Zehn

Wir machten für den Abend Schluss. »Nett, Sie kennengelernt zu haben, Mr. Barrows.« Ich streckte ihm die Hand hin.

»Gleichfalls.« Er schüttelte mir die Hand, dann Maury und Pris. Die Lincoln stand ein Stück abseits und sah mit traurigem Gesicht zu. Barrows bot ihr nicht die Hand an, und er sagte auch nicht auf Wiedersehen zu ihr.

Darauf gingen wir vier zurück zu MASA Associates und atmeten dabei die kalte Nachtluft ein. Die Luft roch gut, sie klärte unsere Köpfe. Zurück im Büro zogen wir den Old Crow hervor. Wir nahmen Pappbecher und schenkten uns Bourbon und Wasser ein.

»Wir sind in Schwierigkeiten«, sagte Maury.

Wir anderen nickten.

»Was halten Sie davon?«, wandte er sich an die Lincoln. »Was ist Ihre Meinung von ihm?«

»Er ist wie die Krabbe, die vorankommt, indem sie seitwärtsläuft.«

»Und das bedeutet?«, fragte Pris.

»Ich weiß, was er damit sagen will.« Maury nahm einen tiefen Schluck. »Der Bursche hat uns dermaßen in die Knie gezwungen, dass wir nicht mehr wissen, was wir machen sollen. Wir sind Memmen. Memmen!« Er zeigte auf mich. »Und wir zwei nennen uns Geschäftsleute. Dabei haben wir uns über den Tisch ziehen lassen. Hätten wir nicht vertagt, würde die Firma jetzt schon ihm gehören.«

»Mein Vater…«, begann ich.

»Dein Vater! Der ist ja noch bescheuerter als wir. Ich wünschte, wir hätten uns nie mit diesem Barrows eingelassen. Jetzt werden wir ihn nicht wieder los.«

»Wir müssen ja nicht mit ihm ins Geschäft kommen«, sagte Pris.

Ich nickte. »Wir sagen ihm einfach, er soll wieder zurück nach Seattle fliegen.«

»Macht keine Witze! Wir können ihm überhaupt nichts sagen. Der wird morgen früh frisch und munter hier vor der Tür stehen. Und uns zermalmen.« Maury starrte mich an.

»Also, ich glaube, Barrows ist verzweifelt. Sein Projekt, die Kolonisierung des Mondes, steht vor dem Scheitern, merkt ihr das nicht auch? Wir haben keinen mächtigen, erfolgreichen Unternehmer vor uns. Sondern jemanden, der sein ganzes Geld in Wohnsiedlungen auf dem Mond gesteckt hat, in Kuppeln zur Wärme- und Luftversorgung und in Konverter, die Eis in Wasser umwandeln. Und jetzt kriegt er die Leute nicht dazu, dorthin zu ziehen. Ich habe eher Mitleid mit ihm.«

Die anderen sahen mich aufmerksam an.

»Um sich zu retten, hat er sich jetzt zu diesem Betrug entschlossen. Zu Städten voller Simulacra, die so tun, als wären sie menschliche Siedler. Aus diesem Plan spricht die reinste Verzweiflung. Zugegeben, als ich vorher davon gehört habe, hielt ich es für möglich, dass es sich um eine dieser hochfliegenden Visionen handelt, die Männer von Barrows’ Schlag haben, die wir anderen nie haben, weil wir Normalsterbliche sind. Aber jetzt bin ich mir da gar nicht mehr so sicher. Ich glaube, er ist so in Panik, dass er nicht mehr klar denken kann. Die Idee ist völlig abwegig. Damit kann er doch nicht ernsthaft irgendwen täuschen wollen. Die Regierung würde es sofort spitz kriegen.«

»Und wie?«, fragte Maury.

»Das Gesundheitsministerium überprüft jede auswanderungswillige Person. Wie also will Barrows die Simulacra auch nur von der Erde fortkriegen?«

Maury winkte ab. »Ich meine, es steht uns überhaupt nicht zu, zu beurteilen, wie vernünftig der Plan ist. Wer sind wir denn? Nur die Zeit wird es erweisen, und wenn wir nicht mit ihm ins Geschäft kommen, dann nicht mal sie.«

»Das sehe ich auch so«, sagte Pris. »Wir sollten uns darauf beschränken, was für uns herausspringen könnte.«

»Gar nichts, wenn die Sache auffliegt und er dafür ins Gefängnis wandert«, erwiderte ich. »Und das wird er. Ich bin der Meinung, wir sollten uns aus der Sache raushalten. Mit diesem Menschen sollten wir keine Geschäfte machen. Es ist unsicher, riskant und schlichtweg bescheuert. Unsere eigenen Ideen sind schon verrückt genug.«

»Könnte Mr. Stanton hierher kommen?«, fragte die Lincoln unvermittelt.

