluckte und drehte sich schneller wieder um, als sie sich vom Schiff abgewandt hatte. Sie glaubte, ihre Wangen. müßten grüner sein, als Nynaeves gewesen waren. Elayne beobachtete sie, versuchte, einen ruhigen Gesichtsausdruck beizubehalten, aber Feuchtländer zeigten ihre Empfindungen so deutlich, daß ihre Sorge doch sichtbar war. »Ich bin eine Närrin, Elayne.« Selbst bei ihr bereitete es Aviendha Unbehagen, nur den Vornamen zu benutzen. Wenn sie Erstschwestern wären, wenn sie Schwester-Frauen wären, wäre es leichter. »Eine weise Frau hört auf weisen Rat.«

»Ihr seid tapferer, als ich jemals sein werde«, erwiderte Elayne vollkommen ernsthaft. Sie leugnete ebenfalls, Mut zu haben. Vielleicht war das auch ein Feuchtländer-Brauch? Nein, Aviendha hatte schon Feuchtländer über ihre Tapferkeit sprechen hören. Diese Ebou Dari schien, zum Beispiel, keine drei Worte äußern zu können, ohne sich zu rühmen. Elayne atmete tief ein, um sich zu stählen. »Heute abend werden wir über Rand sprechen.«

Aviendha nickte, aber sie verstand nicht, wie Elayne auf dieses Thema kam. Wie konnten SchwesterFrauen mit einem Ehemann zurechtkommen, wenn sie nicht ausführlich über ihn sprachen? Das sagte ihr die ältere Frau und die Weisen Frauen ohnehin. Sie waren natürlich nicht immer so entgegenkommend. Als Aviendha sich Amys und Bair gegenüber beklagte, sie müsse krank sein, weil sie sich fühle, als trüge Rand al'Thor einen Teil von ihr mit sich herum, waren sie in Gelächterausgebrochen. Ihr werdet lernen, belehrten sie Aviendha lachend, und Ihr hättet es schon früher gelernt, wenn Ihr in Röcken aufgewachsen wärt. Als hätte sie jemals ein anderes Leben als das einer Tochter des Speers führen wollen, die mit ihren Speer-Schwestern einherging. Vielleicht empfand Elayne die gleiche Leere. Doch über Rand zu sprechen, verstärkte die Leere anscheinend, noch während man sie füllte.

Sie hatte schon einige Zeit lauter werdende Stimmen wahrgenommen, und jetzt konnte sie auch die Worte verstehen.

»...Ihr beringter Possenreißer!« Nynaeve zeigte einem sehr dunkelhäutigen Mann die Faust, der über die hohe Seite des Schiffes zu ihr herabsah. Er wirkte gelassen, konnte aber andererseits das Schimmern Saidars um sie herum nicht sehen. »Wir sind nicht hier, um darum zu bitten, an Bord kommen zu dürfen, also macht es nichts, wenn Ihr es Aes Sedai verweigert! Laßt sofort eine Leiter herunter!« Die Männer an den Rudern blieben ernst. Anscheinend hatten sie vorher die Schlangenringe am befestigten Anlegesteg übersehen, und sie schienen nicht erfreut darüber, Aes Sedai an Bord zu haben.

»O je«, seufzte Elayne. »Ich muß dies wiedergutmachen, Aviendha, sonst haben wir den Vormittag verschwendet, nur damit sie ihr Frühstück loswerden konnte.« Elayne glitt übers Deck - Aviendha war stolz darauf, die Namen der Dinge auf Schiffen zu kennen -und sprach den Mann oben auf dem Schiff an. »Ich bin Elayne Trakand, Tochter-Erbin von Andor und Aes Sedai der Grünen Ajah. Meine Begleiterin sagt die Wahrheit. Wir wollen nicht darum bitten, an Bord kommen zu dürfen, sondern wir müssen mit Eurer Windsucherin über eine dringende Angelegenheit sprechen. Sagt ihr, wir wüßten vom Gewebe der Winde. Sagt ihr, wir wüßten von den Windsuchern.«

Der Mann blickte stirnrunzelnd zu ihr herab und verschwand dann plötzlich ohne ein Wort.

