Mrs. Whitaker fand den Heiligen Gral unter einem Pelzmantel.
Jeden Donnerstagnachmittag machte Mrs. Whitaker einen Spaziergang zum Postamt, um ihre Rente abzuholen, auch wenn ihre Beine ihr nicht mehr so gute Dienste leisteten wie früher einmal, und auf dem Rückweg machte sie immer am Oxfam-Laden halt und gönnte sich irgendeine Kleinigkeit.
Im Oxfam-Laden gab es gebrauchte Kleidung, Krimskrams, Kuriositäten, jede Menge Gerümpel und Berge alter Taschenbücher; allesamt Spenden. Treibgut aus zweiter Hand, oft aus Haushaltsauflösungen der Verstorbenen. Und die Erlöse gingen an einen guten Zweck.
Der Laden wurde von ehrenamtlichen Mitarbeitern betrieben. Die Freiwillige, die an diesem Nachmittag Dienst tat, war Marie, siebzehn, ein bisschen übergewichtig und angetan mit einem weiten, mauvefarbenen Pulli, der aussah, als habe sie ihn hier im Laden gefunden.
Marie saß mit einer Ausgabe von Modern Woman an der Kasse und füllte den »Erkennen Sie Ihre verborgene Persönlichkeit«-Fragebogen aus. Hin und wieder blätterte sie nach hinten, um die jeweilige Punktzahl für die Antworten A), B) oder C) in Erfahrung zu bringen, ehe sie entschied, wie sie die Frage beantwortete.
Mrs. Whitaker stöberte im Laden herum.
Die ausgestopfte Kobra hatten sie immer noch nicht verkauft, stellte sie fest. Seit sechs Monaten stand sie jetzt hier und ihre boshaften Glasaugen starrten unverwandt auf die Kleiderständer und das Regal voll angeschlagener Porzellanfigürchen und zerkauter Spielzeuge.
Mrs. Whitaker tätschelte ihr im Vorbeigehen den Kopf.
Sie wählte zwei Mills-&-Boon-Romane aus dem Bücherregal – Ihre donnernde Seele und Ihr stürmisches Herz – und zog eine Mateus-Rosé-Flasche mit einem dekorativen Lampenschirm in die engere Wahl, ehe sie zu dem Schluss kam, dass sie wirklich nirgendwo mehr Platz hatte, um sie aufzustellen.
Sie räumte einen ziemlich fadenscheinigen Mantel beiseite, der ein unangenehmes Mottenkugelaroma verströmte. Darunter waren ein Spazierstock und ein fleckiges Exemplar von A.R. Hope Moncrieffs Romance and Legend of Chivalry zum Preis von fünf Pence. Neben dem Buch lag der Heilige Gral auf der Seite. Auf dem Fuß klebte ein kleines, rundes Etikett, auf dem mit Filzschreiber der Preis vermerkt war: 30 Pence.
Mrs. Whitaker nahm den verstaubten Silberpokal in die Hand und begutachtete ihn durch ihre dicken Brillengläser.
»Der ist aber hübsch«, rief sie zu Marie hinüber.
Marie zuckte mit den Schultern.
»Er würde sicher sehr hübsch auf dem Kaminsims aussehen.«
Marie zuckte nochmals mit den Schultern.
Mrs. Whitaker zahlte Marie fünfzig Pence, die ihr zehn Pence Wechselgeld und eine braune Papiertüte gab, um die Bücher und den Heiligen Gral einzupacken. Dann ging Mrs. Whitaker eine Tür weiter zum Metzger und kaufte sich ein schönes Stückchen Leber. Dann ging sie heim.
Die Innenseite des Pokals war mit einer dicken, bräunlich roten Staubschicht verkrustet. Mrs. Whitaker wusch ihn mit größter Sorgfalt aus und ließ ihn dann eine Stunde in warmem Wasser mit einem Spritzer Essig einweichen.
Schließlich behandelte sie ihn mit Metallpolitur, bis er glänzte, und stellte ihn im Wohnzimmer aufs Kaminsims zwischen den Porzellanbasset mit dem seelenvollen Blick und einem Foto ihres seligen Henry, 1953 am Strand in Frinton.
Sie hatte Recht gehabt: Es sah wirklich hübsch aus.
