Acht

Es dauerte einige Tage, das Lincoln-Simulacrum in Ordnung zu bringen. In dieser Zeit fuhr ich von Ontario aus westwärts durch die Oregon Sierras, und durch die kleine Holzfällerstadt John Day, die immer meine Lieblingsstadt im Westen der USA gewesen ist. Ich machte dort jedoch nicht Halt; ich war zu ruhelos. Ich fuhr weiter nach Westen, bis ich den Highway erreichte. Diese schnurgerade Nord-Süd-Verbindung, die alte Route 99, führt über Hunderte von Meilen zwischen Nadelbäumen hindurch, und am kalifornischen Ende findet man sich zwischen Vulkanbergen wieder, stumpf und aschfarben, übrig geblieben aus der Zeit der Giganten.

Zwei kleine gelbe Finken, die in der Luft spielten, sausten auf die Motorhaube meines Autos zu. Ich hörte nichts, aber ich schloss aus ihrem Verschwinden, dass sie in den Kühlergrill geraten waren. Tot und verbrannt. Und tatsächlich, an der nächsten Tankstelle fand der Tankwart sie. Hellgelb hingen sie im Grill. Ich schlug sie in ein Taschentuch, trug sie zum Rand des Highways und warf sie dort zwischen die Bierdosen und verrottenden Pappkartons.

Vor mir lagen Mount Shasta und die Grenzstation von Kalifornien. Ich fühlte mich nicht danach weiterzufahren. Die Nacht verbrachte ich in einem Motel in Klamath Falls, und am nächsten Tag fuhr ich die Küste entlang den Weg zurück, den ich gekommen war.

Es war gerade einmal halb acht und es gab nur wenig Verkehr, als ich über mir etwas sah, das mich veranlasste, auf dem Seitenstreifen anzuhalten. Wie immer bekam ich bei dem Anblick ein Gefühl von Demut, zugleich belebte er mich. Ein riesiges Schiff zog langsam vorüber, auf seinem Weg zurück von Luna oder einem der Planeten zum Raumhafen irgendwo in der Wüste von Nevada. Düsenjäger der Air Force begleiteten es; neben ihm waren sie kaum mehr als schwarze Punkte.

Andere Wagen hatten ebenfalls angehalten. Ein Mann machte ein Foto, eine Frau und ein kleines Kind winkten. Die Bremsraketen des Schiffes ließen jetzt die Erde erbeben. Seine Außenhülle, konnte ich sehen, war von Meteoriteneinschlägen übersät und verbrannt vom Wiedereintritt in die Atmosphäre.

Dort zieht unsere Hoffnung vorüber, dachte ich und schirmte meine Augen vor der Sonne ab. Was hat es an Bord? Bodenproben? Hinweise auf außerirdisches Leben? Zerbrochene Krüge, die man in der Asche eines erloschenen Vulkans gefunden hat – Überreste einer untergegangenen Zivilisation? Nun, vermutlich bloß eine Horde Bürokraten. Bundesbeamte, Kongressmitglieder, Techniker, Militärbeobachter, Raketenwissenschaftler, vielleicht auch ein paar Reporter und Fotografen von Life und Look und Fernsehteams von NBC und CBS. Beeindruckend war es trotzdem. Ich winkte, so wie die Frau mit dem kleinen Jungen.

Als ich wieder in mein Auto stieg, dachte ich: Eines Tages wird es hübsche kleine Reihenhäuser dort oben auf dem Mond geben. Mit Fernsehanschluss und Rosen-Kleinklavieren in den Wohnzimmern. Vielleicht werde ich in zehn Jahren ja Anzeigen in extraterrestrischen Zeitungen aufgeben. Unsere Firma wäre mit den Sternen verbunden…

Doch in gewisser Weise war sie das bereits. Ja, ich bekam allmählich eine Ahnung von der Leidenschaft, die Pris beherrschte, von der Besessenheit in Sachen Barrows. Er war, in vielerlei Hinsicht, das Bindeglied zwischen uns gewöhnlichen Sterblichen und dem All, war in beiden Welten beheimatet, den einen Fuß auf Luna, den anderen auf Grundbesitz in Seattle und Oakland. Ohne Barrows war das alles nur ein Traum – er machte es greifbar. Man konnte nicht umhin, ihn zu bewundern. Ihn versetzte die Vorstellung, Menschen auf dem Mond anzusiedeln, nicht in Ehrfurcht; für ihn war es ein weiteres, vielversprechendes Geschäftsfeld. Eine Chance auf hohe Investitionserträge, höher noch als bei der Vermietung von Wohnraum in Slums.

Also zurück nach Ontario, sagte ich mir. Ran an die Simulacra, unser neues Produkt, das Mr. Barrows herauslocken, uns für ihn wahrnehmbar machen soll. Das uns zu einem Teil der neuen Welt, ja uns lebendig machen soll.