»Die Frau wird wahrscheinlich denken, du wolltest ihre Geheimnisse ausplaudern«, murrte Nynaeve und zog energisch ihren Umhang zurecht. »Du weißt wieviel Angst sie davor haben, daß Aes Sedai sie alle zur Burg schleppen werden, wenn bekannt wird, daß die meisten die Macht lenken können. Nur ein Dummkopf glaubt, er könne Leute bedrohen, Elayne, und dennoch davonkommen.«

Aviendha brach in Gelächter aus. Nynaeves bestürztem Blick nach zu urteilen, erkannte sie nicht, daß sie einen Scherz auf eigene Kosten gemacht hatte. Elaynes Lippen zitterten jedoch, wie sehr sie sich auch dagegen wehrte. Man konnte sich des Feuchtländer-Humors niemals sicher sein. Sie fanden eigenartige Dinge lustig, aber die besten Scherze entgingen ihnen.

Als Elayne den Bootsmann bezahlt und die Männer belehrt hatte, auf ihre Rückkehr zu warten - woraufhin Nynaeve ihnen sagte, sie würde sie schlagen, wenn sie davonführen; und ihre Beschreibung, wie sie das bewerkstelligen wollte, ließ Aviendha beinahe erneut in einen Lachanfall ausbrechen -, als das alles getan war, schien die Entscheidung gefallen zu sein, daß sie an Bord kommen durften. Es wurde keine Leiter herabgelassen, sondern statt dessen eine flache Holzplanke, deren beide Seile, an denen sie herabhing, schließlich zu einem Seil verflochten war, das zu einer dicken, über die Seite eines der Masten hinausführenden Stange verlief. Nynaeve nahm ihren Platz auf der Planke ein, während sie die Bootsleute eindringlich warnte, keinesfalls unter ihre Röcke zu schauen, woraufhin Elayne errötete, ihre Rocke fest um die Beine zusammengenommen hielt und so gekrümmt saß, daß sie mit dem Kopf voraus hinabzufallen drohte, als sie in der Luft schwankte und auf dem Schiff außer Sicht geriet. Einer der Burschen schaute dennoch hoch, und Birgitte schlug ihm mit der Faust auf die Nase. Sie sahen ihr sicherlich nicht beim Aufstieg zu.

Aviendhas Gürtelmesser war klein und besaß eine nicht einmal einen halben Fuß lange Klinge, aber die Ruderer runzelten dennoch besorgt die Stirn, als sie es blankzog. Sie nahm den Arm zurück, und die Männer ließen sich aufs Deck fallen, als das Messer über ihre Köpfe wirbelte und mit einem wuchtigen Plonk in den dicken Holzpfosten im Bug des Bootes steckenblieb. Aviendha schlang sich ihren Umhang wie eine Stola um den Arm und raffte die Röcke bis über die Knie, so daß sie über die Ruder hinwegsteigen und ihr Messer zurückholen konnte, um dann ihren Platz auf der baumelnden Planke einzunehmen. Sie steckte das Messer nicht wieder ein. Aus irgendeinem Grund wechselten die beiden Männer verwirrte Blicke, aber sie hielten die Augen gesenkt, während Aviendha hinaufgehoben wurde. Vielleicht bekam sie allmählich ein Gefühl für Feuchtländer-Bräuche.

Als sie auf das Deck des großen Schiffes gelangte, staunte Aviendha und vergaß beinahe, den schmalen Sitz zu verlassen. Sie hatte über die Atha'an Miere gelesen, aber darüber zu lesen und sie zu sehen, war genau solch ein Unterschied, wie über Salzwasser zu lesen und es zu schmecken. Zum einen waren sie alle dunkelhäutig, viel dunkler als die Ebou Dari und sogar dunkler als die meisten Tairener, mit glattem schwarzen Haar, schwarzen Augen und tätowierten Händen. Barfüßige Männer mit bloßem Oberkörper und bunten, schmalen Schärpen, die ausgebeulte, schmutzig aussehende Hosen aus einem dunklen Stoff hielten, und Frauen in ebenso bunten Blusen wie Schärpen und mit schwingenden Bewegungen paßten sich anmutig dem Rollen des Schiffes an. MeervolkFrauen hatten nach dem, was sie gelesen hatte, in bezug auf Männer sehr merkwürdige Bräuche, tanzten nur mit einem Tuch bekleidet und Schlimmeres, aber es waren die Ohrringe, die Aviendhas Blicke auf sich zogen. Die meisten Frauen besaßen drei oder vier, häufig mit glänzenden Steinen, und eine Frau wies tatsächlich einen kleinen Ring in einem Nasenflügel auf! Bei den Männern war es ähnlich, zumindest was die Ohrringe betraf, und genauso viele trugen Gold- und Silberketten um den Hals. Männer! Einige Feuchtländer trugen auch Ringe in den Ohren - die meisten Ebou Dar! anscheinend ebenfalls - aber so viele! Und Halsketten! Feuchtländer hatten seltsame Angewohnheiten. Sie hatte gelesen, daß das Meervolk seine Schiffe niemals verließ - niemals -, und daß es vermutlich seine Toten aß. Das hatte sie nicht wirklich glauben können, aber wenn die Männer Halsketten trugen, wer wußte dann, was sie sonst noch taten?