Maury wandte den Kopf. »Wie bitte?«

»Ich denke, es wäre von Vorteil, wenn Mr. Stanton bei uns wäre anstatt in Seattle, wo er sich Ihren Worten nach befindet.«

Wir sahen uns alle an.

»Sie hat recht«, sagte Pris. »Wir sollten die Stanton zurückholen. Sie wäre uns hier von Nutzen. Sie ist so stur.«

Ich nickte. »Ja, eisernen Willen können wir gebrauchen. Wir haben zu wenig davon.«

»Wir können sie zurückholen«, sagte Maury. »Sogar noch heute Nacht. Wir chartern ein Privatflugzeug, fliegen nach Seattle, treiben die Stanton auf und fliegen gleich wieder zurück. Dann ist sie morgen früh dabei, wenn wir uns Barrows stellen.«

»Aber dann wären wir völlig kaputt«, entgegnete ich. »Wir würden auf dem Zahnfleisch gehen. Und vielleicht dauert es ja auch viel länger, sie zu finden. Vielleicht ist sie inzwischen gar nicht mehr in Seattle. Sie könnte nach Alaska oder nach Japan geflogen sein – oder sogar zu einer von Barrows’ Siedlungen auf dem Mond.«

Wir nippten missmutig an unseren Pappbechern, nur die Lincoln nicht, sie hatte ihren beiseitegestellt.

»Hat von euch jemand je Känguruschwanzsuppe gegessen?«, fragte Maury in die Stille hinein. Wir sahen ihn alle an. »Ich hab hier noch irgendwo eine Dose. Wir können sie heiß machen. Schmeckt sehr lecker.«

»Für mich nicht«, sagte ich.

»Nein, danke«, sagte Pris.

Das Simulacrum lächelte sein sanftes Lächeln.

»Na schön, dann nicht. Aber wollt ihr wissen, wie ich da rangekommen bin? Ich war im Supermarkt und stand an der Kasse an. Die Kassiererin sagte zu jemandem: ›Nein, die Känguruschwanzsuppe nehmen wir demnächst aus dem Sortiment.‹ Und auf einmal ist hinter den Cornflakespackungen oder so diese hohle Stimme zu hören: ›Keine Känguruschwanzsuppe mehr? Nie mehr?‹ Und dieser Typ kommt mit seinem Wagen um die Ecke geflitzt, um die letzten Dosen aufzukaufen. Da hab ich mir auch ein paar gegriffen. Kostet mal, das muntert euch auf.«

»Ist euch aufgefallen, wie Barrows uns zermürbt?«, fragte ich. »Erst nennt er die Simulacra Roboter, dann nennt er sie Spielereien, und am Ende sind es nur noch Puppen.«

»Es ist eine Technik«, sagte Pris, »eine Verhandlungstechnik. Er gräbt uns das Wasser ab.«

»Worte«, murmelte die Lincoln, »sind Waffen.«

»Können Sie nicht irgendetwas zu ihm sagen?«, fragte ich sie. »Sie haben doch mit ihm debattiert.«

Die Lincoln schüttelte den Kopf.

Pris schnaubte. »Natürlich kann sie ihm nichts sagen. Weil sie fair argumentiert. So haben sie damals debattiert, Mitte des letzten Jahrhunderts. Barrows argumentiert nicht fair, und es gibt auch kein Publikum, das ihm auf die Finger klopft. Richtig, Mr. Lincoln?«

Das Simulacrum antwortete nicht; sein Lächeln kam mir jetzt noch trauriger vor, sein Gesicht länger und die Sorgenfalten tiefer.

»Früher war alles besser«, brummte Maury.

Aber, dachte ich, eines können wir doch tun. »Also gut, womöglich hat er die Stanton weggeschlossen. Oder sie in ihre Einzelteile zerlegen lassen, und seine Ingenieure fertigen gerade ihr eigenes, leicht abgewandeltes Modell an, damit unsere Patente nicht greifen.« Ich sah Maury an. »Haben wir wirklich Patentschutz?«

»Kommt drauf an. Du weißt ja, wie das läuft. Er kann uns die Idee mit den Simulacra klauen, jetzt wo er sie gesehen hat. Bei solchen Sachen muss man nur wissen, dass sie funktionieren, dann wird man sie irgendwann auch selbst zum Laufen kriegen.«

»Okay, dann ist es eben wie beim Verbrennungsmotor. Aber wir haben einen Vorsprung. Lasst uns so rasch wie möglich mit der Produktion beginnen. Bringen wir unsere Simulacra auf den Markt, bevor Barrows so weit ist.«

Stille.