Als ich die Straße zu MASA Associates hinauffuhr und nach einem Parkplatz Ausschau hielt, sah ich eine Menschenmenge, die sich vor unserem Firmengebäude versammelt hatte und in den Vorführraum blickte, den Maury hatte bauen lassen. Ich parkte und mischte mich unter die Leute.

Dort, im Vorführraum, saß die große, bärtige Gestalt von Abraham Lincoln an einem altmodischen Rollladensekretär aus Walnussholz. Der Sekretär gehörte meinem Vater, sie hatten ihn für die Lincoln aus Boise hierhergeholt. Das ärgerte mich etwas, doch ich musste zugeben, dass es passte. Die Maschine, die ganz ähnliche Kleidung trug wie die Stanton, schrieb gerade mit der Feder einen Brief. Der wirklichkeitsgetreue Eindruck, den sie machte, war wirklich verblüffend. Hätte ich es nicht besser gewusst, ich wäre überzeugt gewesen, dass es sich um einen auf unnatürliche Weise wieder zum Leben erweckten Lincoln handelte. Aber war es nicht genau das? Hatte Pris letztlich nicht doch recht?

Mir fiel ein Schild im Fenster auf; es erläuterte dem Publikum, was hier vor sich ging:

DIES IST EIN LEBENSECHTER NACHBAU DES SECHZEHNTEN PRÄSIDENTEN DER VEREINIGTEN STAATEN, ABRAHAM LINCOLN. ER WURDE HERGESTELLT VON MASA Associates IN ZUSAMMENARBEIT MIT DER ROSEN-ELEKTROORGELFABRIK IN BOISE, IDAHO. ER IST DER ERSTE SEINER ART. DAS GESAMTE GEDÄCHTNIS UNSERES GROSSEN BÜRGERKRIEGSPRÄSIDENTEN WURDE IN DER ZENTRALMONADENKONSTRUKTION DIESER MASCHINE EXAKT REPRODUZIERT; SIE IST DAMIT IN DER LAGE, SÄMTLICHE HANDLUNGEN, REDEN UND ENTSCHEIDUNGEN DES PRÄSIDENTEN WIEDERZUGEBEN. ANFRAGEN ERWÜNSCHT.

Die hochtrabenden Worte ließen eindeutig auf Maury schließen. Wütend schob ich mich durch die Menge und betrat den Vorführraum. In der Ecke auf einer Couch saßen Maury, Bob Bundy und mein Vater und sahen schweigend der Lincoln zu.

»Hey, Kumpel«, sagte Maury, als er mich erblickte.

»Und? Die Kosten schon wieder reingeholt?«

»Nein. Wir nehmen kein Geld dafür. Wir führen sie einfach nur vor.«

»Dieses Schild dort ist auf deinem Mist gewachsen, nicht wahr? Mit was für Passanten rechnest du, die Anfragen stellen? Warum lässt du die Kiste nicht Autowachs verkaufen oder Geschirrspülmittel? Warum lässt du sie nur dort sitzen und schreiben? Oder nimmt sie gerade an irgendeinem Preisausschreiben teil?«

»Sie erledigt eben ihre Korrespondenz.«

»Wo ist deine Tochter?«

»Sie kommt gleich wieder.«

Ich wandte mich meinem Vater zu. »Stört es dich nicht, dass die Maschine deinen Schreibtisch benutzt?«

»Nein, mein Sohn. Komm, rede mit ihr. Selbst wenn man sie unterbricht, legt sie eine verblüffende Gelassenheit an den Tag. Davon könnte ich mir eine Scheibe abschneiden.«

Ich hatte meinen Vater noch nie so nachdenklich erlebt. »Okay«, sagte ich und ging zu der schreibenden Gestalt hinüber. Draußen vor dem Schaufenster gafften die Leute. »Mr. President.« Meine Kehle war trocken. »Sir, ich störe Sie nur ungern.« Ich war nervös und mir doch gleichzeitig absolut darüber im Klaren, dass es sich nur um eine Maschine handelte. Zu ihr zu gehen und sie so anzusprechen, machte mich zu einem Bestandteil der Fiktion, zu einem ebensolchen Schauspieler wie sie. Aber mich hatte niemand programmieren müssen, ich spielte meine Rolle in diesem Unsinn freiwillig.

Warum sagte ich nicht einfach ›Mr. Simulacrum‹? Das war schließlich die Wahrheit. Die Wahrheit? Was hieß das denn? Wie bei einem kleinen Jungen, der im Kaufhaus zum Weihnachtsmann geht – die Wahrheit kundzutun, wäre wie sterben. Mein Sterben. Wollte ich das? Das Simulacrum würde nicht darunter leiden. Maury, Bundy und mein Vater würden es nicht einmal mitbekommen. Also machte ich weiter. Weil ich es war, den ich schützte.