Die Frau, die ihnen entgegenkam, trug Hose, Bluse und Schärpe wie die anderen, aber ihre Kleidung war aus gelber, brokatdurchwirkter Seide, und die Schärpe, deren Enden bis zu den Knien herabhingen, war mehrfach geknotet. An einer ihrer Halsketten baumelte eine kleine goldene, kompliziert gearbeitete Dose. Ein süßlicher Moschusgeruch umgab die Frau. Ihr Haar war stark von Grau durchzogen, und sie hatte ein ernstes Gesicht. Jeweils fünf kleine, breite Goldringe schmückten ihre Ohren, und eine dünne Kette verband einen davon mit einem ähnlichen Ring in ihrer Nase. Winzige Medaillons aus glänzendem Gold, die von dieser Kette herabbaumelten, blitzten im Sonnenlicht auf, während sie die Ankömmlinge betrachtete.

Aviendha nahm die Hand von ihrer eigenen Nase -solch eine Kette zu tragen, die immer herabzog! - und konnte kaum ein Lachen unterdrücken. FeuchtländerBräuche waren unglaublich, und sicherlich verdiente kein Volk diese Charakterisierung eher als das Meervolk.

»Ich bin Mahn din Toral Brechende Woge«, sagte die Frau, »eine Herrin der Wogen des Clans Somarin und Segelherrin der Windläufer.« Eine Herrin der Wogen war eine wichtige Persönlichkeit, wie ein Clanhäuptling, und doch schien sie unsicher und schaute von einem zum anderen Gesicht, bis ihr Blick auf die Großen Schlangenringe fiel, die Elayne und Nynaeve trugen, und dann atmete sie ergeben aus. »Wenn Ihr mir folgen wollt, Aes Sedai?« sagte sie zu Nynaeve.

Das Heck des Schiffs war hochgezogen. Die Frau führte sie durch eine Tür ins Innere und dann einen Gang hinab zu einem großen Raum - eine Kabine -mit einer niedrigen Decke. Aviendha bezweifelte, daß Rand al'Thor unter einem dieser dicken Balken hätte aufrecht stehen können. Bis auf einige wenige Lackkisten schien alles fest eingebaut zu sein, die Schränke an den Wänden und sogar der große Tisch, der die halbe Länge des Raums einnahm, wie auch die ihn umgebenden Armsessel. Es war schwer, sich vorzustellen, daß ein Schiff dieser Größe aus Holz bestand, und selbst nach der langen Zeit, die Aviendha bereits bei den Feuchtländern verbrachte, ließ sie der Anblick all dieses glänzenden Holzes beinahe keuchen. Es glänzte fast genauso sehr wie die vergoldeten Lampen, die unangezündet in einer Art Käfig hingen, damit sie aufrecht blieben, wenn sich das Schiff mit den Wogen bewegte. In Wahrheit schien sich das Schiff kaum jemals zu bewegen, zumindest im Vergleich mit dem Boot, auf dem sie hergekommen waren, aber leider bestand die Rückseite der Kabine und des Schiffes aus einer Reihe Fenster, deren bemalte und vergoldete Läden geöffnet waren und einen herrlichen Blick auf die Bucht ermöglichten. Schlimmer noch, es war aus diesen Fenstern kein Land in Sicht. Kein Land! Aviendhas Kehle zog sich zusammen. Sie hätte nicht zu sprechen vermocht. Sie hätte nicht schreien können, obwohl sie es wollte. Diese Fenster und was sie zeigten - oder was sie nicht zeigten - hatten ihren Blick so schnell auf sich gezogen, daß sie einen Moment zu der Erkenntnis brauchte, daß bereits Menschen im Raum waren. Eine schöne Bescherung! Wenn sie es gewollt hatten, hätten sie sie töten können, bevor sie es gemerkt hätte. Nicht daß die Leute auch nur den Anschein von Feindseligkeit erweckten, aber man konnte bei Feuchtländern nie vorsichtig genug sein.

