Neun

Während wir im kalten Wind auf das Flugzeug aus Seattle warteten, dachte ich: Inwieweit wird er sich von den anderen Passagieren unterscheiden?

Die Boeing 900 landete und rollte auf der Landebahn aus. Die Gangways wurden ausgefahren, die Türen geöffnet, Stewardessen halfen den Leuten hinaus. Gleichzeitig sausten Gepäckwagen umher wie große Käfer, und auf der gegenüberliegenden Seite stand mit blinkenden Warnleuchten ein Tanklastzug.

Die Passagiere strömten die Gangways hinunter. Um uns herum schoben sich Freunde und Verwandte so weit auf das Flugfeld hinaus, wie es eben gestattet war.

Maury tänzelte unruhig hin und her. »Los, gehen wir ihm guten Tag sagen.«

Pris und er marschierten los, ich folgte ihnen. Ein blau uniformierter Fluglinienangestellter wollte uns zurückschicken, doch wir ignorierten ihn. An der Gangway der ersten Klasse blieben wir stehen. Die Passagiere kamen einer nach dem anderen herunter, die meisten mit ausdruckslosen müden Gesichtern.

»Da ist er«, sagte Maury.

Ein schlanker Mann im grauen Anzug kam die Gangway hinab, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, einen Mantel über dem Arm. Ich hatte den Eindruck, dass sein Anzug besser saß als die der anderen Männer. Zweifellos maßgeschneidert, in England oder Hongkong. Und er sah entspannter aus. Er trug eine grüne, randlose Sonnenbrille; die Haare waren, wie auf den Fotos, extrem kurz, fast schon militärisch kurz. Eine fröhlich aussehende Frau folgte ihm. Ich kannte sie bereits: Colleen Nild, unter dem Arm ein Klemmbrett und Papiere.

»Sie sind zu dritt«, stellte Pris fest.

Der andere Mann war klein, korpulent und trug einen braunen Anzug, dessen Ärmel und Hosenbeine zu lang waren; ein Mann mit rotem Gesicht, einer Doktor-Doolittle-Nase und schütteren schwarzen Haaren, die er sich um den gewölbten Schädel geklatscht hatte. Er trug eine Krawattennadel, und die Art und Weise, wie er kurzbeinig hinter Barrows herschritt, ließ mich vermuten, dass es sich um einen Rechtsanwalt handelte. Genau so stampfte der Manager eines Baseballvereins auf das Spielfeld hinaus, um gegen eine Schiedsrichterentscheidung zu protestieren. Die Haltung des Protestierens, dachte ich, ist in allen Berufen dieselbe – man bläst sich ordentlich auf, redet drauflos und fuchtelt mit den Armen.

Tatsächlich redete der Anwalt gerade auf Colleen Nild ein. Er machte einen sympathischen Eindruck auf mich, voller Energie und guter Laune, genau die Sorte Anwalt, die ich in Barrows’ Diensten erwartet hätte. Wie letztes Mal trug Colleen einen blauschwarzen Wollmantel, der wie Blei an ihr hing. Dazu Handschuhe, Hut und eine Handtasche aus Leder.

Jetzt erreichte Barrows das Ende der Gangway. Seine Augen waren hinter der Sonnenbrille nicht zu erkennen. Er hielt den Kopf leicht gesenkt, um sehen zu können, was seine Füße taten.

Maury trat vor. »Mr. Barrows!«

In einer fließenden Bewegung blieb Barrows stehen, glitt zur Seite, damit die Leute hinter ihm die Gangway verlassen konnten, und streckte die Hand aus. »Mr. Rock?«

»Ja, Sir.« Sie schüttelten sich die Hände. Wir anderen scharten uns um sie. »Das ist Pris Frauenzimmer. Und das ist mein Partner, Louis Rosen.«

»Sehr erfreut, Mr. Rosen.« Barrows gab auch mir die Hand. »Das ist Mrs. Nild, meine Sekretärin. Und dieser Gentleman hier ist Mr. Blunk, mein Rechtsanwalt. Frisch hier draußen auf dem Rollfeld, nicht wahr?« Barrows ging Richtung Flughafengebäude. So schnell, dass wir anderen hinter ihm hergaloppieren mussten wie eine Herde schwerfälliger Kühe. Blunks kurze Beine bewegten sich wie in einem mit doppelter Geschwindigkeit abgespielten Film; es schien ihm jedoch nichts ausmachen, er verströmte weiterhin gute Laune. »Boise«, verkündete er und sah sich um. »Boise, Idaho. Was werden sie sich noch alles einfallen lassen?«

Colleen Nild schloss zu mir auf. »Schön, Sie wiederzusehen, Mr. Rosen. Wir fanden dieses Stanton-Wesen sehr amüsant.«

»Ja, eine fabelhafte Konstruktion«, dröhnte Blunk. »Wir dachten, es wäre jemand vom Finanzamt.« Er grinste mich breit an.

Barrows und Maury betraten das Flughafengebäude, gefolgt von Pris, dann kam Mr. Blunk, Colleen Nild und ich bildeten das Schlusslicht. Bis wir uns alle durch das Gebäude gedrängt hatten und auf der Straßenseite waren, wo die Taxis warteten, hatten Barrows und Maury bereits die Limousine ausfindig gemacht. Der uniformierte Fahrer hielt eine der hinteren Türen auf, und Barrows und Maury stiegen ein.

»Gepäck?«, fragte ich Mrs. Nild.

»Nein. Darauf zu warten, kostet zu viel Zeit. Wir sind nur für ein paar Stunden hier, dann fliegen wir wieder zurück. Sollten wir wider Erwarten über Nacht bleiben, kaufen wir alles Nötige.«

»Aha.« Ich war einigermaßen beeindruckt.

Wir anderen stiegen ebenfalls ein. Der Fahrer setzte sich hinters Steuer, und schon waren wir unterwegs in die Stadt.