Maury kaute an seinem Daumen. »Ich glaube, da ist was dran. Was bleibt uns auch anderes übrig? Was meinst du, kriegt dein Vater das Montageband sofort zum Laufen? Kann er so schnell umrüsten?«

»Im Handumdrehen.«

»Red keinen Unsinn«, sagte Pris. »Der alte Jerome? Schon allein für die Fertigung der Stanzen wird er ein Jahr brauchen. Und die Verkabelung wird in Japan vorgenommen werden – er wird also nach Japan müssen, um das zu arrangieren, und er wird wieder per Schiff reisen wollen, wie schon einmal.«

Ich sah sie spöttisch an. »Jedenfalls hast du auch schon dran gedacht.«

»Selbstverständlich. Ich habe es sogar ernsthaft in Erwägung gezogen.«

»Ich glaube, es ist unsere einzige Hoffnung. Wir müssen die verfluchten Dinger endlich in den Handel bringen – wir haben schon genug Zeit verschwendet.«

Maury nickte. »Okay. Wir machen Folgendes: Wir fahren morgen nach Boise und erteilen Jerome und deinem komischen Bruder Chester den Auftrag. Sie sollen sofort mit der Fertigung der Stanzen beginnen und nach Japan fliegen. Aber was sagen wir Barrows?«

Erneut Stille.

Ich räusperte mich. »Wir sagen ihm, dass die Lincoln kaputtgegangen ist. Dass sie nicht funktioniert und wir sie nicht produzieren werden. Dann wird er das Interesse an der ganzen Sache verlieren.«

Maury kam zu mir. »Du meinst, wir legen sie lahm? Schalten sie ab?«

Ich nickte.

»Gefällt mir nicht.«

Wir sahen beide verstohlen zu der Lincoln hinüber.

»Er wird natürlich darauf bestehen, sie sich selber anzusehen«, sagte Pris. »Aber soll er doch. Soll er an ihr rütteln wie an einem Kaugummiautomaten, wenn er möchte. Wenn wir sie abgeschaltet haben, gibt sie keinen Pieps mehr von sich.«

»Na schön«, brummte Maury.

Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. »Dann ist es beschlossene Sache.«

Wir schalteten die Lincoln unverzüglich ab. Gleich darauf verkündete Maury, dass er ins Bett wolle, setzte sich ins Auto und fuhr heim. Pris bot an, mich auf dem Nachhauseweg in meinem Motel abzusetzen und am nächsten Morgen wieder abzuholen. Ich war so müde, dass ich das Angebot erfreut annahm.

»Sind alle Reichen und Mächtigen so«, fragte sie, als wir durch das schlafende Ontario fuhren.

»Klar. Alle jedenfalls, die es selbst zu etwas gebracht haben – die bloß geerbt haben vielleicht nicht.«

»Es war schrecklich, die Lincoln abzuschalten. Mit anzusehen, wie sie zu leben aufhört – als hätten wir sie noch einmal getötet. Findest du nicht auch?«

»Ja.«

Dann, als wir vor meinem Motel hielten, sagte sie: »Denkst du, dass man nur so reich werden kann? Indem man so ist wie er?« Sam K. Barrows hatte sie verändert, zweifelsohne. Aus ihr war eine desillusionierte Frau geworden.

»Frag mich nicht. Ich verdiene siebenhundertfünfzig im Monat, wenn überhaupt.«

»Aber bewundern muss man ihn schon.«

»Ich wusste, dass du das früher oder später sagen würdest.«

Pris seufzte. »Ich bin also ein offenes Buch für dich.«

»Nein, du bist das größte Rätsel, das mir je über den Weg gelaufen ist. Nur dieses eine Mal dachte ich mir: Pris sagt gleich: ›Aber bewundern muss man ihn schon.‹ Und dann hast du es gesagt.«

»Und ich wette, du glaubst auch, dass ich zu meiner alten Haltung ihm gegenüber zurückkehren werde und das ›aber‹ weglasse und ihn einfach nur wieder bewundere.«

Ich erwiderte nichts. Aber sie hatte recht.