Ein spindeldürrer Mann mit tiefliegenden Augen saß bequem auf einer Kiste. Das wenige ihm verbliebene Haar war weiß, und sein dunkles Gesicht hatte einen freundlichen Ausdruck, obwohl insgesamt ein volles Dutzend Ohrringe und eine Anzahl schwerer goldener Ketten um seinen Hals seinen Ausdruck, ihrer Meinung nach, seltsam verzerrten. Wie die Männer oben an Deck war auch er barfuß und trug kein Hemd, aber seine Hose war aus dunkelblauer Seide und seine lange Schärpe strahlend rot. Ein Schwert mit Elfenbeinheft steckte in der Schärpe, wie Aviendha verächtlich registrierte, sowie zwei gebogene, zueinander passende Dolche.

Aber ihre Aufmerksamkeit galt mehr der schlanken, hübschen Frau mit den gekreuzten Armen und einem grimmig vorahnungsvollen Stirnrunzeln. Sie trug nur vier Ohrringe in jedem Ohr und weniger Medaillons an ihrer Kette als Malin din Toral, und ihre Kleidung bestand ganz aus rötlichgelber Seide. Sie konnte die Macht lenken. Aviendha erkannte es, da sie ihr so nahe war. Sie mußte die Frau sein, deretwegen sie hergekommen waren, die Windsucherin. Und doch war es eine andere, die Aviendhas Blick schließlich gefangen hielt. Und Elaynes, Nynaeves und Birgittes Blicke ebenso.

Die Frau, die von einer entrollten Landkarte auf dem Tisch aufgeschaut hatte, mochte, ihrem weißen Haar nach zu urteilen, genauso alt sein wie der Mann. Sie war klein, nicht größer als Nynaeve, und wirkte, als wäre sie einst stämmig gewesen und begänne jetzt dick zu werden, aber sie reckte ihr Kinn entschlossen vor, und ihre schwarzen Augen zeugten von Intelligenz. Und von Macht. Nicht die Eine Macht, nur die Macht eines Menschen, der »geh« sagte und wußte, daß die Menschen gehen würden. Ihre Hose war aus grüner, brokatdurchwirkter Seide, ihre Bluse blau und ihre Schärpe rot wie die des Mannes. Der Dolch mit der gebogenen Klinge in einer in der Schärpe stekkenden Scheide hatte einen runden, mit roten und grünen Steinen besetzten Knauf. Feuertropfen und Smaragde, dachte Aviendha. Von ihrer Nasenkette hingen doppelt so viele Medaillons herab wie von Malin din Torais, und eine weitere, dünnere Goldkette verband die sechs Ringe in ihren beiden Ohren. Aviendha hatte Mühe, nicht erneut die Hand zu ihrer eigenen Nase zu führen.

Die weißhaarige Frau stellte sich schweigend vor Nynaeve, betrachtete sie unhöflich von Kopf bis Fuß und runzelte besonders bei der Betrachtung ihres Gesichts und des Großen Schlangenrings an ihrer rechten Hand die Stirn. Sie hielt sich nicht lange mit Nynaeve auf, sondern trat mit einem Brummen zu Elayne, um sie der gleichen schnellen, angespannten Prüfung zu unterziehen, und dann zu Birgitte. Schließlich sprach sie. »Ihr seid keine Aes Sedai.« Ihre Stimme klang wie herabstürzende Felsbrocken.

»Bei den neun Winden und Sturmbringers Bart, ich bin es wahrhaftig nicht«, erwiderte Birgitte. Sie sagte manchmal Dinge, die Elayne und Nynaeve nicht recht verstanden, aber die weißhaarige Frau zuckte zusammen, als sei sie gestochen worden, und sah Birgitte einen langen Moment an, bevor sie sich stirnrunzelnd Aviendha zuwandte.

»Ihr seid auch keine Aes Sedai«, stellte sie zähneknirschend fest.