Die Lincoln blickte auf, legte die Feder beiseite und sagte mit hoher, angenehmer Stimme: »Guten Tag. Ich nehme an, Sie sind Mr. Louis Rosen.«

»Ja, Sir.«

In diesem Moment explodierte der Raum. Der Rollladensekretär zersprang in tausend Stücke, die mir ins Gesicht flogen. Ich kniff die Augen zu und fiel nach vorn. Ich streckte noch nicht einmal die Hände aus, um den Aufprall abzufedern. Dunkelheit hüllte mich ein.

Oben im Büro auf einem Sofa kam ich wieder zu mir. Maury saß neben mir, rauchte eine seiner Corina Larks und hielt mir eine Flasche Haushaltsammoniak unter die Nase. »Jesus«, sagte er, als er merkte, dass ich wieder bei Bewusstsein war. »Du hast eine Beule an der Stirn und eine Platzwunde an der Lippe.«

Ich hob die Hand und befühlte die Beule. Sie schien die Größe einer Zitrone zu haben. Und ich hatte Fetzen von meiner Lippe auf der Zunge. »Ich bin ohnmächtig geworden.«

»Ach, wirklich?«

Nun sah ich auch meinen Vater. Und Pris Frauenzimmer in ihrem langen grauen Leinenmantel, die auf und ab ging und mich halb amüsiert, halb verächtlich betrachtete. »Ein Wort von ihr«, sagte sie, »und du fällst um. Meine Güte!«

Ich rieb mir die Augen. »Ja, und?«

Maury sah seine Tochter grinsend an. »Das beweist, dass sie wirkt.«

»Was… hat die Lincoln gemacht? Nachdem ich umgefallen bin?«

»Sie hat dich genommen und nach oben getragen.«

»Wirklich?«

»Warum bist du überhaupt ohnmächtig geworden?« Pris beugte sich über mich, starrte mich eindringlich an. »Du Idiot! Aber gut, die Leute waren jedenfalls hin und weg. Du hättest sie hören sollen. Man hätte meinen können, wir hätten Gott zusammengeschraubt oder so was. Sie haben wirklich gebetet, und ein paar alte Damen haben sich bekreuzigt. Und andere, du wirst es kaum glauben…«

»Schon gut, Pris.«

»Lass mich ausreden.«

»Nein. Halt den Mund, ja?«

Wir funkelten einander an, dann richtete sich Pris auf. »Weißt du eigentlich, dass deine Lippe aufgeplatzt ist? Du solltest sie nähen lassen.«

Ich berührte meine Lippe und stellte fest, dass sie immer noch blutete. Vielleicht hatte Pris recht.

»Ich bring dich zu einem Arzt.« Sie ging zur Tür. »Komm.«

»Das braucht nicht genäht zu werden«, murmelte ich. Trotzdem stand ich auf und folgte ihr wacklig.

Während wir im Flur auf den Fahrstuhl warteten, sagte Pris: »Du bist nicht gerade der Mutigste, hm?«

Ich antwortete nicht.

»Du hast schlimmer reagiert als ich, schlimmer als alle bisher. Das überrascht mich. Du bist offenbar weniger stabil, als wir dachten. Eines Tages, unter Stress, wird sich das gravierend bemerkbar machen. Eines Tages wirst du schwerwiegende psychische Probleme bekommen.«

Der Fahrstuhl kam, wir traten ein, die Türen schlossen sich. Ich sah sie an. »Ist es denn so schlimm, eine Reaktion zu zeigen?«

»In Kansas City habe ich gelernt, wie man erst dann eine Reaktion zeigt, wenn es im ureigenen Interesse ist. Das hat mich gerettet, das hat mich da wieder rausgebracht. Ein extremer Effekt ist immer ein schlechtes Zeichen, wie in deinem Fall. Es zeugt von mangelhafter Anpassung. In Kansas City sagt man Parataxie dazu -Emotionalität drängt sich in zwischenmenschliche Beziehungen und verkompliziert sie. Wobei es keine Rolle spielt, ob man dabei Hass oder Neid oder, wie in deinem Fall, Angst ausagiert – alles bloß Parataxie. Und wenn die Gefühle übermäßig stark werden, hast du eine psychische Erkrankung. Und wenn sie völlig die Kontrolle übernehmen, hast du Schizophrenie, wie bei mir vor einer Weile. Das ist das Schlimmste.«

Ich tupfte mit einem Taschentuch an meiner Lippe herum. Mir war klar, dass es keine Möglichkeit gab, Pris meine Reaktion begreifbar zu machen; ich versuchte es gar nicht erst.