»Ist dir aufgefallen, dass ich in der Lage war, das Abschalten der Lincoln zu ertragen? Und wenn ich das ertragen kann, dann kann ich alles ertragen. Ja, ich habe es sogar genossen, auch wenn ich mir das natürlich nicht habe anmerken lassen.«

»Du lügst wie gedruckt.«

»Nein, ich hatte ein sehr angenehmes Gefühl von Macht dabei, von absoluter Macht. Wir haben ihr das Leben geschenkt und dann – zack! – haben wir es ihr wieder genommen. Ganz einfach. Die moralische Verantwortung dafür tragen nicht wir, die trägt Sam Barrows, und er hätte nicht mit der Wimper gezuckt, er hätte einen Riesenspaß dabei gehabt. Und in Wirklichkeit wollen wir genauso sein. Ich bedauere es nicht, sie abgeschaltet zu haben – ich bedauere, dass es mich so aufwühlt. Ich verachte mich dafür, das ich so bin. Kein Wunder, dass ich mit euch hier herumkrebse und Sam Barrows ganz oben an der Spitze ist. Der Unterschied zwischen ihm und uns liegt doch auf der Hand.« Sie steckte sich eine Zigarette an und blies Rauch in die Luft. »Und was ist mit Sex?«

»Sex? Sex ist noch schlimmer als nette Simulacra abschalten.«

»Ich meine, Sex verändert einen. Die Erfahrung des Geschlechtsverkehrs.«

Es ließ mir das Blut gefrieren, sie so reden zu hören.

»Was ist mit dir?«

»Du machst mir Angst.«

»Wieso?«

»Du redest, als würdest du…«

»Als würde ich sogar auf meinen eigenen Körper von oben herabblicken. Ja, das tue ich. Ich bin nicht mein Körper. Ich bin meine Seele.«

»Und wo sind die Beweise, würde Blunk sagen.«

»Ich habe keine, aber es stimmt trotzdem. Ich bin kein physischer Körper in Raum und Zeit. Platon hatte recht.«

»Und wir anderen? Was ist mit uns?«

»Ach, das ist eure Sache. Ich nehme euch als Körper wahr, also seid ihr vielleicht welche, vielleicht ist nicht mehr an euch dran. Weißt du es denn nicht? Wenn du es nicht selber weißt, kann ich es dir auch nicht sagen.« Sie machte ihre Zigarette aus. »Ich fahre jetzt besser nach Hause, Louis.«

»Gut.« Ich öffnete die Wagentür. Das Motel war trotz der vielen Zimmer stockdunkel, sogar das große Neonschild war für die Nacht abgeschaltet worden.

»Weißt du, ich habe immer ein Diaphragma dabei.«

Ich sah sie amüsiert an. »Ein Pessar im Handtäschchen? Oder ein Zwerchfell in der Brust?«

»Das ist nicht komisch, Louis. Damit ist es mir sehr ernst – mit Sex, meine ich.«

»Dann will ich dich in deiner Ernsthaftigkeit nicht stören.« Ich machte die Tür hinter mir zu.

Pris kurbelte auf meiner Seite das Fenster hinunter. »Ich werde jetzt etwas Sentimentales sagen.«

»Nein, wirst du nicht. Weil ich nämlich nicht zuhören werde. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn ernste Menschen sentimentale Anwandlungen haben. Bleib du mal lieber ein distanzierter Geist, der sich über leidende Tiere lustig macht, dann kann ich dich wenigstens…« Ich zögerte. »Dann kann ich dich wenigstens in Ruhe hassen und Angst vor dir haben.«

»Und wenn ich nun trotzdem etwas Sentimentales sage?«

»Dann gehe ich morgen ins Krankenhaus und lasse mich kastrieren oder wie man das heutzutage nennt.«

»Du willst also sagen, dass ich nur dann begehrenswert bin, wenn ich grausam und schizoid bin. Aber wenn ich sentimental werde, dann bin ich nicht mal das.«

»Das ›nicht mal‹ kannst du weglassen. Es ist verdammt viel.«

»Nimm mich mit auf dein Zimmer und besorg’s mir.«

»Weißt du, deine Sprache hat irgendwie etwas an sich, das wenig Raum für Begehren lässt.«

»Du bist doch nur feige.«

»Nein.«

»Doch.«

»Nein, aber ich werde es nicht beweisen, indem ich es tue. Ich bin wirklich nicht feige, ich habe in meinem Leben mit allen möglichen Frauen geschlafen. In Sachen Sex macht mir nichts mehr Angst, dafür bin ich einfach zu alt. Du redest von einem College-Jungen, der sich gerade seine erste Schachtel Präservative gekauft hat.«