Aviendha richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Sie fühlte sich, als hätte die Frau ihr Innerstes nach außengekehrt, um sie besser betrachten zu können. »Ich bin Aviendha, von der Neun Täler-Septime der Taardad-Aiel.«

Die Frau zuckte noch heftiger zusammen wie bei Birgitte, und ihre schwarzen Augen weiteten sich. »Ihr seid nicht so gekleidet wie ich es erwartet hätte, Mädchen«, lautete jedoch ihre einzige Antwort, und sie schritt zum anderen Ende des Tisches zurück, wo sie die Fäuste in die Hüften stemmte und erneut alle prüfend musterte, wie sie vielleicht auch ein fremdartiges Tier betrachtet hätte, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. »Ich bin Nesta din Reas Zwei Monde«, sagte sie schließlich, »Herrin der Schiffe der Athan'an Miere. Woher wißt Ihr, was Ihr wißt?«

Nynaeve hatte sich um einen finsteren Gesichtsausdruck bemüht, seit die Frau sie zum ersten Mal angesehen hatte, und fauchte jetzt: »Aes Sedai wissen, was sie wissen. Und wir erwarten mehr Entgegenkommen, als ich bis jetzt erfahren habe! Als ich das letzte Mal auf einem Meervolk-Schiff war, wurde ich gewiß besser behandelt. Vielleicht sollten wir uns ein anderes aussuchen, auf dem die Menschen freundlicher sind.« Nesta din Reas' Gesicht wurde finsterer, aber Elayne sprang natürlich in die Bresche, nahm ihren Umhang ab und legte ihn auf die Tischkante.

»Das Licht erleuchte Euch und Eure Schiffe, Herrin, und sende die Winde, die Euch alle schnell voranbringen.« Sie vollführte einen nicht allzu tiefen Hofknicks. Aviendha hatte solche Dinge beurteilen gelernt wenn sie einen Hofknicks auch für das Unbeholfenste hielt, was eine Frau jemals tun konnte. »Vergebt uns, wenn hastige Worte gefallen sind. Wir wollten niemandem unseren Respekt verweigern, der für die Atha'an Miere einer Königin gleichkommt.« Letzteres äußerte sie mit einem vielsagenden Blick zu Nynaeve, die jedoch nur die Achseln zuckte.

Elayne und die anderen stellten sich erneut vor und ernteten seltsame Blicke. Nicht durch den Umstand, daß Elayne Tochter-Erbin war, obwohl dies unter den Feuchtländern als hoher Rang angesehen wurde. Daß sie der Grünen und Nynaeve der Gelben Ajah angehörte, ließ Nesta din Reas die Nase rümpfen und den spindeldürren alten Mann sie scharf ansehen. Elayne blinzelte überrascht, aber dann fuhr sie sanftmütig fort. »Wir sind aus zwei Gründen hierhergekommen. Der weniger wichtige Grund ist, Euch zu fragen, wie Ihr dem Wiedergeborenen Drachen helfen wollt, den Ihr der Jendai-Prophezeiung nach Coramoor nennt. Der wichtigere Grund ist der, die Hilfe der Windsucherin dieses Schiffes zu erbitten. Deren Namen ich«, fügte sie bedächtig hinzu, »leider noch nicht kenne.«

Die schlanke Frau, die die Macht lenken konnte, errötete. »Ich bin Dorile din Eiran Langfeder, Aes Sedai. Ich könnte Euch vielleicht helfen, wenn das Licht es will.«

Malin din Toral blickte ebenfalls verlegen drein. »Mein Schiff heißt Euch willkommen«, murmelte sie, »und das Licht gewähre Euch seine Gnade, bis Ihr diese Decks wieder verlaßt.«

Nesta din Reas war keineswegs verlegen. »Der Handel wird mit dem Coramoor beschlossen«, sagte sie fest und unterstrich ihre Worte noch mit einer barschen Geste. »Die Landgebundenen haben keinen anderen Anteil daran als ihre Vorhersage seiner Ankunft. Ihr, Mädchen, Nynaeve. Welches Schiff ließ Euch an Bord kommen? Wer war diese Windsucherin?«

»Ich kann mich nicht erinnern.« Nynaeves leichtfertiger Tonfall stand im Gegensatz zu ihrem gezwungenen Lächeln. Sie umklammerte ihren Zopf heftig, aber zumindest hatte sie nicht erneut Saidar umarmt. »Und ich bin Nynaeve Sedai, Nynaeve Aes Sedai, nicht Mädchen.«

Nesta din Reas legte ihre Hände flach auf den Tisch und warf Aviendha einen Blick zu, der diese an Sorilea erinnerte. »Vielleicht seid Ihr das, aber ich werde erfahren, wer enthüllt hat, was nicht hätte enthüllt werden dürfen. Sie muß noch schweigen lernen.«

»Ein gerissenes Segel ist gerissen, Nesta«, sagte der alte Mann plötzlich mit einer weitaus stärkeren und tieferen Stimme, als seine knochigen Glieder vermuten ließen. Aviendha hatte ihn für einen Wächter gehalten, aber er sprach wie ein Gleichgestellter. »Es ist vielleicht gut, die Aes Sedai zu fragen, was sie von uns wollen, wenn der Coramoor gekommen ist, die Meere in endlosen Stürmen wüten und das Verhängnis der Prophezeiung auf den Meeren segelt. Wenn sie wirklich Aes Sedai sind?« Letzteres wurde mit einer gewölbten Augenbraue an die Windsucherin gewandt geäußert.