»Ich begreife nicht, wie die Stanton in Seattle eine Kanzlei eröffnen kann«, sagte Maury zu Barrows. »Sie ist überhaupt nicht berechtigt, im Staat Washington als Anwalt zu arbeiten.«

»Stimmt. Ich glaube, Sie werden sie in den nächsten Tagen wiedersehen.« Barrows bot Maury und mir eine Zigarette aus seinem Etui an.

Er agierte, wurde mir bewusst, als wäre ihm sein grauer englischer Anzug gewachsen wie einem Tier das Fell; er war ein Teil von ihm, wie seine Fingernägel und seine Zähne. Er war sich des Anzugs gar nicht bewusst, ebenso wenig wie seiner Krawatte, seiner Schuhe, seinem Zigarettenetui – er war sich der eigenen Erscheinung nicht bewusst.

So ist das also, wenn man Multimillionär ist, dachte ich. Meilenweit entfernt von unsereins, die wir uns ständig fragen, ob unser Hosenschlitz offen ist. Sam K. Barrows warf in seinem ganzen Leben keinen verstohlenen Blick zu seinem Hosenschlitz. Wenn er offen war, machte er ihn einfach zu. Wenn ich doch auch nur reich wäre!

Aber meine Aussichten waren hoffnungslos. Ich hatte es bisher nicht einmal so weit geschafft, mir Sorgen über meinen Krawattenknoten zu machen wie andere Männer. Vermutlich kam ich nie dorthin.

Außerdem sah Barrows auch noch richtig gut aus, vom Typ her wie Robert Montgomery. Nun, nicht ganz so attraktiv wie Montgomery, denn als er die Sonnenbrille abnahm, sah ich, dass die Haut unter seinen Augen geschwollen und zerknittert war. Doch er hatte diesen athletischen Körperbau, vermutlich vom regelmäßigen Training in seiner eigenen Sporthalle. Und er hatte einen erstklassigen Arzt, der ihm verbot, billigen Fusel zu trinken oder in Schnellrestaurants zu essen. Er aß wahrscheinlich auch nie Schweinefleisch, immer nur Lammfilet und Steak und Roastbeef und so was, und natürlich hatte er mit einer solchen Ernährung kein Gramm zu viel auf den Rippen. Das deprimierte mich noch mehr.

Jetzt wurde mir klar, wie die Sechskilometerläufe morgens um fünf da hineinpassten. Der exzentrische junge Millionär, dessen Foto wir in Look gesehen hatten, würde nicht mit vierzig an Herzproblemen sterben; er hatte vor, am Leben zu bleiben und sich seines Vermögens zu erfreuen. Keine Witwe würde es erben, auch wenn das Klischee es anders wollte.

Exzentrisch? Quatsch!

Clever.

Es war kurz nach sieben, als wir die Innenstadt erreichten und unsere Gäste verkündeten, dass sie noch nicht zu Abend gegessen hätten. Ob wir ein gutes Restaurant in Boise wüssten?

Leider gibt es in Boise kein gutes Restaurant.

»Irgendeinen Laden, wo wir gebratene Garnelen oder so was kriegen«, sagte Barrows. »Wir hatten ein paar Drinks während des Fluges, aber keiner von uns hat etwas gegessen.«

Schließlich fanden wir ein ganz passables Lokal. Der Kellner führte uns nach hinten zu einer hufeisenförmigen Nische. Wir legten unsere Mäntel ab, setzten uns und bestellten etwas zu trinken.

»Haben Sie Ihr erstes Geld wirklich beim Pokern gemacht?«, fragte ich Barrows.

»Nein, beim Würfeln. Bei einem sechs Monate dauernden Würfelspiel, um ganz genau zu sein. Das war meine Militärzeit. Pokern muss man können – ich habe Glück.«

»Sie sind aber nicht aus purem Glück ins Immobiliengeschäft gekommen«, meldete sich Pris.

»Nein, das war, weil meine Mutter früher Zimmer vermietet hat, in unserer alten Wohnung in L.A.«

»Und Sie sind auch nicht aus purem Glück zum Streiter für die Gerechtigkeit geworden, der vor den Supreme Court gezogen ist und sich gegen die Space Agency und ihre Monopolisierung ganzer Planeten durchgesetzt hat.«

Barrows sah sie lächelnd an. »Sie sind sehr großzügig in Ihrer Darstellung. Ich besaß meiner Meinung nach Besitzansprüche auf lunares Land und wollte die Rechtmäßigkeit dieser Ansprüche so weit juristisch abklopfen lassen, dass sie nie wieder jemand infrage stellen kann. Aber sagen Sie, wir sind uns schon einmal begegnet?«

»Ja.« Pris strahlte.

»Ich weiß nur nicht, wo ich Sie hintun soll. Helfen Sie mir!«

»Es war nur für einen kurzen Moment. In Ihrem Büro. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, dass Sie sich nicht erinnern können. Aber ich kann mich an Sie erinnern.«

»Sie sind Rocks Tochter?«

»Ja.«

Pris sah heute um einiges besser aus. Sie hatte sich die Haare machen lassen und trug genug Make-up, um ihre Blässe zu verbergen, aber nicht so viel, dass sie wieder dieses schrille, maskenhafte Aussehen bekam. Jetzt, wo sie ihren Mantel abgelegt hatte, sah ich, dass sie einen hübschen kurzärmeligen Jersey-Pullover und über der rechten Brust eine goldene Brosche in Form einer Schlange trug. Mein Gott, dachte ich, sie hat sogar einen BH an, einen von denen, die für Oberweite sorgen, wo keine vorhanden ist. Für diesen besonderen Anlass hatte Pris sich also einen Busen zugelegt.

»Sind Sie sicher«, dröhnte Blunk plötzlich und zeigte auf Maury, »dass dieser alte Schwerenöter wirklich Ihr Vater ist? Oder ist es nicht vielmehr so, Sir, dass Sie sich einer Sünde schuldig machen, der Unzucht mit Minderjährigen? Schande über Ihr Haupt!« Er grinste bräsig.