»Trotzdem willst du nicht mit mir schlafen.«

»Nein. Weil du nicht nur distanziert bist, du bist brutal. Und das nicht nur zu mir, sondern auch zu dir selbst, indem du deinen Körper verachtest. Erinnerst du dich nicht an die Debatte zwischen Lincoln – der Lincoln-Maschine, meine ich – und Barrows? Das Tier ist dem Menschen nah verwandt, beide sind aus Fleisch und Blut. Und genau das versuchst du, nicht zu sein.«

»Ich versuche es nicht – ich bin’s nicht.«

»Was bist du dann? Eine Maschine?«

»Eine Maschine hat Drähte. Ich habe keine Drähte.«

»Was bist du dann?«

»Ich weiß, was ich bin. Schizoidität ist in diesem Jahrhundert sehr verbreitet, so wie im neunzehnten Jahrhundert die Hysterie. Es ist eine tiefe, innere Entfremdung. Ich wünschte, ich wäre nicht so, aber ich bin es nun mal. Du hast Glück, Louis, du bist in diesem Sinne altmodisch. Ich würde gerne mit dir tauschen. Und es tut mir leid, wenn dich meine Sprache in Sachen Sex verschreckt hat. Ich bin da sehr unbeholfen.«

»Nicht unbeholfen. Schlimmer. Unmenschlich. Du würdest… ich weiß, was du tun würdest. Wenn du Geschlechtsverkehr mit jemandem hättest, würdest du alles beobachten, die ganze Zeit lang. Sämtliche Aspekte. Ganz bewusst.«

»Ist das ein Fehler? Ich dachte, das machen alle so.«

»Gute Nacht, Pris.«

»Gute Nacht, Feigling.«

»Leck mich.«

»Ach, Louis.« Ihre Stimme bebte.

»Entschuldige.«

»Wie kannst du nur so etwas Schreckliches sagen?«

»Verzeih mir. Ich habe meine Zunge nicht mehr ganz unter Kontrolle.«

Sie nickte stumm. Dann ließ sie den Motor an.

»Fahr jetzt nicht weg, Pris. Hör zu, sieh es einfach als einen verrückten unterbewussten Versuch meinerseits, eine Verbindung zu dir herzustellen. Dein Gerede – wie du dich dazu bringst, Sam Barrows noch mehr zu verehren als vorher –, das hat mich wahnsinnig gemacht. Ich habe dich sehr gern, wirklich. Mitzuerleben, wie du dich für einen Augenblick einer warmen, menschlichen Sichtweise öffnest…«

»Danke, Louis. Dafür, dass du versuchst, mich aufzumuntern.« Sie schenkte mir ein Lächeln.

»Lass nicht zu, dass dich das hier noch mehr runterzieht.«

»Wird es schon nicht. Tatsächlich hat es mich kaum getroffen.«

»Komm mit mir rein.«

»Nein. Weißt du, wir stehen einfach alle unter großem Druck. Mir ist klar, dass ich dich verärgert habe. Dass ich solche ungeschickten Worte benutze, liegt einfach daran, dass ich es nicht besser weiß. Niemand hat mir je beigebracht, wie man über solche Sachen spricht.«

»Das wirst du schon lernen, keine Sorge. Aber, Pris, du musst mir etwas versprechen. Versprich mir, dass du vor dir selbst nicht leugnest, dass ich dich verletzt habe. Es ist gut, fühlen zu können, was du gerade eben gefühlt hast.«

»Du meinst, es ist gut, verletzt zu werden?«

»Nein. Ich meine, es ist ermutigend. Die Tatsache, dass du durch das, was ich gesagt habe, eine so intensive Verletzung erfahren hast…«

»Einen Scheiß habe ich.«

»Hast du wohl. Mach dir nichts vor.«

»Okay, Louis.« Sie ließ den Kopf hängen. »Du hast ja recht.«

Ich öffnete die Wagentür. »Komm mit rein, Pris.«

Sie schaltete den Motor ab und stieg aus. Ich nahm sie am Arm.

»Ist das der erste Schritt zu körperlichen Freuden?«, fragte sie.

Ich lächelte sanft.

»Weißt du, ich möchte nur darüber reden können, ich will es gar nicht tun. Wir werden einfach nebeneinandersitzen, und dann fahre ich nach Hause. Das ist für uns beide das Beste.«

Wir betraten das kleine Motelzimmer. Ich schaltete das Licht ein, drehte die Heizung auf und machte den Fernseher an.