Fürs Abendessen panierte sie die Leber und briet sie mit Zwiebelringen. Es schmeckte wunderbar.
Der nächste Morgen war ein Freitag und an jedem zweiten Freitag besuchten Mrs. Whitaker und Mrs. Greenberg einander. Heute war Mrs. Greenbergs Besuch bei Mrs. Whitaker an der Reihe. Sie setzten sich ins Wohnzimmer, aßen Makronen und tranken Tee. Mrs. Whitaker nahm ein Stück Zucker in den Tee, Mrs. Greenberg bevorzugte Süßstoff, den sie immer in einer kleinen Plastikdose in der Handtasche hatte.
»Wie hübsch«, bemerkte Mrs. Greenberg und zeigte auf den Gral. »Was ist das?«
»Der Heilige Gral«, erklärte Mrs. Whitaker. »Es ist der Becher, aus dem Jesus beim letzten Abendmahl getrunken hat. Und später bei der Kreuzigung wurde sein Blut damit aufgefangen, als der römische Soldat ihm die Lanze in die Seite stieß.«
Mrs. Greenberg rümpfte die Nase. Sie war klein und Jüdin und hielt nichts von solcherlei unhygienischen Dingen. »Nun, damit kenne ich mich nicht aus«, sagte sie. »Aber es sieht sehr hübsch aus. Unser Myron hat einen ganz ähnlichen Pokal bekommen, als er das Schwimmturnier gewann, nur hatte der seinen Namen eingraviert.«
»Hat er immer noch diese reizende Freundin? Die Friseuse?«
»Bernice? O ja. Sie wollen sich bald verloben«, sagte Mrs. Greenberg.
»Das ist ja reizend«, meinte Mrs. Whitaker und nahm noch eine Makrone. Mrs. Greenberg buk ihre Makronen selbst und brachte sie jeden zweiten Freitag mit herüber: kleine, süße, goldbraune Plätzchen mit Mandeln verziert.
Sie sprachen über Myron und Bernice und Mrs. Whitakers Neffen Ronald (sie hatte keine Kinder) und über ihre Freundin Mrs. Perkins, die im Krankenhaus lag mit ihrer Hüfte, die Ärmste.
Gegen Mittag ging Mrs. Greenberg nach Hause. Mrs. Whitaker machte sich Käse auf Toast zum Essen und anschließend nahm Mrs. Whitaker ihre Pillen, die weiße und die rote und die zwei kleinen orangefarbenen.
Es läutete an der Tür.
Mrs. Whitaker öffnete. Draußen stand ein junger Mann mit schulterlangen Haaren, die so hell waren, dass sie beinah weiß wirkten. Er trug eine glänzend silberne Rüstung und einen weißen Mantel darüber.
»Guten Tag«, sagte er.
»Guten Tag«, sagte Mrs. Whitaker.
»Ich bin ausgezogen, um mich auf die Suche zu begeben«, sagte er.
»Wie nett«, erwiderte Mrs. Whitaker vorsichtig.
»Darf ich eintreten?«, fragte er.
Mrs. Whitaker schüttelte den Kopf. »Es tut mir Leid, aber besser nicht.«
»Ich bin auf der Suche nach dem Heiligen Gral«, erklärte der junge Mann. »Ist er hier?«
»Können Sie sich ausweisen?«, fragte Mrs. Whitaker. Sie wusste, es war unklug, Fremde hereinzubitten, ehe man einen Ausweis gesehen hatte, vor allem wenn man älter und allein stehend war. Handtaschen wurden heutzutage von unbekannten Besuchern ausgeräumt und es konnten weitaus schlimmere Dinge passieren.
Der junge Mann ging zurück zum Gartentörchen. Sein Pferd, ein riesiges, graues Schlachtross mit hoch erhobenem Kopf und intelligenten Augen, war an Mrs. Whitakers Gartenzaun angebunden. Der Ritter durchsuchte seine Satteltasche und kam mit einer Pergamentrolle zurück.
Das Schriftstück war unterzeichnet von Artus, König von Britannien, der all seinen Untertanen, ganz gleich welchen Ranges und Standes, kundtat, dass dies hier Galahad sei, Ritter der Tafelrunde, der sich auf eine gerechte und ehrenvolle Suche begeben habe. Unter dem Text folgte ein gezeichnetes Porträt des jungen Mannes. Gar nicht mal schlecht getroffen.