»Sie wollen Sie ja nur für sich selbst, Blunk.« Barrows biss einer Garnele den Schwanz ab und legte ihn beiseite. »Woher wollen Sie wissen, dass sie nicht auch eines von diesen Simulacra ist, wie die Stanton?«

»Dann nehm ich gleich ein Dutzend«, rief Blunk. Seine Augen leuchteten.

»Sie ist wirklich meine Tochter. Sie war etliche Jahre auf einer Schule.« Maury schien sich unwohl zu fühlen.

»Und jetzt ist sie wieder da…« Blunk senkte die Stimme und schlug Maury auf die Schulter. »In anderen Umständen, stimmt’s?«

Maury grinste gequält.

»Wissen Sie, dieser Stanton-Roboter hat uns eine Heidenangst eingejagt«, sagte Barrows nun. Seine Ellbogen ruhten auf dem Tisch, die Arme waren verschränkt. Er hatte seine Garnelen gegessen und sah sehr zufrieden aus. Für einen Menschen, der den Tag mit eingeweichten Backpflaumen begann, schien er wirklich gern zu essen. Ich empfand das als ermutigendes Zeichen.

»Ja, Leute, man kann euch nur gratulieren«, rief Blunk. »Ihr habt ein Monster geschaffen.« Er lachte laut auf. »Ich sage: Macht es kalt! Holt den Mob mit seinen Fackeln!«

Wir mussten alle lachen.

»Wie ist Frankensteins Monster am Ende eigentlich gestorben?«, fragte Colleen Nild.

»Erfroren«, erwiderte Maury. »Das Schloss ist niedergebrannt, und sie haben das Feuer gelöscht, und das Wasser wurde zu Eis.«

»Im nächsten Film allerdings haben sie es im Eis gefunden«, sagte ich. »Und es dann wieder zum Leben erweckt.«

Blunk schlug mit der Hand auf den Tisch. »Es ist in einer brodelnden Lavagrube versunken. Ich war dabei. Ich besitze einen Knopf von seinem Mantel.« Er zog einen Knopf aus der Tasche und zeigte ihn uns. »Vom weltberühmten Frankenstein-Monster.«

»Der ist von deiner Weste, David«, sagte Mrs. Nild.

»Was?« Blunk starrte finster an sich hinab. »Tatsächlich! Der Knopf ist von mir.« Er lachte erneut.

Barrows, der sich mit dem Daumennagel die Zähne säuberte, wandte sich Maury und mir zu. »Wie viel hat es Sie gekostet, den Stanton-Roboter zusammenzuschrauben?«

»Ungefähr fünftausend«, erwiderte Maury.

»Und für wie viel lässt er sich in großen Stückzahlen herstellen? Sagen wir, ein paar hunderttausend?«

»Ich würde sagen, um die sechshundert Dollar. Vorausgesetzt, dass sie identisch sind, die gleichen Zentralmonaden haben und die gleichen Speicherinhalte.«

»Im Grunde ist das Ganze eine lebensgroße Version dieser Sprechpuppen, die früher so beliebt gewesen sind.«

»Nicht ganz.«

»Na, er spricht aber und läuft herum. Er hat den Bus nach Seattle genommen. Ist das nicht einfach ein weiterentwickelter Roboter? Worauf ich hinauswill, ist, dass an der Sache eigentlich nichts neu ist, oder?«

Stille.

»Aber ja.« Maury sah nicht sonderlich vergnügt aus.

Und auch Pris schien plötzlich ihre gute Laune verloren zu haben.

»Nun, dann verdeutlichen Sie mir das doch bitte.« Barrows nippte an seinem Glas Green Hungarian.

»Das ist alles andere als ein Roboter, Sir. Kennen Sie die Arbeiten von William Grey Walter in England? Seine ›Schildkröten‹? Das nennt man ein homöostatisches System. Es ist von seiner Umwelt unabhängig, regelt sich selbst. Wie die vollautomatische Fabrik, die sich selbst repariert. Wissen Sie, was mit ›Rückkopplung‹ gemeint ist? In elektrischen Systemen gibt es…«

Blunk legte Maury eine Hand auf die Schulter. »Was Mr. Barrows wissen möchte, hat mit der, wenn ich so sagen darf, Patentfähigkeit Ihrer Roboter zu tun.«

Mit ruhiger, beherrschter Stimme sagte Pris: »Wir stehen unter vollem Patentschutz. Wir haben eine hervorragende Rechtsvertretung.«

Barrows lächelte sie an. »Das höre ich gern. Anderenfalls gäbe es nämlich nichts zu kaufen.«

»Zahllose Bestandteile sind neu«, fuhr Maury fort. »Das Stanton-Simulacrum verkörpert die jahrelangen Mühen etlicher staatlicher und nicht-staatlicher Forscherteams, und wir sind alle mehr als erfreut, ja sogar verblüfft über die Ergebnisse. Wie Sie selbst gesehen haben, als die Stanton in Seattle aus dem Greyhound gestiegen ist und sich ein Taxi zu Ihrem Büro genommen hat.«

»Sie ist zu Fuß gegangen.«

»Wie bitte?«

»Ich sagte, sie ist vom Busbahnhof zu Fuß zu meinem Büro gegangen.«

»Wie auch immer.« Maury lehnte sich zurück. »Was wir hier erreicht haben, hat es in der Elektronikbranche noch nicht gegeben.«

Nach dem Essen fuhren wir nach Ontario und kamen um zehn bei MASA Associates an.

»Merkwürdiges Städtchen.« Blunk betrachtete die leeren Straßen. »Alle schon im Bett.«

»Warten Sie, bis Sie die Lincoln sehen«, sagte Maury, als wir ausstiegen.