»Wieso das denn? Damit uns niemand stöhnen hört?« Sie schaltete den Fernseher wieder ab. »Das ist nicht nötig, ich stöhne immer ganz leise.« Sie zog den Mantel aus und gab ihn mir. »Wo soll ich sitzen. Hier?« Sie setzte sich auf einen Stuhl, faltete die Hände im Schoß und sah mich feierlich an. »Wie ist das? Was soll ich noch ausziehen? Die Schuhe? Alles, was ich anhabe? Oder willst du das übernehmen? Wenn ja, mein Rock hat keinen Reißverschluss, man muss ihn aufknöpfen. Aber pass auf, dass du nicht zu sehr ziehst, sonst geht der oberste Knopf ab und ich muss ihn nachher wieder annähen.« Sie neigte sich zur Seite. »Hier sind die Knöpfe, siehst du.«

»Das ist alles sehr interessant, Pris.«

»Weißt du, was toll wäre?« Ihre Augen leuchteten auf. »Wenn du uns koscheres Cornedbeef und jüdisches Brot und Bier und zum Nachtisch ein bisschen Halvah besorgst. Dieses dünn geschnittene Cornedbeef für zwei fünfzig das Pfund.«

»Würde ich gern machen. Aber das kriegt man hier im Umkreis von über hundert Meilen nicht.«

»Kriegt man es nicht in Boise?«

»Nein. Außerdem ist es längst zu spät für koscheres Cornedbeef. Ich meine nicht zu spät am Abend. Ich meine zu spät in unserem Leben.« Ich setzte mich ihr gegenüber, zog den Stuhl dicht an sie heran und ergriff ihre Hände. Sie waren trocken und fest. Von ihrem Fliesenzerschneiden hatte sie sehnige Arme und starke Finger bekommen. »Lass uns abhauen, Pris. Nach Süden fahren und nie mehr wiederkommen. Weit weg von den Simulacra, weit weg von Sam Barrows.«

»Nein. Sam Barrows ist unser Schicksal, siehst du das nicht? Wir können ihm nicht entkommen.«

»Na schön. Wenn das so ist.«

»Du verhältst dich manchmal wie ein kleines Kind, das vom Leben noch nichts mitbekommen hat.«

»Nun, ich habe hier und da kleine Stücke aus der Wirklichkeit herausgehackt und mich mit ihnen vertraut gemacht. Ungefähr so wie ein Schaf, das einen bestimmten Weg durch das Weideland findet und dann nie wieder von ihm abweicht.«

»Und das gibt dir ein Gefühl von Sicherheit?«

»Ich fühle mich meistens sicher. Nur in deiner Nähe nie.«

Sie nickte. »Für dich bin ich das ganze Weideland.«

»So kann man es sagen.«

Sie lachte unvermittelt auf. »Das ist ja, als würde man mit Shakespeare schlafen. Du wirst zwischen meinen lieblichen Hügeln und Tälern weiden und grasen, vor allem in meinem duftenden Wiesengrund, du weißt schon, wo sich Wildfarne und Gräser in Fülle wiegen. Ich brauche es nicht deutlicher zu sagen, oder?« Ihre Augen blitzten. »Jetzt zieh mich um Himmels willen aus oder versuch es wenigstens.«

»Nein.«

»Haben wir die Poesie-Phase nicht längst hinter uns? Können wir uns das nicht ersparen und einfach zur Sache kommen?« Sie begann, ihren Rock aufzuknöpfen, aber ich hielt sie zurück.

»Ich kann es einfach nicht, Pris. Das hier ist mir alles viel zu hoch. Ich fühle mich, als hätte ich mich in einem dunklen Wald verlaufen. Das Einzige, was ich gerade hinkriegen würde, wäre dich zu küssen. Auf die Wange vielleicht, wenn es dir recht ist.«

»Du bist alt, daran liegt es. Du gehörst einer sterbenden Welt an.« Sie beugte sich vor. »Aber um dir eine Freude zu machen, erlaube ich dir, dass du mich küsst.«

Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Und wenn du die Wahrheit wissen willst – die Wildfarne und Gräser schwanken gar nicht in Fülle. Da gibt es eine Handvoll Wildfarne und vielleicht vier Grashalme, und das war’s. Ich bin kaum erwachsen, Louis. Ich habe erst vor einem Jahr angefangen, einen BH zu tragen, und manchmal vergesse ich ihn heute noch. Ich brauche eigentlich gar keinen.«

»Kann ich dich auf den Mund küssen?«

»Nein, das wäre zu intim.«

»Du kannst ja die Augen zumachen.«

»Dann machen wir lieber das Licht aus.« Sie entzog mir ihre Hände, stand auf und ging zum Lichtschalter.

»Warte. Ich habe das Gefühl, dass gleich etwas Schreckliches passieren wird.«

»Tut mir leid, Louis. Ich kann jetzt nicht aufhören.« Sie machte das Licht aus.