Mrs. Whitaker nickte. Sie hatte eine kleine Karte mit einem Foto darauf erwartet, aber das hier war weitaus eindrucksvoller.
»Ich denke, Sie kommen besser herein«, sagte sie.
Sie gingen in die Küche. Die alte Dame kochte Galahad eine Tasse Tee und führte ihn dann ins Wohnzimmer.
Galahad entdeckte den Gral auf dem Kaminsims und sank auf ein Knie nieder. Vorsichtig stellte er die Teetasse auf dem rostbraunen Teppich ab. Ein Sonnenstrahl fiel durch die Netzgardine, überzog sein verklärtes Gesicht mit einem goldenen Glanz und verwandelte sein Haar in einen silbrigen Glorienschein.
»Er ist es wahrhaftig«, sagte er ganz leise. »Sangrail.« Seine hellblauen Augen zwinkerten dreimal in schneller Folge, als versuche er, Tränen wegzublinzeln.
Dann neigte er den Kopf wie im stillen Gebet.
Schließlich erhob sich Galahad und wandte sich an Mrs. Whitaker. »Huldreiche Dame, Hüterin des heiligsten der Heiligtümer, lasst mich ziehen mit dem gesegneten Kelch, auf dass meine Fahrt ein Ende habe und mein Geas erfüllt sei.«
»Wie bitte?«, fragte Mrs. Whitaker.
Galahad trat zu ihr und ergriff ihre alten Hände. »Ich bin am Ende meiner Suche«, erklärte er. »Endlich ist der Sangrail gefunden, ich brauche nur die Hand danach auszustrecken.«
Mrs. Whitaker schürzte die Lippen. »Könnten Sie bitte die Teetasse aufheben?«, bat sie.
Reumütig hob Galahad seine Tasse auf.
»Nein, ich glaube, Sie irren sich«, sagte Mrs. Whitaker. »Mir gefällt er recht gut da oben. Genau richtig zwischen dem Hündchen und meinem Henry.«
»Wollt Ihr Gold? Ist es das? Hohe Frau, ich kann Euch Gold bringen …«
»Nein«, sagte Mrs. Whitaker. »Ich will kein Gold, vielen Dank. Ich habe einfach kein Interesse.«
Sie brachte Galahad zur Tür. »Es war sehr nett, Sie kennen zu lernen«, sagte sie.
Sein Pferd hatte den Kopf über den Zaun gestreckt und knabberte an ihren Gladiolen. Ein paar Nachbarskinder standen auf dem Gehweg und bestaunten es.
Galahad holte ein paar Zuckerstückchen aus der Satteltasche und zeigte den mutigeren Kindern, wie sie sie dem Pferd geben mussten, mit flach ausgestreckter Hand. Die Kinder kicherten. Eins der größeren Mädchen streichelte dem Pferd die Nüstern.
Galahad schwang sich in einer einzigen, fließenden Bewegung in den Sattel. Dann trabten Pferd und Reiter den Hawthorne Crescent hinab.
Mrs. Whitaker sah ihnen nach, bis sie hinter der nächsten Biegung verschwunden waren, dann seufzte sie und ging zurück ins Haus.
Das Wochenende war ruhig.
Am Samstag fuhr Mrs. Whitaker mit dem Bus nach Maresfield, um ihren Neffen Ronald, seine Frau Euphonia und deren Töchter, Clarissa und Dillian, zu besuchen. Sie brachte ihnen einen selbst gebackenen Rosinenkuchen mit.
Am Sonntagmorgen ging Mrs. Whitaker zur Kirche. Sie gehörte zur Gemeinde von St. James the Less, wo es für ihren Geschmack ein wenig zu modern zuging, nach dem Motto: »Dies ist nicht in erster Linie eine Kirche, sondern vor allem ein Ort, wo Gleichgesinnte zusammenkommen und fröhlich sind.« Aber sie mochte den Pastor, Reverend Bartholomew, jedenfalls wenn er nicht gerade Gitarre spielte.
Nach dem Gottesdienst erwog sie, ihm von dem Heiligen Gral auf ihrem Kaminsims zu erzählen, aber sie entschied sich dagegen.