»Soll ich es küssen? Damit es wieder gut wird.«

Ich warf ihr einen wütenden Blick zu, doch dann erkannte ich, dass sie wirklich Mitgefühl empfand. »Das wird schon wieder.« Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge. »Weißt du, Erwachsene reden nicht so miteinander. Küssen, damit es wieder gut wird…«

»Ich will dir nur helfen.« Sie sah mich traurig an. »Ach, Louis – es ist vorbei.«

»Was ist vorbei?«

»Sie lebt. Ich kann sie nie wieder anrühren. Was soll ich jetzt tun? Ich habe kein Ziel mehr.«

»Ach, Pris.«

»Mein Leben ist leer, ich könnte ebenso gut tot sein. Mein ganzes Tun und Denken ist nur um die Lincoln gekreist.« Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und wir traten in die Eingangshalle hinaus. »Ist es dir wichtig, zu was für einem Arzt du gehst? Ich bring dich am besten gleich zu der Praxis weiter die Straße hinunter.«

»Gut.«

Wir stiegen in den Jaguar. »Sag mir, was ich machen soll, Louis. Ich muss sofort irgendetwas machen.«

»Du wirst da schon wieder rauskommen.«

»So habe ich mich noch nie gefühlt.«

»Lass dich doch zum Papst wählen.« Es war das Erste, was mir in den Kopf gekommen war; es war völlig hirnrissig.

»Sehr witzig. Ich wünschte, ich wäre ein Mann. Frauen ist so viel verwehrt. Ihr könnt alles werden, aber was kann eine Frau schon werden? Hausfrau oder Verkäuferin oder Schreibkraft oder Lehrerin.«

»Werd doch Ärztin. Nähe verletzte Lippen.«

»Ich kann kranke oder behinderte Menschen nicht ertragen. Darum bringe ich dich ja zum Arzt. Ich kann dich gar nicht ansehen, verstümmelt wie du bist.«

»Ich bin nicht verstümmelt. Ich habe nur eine aufgeplatzte Lippe!«

Pris ließ den Motor an und fädelte in den Verkehr ein. »Ach, ich lass es einfach gut sein mit der Lincoln. Von nun an ist sie nur noch eine Sache. Etwas, das sich vermarkten lässt.«

Ich nickte.

»Ich werde dafür sorgen, dass Sam Barrows sie kauft. Eine andere Aufgabe habe ich nicht. Von nun an wird sich mein gesamtes Denken und Tun um Sam Barrows drehen.«

So sehr mich ihre Worte auch zum Lachen reizten, ich brauchte sie nur anzusehen – in ihrem Gesicht stand eine solche Niedergeschlagenheit, ein solcher Mangel an Zufriedenheit oder Freude oder auch nur Humor, dass ich lediglich nicken konnte. Während Pris mich zum Arzt fuhr, damit meine Lippe genäht wurde, hatte sie offenbar einen heiligen Eid geleistet. Darin lag etwas Manisches, und mir war klar, dass es aus lauter Verzweiflung geschehen war. Sie ertrug es nicht, auch nur einen Moment ohne Beschäftigung zu sein; sie brauchte ein Ziel. Das war ihre Art, der Welt einen Sinn abzutrotzen.

»Weißt du, Pris, dein Problem ist, dass du so rational bist.«

»Aber das bin ich gar nicht. Alle sagen, dass ich immer das tue, wonach mir der Sinn steht.«

»Nein, du wirst von einer unerbittlichen Vernunft getrieben. Und die musst du loswerden. Sag Horstowski das. Sag ihm, er soll dich von dieser Vernunft befreien. Du wirkst, als ob dein Leben auf einem geometrischen Beweis beruhen würde. Mach mal etwas Unvernünftiges. Bring mich nicht zum Arzt, sondern setz mich stattdessen bei einem Schuhputzer ab, damit er mir die Schuhe poliert.«

»Deine Schuhe sind schon poliert.«

»Siehst du? Siehst du, wie du ständig vernünftig sein musst? Halt an der nächsten Kreuzung an, und wir steigen beide aus und lassen das Auto stehen. Oder wir gehen in einen Blumenladen und kaufen Blumen und bewerfen die anderen Autos damit.«

»Und wer bezahlt die Blumen?«

»Wir klauen sie. Wir rennen ohne zu bezahlen wieder raus.«

»Lass mich kurz darüber nachdenken.«

»Nachdenken? Bloß nicht! Hast du je etwas geklaut als Kind? Oder einfach nur aus Spaß etwas kaputt gemacht, irgendetwas, das der Allgemeinheit gehört – eine Straßenlaterne?«

»Ich hab mal im Laden an der Ecke einen Schokoriegel mitgehen lassen.«

»Dann machen wir das jetzt. Wir suchen uns einen Laden an der Ecke und sind wieder Kinder. Wir lassen jeder einen Schokoriegel mitgehen und suchen uns einen Platz auf einer Wiese und essen ihn.«