Beim Schaufenster blieben unsere Gäste stehen und lasen das Schild, das Maury angebracht hatte.

»Klingt ja toll.« Barrows legte die Stirn an die Scheibe und spähte hinein. »Ist nur keine Spur von ihr zu sehen. Was macht sie denn nachts, schlafen? Oder lassen Sie jeden Nachmittag um fünf, wenn die meisten Passanten unterwegs sind, einen Attentäter auf die Lincoln los?«

Maury schloss die Tür auf. »Sie ist vermutlich unten in der Werkstatt. Wir sehen mal nach.«

Kurz darauf standen wir alle in der Werkstatt. Maury machte Licht.

Und dort war die Lincoln. Sie hatte allein im Dunklen gesessen.

»Mr. President«, entfuhr es Barrows. Ich sah, wie er Mrs. Nild einen kleinen Schubs gab. Blunk grinste mit der gierigen Miene einer ausgehungerten, aber zuversichtlichen Katze; er genoss das Ganze. Colleen Nild reckte den Kopf und schnappte sichtlich beeindruckt nach Luft. Barrows wiederum wusste genau, was er zu tun hatte. Er streckte der Lincoln nicht etwa die Hand entgegen; er blieb als Respektsbezeugung ein paar Schritt vor ihr stehen.

Die Lincoln wandte den Kopf und sah ihn schwermütig an. Eine solche Hoffnungslosigkeit hatte ich noch nie in einem Gesicht gesehen. Ich zuckte zurück, Maury ebenfalls. Pris reagierte überhaupt nicht, sie blieb einfach in der Tür stehen. Die Lincoln erhob sich langsam, und der schmerzliche Ausdruck verschwand aus ihrem Gesicht. Mit brüchiger, schriller Stimme, die überhaupt nicht zu ihrer hochgewachsenen Gestalt passen wollte, sagte sie: »Ja, Sir.« Sie betrachtete Barrows freundlich und interessiert. Ihre Augen blinzelten leicht.

»Meine Name ist Sam Barrows. Es ist mir eine große Ehre, Sie kennenzulernen, Mr. President.«

»Vielen Dank, Mr. Barrows. Wollen Sie und Ihre Freunde es sich nicht bequem machen?«

Blunk riss mit einem Pfeifen die Augen auf. Er klopfte mir auf den Rücken. »Donnerwetter.«

»Sie erinnern sich an mich, Mr. President«, sagte ich zu dem Simulacrum.

»Ja, Mr. Rosen.«

»Und was ist mit mir?«, fragte Pris.

Die Maschine deutete eine Verbeugung an. »Miss Frauenzimmer. Und Sie, Mr. Rock – der Fels, auf dem das alles hier gebaut ist, nicht wahr?« Sie lachte in sich hinein. »Der Eigentümer oder Miteigentümer, wenn ich mich nicht irre.«

Maury fuhr sich durch die Haare. »Darf ich fragen, was Sie hier gerade gemacht haben?«

»Ich habe über eine Bemerkung von Lyman Trumbull nachgedacht. Wie Sie wissen, hat sich Richter Douglas mit Buchanan getroffen, und sie haben über die Zuordnung von Kansas unter die Lecompton Constitution gesprochen. Richter Douglas stellte sich später quer und bekämpfte Buchanan, ungeachtet der Tatsache, dass es sich um eine Regierungsmaßnahme handelte. Ich habe Richter Douglas nicht unterstützt, im Gegensatz zu einigen Freunden in meiner Partei. Aber in Bloomington, wo ich Ende 1857 war, sah ich keine Republikaner zu Douglas überwechseln, wie es in der New York Tribune stand. Ich bat Lyman Trumbull, mir nach Springfield zu schreiben und mir zu sagen, ob…«

»Sir, verzeihen Sie bitte«, unterbrach Barrows das Simulacrum. »Wir haben etwas Geschäftliches zu erledigen, und anschließend muss ich mit diesem Gentleman, Mr. Blunk, und Mrs. Nild hier zurück nach Seattle fliegen.«

Die Lincoln verbeugte sich. »Mrs. Nild.« Sie streckte ihr die Hand hin, und mit einem Lächeln trat Colleen Nild vor und schüttelte sie. »Mr. Blunk.« Die Lincoln gab dem kleinen, dicken Anwalt ebenfalls die Hand. »Sie sind nicht zufällig mit Nathan Blunk aus Cleveland verwandt?«

»Nein, tut mir leid. Sie haben einmal als Anwalt gearbeitet, nicht wahr, Mr. Lincoln?«

»Ja, Sir.«

»Ich praktiziere ebenfalls.«

»Ah ja. Sie besitzen also die göttliche Gabe, über Nichtigkeiten zu streiten.«

Blunk brach in ein herzhaftes Lachen aus.

»Mr. President«, meldete sich Barrows wieder zu Wort. »Wir sind von Seattle hierher geflogen, um mit Mr. Rosen und Mr. Rock eine finanzielle Transaktion zu besprechen – die eventuelle Unterstützung von MASA Associates durch Barrows Enterprises. Bevor wir eine endgültige Entscheidung treffen, wollten wir Sie kennenlernen und mit Ihnen reden. Wir haben kürzlich die Stanton getroffen, sie kam uns besuchen. Wir würden Sie und die Stanton gerne erwerben, dazu die zugrundeliegenden Patente. Als ehemaliger Rechtsanwalt sind Sie mit derartigen Transaktionen bestimmt vertraut. Nun möchte ich Sie etwas fragen. Ist Ihnen klar, in welcher Zeit Sie sich befinden? Wissen Sie beispielsweise, was Vitamine sind? Wissen Sie, welches Jahr wir haben?«

Als die Lincoln nicht gleich etwas erwiderte, winkte Maury Barrows beiseite. Ich trat hinzu.