Am Montagvormittag arbeitete Mrs. Whitaker im Garten hinter dem Haus. Sie hatte ein Kräuterbeet, auf das sie sehr stolz war: Dill, Eisenkraut, Minze, Rosmarin, Thymian und ein regelrechtes Petersilienfeld. Sie kniete auf der Erde, hatte dicke grüne Arbeitshandschuhe übergestreift, jätete Unkraut und las Schnecken auf, die sie in eine Plastiktüte steckte. Mrs. Whitaker konnte einfach keiner Schnecke etwas zu Leide tun. Sie brachte sie immer ans Ende des Gartens und warf sie über den Zaun, wo eine Eisenbahnstrecke verlief.
Sie erntete ein wenig Petersilie für den Salat. Hinter ihr ertönte ein Hüsteln. Galahad stand dort, groß und schön, und seine Rüstung funkelte in der Morgensonne. In den Armen hielt er ein längliches Paket, das in geöltes Leder gehüllt war.
»Ich bin zurückgekehrt«, sagte er.
»Hallo«, sagte Mrs. Whitaker. Ziemlich langsam kam sie auf die Füße und zog die Handschuhe aus. »Nun, da Sie schon einmal hier sind, können Sie sich auch nützlich machen«, sagte sie.
Sie reichte ihm die Tüte mit den Schnecken und wies ihn an, sie über dem Zaun auszuleeren.
Das tat er.
Dann gingen sie in die Küche.
»Tee? Oder Limonade?«, fragte sie.
»Was immer Euch gutdünkt«, antwortete Galahad.
Mrs. Whitaker holte den Krug selbst gemachter Limonade aus dem Kühlschrank und schickte Galahad in den Garten, ein bisschen Minze pflücken. Sie wusch die Minze sorgsam, ehe sie ein paar Blättchen in die beiden Gläser gab und dann Limonade einschenkte.
»Steht Ihr Pferd draußen?«, wollte sie wissen.
»O ja. Sein Name ist Grizzel.«
»Und Sie habe einen sehr weiten Weg hinter sich, nehme ich an.«
»Einen sehr weiten Weg.«
»Verstehe«, sagte Mrs. Whitaker. Sie holte eine blaue Plastikschüssel unter der Spüle hervor und füllte sie zur Hälfte mit Wasser. Galahad brachte sie Grizzel. Er wartete, während das Pferd soff, und brachte Mrs. Whitaker die leere Schüssel zurück.
»Also dann«, begann Mrs. Whitaker. »Ich nehme an, Sie wollen den Gral.«
»Ja. Immer noch strebe ich nach dem Sangrail«, antwortete er. Er hob das in Leder eingeschlagene Paket vom Boden auf, legte es auf die Tischdecke und öffnete es. »Zum Tausch biete ich Euch dies.«
Es war ein Schwert, die Klinge über einen Meter lang und mit hauchfeinen Buchstaben und Symbolen verziert. Das Heft war aus Gold und Silber gearbeitet, den Abschluss des Knaufs bildete ein riesiger Edelstein.
»Es ist sehr hübsch«, sagte Mrs. Whitaker zweifelnd.
»Dies«, sagte Galahad, »ist das Schwert Balmung, das Wieland der Schmied in grauer Vorzeit schuf. Sein Gegenstück heißt Flamberge. Wer es trägt, kann im Krieg nicht besiegt, in der Schlacht nicht geschlagen werden. Wer es trägt, ist jeder Feigheit oder schändlicher Taten unfähig. Der Stein am Heft ist der Sardonyx Bircone, der seinen Besitzer vor vergiftetem Wein und verräterischen Freunden beschützt.«
Mrs. Whitaker betrachtete das Schwert. »Sicher ist es sehr scharf«, bemerkte sie schließlich.
»Es könnte ein herabfallendes Haar zerschneiden. Nein, es könnte gar einen Sonnenstrahl spalten«, sagte Galahad voller Stolz.
»Dann sollten Sie es vielleicht lieber wieder wegpacken«, meinte Mrs. Whitaker.
»Ihr wollt es nicht?« Galahad schien enttäuscht.
