Die Messerkönigin



Das Wiedererscheinen der Dame ist eine Frage des persönlichen Geschmacks.


Will Goldston,


Tricks and Illusions


Als ich ein Junge war, besuchte ich

von Zeit zu Zeit meine Großeltern

(alte Leute: Ich wusste, sie waren alt –

Süßigkeiten blieben bei ihnen

ungegessen, bis ich zu Besuch kam,

das also ist Altern).

Bei Sonnenaufgang machte Großvater immer das Frühstück:

Eine Kanne mit Tee für sie und ihn und mich,

Toast und Orangenmarmelade

(Silberglitzer und Gold). Mittag- und Abendessen

waren Großmutters Ressort, die Küche dann

wieder ihre Domäne, all die Pfannen und Löffel

Der Fleischwolf, Schneebesen und Messer ihre treuen Untertanen.

Sie bereitete das Essen mit ihnen, sang ihre Liedchen dabei

Gänseblümchen, gib mir doch Antwort

oder manchmal:

Du hast meine Liebe gestohlen, ich wollt sie nicht geben,

Ich wollt sie nicht geben.

Sie hatte keine Stimme, jedenfalls keine besondere.

Die Tage waren beschaulich.

Mein Großvater verbrachte die Zeit oben im Dachgeschoss,

seiner winzigen Dunkelkammer, die ich nie betreten durfte,

brachte Papiergesichter aus der Dunkelheit,

lächelnde Fremde in den Ferien.

Meine Großmutter machte graue Spaziergänge mit mir auf der Promenade.

Meist erforschte ich

die nasse kleine Wiese hinterm Haus,

das Brombeergebüsch und den Gartenschuppen.

Es waren schwierige Tage für die Großeltern,

gezwungen, einen kleinen Jungen zu unterhalten, und so

gingen sie eines Abends mit mir ins King’s Theatre.

Ins King’s …

Varieté!

Das Licht schwand, der rote Vorhang hob sich.

Ein gefeierter Komiker der damaligen Zeit

trat auf, stammelte seinen Namen (sein Standardwitz),

brachte eine Glasscheibe zum Vorschein und stellte sich halb dahinter,

hob den sichtbaren Arm und das Bein,

im Spiegel

schien er zu fliegen – es war sein Markenzeichen,

also lachten und klatschten wir. Er erzählte ein, zwei Witze,

ziemlich schlecht. Seine unbeholfene Tollpatschigkeit –

sie zu sehen waren wir hergekommen.

Konfus, glatzköpfig und kurzsichtig,

erinnerte er mich ein wenig an Großvater.

Dann ging der Komiker ab.

Ein paar Damen tanzten und zeigten die Beine.

Ein Sänger sang ein Lied, das ich nicht kannte.

Alte Leute bildeten das Publikum,

wie meine Großeltern, ruhebedürftig und im Ruhestand,

und sie alle lachten und applaudierten.

In der Pause stellte Großvater

sich für ein Schokoeis und zwei Eisbecher an.

Wir löffelten, während das Licht wieder verlosch.

Der Brandschutzvorhang hob sich, dann der richtige.

Die Damen tanzten noch einmal,

dann grollte Donner, Rauch stieg in Wolken auf,

ein Zauberer erschien und wir klatschten.

Eine Dame kam lächelnd aus der Seitenkulisse:

glitzernd. Schimmernd. Lächelte.

Wir sahen zu ihr und in dem Moment wuchsen Blumen

und Seidenwimpel flatterten von seinen Fingerspitzen.

Die Flaggen aller Länder, sagte Großvater und stupste mich.

Sie waren im Ärmel.

Seit er jung gewesen war

(ich konnt ihn mir nicht als Kind vorstellen),

war mein Großvater laut eigener Angaben

immer einer von denen, die wussten, wie Dinge funktionierten.

Er hatte sein eigenes Fernsehen gebaut,

hatte Großmutter erzählt, gleich nach ihrer Hochzeit;

es war riesengroß, auch wenn der Bildschirm ganz klein war.

Das war in den Tagen vor den Fernsehsendungen;

doch sie schauten trotzdem hinein,

nicht sicher, ob es Leute oder Geister waren, die sie sahen.

Er hatte auch ein Patent für irgendeine Erfindung,

doch es wurde nie etwas draus;

kandidierte für den Stadtrat, aber er wurde nur Dritter.

Rasierer oder Radio, alles konnte er reparieren,

Filme entwickeln oder ein Puppenhaus bauen.

(Das Puppenhaus gehörte meiner Mutter. Es stand noch zu Hause,

schäbig und alt stand es auf dem Rasen, nassgeregnet und vergessen.)

Die Glitzerdame fuhr eine Kiste herein.

Die Kiste war groß: wie ein Erwachsener so hoch und schwarz.