»Hör zu, ich fahre nach Portland und hole das koschere Cornedbeef. Was meinst du?«

»Wo kann ich meinen Rock hintun?«, kam ihre Stimme aus der Dunkelheit. »Damit er nicht verknittert.«

»Das ist alles nur ein verrückter Traum.«

»Nein, es ist das Glück. Erkennst du das Glück nicht, wenn es dir begegnet? Komm, hilf mir, meine Sachen aufzuhängen. Ich muss in einer Viertelstunde gehen.«

Ich hörte, wie sie im Dunklen herumraschelte, ihre Sachen auszog, nach dem Bett tastete. »Es gibt kein Bett, Pris.«

»Dann auf dem Fußboden.«

»Da schürfst du dir die Knie auf.«

»Ich doch nicht. Du.«

»Ich leide an einer Phobie. Ich muss es bei Licht machen oder ich bekomme die Angstvorstellung, dass ich mit einem Ding schlafe, das aus Draht und Klaviersaiten und der alten orangen Steppdecke meiner Großmutter besteht.«

Pris lachte. »Das bin ich. Das beschreibt perfekt mein Wesen. Ich hab dich gleich.« Sie stieß irgendwo an. »Du entkommst mir nicht.«

»Hör auf. Ich mach jetzt das Licht an.« Ich fand den Schalter, drückte ihn, und auf einmal war das Zimmer wieder da und vor mir stand eine vollständig bekleidete Frau. Pris hatte sich gar nicht ausgezogen. Ich starrte sie verblüfft an.

»Reingelegt. Ich wollte dich im letzten Moment abblitzen lassen, wollte dein Begehren auf die Spitze treiben und dann…« Sie schnippte mit den Fingern. »Gute Naahacht.«

Ich versuchte zu lächeln.

»Lass dich bloß nicht gefühlsmäßig auf mich ein. Sonst breche ich dir das Herz.«

»Wieso einlassen?« Meine Stimme klang erstickt. »Ist doch alles nur ein Spielchen, das die Leute im Dunkeln treiben. Ich wollte mir bloß was aufreißen, wie man so sagt.«

»Diese Redewendung kenne ich nicht.« Sie sah mich kühl an. »Aber ich verstehe ihren Sinn.«

»Jetzt mal was anderes. In Boise gibt es doch koscheres Cornedbeef zu kaufen. Ich hätte es die ganze Zeit ohne Probleme besorgen können.«

»Du mieser Kerl.«

»Da rieselt Sand unter der Tür durch.«

»Was?« Sie sah sich um. »Wovon sprichst du?«

»Wir sind hier gefangen. Irgendjemand hat einen Sandhaufen über uns ausgeschüttet, wir kommen hier nie wieder raus.«

»Hör auf damit!«

»Weißt du, du hättest mir nie etwas anvertrauen sollen.«

»Ja, weil du es dann gegen mich benutzt. Um mich zu quälen.«

»Bin nicht ich es, der gequält wurde?«

»Jetzt gerade, meinst du? O Mann, vielleicht wäre ich ja gar nicht rausgerannt. Vielleicht wäre ich geblieben.

Ich hatte mich noch nicht entschieden. Es hätte von dir abgehangen, von deinem Talent. Ich erwarte eine Menge. Ich bin sehr idealistisch.« Sie zog ihren Mantel an.

»Wir ziehen uns wieder an, ohne uns überhaupt erst ausgezogen zu haben.«

»Jetzt bereust du es, was? Reue – für mehr bist du nicht gut.«

»Ich könnte auch ein paar Gemeinheiten über dich sagen.«

»Wirst du aber nicht. Weil du weißt, dass ich dann so scharf zurückschießen würde, dass du auf der Stelle tot wärst.«

Ich konnte nur mit den Schultern zucken.

»Es war also doch Angst.« Pris öffnete die Tür und ging zu ihrem Auto hinunter.

»Angst, genau.« Ich lief ihr nach. »Angst, die auf dem Wissen gründet, dass so etwas aus dem Einverständnis zweier Menschen erwachsen muss. Das kann nicht der eine dem anderen aufzwingen.«

»Angst vor dem Gefängnis, meinst du.« Sie stieg in das Auto. »Was du hättest tun sollen, was ein richtiger Mann getan hätte, wäre mich zu packen und zum Bett zu schleifen, ohne auch nur ansatzweise darauf zu hören, was ich sage.«

»Wenn ich das gemacht hätte, hättest du gar nicht mehr aufgehört, dich zu beklagen. Erst bei mir, dann bei Maury, dann bei der Polizei.«

Darauf schwiegen wir beide.