»Nein, vielen Dank.« Ihr kam in den Sinn, dass es ihrem seligen Henry bestimmt gefallen hätte. Er hätte es in seinem Arbeitszimmer an die Wand gehängt, gleich neben dem ausgestopften Karpfen, den er in Schottland gefangen hatte, und hätte es jedem Besucher gezeigt.
Galahad wickelte das Schwert Balmung wieder in seine geölte Lederhülle und verschnürte es mit einer weißen Kordel.
Dann saß er da, untröstlich.
Mrs. Whitaker machte ihm für den Heimweg ein paar Sandwiches mit Frischkäse und Gurke und wickelte sie in Wachspapier. Sie gab ihm auch einen Apfel für Grizzel. Er schien hocherfreut über ihre Gaben.
Zum Abschied winkte sie den beiden nach.
Am Nachmittag nahm sie den Bus, um Mrs. Perkins zu besuchen, die Ärmste, die immer noch mit ihrer Hüfte im Krankenhaus lag. Mrs. Whitaker brachte ihr selbst gemachtes Früchtebrot mit, auch wenn sie die Walnüsse weggelassen hatte, denn Mrs. Perkins Zähne waren auch nicht mehr das, was sie einmal gewesen waren.
Abends sah sie ein bisschen fern und ging früh schlafen.
Am Dienstag kam der Postbote. Mrs. Whitaker war auf dem Dachboden, um ein bisschen Ordnung zu schaffen, und da sie die Treppe langsam und vorsichtig, Stufe für Stufe hinabstieg, kam sie nicht rechtzeitig an die Tür. Der Postbote hatte ihr einen Zettel in den Briefkasten geworfen: Er habe versucht, ein Päckchen zuzustellen, aber es sei niemand daheim gewesen.
Mrs. Whitaker seufzte.
Sie steckte den Zettel in die Handtasche und machte sich auf den Weg zum Postamt.
Das Paket war von ihrer Nichte Shirelle, die in Sydney in Australien lebte. Es enthielt ein Foto von ihrem Mann Wallace und den beiden Töchtern, Dixie und Violet, und eine in Holzwolle verpackte Schneckenmuschel.
Mrs. Whitaker hatte eine Sammlung von Ziermuscheln im Schlafzimmer. Am meisten liebte sie die mit dem in Email aufgemalten Bild von den Bahamas. Das war ein Geschenk von ihrer Schwester Ethel gewesen, die 1983 gestorben war.
Sie steckte die Muschel und die Fotos in ihre Einkaufstasche. Und weil sie schon mal in der Nähe war, ging sie auf dem Heimweg beim Oxfam-Laden vorbei.
»Hallo, Mrs. Whitaker«, sagte Marie.
Mrs. Whitaker starrte sie an. Marie trug Lippenstift (vielleicht nicht gerade die glücklichste Farbe für sie, vielleicht nicht sehr fachmännisch aufgetragen, aber, dachte Mrs. Whitaker, das kommt schon mit der Zeit) und einen ziemlich schicken Rock. Eine enorme positive Veränderung.
»Oh, hallo, Marie«, antwortete Mrs. Whitaker.
»Letzte Woche war ein Mann hier und hat nach diesem Ding gefragt, das Sie gekauft haben. Diesem komischen kleinen Blechpokal. Ich hab ihm gesagt, wo Sie wohnen. War Ihnen doch recht, oder?«
»Sicher, Kind«, sagte Mrs. Whitaker. »Er hat mich auch gefunden.«
»Er war traumhaft. Wirklich, einfach traumhaft«, sagte Marie mit einem wehmütigen Seufzen. »Ich hätte auf der Stelle mit ihm gehen können. Und ein großes weißes Pferd hatte er auch«, schloss sie. Sie hielt sich auch gerader, stellte Mrs. Whitaker anerkennend fest.
Im Bücherregal fand Mrs. Whitaker einen neuen Mills-&-Boon-Roman – Ihre Majestätische Leidenschaft –, auch wenn sie die beiden von letzter Woche noch gar nicht ausgelesen hatte.
Sie nahm Romance and Legend of Chivalry zur Hand und schlug es auf. Es roch modrig. In roter Tinte stand säuberlich auf der ersten Seite: Ex. Libris Fisher.
Sie legte es wieder beiseite.
Als sie heimkam, wartete Galahad vor der Tür. Er ließ die Nachbarskinder auf Grizzel reiten, führte ihn am Zügel die Straße auf und ab.