»Um das geht es doch gar nicht«, sagte Maury. »Sie wissen nur zu gut, dass sie nicht dafür gebaut ist, mit solchen Themen klarzukommen.«

»Stimmt. Aber ich bin eben neugierig.«

»Lieber nicht. Sie könnten einen ihrer Hauptstromkreise zum Durchbrennen bringen.«

»Ist sie dermaßen empfindlich?«

»Nein. Aber mit solchen Fragen piesacken Sie sie ganz schön.«

»Ganz und gar nicht. Sie wirkt so überzeugend lebensecht, dass ich wissen möchte, in welchem Umfang sie sich ihrer neuen Existenz bewusst ist.«

»Lassen Sie sie in Ruhe.«

»Na schön.« Barrows nickte Colleen Nild und seinem Rechtsanwalt zu. »Dann fliegen wir eben zurück nach Seattle. David, sind Sie zufrieden mit dem, was Sie sehen?«

»Nein«, dröhnte Blunk. »Sie funktioniert bei weitem nicht so gut wie die Stanton, meiner Meinung nach.«

»Wieso das denn?«, fragte Maury.

»Sie… läuft unrund.«

»Sie ist gerade erst zu sich gekommen«, warf ich ein.

Maury sah mich an. »Nein, damit hat es nichts zu tun. Sie besitzt eine andere Persönlichkeit. Stanton ist unflexibler, dogmatischer. Lincoln dagegen ist immer wieder in Grübeleien verfallen – er hat gerade eben, als wir hereinkamen, auch vor sich hin gebrütet. Zu anderen Zeiten ist er besser aufgelegt.« Er wandte sich Blunk zu. »Wenn Sie erst eine Weile mit ihm zusammen sind, werden Sie ihn auch anders erleben. Er hat eben Stimmungsschwankungen. Ich meine, das ist kein Fehler in der Programmierung – die Maschine muss so sein.«

»Verstehe.« Doch Blunk klang nicht überzeugt.

»Ich weiß, was Sie meinen, Blunk«, sagte Barrows. »Irgendetwas bei ihr scheint zu haken.«

»Genau das«, erwiderte der Anwalt. »Ich habe große Zweifel, dass die schon den letzten Schliff bekommen hat. Da sind noch etliche Fehler auszubügeln.«

»Und der Versuch, das zu vertuschen. Von wegen keine Fragen zu aktuellen Themen stellen – der ist Ihnen sicher nicht entgangen.«

»Im Gegenteil.«

Ich räusperte mich. »Bei allem Respekt, Mr. Barrows, Sie haben noch nicht ganz begriffen, worum es hier geht. Das Prinzip, das den Simulacra zugrunde liegt. Aber wir wollen uns nicht streiten, nicht wahr?« Ich lächelte.

Barrows betrachtete mich, ohne etwas zu erwidern; Blunk ebenfalls. Maury steckte sich eine Zigarre an und blies einen blauen Rauch in die Luft.

»Ich verstehe ja, dass Sie von der Lincoln enttäuscht sind«, fuhr ich fort. »Um ehrlich zu sein, mit der Stanton hatten wir alles Mögliche eingeübt.«

»Aha.« Blunks Augen blitzten.

»Die Idee kam nicht von mir. Mein Partner hier war nervös, und er wollte, dass alles klappte.« Ich nickte zu Maury hinüber. »Es war die falsche Entscheidung, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Nun geht es allein um die Lincoln-Maschine, denn sie ist die Basis unserer eigentlichen Idee. Nehmen wir sie doch einfach weiter in Augenschein.«

Wir gingen wieder zu dem großen, bärtigen Simulacrum hinüber, dem Colleen Nild und Pris gerade andächtig zuhörten.

»… zitiert mich in dem Sinne, dass die Klausel der Unabhängigkeitserklärung, die besagt, dass alle Menschen gleich sind, auch den Neger mit einschließe. Das hätte ich in Chicago gesagt, behauptet Richter Douglas und fügt hinzu, in Charleston hätte ich gesagt, dass der Neser einer niederen Rasse angehöre und das Ganze kein moralisches Problem sei, sondern eine Frage der Abstufung – nur um in Galesburg eine Kehrtwendung zu machen und nun wieder zu sagen, es sei ein moralisches Problem.« Die Lincoln bedachte uns mit einem sanften Lächeln. »Woraufhin jemand im Publikum ruft: ›Er hat ganz recht.‹ Ich war froh, dass mir jemand recht gab, denn mir selbst schien es eher, als hätte Richter Douglas mich bei den Rockschößen. Den kräftigsten Beifall bekam er, als er sagte, dass sich die Republikanische Partei im Norden der Doktrin ›Keine Sklavereistaaten mehr‹ verpflichtet hat und dass eben diese Doktrin von den Republikanern in anderen Teilen der Union nicht anerkannt wird. Und der Richter fragte sich, ob Mr. Lincoln und seine Partei nicht selbst ein Beispiel für das wären, was Mr. Lincoln aus der Heiligen Schrift zitierte – dass nämlich keine Familie, die in sich gespalten ist, Bestand haben wird. Und ob meine Prinzipien denn noch mit denen der Republikanischen Partei übereinstimmten. Leider bekam ich erst im Oktober in Quincy die Gelegenheit zu einer Entgegnung. Dort sagte ich ihm, er könne ebenso gut die Ansicht vertreten, dass ein Bienenstich das Gleiche wäre wie der Stich einer Biene. Ich hatte gewiss nicht die Absicht, politische und soziale Gleichheit zwischen der weißen und der schwarzen Rasse einzuführen. Zwischen ihnen besteht ein physischer Unterschied, der es meiner Meinung nach verbietet, auf der Grundlage absoluter Gleichheit miteinander zu leben. Aber ich denke, der Neger hat das gleiche Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück wie jeder Weiße. Er gleicht mir in vielerlei Hinsicht nicht, ganz sicher nicht in der Farbe, vielleicht auch nicht in der intellektuellen oder moralischen Kapazität – wohl aber in dem Recht, das Brot zu essen, das er mit eigener Hände Arbeit verdient, ohne dass es ihm erst jemand erlauben muss. Darin gleicht er mir und Richter Douglas und jedem anderen Menschen. In diesem Moment wurde mir einiger Jubel zuteil.«