Sie antwortete ruhig und in respektvollem Tonfall.

»Drei können die Macht lenken, sie eingeschlossen.« Sie deutete auf Aviendha. »Ich bin noch niemals jemandem begegnet, der so stark ist wie sie. Sie müssen Aes Sedai sein. Wer sonst würde es wagen, den Ring zu tragen?«

Nesta din Reas bedeutete ihr zu schweigen und bedachte den Mann mit dem gleichen eisenharten Blick. »Aes Sedai bitten niemals um Hilfe, Baroc«, grollte sie. »Aes Sedai bitten niemals um irgend etwas.« Er erwiderte ihren Blick sanft, aber kurz darauf seufzte sie, als hätte er sie mit seinem Blick bezwungen. Aber sie sah Elayne dennoch genauso hart an wie zuvor die beiden anderen. »Was wollt Ihr von uns« - sie zögerte - »Tochter-Erbin von Andor?« Selbst das klang skeptisch.

Nynaeve sammelte sich, zum Angriff bereit -Aviendha hatte sich mehr als eine von den Aes Sedai im Tarasin-Palast heftig geäußerte Tirade anhören müssen, wie oft sie vergaßen, daß sie und Elayne auch Aes Sedai waren; jemand, von dem nicht einmal Aes Sedai leugneten, er könnte Blutvergießen bringen. Nynaeve öffnete den Mund... Und Elayne brachte sie mit einer Berührung am Arm und mit einem für Aviendha unhörbaren Flüstern zum Schweigen. Nynaeves Gesicht war noch immer karmesinrot, und sie wirkte, als wollte sie sich ihren Zopf samt Haarwurzeln ausreißen, aber sie hielt dennoch den Mund.

Es konnte Elayne natürlich nicht gefallen, wenn nicht nur ihr Recht, Aes Sedai genannt zu werden, sondern auch ihr Recht auf den Titel der Tochter- Erbin offen in Frage gestellt wurde. Die meisten hätten sie für sehr gefaßt gehalten, aber Aviendha erkannte die Zeichen. Das erhobene Kinn zeugte von Zorn. Wenn man weiterhin die stark geweiteten Augen in Betracht zog, wußte man, daß Elayne wie eine Fackel war, die Nynaeves Glut noch übertraf. Birgitte hatte sich ebenfalls auf die Zehenspitzen erhoben, das Gesicht starr und die Augen wie Feuer. Sie spiegelte Elaynes Empfindungen normalerweise nicht wieder, außer wenn sie sehr heftig waren. Aviendha legte die Finger um das Heft ihres Gürtelmessers und machte sich bereit, Saidar zu umarmen. Sie würde zuerst die Windsucherin töten. Die Frau konnte die Macht gut lenken, und sie wäre gefährlich. Sie konnten bei so vielen Schiffen noch andere Windsucherinnen finden.

»Wir suchen ein Ter'angreal.« Abgesehen von ihrem gezwungenen Tonfall würde jedermann, der sie nicht kannte, glauben, Elayne sei vollkommen ruhig. Sie sah Nesta din Reas an, sprach aber an alle gewandt, vielleicht an die Windsucherin im besonderen. »Wir glauben, damit das Wetter heilen zu können. Es sollte Euch doch genauso viele Sorgen bereiten wie der Landbevölkerung. Baroc sprach von endlosen Stürmen. Ihr müßt die Berührung des Dunklen Königs, die Berührung des Vaters der Stürme, auf See genauso erkennen wie wir an Land. Mit diesem Ter'angreal könnten wir das ändern, aber wir vermögen es nicht allein zu tun. Es wird die Zusammenarbeit vieler Frauen benötigt, vielleicht ein voller Kreis von dreizehn. Wir denken, daß unter diesen Frauen auch Windsucherinnen sein sollten. Niemand sonst weiß so viel über das Wetter, keine lebende Aes Sedai - um diese Hilfe bitten wir.«