»Jedenfalls habe ich dich geküsst«, sagte ich schließlich.

»Aber nur auf die Wange.«

»Auf den Mund.«

»Du lügst.«

»Für mich war es der Mund.« Ich schloss die Autotür.

Sie kurbelte das Fenster hinunter. »So legst du dir das alles also zurecht.«

»Ja, ich werde die Erinnerung daran immer bewahren. In meinem Herzen.« Ich legte eine Hand auf die Brust.

Pris ließ den Motor an, schaltete das Licht ein und fuhr davon.

Einen Moment lang stand ich da, dann ging ich zurück in mein Motelzimmer. Wir drehen langsam durch, dachte ich. Wir sind so demoralisiert, dass wir nicht mehr können. Wir müssen uns Barrows unbedingt vom Hals schaffen. Pris – die arme Pris hat es am schlimmsten erwischt. Und zwar durch das Abschalten der Lincoln. Das war der Wendepunkt.

Am nächsten Morgen strahlte die Sonne warm ins Zimmer, und ich fühlte mich schon beim Aufwachen besser. Und dann, nach einem Frühstück im Motelrestaurant mit Eierkuchen und Schinken und Kaffee und Orangensaft, nach dem Zeitunglesen, fühlte ich mich so gut wie neu.

Da kann man mal sehen, was ein Frühstück so vermag, sagte ich mir. Bin ich wieder ein gesunder Mensch? Nein. Uns geht es besser, aber geheilt sind wir noch nicht. Weil wir davor ja auch nicht gesund gewesen sind, und man kann nicht gesund werden, wenn man nie gesund gewesen ist.

Was ist das für eine Krankheit? Pris hat sie in fast tödlichem Ausmaß gehabt. Und dann fiel ihr Hauch auf mich, sie drang in mich ein, ging nicht mehr weg. Dann kamen Maury und Barrows und nach ihm alle anderen bis hin zu meinem Vater; mein Vater hat sie sich als Letzter eingefangen. Vater! Ich hatte es ganz vergessen – er war auf dem Weg hierher.

Ich ging nach draußen und winkte mir ein Taxi.

Ich kam als Erster im Büro von MASA Associates an. Einige Minuten später sah ich durch das Fenster Pris aus ihrem Auto aussteigen. Sie trug ein blaues Baumwollkostüm und eine langärmelige Bluse; ihre Haare waren hochgesteckt, ihr Gesicht glänzte frisch gewaschen.

Als sie das Büro betrat, lächelte sie mich an. »Tut mir leid, wenn ich gestern das Falsche gesagt habe. Vielleicht nächstes Mal.«

»Nicht weiter schlimm.«

»Bist du sicher, Louis?«

»Ja.« Ich erwiderte ihr Lächeln.

Die Tür ging auf, und Maury kam herein. »Ich bin gut drauf. Lasst uns diesem Schweinehund Barrows das Fell über die Ohren ziehen.«

Gleich nach ihm kam mein Vater, in dunklem Nadelstreifenanzug. Er begrüßte Pris, dann wandte er sich Maury und mir zu. »Ist er schon da?«

»Nein, Vater. Aber er müsste jeden Moment kommen.«

»Ich finde, wir sollten die Lincoln wieder einschalten«, sagte Pris. »Wir sollten keine Angst vor Barrows haben.«

Ich nickte. »Finde ich auch.«

»Nein«, erwiderte Maury. »Und ich sag euch auch, warum. Sie regt Barrows’ Appetit an.«

Ich sah ihn an. »Na gut, lassen wir sie abgeschaltet. Barrows kann sie ruhig mit seinen Fäusten bearbeiten. Er wird ohnehin nur von Habgier getrieben.« Und wir, dachte ich, werden nur von Angst getrieben; hinter etlichen unserer Handlungen der letzten Zeit hat Angst gesteckt, nicht gesunder Menschenverstand…

Es klopfte an der Tür.

»Da ist er.«

Die Tür öffnete sich, und dort standen Sam K. Barrows, David Blunk, Colleen Nild und die düstere Gestalt von Edwin M. Stanton.

»Sie war gerade auf dem Weg hierher«, dröhnte Blunk vergnügt. »Da haben wir sie in unserem Taxi mitgenommen.«

Die Stanton-Maschine sah uns säuerlich an.

Großer Gott, schoss es mir durch den Kopf. Damit hat keiner von uns gerechnet. Verändert das nun alles?

Ich hatte keine Ahnung. Aber wir konnten jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Jetzt ging es um alles.

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