»Mit deiner Lippe kannst du doch gar nicht essen.«

Das verschlug mir kurzzeitig die Stimme. »Gut, zugegeben. Aber das gilt nur für mich, stimmt’s? Du könntest jederzeit in einen Laden gehen und es tun, auch ohne mich.«

»Würdest du trotzdem mitkommen?«

»Wenn du das willst. Oder ich warte draußen mit laufendem Motor, damit wir schnell abhauen können.«

»Nein, ich möchte, dass du mit in den Laden kommst. Du kannst mir zeigen, welchen Schokoriegel ich nehmen soll. Ich brauche deine Hilfe.«

»Okay.«

»Welche Strafe steht denn auf so was?«

»Ewiges Leben.«

»Du machst Witze.«

»Nein, ich meine es ernst.« Und ich meinte es tatsächlich ernst.

»Machst du dich über mich lustig? Wirke ich so lächerlich, liegt es daran?«

»Gott, nein.«

»Du musst wissen, dass ich alles glaube. In der Schule haben sie mich immer wegen meiner Leichtgläubigkeit gehänselt. ›Alice im Dummerland‹ haben sie mich genannt.«

»Komm mit in den Laden, Pris, dann beweise ich dir, dass ich es ernst meine. Ich will dich retten.«

»Vor was denn retten?«

»Vor deinem Verstand.«

Ich sah, wie sich ihr Gesicht verzog, wie sie mit sich selbst kämpfte, herauszufinden versuchte, was sie tun sollte. Sie wandte sich mir zu. »Louis, ich glaube dir das mit dem Laden. Ich weiß, dass du dich nie über mich lustig machen würdest. Du kannst mich vielleicht nicht ausstehen – du empfindest Hass auf mich, auf vielen Ebenen –, aber du bist nicht die Sorte Mensch, die daraus Vergnügen zieht, Schwächere zu verhöhnen.«

»Du bist nicht schwach.«

»Doch. Aber dir fehlt das Gespür, das wahrzunehmen. Das ist in Ordnung, Louis. Ich bin genau andersherum – ich habe das Gespür und bin nicht in Ordnung.«

»In Ordnung, nicht in Ordnung. Hör auf damit, Pris. Du bist deprimiert, weil deine Arbeit an der Lincoln beendet ist. Du weißt gerade nichts mit dir anzufangen, und wie viele andere kreative Menschen hast du ein Tief zwischen dem einen und…«

»Da ist die Praxis.« Pris hielt an.

Nachdem mich der Arzt untersucht und wieder entlassen hatte, ohne die Notwendigkeit zu sehen, irgendetwas zu nähen, gelang es mir, Pris zu einem kurzen Kneipenbesuch zu überreden. Ich brauchte dringend etwas zu trinken. Ich sagte ihr, es sei etwas, das wir tun mussten, das von uns erwartet wurde, eine Art zu feiern. Wir hatten mitangesehen, wie die Lincoln zum Leben erwacht war, und das war ein großer Moment, vielleicht der größte Moment unseres Lebens. Und doch lag in diesem Moment auch etwas Unheilvolles, Trauriges, etwas, das uns alle verstörte.

»Ein Bier, mehr nicht«, sagte Pris, während wir den Gehsteig überquerten.

In der Kneipe bestellte ich ein Bier für sie und einen Irish Coffee für mich. »Ja, ich kann mir vorstellen, dass du dich hier wohlfühlst«, sagte sie. »Du verbringst viel Zeit damit, in Kneipen herumzuhocken, stimmt’s?«

»Ich muss dich mal was fragen, Pris. Glaubst du das, was du da ständig über andere sagst, eigentlich selbst? Oder plapperst du einfach nur drauflos, Hauptsache, der andere fühlt sich schlecht dabei?«

»Was denkst du?«

»Keine Ahnung.«

»Warum willst du das überhaupt wissen?«

»Mich interessiert einfach alles, was dich betrifft. Die kleinsten Kleinigkeiten.«

»Warum?«

»Du hast eine faszinierende Geschichte. Schizoid mit zehn, zwangsneurotisch mit dreizehn, vollständig schizophren und unter staatlicher Aufsicht mit siebzehn, jetzt halbwegs geheilt und zurück in der Welt, aber immer noch…« Ich schluckte. Nein, das war nicht der Grund. Nicht ihre Geschichte. »Okay, ich werde dir die Wahrheit sagen. Ich liebe dich.«

»Du lügst.«

»Gut, ich könnte dich lieben.«

»Wenn was wäre?« Sie wirkte jetzt äußerst nervös, ihre Stimme bebte.