Barrows sah mich an. »Da haben Sie aber ganz schön Text in diese Maschine eingegeben, was?«

»Sie kann sagen, was immer sie will.«

»Ganz egal was? Sie meinen, sie will hier Volksreden halten? Nein, in meinen Augen ist das hier nichts weiter als der altbekannte mechanische Mensch, nur ein bisschen aufgemotzt mit historischem Schnickschnack. Genau so ein Spielzeug wurde 1939 auf der Weltausstellung in San Francisco vorgestellt, Pedro der Voder.«

Der Wortwechsel zwischen Barrows und mir war der Aufmerksamkeit der Lincoln nicht entgangen. Sie wandte sich an Barrows. »Habe ich nicht erst vor Kurzem gehört, wie Sie die Absicht äußerten, mich ›erwerben‹ zu wollen, als eine Art Besitzstück? Habe ich das richtig in Erinnerung? Wenn ja, dann stünde die Frage im Raum, wie Sie das denn tun können, wo doch Miss Frauenzimmer mir erzählt hat, dass es heute eine größere Verständigung zwischen den Rassen gibt als je zuvor. Ich bringe vielleicht etwas durcheinander, aber soweit ich weiß, kann man heute weltweit keine Menschen mehr ›erwerben‹, nicht einmal in Russland, wo schlimme Zustände herrschen sollen.«

»Das trifft jedoch nicht auf mechanische Menschen zu«, entgegnete Barrows.

»Meinen Sie etwa mich damit?«

Barrows lachte. »Genau das.«

»Hätten Sie dann die Güte, Sir, mir zu sagen, was ein Mensch ist?«

»Ja, hätte ich.« Barrows sah grinsend zu Blunk. »Ein Mensch ist ein gegabelter Rettich. Ist Ihnen diese Definition geläufig, Mr. Lincoln?«

»Ja, Sir. Shakespeare lässt seinen Falstaff das sagen, nicht wahr?«[i]

»Richtig. Und ich möchte noch ergänzen: Der Mensch lässt sich als ein Tier definieren, das ein Taschentuch bei sich hat. Wie gefällt Ihnen das? Das ist nicht von Shakespeare.«

Das Simulacrum lachte herzhaft. »Ganz sicher nicht. Ich schätze Ihren Humor, Mr. Barrows. Dürfte ich diese Bemerkung in einer Rede verwenden?«

Barrows nickte.

»Vielen Dank. Nun haben Sie den Menschen also als ein Tier definiert, das ein Taschentuch bei sich hat. Aber was ist ein Tier?«

»Sie sind jedenfalls keines, das kann ich Ihnen sagen. Ein Tier ist von biologischer Herkunft und Beschaffenheit, und an beidem mangelt es Ihnen. Sie bestehen aus Platinen und Kabeln und Schaltern. Sie sind eine Maschine. Wie eine…« Barrows überlegte. »Eine Dampfmaschine.« Er zwinkerte Blunk zu. »Kann eine Dampfmaschine unter dem Schutz der von Ihnen zitierten Verfassungsklausel stehen? Hat sie wie ein Mensch das Recht, das von ihr hergestellte Brot zu essen?«

»Kann eine Maschine reden?«

»Aber sicher. Radios, Diktiergeräte, Kassettenrekorder, Telefone – sie quasseln alle wie verrückt.«

Die Lincoln dachte kurz nach. »Und was, Sir, ist dann eine Maschine?«

»Sie sind eine. Diese Leute hier haben Sie gebaut. Sie gehören diesen Leuten.«

Das faltige, dunkelbärtige Gesicht der Lincoln verzog sich, während sie auf Barrows hinunterblickte. »Dann sind auch Sie, Sir, eine Maschine. Denn auch Sie haben einen Schöpfer. Und Er hat Sie genauso wie ›diese Leute hier‹ nach Seinem Bild gemacht. Ich glaube, Spinoza hatte diese Ansicht über Tiere – dass sie schlaue Maschinen sind. Der kritische Punkt ist, meine ich, die Seele. Eine Maschine kann alles, was ein Mensch kann – dem werden Sie zustimmen. Aber sie besitzt keine Seele.«

»Es gibt keine Seele. Das sind Hirngespinste.«

»Dann ist eine Maschine genau das Gleiche wie ein Tier. Und ein Tier ist genau das Gleiche wie ein Mensch. Trifft das nicht zu?«

»Ein Tier ist aus Fleisch und Blut, und eine Maschine ist aus Kabeln und Platinen, so wie Sie. Was soll das alles? Sie wissen verdammt gut, dass Sie eine Maschine sind. Als wir hereingekommen sind, haben Sie hier im Dunkeln gesessen und darüber nachgedacht. Ich weiß, dass Sie eine Maschine sind, und es ist mir egal. Mir ist nur nicht egal, ob Sie funktionieren oder nicht. Und Sie funktionieren nicht gut genug, um mein Interesse zu wecken. Vielleicht später einmal, wenn die meisten Fehler ausgemerzt sind. Sie können ja nicht mehr, als Reden über Richter Douglas und irgendwelches politisches Zeugs zu schwingen. Wer will das hören?« Barrows wandte sich seinem Anwalt zu. »Ich glaube, wir machen uns besser wieder auf den Weg nach Seattle.« Und zu Maury und mir sagte er: »Hier ist meine Entscheidung. Wir beteiligen uns, aber nur, wenn wir die Mehrheitsanteile bekommen, damit wir die Firmenpolitik bestimmen können. Diese Bürgerkriegsidee etwa ist der reinste Unsinn.«

Ich schluckte. »Wie bitte?«

»Sie haben ganz recht gehört. Dieser Bürgerkriegsplan könnte nur auf eine einzige Weise akzeptablen Profit bringen. Und die würde Ihnen in tausend Jahren nicht einfallen. Den Bürgerkrieg mit Robotern erneut austragen, ja. Aber Profit wird das nur abwerfen, wenn man auf das Ergebnis Wetten platzieren kann.«

»Auf welches Ergebnis?«

»Welche Seite gewinnt. Die Blauen oder die Grauen.«

Blunk machte ein nachdenkliches Gesicht. »So wie bei einem Liga-Endspiel.«

Barrows nickte. »Genau.«

»Aber der Süden könnte gar nicht gewinnen«, sagte Maury. »Ihm fehlt die Industrie.«

»Dann entwickeln Sie eben ein Handicap-System.«

»Das… meinen Sie nicht ernst«, brachte ich stotternd hervor.