Tödliches Schweigen folgte auf ihre Rede, bis Dorile din Eiran vorsichtig äußerte: »Dieses Ter'angreal, Aes Sedai. Wie heißt es? Wie sieht es aus?«

»Es besitzt keinen mir bekannten Namen«, belehrte Elayne sie. »Es ist eine dicke Kristallschale, flach, aber mit etwas über zwei Fuß Durchmesser und innen mit Wolken verziert. Wenn man die Macht hineinlenkt, bewegen die Wolken...«

»Die Schale der Winde«, unterbrach die Windsucherin sie aufgeregt und trat unbewußt auf Elayne zu. »Sie haben die Schale der Winde.«

»Ihr habt sie wirklich?« Der Blick der Herrin der Wogen heftete sich begierig auf Elayne, und auch sie trat unbewußt vor.

»Wir suchen sie«, erklärte Elayne. »Aber wir wissen, daß sie sich in Ebou Dar befindet. Wenn es dieselbe...«

»Sie muß es sein«, rief Malin din Toral aus. »Eurer Beschreibung nach muß sie es sein!«

»Die Schale der Winde«, keuchte Dorile din Eiran. »Wenn man sich vorstellt, daß sie nach zweitausend Jahren hier wiedergefunden würde! Es muß der Coramoor sein. Er muß...«

Nesta din Reas schlug laut die Hände zusammen. »Habe ich hier die Herrin der Wogen und eine Windsucherin vor mir oder zwei Decksmädchen bei ihrer ersten Begegnung mit einem Schiff?« Malin din Torais Wangen röteten sich vor Verärgerung, und sie neigte starrsinnig den Kopf. Dorile din Eiran errötete doppelt so stark, verbeugte sich und legte die Fingerspitzen an Stirn, Lippen und Herz.

Die Herrin der Schiffe sah sie einen Moment stirnrunzelnd an, bevor sie fortfuhr, »Baroc, ruft die anderen Herrinnen der Wogen zusammen, die diesen Hafen halten, und auch die Ersten Zwölf - mit ihren Windsucherinnen. Laßt sie wissen, daß Ihr sie in ihrer eigenen Takelage aufhängt, wenn sie sich nicht beeilen.« Als er sich erhob, fügte sie hinzu: »Oh, und laßt Tee herunterschicken. Die Bedingungen dieses Handels auszuarbeiten, wird uns durstig machen.«

Der alte Mann nickte. Er akzeptierte gleichmütig, daß er vielleicht Herrinnen der Wogen in ihrer Takelage aufhängen als auch daß er Tee schicken sollte. Er sah Aviendha und die anderen an und schlenderte dann hinaus. Aviendha änderte ihre Meinung, als sie seine Augen aus der Nähe sah. Es wäre vielleicht ein tödlicher Irrtum gewesen, die Windsucherin als erste zu töten.

Jemand mußte entsprechende Befehle erwartet haben, weil Baroc erst wenige Augenblicke fort war, als ein schlanker, hübscher junger Mann mit einem einzigen dünnen Ring in jedem Ohr mit einem Holztablett eintrat, auf dem eine eckige, blau glasierte Teekanne mit goldenem Henkel und große blaue, getöpferte Becher standen. Nesta din Reas winkte ihn hinaus. »Er wird auch so ausreichend viele Geschichten verbreiten, ohne zu hören, was er nicht hören sollte«, sagte sie, als er fort war - und forderte Birgitte auf, einzugießen. Was diese zu Aviendhas und vielleicht auch zu ihrer eigenen Überraschung tat.

Die Herrin der Schiffe wies Elayne und Nynaeve zwei Sessel an einem Ende des Tisches zu, offensichtlich bemüht, den Handel zu beginnen. Aviendha lehnte den angebotenen Platz - am anderen Ende des Tisches - ab, aber Birgitte setzte sich. Die Herrin der Wogen und die Windsucherin waren auch von dieser Besprechung ausgeschlossen, wenn man es denn eine Besprechung nennen konnte. Es wurde sehr leise gesprochen, aber Nesta din Reas betonte jedes ihrer Worte mit einem speerartig geführten Finger. Elayne hielt das Kinn so hoch emporgereckt daß sie an ihrer Nase herabzuschauen schien, und obwohl es Nynaeve dieses eine Mal gelang, einen ruhigen Gesichtsausdruck zu bewahren, war sie doch sehr aufgewühlt.