»Ich bin froh, dass Sie da sind«, sagte sie. »Ich habe ein paar Kisten zu tragen.«
Sie führte ihn auf den Dachboden. Er räumte all die alten Koffer beiseite, sodass sie an den Schrank dahinter kam.
Es war furchtbar staubig dort oben.
Sie beschäftigte ihn fast den ganzen Nachmittag. Er rückte die schweren Gegenstände hin und her, während sie Staub wischte.
Galahad hatte eine Schnittwunde auf der Wange und ein Arm schien ein wenig steif zu sein.
Sie unterhielten sich ein bisschen, während sie sauber machte und aufräumte. Mrs. Whitaker erzählte ihm von ihrem seligen Henry und dass die Lebensversicherung gereicht hatte, um die restliche Hypothek zu zahlen, dass sie all diese Dinge besaß, aber so recht niemanden hatte, dem sie sie hinterlassen konnte, niemanden außer Ronald und seine Frau, die eigentlich nur moderne Sachen mochten. Sie erzählte ihm auch davon, wie sie Henry im Krieg kennen gelernt hatte, denn er war beim Zivilschutz und kontrollierte vor den Fliegerangriffen die Straßen und sie hatte das Küchenfenster nicht richtig verdunkelt. Und von den Tanzfesten in der Stadt und wie sie nach London gefahren waren, als der Krieg aus war, und sie zum ersten Mal in ihrem Leben Wein getrunken hatte.
Galahad erzählte Mrs. Whitaker von seiner Mutter Elaine, die flatterhaft und nicht immer tugendhaft und obendrein eine Hexe war, von seinem Großvater König Pelles, der es zwar immer gut meinte, meistens jedoch, gelinde gesagt, ein wenig abwesend wirkte, von seiner Jugend in der Festung Bliant auf der Insel der Seligkeit und von seinem Vater, den er als »Le Chevalier Mal Fet« kannte, der mehr oder weniger vollkommen von Sinnen war und der in Wirklichkeit Lancelot du Lac hieß, einst der größte aller Ritter war und nun, seines Verstandes beraubt, im Verborgenen lebte. Und Galahad erzählte von seinen Tagen als Knappe am Hof in Camelot.
Um fünf begutachtete Mrs. Whitaker die Dachkammer und verkündete, sie sei zufrieden. Dann öffnete sie das Fenster, um den Raum zu lüften, und sie gingen hinunter in die Küche, wo sie den Kessel aufstellte.
Galahad setzte sich an den Küchentisch.
Er öffnete den Lederbeutel, den er am Gürtel trug, und entnahm ihm einen etwa faustgroßen weißen Stein.
»Hohe Frau«, sagte er. »Dies ist für Euch, wenn Ihr mir den Sangrail überlasst.«
Mrs. Whitaker nahm den Stein in die Hand. Er wog schwerer, als er aussah. Sie hielt ihn gegen das Licht. Er war milchig, aber durchsichtig, und tief in seinem Innern flimmerten und glitzerten winzige Silberflöckchen in der Spätnachmittagssonne. Er fühlte sich warm an.
Und dann überkam sie auf einmal ein eigentümliches Gefühl, während sie ihn in der Hand hielt: Ganz tief in ihrem Innern verspürte sie eine wohlige Ruhe, eine Art Frieden. Heiterkeit, das war das richtige Wort. Sie fühlte sich heiter.
Zögernd legte sie den Stein wieder auf den Tisch.
»Er ist sehr hübsch«, sagte sie.
»Dies ist der Stein der Weisen, den unser Ahn Noah in der Arche aufhing, auf dass er Licht spende, als es kein anderes Licht gab. Er kann einfache Metalle in Gold verwandeln und vieles andere mehr«, erklärte Galahad stolz. »Und das ist nicht alles. Ich habe noch mehr. Seht.« Er holte ein Ei aus dem Lederbeutel und reichte es ihr.
Es hatte etwas die Größe eine Gänseeis und war glänzend schwarz mit weißen und scharlachroten Sprenkeln. Als Mrs. Whitaker es berührte, sträubten sich die Haare in ihrem Nacken. Ihr erster Eindruck war von unglaublicher Hitze und Freiheit. Sie hörte das Knistern eines fernen Feuers und für einen Sekundenbruchteil glaubte sie, hoch über der Welt einherzuschweben, als gleite sie auf Flammenschwingen dahin.