»Ernster geht’s nicht.«

»Ein Nationalepos ummünzen? In ein Pferderennen? Ein Hunderennen? Eine Lotterie?«

Barrows zuckte mit den Schultern. »Diese Idee ist eine Million Dollar wert. Mindestens. Wenn sie Ihnen nicht zusagt, lassen Sie’s. Aber eins sage ich Ihnen: Geld bringen Ihnen Ihre Puppen mit dieser Bürgerkriegssache nur so ein. Ich würde sie ja ganz anders einsetzen. Ich weiß, woher Sie Ihren Ingenieur Robert Bundy haben. Er hat vorher bei der Federal Space Agency an deren Simulacra gearbeitet. Die Stanton und die Lincoln sind nur geringfügige Modifikationen von Regierungsapparaturen.«

»Weitreichende Modifikationen«, korrigierte Maury heiser. »Die staatlichen Simulacra sind einfach nur Maschinen, die über eine atmosphärelose Oberfläche krabbeln, auf der der Mensch nie leben könnte.«

»Ich werde Ihnen sagen, was mir vorschwebt, Mr. Rock. Können Sie Simulacra herstellen, die wie Freunde daherkommen?«

»Bitte?«

»Simulacra, die genauso aussehen wie die Familie von nebenan. Eine freundliche, hilfsbereite Familie, die man gern als Nachbarn hat. Leute, wie man sie aus seiner Kindheit in Omaha, Nebraska oder sonstwo kennt.«

»Sie meinen, Sie wollen sie als Massenware verkaufen.«

»Nicht verkaufen. Verschenken. Die Kolonisierung muss endlich in die Gänge kommen, sie ist schon viel zu lange hinausgezögert worden. Aber der Mond ist kahl und unwirtlich, es ist schwer, irgendjemanden zu finden, der den Anfang macht. Sie kaufen Land, aber niemand lässt sich darauf nieder. Wir wollen dort Städte entstehen lassen. Um das zu ermöglichen, müssen wir für eine erste Besiedlungswelle sorgen.«

»Und werden die echten Siedler wissen, dass ihre Nachbarn bloß Simulacra sind?«, fragte ich.

»Selbstverständlich.«

»Sie würden sie nicht zu täuschen versuchen?«

»Nein«, warf Blunk ein. »Das wäre Betrug.«

Maury und ich wechselten einen Blick.

»Sie würden ihnen Namen geben«, sagte ich. »Gute alte amerikanische Namen. Die Edwards – Bill und Mary Edwards und ihr Sohn Tim, der sieben ist. Sie ziehen zum Mond. Sie haben keine Angst vor der Kälte und der fehlenden Atemluft und den kahlen Einöden.«

Barrows betrachtete mich neugierig.

»Und während mehr und mehr Menschen anbeißen, können Sie heimlich, still und leise die Simulacra wieder zurückziehen. Die Edwards und die Jones und alle anderen – sie würden ihre Häuser verkaufen und wegziehen.

Bis Ihre Parzellen schließlich alle von richtigen Menschen bewohnt sind. Und niemand hätte es je mitbekommen.«

»Ich würde mich nicht darauf verlassen, dass das gut geht«, sagte Maury. »Irgendein echter Siedler könnte versuchen, mit Mrs. Edwards ins Bett zu gehen, und dann würde er es rauskriegen. Man weiß ja, wie es in derartigen Siedlungen zugeht.«

Blunk grinste schmierig. »Wunderbar!«

»Ich bin überzeugt davon, dass es funktionieren würde«, sagte Barrows ruhig.

»Was bleibt Ihnen anderes übrig? Ihnen gehören diese ganzen Parzellen Land da oben. Und die Leute haben offenbar keine Lust auszuwandern. Ich dachte eigentlich, dass nur die strengen Gesetze sie daran gehindert haben.«

»Ja, die Gesetze sind streng. Aber wir wollen uns doch nichts vormachen. Sobald man die Gegend dort oben gesehen hat… Die meisten Menschen haben nach zehn Minuten genug. Ich bin selbst oben gewesen. Und ich habe nicht vor, noch mal hinzufliegen.«

»Nun, danke für die offenen Worte, Barrows«, sagte ich.

Er sah mich an. »Ich weiß, dass die Regierungs-Simulacra auf der Mondoberfläche gut funktioniert haben. Und ich weiß, was Sie hier haben: eine Modifikation dieser Simulacra. Ich will also nur, dass Sie eine weitere Modifikation vornehmen. Irgendein anderes Arrangement steht nicht zu Debatte. Von der Planetenerkundung abgesehen ist der Marktwert Ihrer Simulacra gleich null. Diese ganze Bürgerkriegsgeschichte ist doch Quatsch. Wenn Sie mit mir ins Geschäft kommen wollen, dann nur so, wie ich es gerade umrissen habe.«

Ich starrte Barrows mit offenem Mund an. Meinte er das wirklich ernst? Simulacra, die sich als menschliche Kolonisten ausgaben und auf dem Mond wohnten, um die Illusion einer aufblühenden Stadt zu schaffen? Wohnzimmer mit Mutter-Vater-Kind-Simulacra, die so taten, als ob sie zu Abend äßen und auf die Toilette müssten? Was für eine schreckliche Vorstellung. Damit also wollte der Mann aus seinen Schwierigkeiten herauskommen. Sollten wir uns davon abhängig machen?