»Ich weiß nicht. Irgendetwas hält mich zurück.«

»Angst.«

»Vielleicht. Ja, vielleicht ist es einfach nur Angst.«

»Machst du dich lustig über mich, Louis?«

»Nein.«

Sie lachte kurz auf. »Wenn du deine Angst besiegen würdest, könntest du eine Frau für dich gewinnen. Nicht mich, aber irgendeine andere. Ich kann gar nicht fassen, dass du das zu mir gesagt hast. Louis, wir sind so verschieden, wie es nur geht, siehst du das nicht? Du zeigst deine Gefühle, ich behalte sie für mich. Wie wäre das wohl, wenn wir ein Kind hätten… Ich kann Frauen nicht verstehen, die ständig Kinder haben wollen, sie sind wie Hundeweibchen – jedes Jahr ein Wurf.« Sie sah mich aus dem Augenwinkel an. »Das ist ein Buch mit sieben Siegeln für mich. Sie finden Erfüllung durch ihre Fortpflanzungsorgane. Ich bin solchen Frauen begegnet, aber ich könnte nie so sein. Ich bin unglücklich, wenn ich nicht etwas mit meinen eigenen Händen tun kann. Warum ist das so?«

»Weiß ich nicht.«

»Es muss eine Erklärung dafür geben, alles hat einen Grund. Weißt du, Louis, ich kann mich nicht mehr richtig erinnern, aber ich glaube nicht, dass je irgendjemand gesagt hat, er sei in mich verliebt.«

»Ach, bestimmt. Jungs in der Schule.«

»Nein, du bist der Erste. Keine Ahnung, wie ich darauf reagieren soll. Ich weiß nicht mal, ob es mir gefällt. Es fühlt sich komisch an.«

»Nimm es einfach an.«

»Liebe und Kreativität… Wir setzen mit der Stanton und der Lincoln Kinder in die Welt. Liebe und Kinder kriegen – beides hängt miteinander zusammen, nicht? Man liebt, was man in die Welt setzt, und da du mich liebst, Louis, willst du auch mit mir zusammen etwas Neues in die Welt setzen, oder nicht?«

»Denke schon.«

»Wir sind wie Götter. Stanton und Lincoln, eine neue Spezies… Aber während wir ihnen das Leben schenken, bleibt in uns selbst eine Leere zurück. Fühlst du dich nicht auch leer?«

»Nein, überhaupt nicht.«

»Du bist eben anders als ich. Du hast kein Gespür für das, was wir getan haben. Gehst hier in diese Kneipe… Das war ein spontaner Impuls, dem du nachgegeben hast, nicht wahr? Maury und Bob und dein Vater und die Stanton sind immer noch bei MASA, bei der Lincoln – du denkst gar nicht an sie, du willst hier sitzen und etwas trinken.« Sie lächelte mich an.

»Kann schon sein.«

»Ich langweile dich, oder? Du interessierst dich gar nicht für mich, interessierst dich nur für dich selbst.«

»Das stimmt, du hast recht.«

»Warum hast du dann gesagt, du willst alles über mich wissen? Warum hast du gesagt, dass du mich lieben könntest und nur diese Angst dich daran hindert?«

»Weiß ich nicht.«

»Siehst du nie in den Spiegel und versuchst, deine Motive zu verstehen? Ich analysiere mich ständig selbst.«

»Pris, denk mal für einen Moment lang nach. Du bist nur ein Mensch von vielen, nicht besser, nicht schlechter. Tausende von Amerikanern sind in psychiatrischer Behandlung. Tausende kriegen Schizophrenie und fallen unter den McHeston Act. Du bist attraktiv, zugegeben, aber jedes x-beliebige Starlet aus Schweden oder Italien sieht noch besser aus. Deine Intelligenz ist…«

»Du versuchst doch nur dich selbst zu überzeugen.«

»Bitte?«

»Du bist es doch, der mich auf ein Podest stellt, schon vergessen?«

Ich schob mein Glas weg. »Fahren wir zurück.« Der Alkohol brannte scharf auf meiner Lippe.

»Habe ich etwas Falsches gesagt? Du bist so ambivalent mir gegenüber…«

Ich legte ihr die Hand auf den Arm. »Trink aus. Lass uns fahren.«

Als wir die Kneipe verließen, sagte Pris matt: »Du bist schon wieder sauer auf mich.«

»Nein.«

»Ich versuche nur, nett und höflich zu dir zu sein, aber ich ecke jedes Mal an. Es ist ein Fehler, mich so gekünstelt zu benehmen. Ich hab dir ja gesagt, ich sollte keine Handlungsmuster annehmen, die mir nicht liegen. Das geht nie gut.« In ihren Worten schwang ein Vorwurf mit, so als wäre es meine Idee gewesen.