Sie öffnete die Front.

Sie drehten sie um und klopften auf die Wände.

Die Dame stieg hinein, immer noch lächelnd.

Der Zauberer schloss die Tür.

Als sie wieder aufging, war die Frau fort.

Er verneigte sich.

Spiegel, erklärte Großvater. In Wirklichkeit ist sie noch drin.

Auf eine Geste hin fiel die Kiste in sich zusammen.

Falltür, versicherte Großvater;

Großmama zischte: Sei still!

Der Zauberer lächelte, die Zähne klein und eng.

Er schritt langsam hinaus ins Publikum,

wies auf meine Großmutter, verneigte sich,

ein formvollendeter Diener,

und bat sie, ihm auf die Bühne zu folgen.

Das Publikum klatschte, jubelte.

Großmutter zierte sich. So nah war ich

dem Zauberer, dass ich sein Aftershave roch,

und wisperte: »Ich, o bitte ich …« Doch

er streckte die langen Finger nach Großmutter aus.

Geh nur, Perle, sagte Großvater. Geh mit dem Mann.

Meine Großmutter war damals … sechzig vielleicht.

Hatte gerade zu rauchen aufgehört

und wollte ein paar Pfund verlieren. Stolz war sie

vor allem auf ihre Zähne, die, wenn auch fleckig, doch noch ihre eigenen waren.

Großvater hatte seine schon als Junge verloren,

beim Rad fahren. Ihm kam der Gedanke,

sich an einen Bus anzuhängen, um schneller voran zu kommen.

Der Bus machte eine Kurve, Großvater küsste den Asphalt.

Abends beim Fernsehen aß sie harte Lakritze

oder Karamellbonbons, vielleicht damit er es bereute.

Sie stand also auf, etwas zögerlich.

Stellte den halbleeren Eisbecher ab

mit dem kleinen Holzlöffel –

schritt den Mittelgang entlang, die Stufen hinauf,

betrat dann die Bühne.

Der Magier applaudierte ihr wieder:

Ein williges Opfer. Und genau das war sie. Ein Opfer.

Noch eine Glitzerfrau kam auf die Bühne,

brachte noch eine Kiste …

Diese war rot.

Das ist sie. Großvater nickte. Die,

die eben verschwunden ist. Siehst du? Das ist sie.

Möglich. Alles, was ich erkannte,

war eine Frau, die funkelte, gleich neben Großmutter

(die an ihrer Kette spielte und verlegen wirkte).

Die Glitzerfrau wandte sich lächelnd an uns und gefror,

wurde zur Statue. Schaufensterpuppe.

Der Zauberer brachte die Kiste

mühelos

vorn an den Bühnenrand, wo Großmutter wartete.

Ein, zwei Sätze Smalltalk:

wo kam sie her, ihr Name, solche Sachen.

War sie ihm je zuvor begegnet? Sie schüttelt den Kopf.

Der Magier öffnet die Tür,

meine Großmutter tritt ein.

Vielleicht ist es nicht die gleiche, räumt Großvater ein,

versonnen,

Ich glaub, sie hatte dunklere Haare, die andere.

Ich wusste es nicht.

Ich war stolz auf Großmutter und ebenso verlegen,

hoffte, sie werde nichts Peinliches tun,

vor allem keins ihrer Lieder singen.

Sie ging in die Kiste. Sie schlossen die Tür.

Er öffnete eine Klappe am oberen Ende, eine kleine Tür. Wir sahen

Großmutters Gesicht. Perle? Alles in Ordnung, Perle?

Großmutter lächelte und nickte.

Der Magier schloss die Tür.

Die Dame gab ihm einen langen Kasten,

den er öffnete. Entnahm ihr ein Schwert

und rammte es durch die Kiste.

Und noch eines und noch eines

und mein Großvater lachte und erklärte:

Die Klinge gleitet ins Heft zurück und eine zweite

kommt an der anderen Seite heraus.

Dann ergriff er eine Metallscheibe, die

er auf halber Höhe in die Kiste einschob.

Sie trennte sie mitten durch. Die beiden,

die Frau und der Mann, hoben die obere

Hälfte der Kiste ab und stellte sie auf die Bühne,

mit meiner halben Großmama drin.

Die Oberhälfte.

Er öffnete die kleine Klappe und einen Augenblick

strahlte Großmutters Gesicht uns an, vertrauensvoll.

Als er die Klappe eben schloss,

ist sie durch eine Falltür gestiegen

und jetzt steht sie in einer Vertiefung,

vertraute Großvater mir an.

Wenn es vorbei ist, erklärt sie uns alles.

Ich wünschte, er würde nicht reden; ich brauchte den Zauber.

Zwei Messer durch die halbierte Kiste

etwa in Halshöhe.