Maury paffte betrübt an seiner Zigarre; seine Gedanken bewegten sich zweifellos in eine ähnliche Richtung.

Und dennoch verstand ich Barrows’ Position. Er musste Menschen in großer Zahl davon überzeugen, dass die Auswanderung zum Mond erstrebenswert war; seine wirtschaftliche Zukunft hing davon ab. Und wer weiß, vielleicht heiligte der Zweck ja die Mittel. Die Menschheit musste ihre Angst besiegen, musste zum ersten Mal in ihrer Geschichte in eine extraterrestrische Umwelt vordringen. Damit ließ sie sich vielleicht überzeugen. Rein materiell betrachtet würde es ja an nichts fehlen – nur die psychische Realität war eben furchtbar, die Ausstrahlung der lunaren Umwelt. Nichts, das lebte, nichts, das wuchs, alles blieb ewig gleich. Ein hell erleuchtetes Haus nebenan, mit einer Familie, die am Frühstückstisch saß und vergnügt plauderte – Barrows konnte das zur Verfügung stellen, wie er Luft, Wärme und Wasser zur Verfügung stellen würde.

Das musste man ihm lassen: Es war eine glänzende Idee, bis auf einen einzigen Unsicherheitsfaktor. Offensichtlich würde jede Anstrengung unternommen werden, das Geheimnis zu wahren. Doch wenn diese Anstrengungen versagten, wenn die Sache ans Licht kam, drohte ihm der finanzielle Ruin, ja vielleicht würde er sogar ins Gefängnis dafür kommen. Und wir – mitgefangen, mitgehangen.

Wie viel von Barrows’ Imperium war noch auf diese Weise entstanden? Schöne Fassaden, die eine arglistige Täuschung verbargen…

Es gelang mir schließlich, unsere Gäste zu überreden, die Nacht in einem Motel in der Nähe zu verbringen und erst tags darauf nach Seattle zurückzufliegen. Dann zog ich mich zurück und rief meinen Vater in Boise an.

»Er will uns da in etwas hineinziehen, das zu groß für uns ist«, erzählte ich ihm. »Wir sind diesem Burschen nicht gewachsen.«

Mein Vater klang schläfrig; offenbar war er bereits im Bett gewesen. »Dieser Barrows, ist er gerade da?«

»Ja. Und er ist brillant. Er hat sogar mit der Lincoln debattiert und ist überzeugt, gewonnen zu haben. Vielleicht hat er ja gewonnen. Er hat Spinoza zitiert, über Tiere, die nichts als schlaue Maschinen sind. Nein, das war die Lincoln, nicht Barrows. Hat Spinoza das tatsächlich gesagt?«

»Bedauerlicherweise.«

»Wann kannst du kommen?«

»Heute Nacht nicht mehr.«

»Dann morgen. Sie bleiben über Nacht. Wir machen Schluss für heute und setzen uns morgen wieder zusammen. Wir brauchen deinen Humanismus, also sieh zu, dass du morgen da bist.«

Ich legte auf und ging zu den anderen zurück. Die fünf – sechs, wenn man das Simulacrum mitrechnete – waren am Plaudern.

»Wir gehen noch um die Ecke einen Schlummertrunk nehmen«, sagte Barrows zu mir. »Sie kommen doch bestimmt mit.« Er sah die Lincoln an. »Die hätte ich auch gern dabei.«

Ich ächzte, erklärte aber mein Einverständnis.

Kurz darauf saßen wir in einer Bar. Die Lincoln hatte während unserer Bestellung geschwiegen, doch Barrows hatte ihr einen Tom Collins geordert. Nun gab er ihr das Glas.

»Cheers«, sagte Blunk zu der Maschine und hob seinen Whisky Sour.

»Ich bin zwar kein Abstinenzler«, entgegnete sie mit ihrer merkwürdig hohen Stimme, »aber ich trinke nur selten etwas.« Sie nahm ihren Drink misstrauisch in Augenschein und nippte daran.

»Ihr Jungs hättet festeren Boden unter den Füßen gehabt«, ließ sich Barrows vernehmen, »wenn ihr eure Position besser ausgearbeitet hättet. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Was immer eure menschengroße Puppe als vermarktbare Idee wert ist – die Idee, sie in der Raumforschung einzusetzen, ist mindestens genauso viel wert, vielleicht sogar mehr. Also heben die beiden Ideen sich gegenseitig auf. Seht ihr das nicht auch so?« Er sah uns an.

»Auf die Idee mit der Raumforschung«, sagte ich, »ist die Regierung gekommen.«

»Dann eben meine Modifikation dieser Idee. Worauf ich hinaus will, ist, dass es sich ausgleicht.«

»Ich weiß nicht, was Sie damit meinen, Mr. Barrows«, warf Pris ein. »Was gleicht sich aus?«

»Ihre Idee – die Simulacra, die man nicht von Menschen unterscheiden kann – und unsere Idee, sie auf Luna in ein modernes Haus zu stecken und Edwards zu nennen.«

»Das war Louis’ Idee«, rief Maury. »Das mit den Edwards. Stimmt’s, Louis?«

»Ja.« Jedenfalls nahm ich es an. Bloß weg hier, dachte ich. Der drückt uns immer weiter an die Wand.

Die Lincoln saß da und nippte an ihrem Tom Collins.

»Wie schmeckt Ihnen der Drink, Mr. President?«, fragte Barrows.

»Gut. Sehr aromatisch. Aber er trübt die Sinne.« Dennoch nippte sie erneut daran.

Genau das, was wir brauchen, schoss es mir durch den Kopf. Getrübte Sinne!

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