»Hör zu, Pris«, sagte ich, als wir in den Jaguar einstiegen. »Wir fahren zurück und widmen uns entschlossen der Aufgabe, Sam Barrows für uns zu gewinnen. Okay?«

»Nein, das kann nur ich tun. Du hast damit nichts zu schaffen.«

Ich klopfte ihr auf die Schulter. »Weißt du, ich empfinde jetzt viel mehr Sympathie für dich als vorher. Ich glaube, wir sind gerade dabei, eine gute, stabile Beziehung zueinander aufzubauen.«

»Vielleicht.« Pris hatte den sarkastischen Unterton offenbar nicht wahrgenommen. Sie lächelte mich an. »Ich hoffe, Louis. Die Menschen sollten einander verstehen.«

Als wir wieder bei MASA waren, kam uns Maury aufgeregt entgegen. »Warum habt ihr so lange gebraucht?« Er zog ein Blatt Papier hervor. »Ich habe Sam Barrows ein Telegramm geschickt. Hier, lies mal.« Er drückte es mir in die Hand.

Ich faltete das Blatt auseinander.

Empfehle dringend Ihre sofortige Anreise. Lincoln-Simulacrum durchschlagender Erfolg. Erbitte Ihre Entscheidung. Halte Exemplar für erste Prüfung bereit wie telefonisch besprochen. Es übertrifft kühnste Erwartungen. Hoffe, noch heute von Ihnen zu hören.

Maury Rock,


MASA Associates

»Und hat er schon geantwortet?«, fragte ich.

»Noch nicht, aber es ist auch gerade erst rausgegangen.«

Jetzt kam auch Bob Bundy und sah mich an. »Mr. Lincoln hat mich gebeten, Ihnen sein Bedauern auszudrücken. Es erkundigt sich, wie es Ihnen geht.« Bundy selbst schien ziemlich durch den Wind zu sein.

»Sagen Sie ihm, dass es mir gut geht. Und dass ich ihm danke.«

»Okay.« Der Techniker verzog sich wieder.

Ich wandte mich Maury zu. »Ich muss zugeben, ihr habt da wirklich ein Pfund in der Hand. Offenbar habe ich mich getäuscht.«

»Schön, dass du wieder zur Vernunft kommst.«

»Freut euch nur nicht zu früh«, sagte Pris.

Maury zog an seiner Corina. »Wir haben einen Haufen Arbeit vor uns. Ich bin mir sicher, dass wir Barrows’ Interesse geweckt haben. Aber worauf wir unbedingt achten müssen…« Er senkte die Stimme. »Ein Mann wie er kann uns beiseitefegen wie Streichhölzer. Hab ich recht, Kumpel?«

»Absolut.« Das hatte ich mir auch schon überlegt.

»Er hat das vermutlich schon tausendmal gemacht mit kleinen Firmen. Wir müssen die Reihen schließen, wir vier. Oder fünf, wenn man Bob Bundy mitzählt. Richtig?« Er sah Pris und mich und meinen Vater an, der sich zu uns gestellt hatte.

»Vielleicht solltet ihr damit zur Regierung, Maurice.« Mein Vater sah mich an. »Was meinst du, mein Sohn?«

»Er hat Barrows schon kontaktiert. Womöglich ist er schon auf dem Weg hierher.«

»Auch wenn er hierher kommt«, sagte Maury, »können wir immer noch nein sagen. Wenn wir der Meinung sind, wir sollten damit lieber nach Washington.«

»Frag doch die Lincoln.«

»Was?« Pris warf mir einen scharfen Blick zu. »Du hast sie doch nicht mehr alle.«

»Nein, im Ernst. Holen wir uns ihren Rat.«

»Und was bitte schön weiß ein hinterwäldlerischer Politiker aus dem letzten Jahrhundert über Sam K. Barrows?«

»Vielleicht mehr als du.«

»Wir wollen uns nicht streiten, Leute«, ging Maury dazwischen. »Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung. Ich denke, wir sollten weitermachen und Barrows die Lincoln vorführen, und wenn es aus irgendeinem Grund…« Er brach ab. Das Telefon klingelte. Er ging ran. »MASA Associates, Maury Rock.«

Stille. Maury wandte sich uns zu und formte ein Wort mit den Lippen: Barrows.

Das war’s, dachte ich. Die Würfel sind gefallen.

»Ja, Sir«, sagte Maury in den Hörer. »Wir holen Sie vom Flughafen ab. Ja, wir sind dann dort.« Sein Gesicht glühte, er blinzelte mir zu.

»Wo ist die Stanton?«, fragte ich meinen Vater.

»Was meinst du?«

»Die Stanton-Maschine – ich sehe sie nirgends.« Mir fiel ein, wie abschätzig sie sich über die Lincoln geäußert hatte. Ich wandte mich Pris zu. »Wo ist die Stanton?«

»Weiß nicht. Bundy hat sie irgendwohin verfrachtet, vermutlich nach unten in die Werkstatt.«

»Einen Moment bitte.« Maury senkte den Hörer und sah mich an. Sein Gesicht hatte einen merkwürdigen Ausdruck angenommen. »Die Stanton ist in Seattle. Bei Barrows.«

»Oh nein«, flüsterte Pris.