Bist du noch da, Perle? fragte der Magier. Lass etwas hören,

kennst du keine Lieder?

Großmutter sang Gänseblümchen.

Er hob einen Teil der Kiste hoch,

den mit dem Kläppchen – das Kopfteil –

und ging damit umher und sie sang

Gänseblümchen, erst an der einen Bühnenseite,

dann an der anderen.

Das macht er, sagte Großvater. Er verstellt seine Stimme.

Klingt wie Großmama, sagte ich.

Natürlich tut es das, sagte er, natürlich.

Er ist gut, sagt er. Er ist wirklich gut.

Der Magier öffnete die Kiste erneut,

jetzt hutschachtelgroß. Großmutter war fertig mit Gänseblümchen.

Jetzt sang sie ein Lied, das ging:

Nach London woll’n wir fahren, wo wir zu Hause waren

zurück, zurück, zurück, wir fahren heut zurück

zurück nach London Town.

Sie war in London geboren. Erzählte mir seltsame Geschichten.

Dann und wann und dann

aus ihrer Kindheit. Von den Kindern, die in ihres Vaters Laden stürmten

und Shonky shonky sheeny riefen und wieder fortliefen.

Nie ließ sie mich schwarze Hemden tragen, weil,

so sagte sie, die sie an die Märsche durchs East End erinnerten.

Mosleys Schwarzhemden. Ihre Schwester hatte ein blaues Auge bekommen.

Der Zauberer nahm ein Küchenmesser,

schob es langsam in die rote Hutschachtel.

Und dann verstummte der Gesang.

Er stapelte die Kisten wieder auf,

zog die Messer und Schwerter heraus, Stück um Stück.

Er öffnete die Klappe im oberen Teil: Großmutter lächelte,

verlegen, zeigte ihre alten Zähne.

Er schloss das Türchen, versperrte uns die Sicht.

Zog das letzte Messer heraus.

Öffnete die ganze Frontseite

und sie war fort.

Eine Geste und auch die rote Kiste war fort.

Sie ist in seinem Ärmel, erklärte Großvater, doch er schien unsicher.

Der Magier ließ zwei Tauben von einem brennenden Teller aufsteigen.

Eine Rauchwolke – und er war selbst verschwunden.

Sie wird unter der Bühne sein oder dahinter,

sagte Großvater,

mit einer schönen Tasse Tee. Sicher kommt sie mit Blumen zurück

oder mit Schokolade. Ich hoffte, Letzteres.

Wieder die tanzenden Damen.

Dann der Komiker, ein Letztes Mal.

Und zum Schluss kamen sie alle zusammen auf die Bühne.

Das Grande Finale, sagte Großvater. Sieh genau hin,

vielleicht siehst du sie irgendwo.

Aber nein. Sie sangen:

Wenn du alleine dahinreitest

auf dem Kamm der Wellen

und die Sonne am Himmel scheint.

Der Vorhang fiel und wir gingen hinaus ins Foyer.

Dort warteten wir eine Weile.

Dann gingen wir zum Bühneneingang,

um meine Großmutter dort abzupassen.

Der Zauberer kam in normaler Kleidung heraus,

die Glitzerfrau sah so anders aus im Regenmantel.

Mein Großvater ging hin und sprach mit ihm. Er winkte ab,

sagte, er verstehe kein Englisch und zauberte

eine halbe Krone hinter meinem Ohr hervor,

ehe er in Dunkelheit und Regen entschwand.

Ich sah meine Großmutter nie wieder.

Wir kehrten in ihr Haus zurück und machten weiter.

Großvater musste jetzt für uns kochen.

Und so aßen wir morgens, mittags, abends

goldenen Toast mit Silbermarmelade

und tranken Tee dazu.

Bis ich nach Hause fuhr.

Er war so sehr gealtert an diesem Abend,

als seien die Jahre alle gleichzeitig über ihn hereingebrochen.

Gänseblümchen, gib mir doch Antwort, sang er.

Wärst du die einzige Frau auf der Welt und ich der einzige Mann …

Folge dem Kater, sagte mein Vater …

Großvater hatte die gute Stimme in der Familie,

er hätte sogar Kantor werden können,

doch es gab immer Filme zu entwickeln,

Radios und Rasierer zu reparieren …

seine Brüder traten als Duo auf: Die Nachtigallen,

waren früher gar mal im Fernsehen aufgetreten.

Er trug es mit Fassung. Doch eines Nachts

wachte ich auf und entsann mich der Lakritzstangen im Vorratsraum.

Ich ging nach unten.

Mein Großvater stand da auf nackten Füßen.

Und ganz allein dort in der Küche

sah ich ihn ein Messer in eine Kiste rammen.

Du hast meine Liebe gestohlen.

Ich wollt sie nicht geben.




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