»Wenn das Licht es will, werde ich mit Euch beiden sprechen«, sagte Malin din Toral und schaute von Aviendha zu Birgitte. »Aber ich denke, ich muß zuerst Eure Geschichte hören.« Birgitte wirkte allmählich beunruhigt, als sich die Frau ihr gegenüber hinsetzte.

»Was bedeutet, daß ich zunächst mit Euch sprechen werde, wenn es dem Licht gefällt«, belehrte Dorile din Eiran Aviendha. »Ich habe über die Aiel gelesen. Wenn Ihr mögt, erzählt mir doch, warum noch Männer unter Euch weilen, wenn eine Aielfrau jeden Tag einen Mann töten muß?«

Aviendha bemühte sich, ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Wie konnte die Frau solch einen Unsinn glauben?

»Wann habt Ihr unter uns gelebt?« fragte Malin din Toral an diesem Ende des Tisches über ihre Teetasse hinweg. Birgitte lehnte sich möglichst weit von ihr fort.

Nesta din Reas' Stimme erhob sich einen Moment vom anderen Ende des Tisches. »...kamt zu mir, nicht ich zu Euch. Das ist die Grundlage für unseren Handel, auch wenn Ihr Aes Sedai seid.«

Baroc schlüpfte in den Raum und blieb zwischen Aviendha und Birgitte stehen. »Anscheinend ist Euer Küstenboot unmittelbar nachdem Ihr an Bord kamt zurückgefahren, aber seid unbesorgt. Die Windläufer hat eigene Boote, die Euch zurückbringen werden.« Er nahm einen Platz unterhalb von Elayne und Nynaeve ein und beteiligte sich sofort am Gespräch. Wenn sie ansahen, wer auch immer gerade sprach, konnten die anderen sie unbemerkt beobachten. Sie hatten einen nötigen Vorteil verloren. »Natürlich findet der Handel zu unseren Bedingungen statt«, sagte er in einem Tonfall, als wundere er sich, wie es anders sein könnte, während die Herrin der Schiffe Elayne und Nynaeve so fixierte, wie man vielleicht zwei Ziegen betrachtete, die man für ein Fest schlachten wollte. Baroc lächelte fast väterlich. »Wer bittet, muß natürlich den höchsten Preis bezahlen.«

»Aber Ihr müßt doch lange genug unter uns gelebt haben, um diese alten Eide zu kennen«, beharrte Malin din Toral.

»Geht es Euch gut, Aviendha?« fragte Dorile din Eiran. »Selbst hier beeinträchtigen die Schiffsbewegungen Landmenschen bisweilen. Nein? Und meine Fragen sind für Euch nicht verletzend? Dann erzählt es mir. Fesseln Aiel-Frauen einen Mann wirklich, bevor sie ... ich meine, wenn Ihr und er ... wenn Ihr...« Sie brach mit geröteten Wangen und einem schwachen Lächeln ab. »Können viele Aiel-Frauen die Eine Macht genauso stark lenken wie Ihr?«

Nicht das törichte Herumdrucksen der Windsucherin oder Birgittes flehentliche Blicke zur Tür oder auch Nynaeves und Elaynes Entdeckung, daß sie helläugige Mädchen in den Händen geschickter Händler auf einem Jahrmarkt waren, hatte Aviendha erbleichen lassen. Sie würden es alle ihr vorwerfen, und das zu Recht. Sie hatte gesagt, wenn sie das Ter'angreal nicht zu Egwene und den anderen Aes Sedai zurückbringen könnten - warum sollten sie sich dann nicht der Hilfe dieser Meervolk-Frauen versichern, von denen sie gesprochen hatten? Es durfte keine Zeit damit verschwendet werden, darauf zu warten, daß Egwene al'Vere sagen würde, sie könnten zurückkommen. Sie würden es ihr vorwerfen, und sie würde ihrem Toh begegnen, aber plötzlich erinnerte sie sich an das Boot, das sie an Deck gesehen hatte, kopfüber auf einem weiteren aufgestapelt. Boote, die ungeschützt an Bord lagen. Sie würden es ihr vorwerfen, aber welche Schuld auch immer sie auf sich geladen hatte - sie würde die Scham, wenn sie in einem offenen Boot sieben oder acht Meilen weit hinübergerudert würde, tausendfach zurückzahlen.

»Habt Ihr einen Eimer?« fragte sie die Windsucherin schwach.

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