»Sie hat gestern Nacht den Greyhound-Bus genommen. Ist heute Morgen dort angekommen und schnurstracks zu ihm gegangen. Barrows sagt, sie haben sich in aller Ausführlichkeit miteinander unterhalten. Er hat unser Telegramm noch nicht bekommen. Er ist an der Stanton interessiert. Soll ich ihm von der Lincoln erzählen?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Warum nicht? Das Telegramm ist ja eh unterwegs.«

»Mr. Barrows«, sagte Maury ins Telefon. »Wir haben Ihnen gerade ein Telegramm geschickt. Ja, wir haben die Lincoln-Maschine zum Laufen gebracht, und sie ist phantastisch, noch besser als die Stanton.« Er sah mich an. »Sir, die Stanton wird Sie auf dem Flug doch begleiten, oder? Wir möchten sie unbedingt zurückhaben.« Pause, dann senkte Maury erneut den Hörer. »Barrows sagt, die Stanton möchte noch einen Tag in Seattle bleiben und sich die Sehenswürdigkeiten anschauen. Sie will sich die Haare schneiden lassen und die Bibliothek besuchen, und wenn ihr die Stadt gefällt, will sie dort vielleicht sogar eine Kanzlei eröffnen und sich dort niederlassen.«

»Jesus!« Pris ballte die Fäuste. »Sag ihm, er soll sie überreden, zurückzukommen.«

Maury nahm den Hörer wieder auf. »Können Sie sie nicht davon überzeugen, dass sie Sie begleitet, Mr. Barrows?« Wieder Stille. »Sie ist weg«, wandte er sich an uns. »Sie hat sich von Barrows verabschiedet und ist gegangen.« Er runzelte die Stirn.

»Egal«, sagte ich. »Mach das mit dem Flug klar.«

»Ja.« Maury nickte und sagte in den Hörer: »Sie wird schon zurechtkommen. Sie hatte doch Bargeld, oder?« Stille. »Sie haben ihr zwanzig Dollar gegeben. Gut. Wir holen Sie ab. Die Lincoln ist noch um einiges besser. Ja, Sir. Danke. Auf Wiederhören.« Er legte auf und blickte zu Boden. »Ich habe nicht mal gemerkt, dass sie weg war. Glaubt ihr, sie war verärgert wegen der Lincoln?«

Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sinnlos, über vergossene Milch zu jammern.«

»Ja.« Maury biss sich auf die Lippen. »Aber ihre Batterie hält sechs Monate. Wer weiß, ob wir sie dieses Jahr noch mal zu sehen bekommen. Immerhin haben wir da ein paar tausend Dollar reingesteckt… Und was ist, wenn Barrows uns an der Nase herumführt? Vielleicht hat er sie ja in irgendeinen Tresor eingeschlossen.«

»Dann würde er nicht hierher kommen«, sagte Pris. »Wahrscheinlich war es sogar gut so. Ohne die Stanton würde Barrows vielleicht gar nicht kommen. Das Telegramm allein hätte vermutlich nicht ausgereicht. Und wenn die Stanton sich nicht abgesetzt hätte, hätte er sie sich womöglich unter den Nagel gerissen, und wir wären jetzt draußen. Richtig?«

»Ja«, gab Maury verdrießlich zu.

Mein Vater räusperte sich. »Aber Mr. Barrows ist ein ehrenwerter Mann. Wo er doch so viel soziales Engagement an den Tag legt – dieser Brief, den mein Sohn mir gezeigt hat, über die Mieter, die er beschützt.«

Maury nickte.

Pris klopfte meinem Vater auf die Schulter. »Ja, Jerome. Er ist ein sehr engagierter Mann. Er wird dir gefallen.«

Mein Vater strahlte erst Pris an, dann mich. »Na, sieht doch ganz danach aus, dass sich alles zum Guten wendet, nicht wahr?«

Wir nickten alle, auf unseren Gesichtern eine Mischung aus Bedrückung und Angst.

Die Tür ging auf, und Bob Bundy kam herein, ein zusammengefaltetes Blatt in der Hand. Er gab es mir. »Ein Brief von Lincoln.«

Ich faltete ihn auf.

Sehr geehrter Mr. Rosen,


ich möchte mich nach Ihrem Zustand erkundigen. In der Hoffnung, dass es Ihnen ein wenig besser geht.


Hochachtungsvoll


A. Lincoln

»Ich gehe mich mal bedanken«, sagte ich zu Maury.

»Ja, tu das.«

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