Sie legte das Ei auf den Tisch neben den Stein der Weisen.
»Dies ist das Ei des Phönix«, sagte Galahad. »Es kommt aus dem fernen Morgenland. Eines Tages wird der Phönix herausschlüpfen und wenn die Zeit kommt, wird der Vogel sein feuriges Nest bauen, sein Ei legen und sterben, um in Flammen wiedergeboren zu werden in einem späteren Zeitalter.«
»Ich hab mir gleich gedacht, dass es das ist«, bemerkte Mrs. Whitaker.
»Und als Letztes habe ich dies für Euch mitgebracht, hohe Frau.«
Er förderte einen dritten Gegenstand zu Tage und reichte ihn ihr. Es war ein Apfel, der offenbar aus einem einzigen Rubin geformt war, an einem Stängel aus Bernstein.
Ein bisschen beunruhigt nahm sie ihn in die Hand. Er fühlte sich weich an, geradezu täuschend echt: der Druck ihrer Finger verletzte die Schale und rubinroter Saft rann über Mrs. Whitakers Hand.
Ein schwacher, kaum wahrnehmbarer Duft nach Sommerfrüchten erfüllte die Küche, nach Himbeeren und Pfirsichen und Erdbeeren und roten Johannisbeeren. Wie aus weiter Ferne hörte sie singende Stimmen und den Klang von Instrumenten.
»Es ist einer der Äpfel der Hesperiden«, sagte Galahad leise. »Ein Bissen heilt jedes Gebrechen, jede Wunde, wie tief sie auch sei, ein zweiter bringt einem Jugend und Schönheit zurück und der dritte Bissen, so heißt es, schenkt ewiges Leben.«
Mrs. Whitaker leckte den klebrigen Saft von ihrer Hand. Er schmeckte wie ein erlesener Wein.
Und plötzlich erinnerte sie sich, wusste wieder ganz genau, wie es sich anfühlte, jung zu sein. Einen festen, schlanken Körper zu haben, der tat, was immer sie wollte, einen Feldweg entlangzurennen nur aus purer undamenhafter Freude am Rennen, und Männer lächelten sie an, einfach nur weil sie sie selbst und glücklich darüber war.
Mrs. Whitaker sah zu Sir Galahad, dem edelsten aller Ritter, der hier schön und strahlend in ihrer Küche saß.
Sie hielt den Atem an.
»Das ist alles, was ich Euch bringe«, sagte Galahad. »Es war nicht einfach, diese Dinge zu beschaffen.«
Mrs. Whitaker legte die Rubinfrucht auf den Küchentisch. Sie betrachtete den Stein der Weisen, das Ei des Phönix und den Apfel des Lebens.
Dann ging sie ins Wohnzimmer hinüber und sah zum Kaminsims: der kleine Porzellanbasset, der Heilige Gral und das Foto von ihrem seligen Henry, lächelnd, mit nacktem Oberkörper aß er ein Eis, ein schwarz-weißer Augenblick, fast vierzig Jahre weit weg.
Sie ging zurück in die Küche. Der Kessel hatte angefangen zu pfeifen. Sie schenkte ein wenig kochendes Wasser in die Teekanne, ließ es umherschwappen und kippte es weg. Dann gab sie zwei Löffel Teeblätter hinein und einen für die Kanne und goss das restliche Wasser darauf. All das tat sie schweigend.
Dann wandte sie sich zu Galahad um und sah ihn an.
»Packen Sie den Apfel weg«, befahl sie. »So etwas sollten Sie einer alten Dame nicht anbieten, das gehört sich nicht.« Sie unterbrach sich kurz und dachte einen Moment nach. »Aber ich nehme die anderen beiden«, fuhr sie dann fort. »Sie sehen sicher hübsch aus auf dem Kaminsims. Und zwei im Tausch gegen eins ist fair, meine ich.«
Galahad strahlte. Er steckte den Rubinapfel in seinen Beutel. Dann sank er auf ein Knie nieder und küsste Mrs. Whitakers Hand.
»Hören Sie auf mit dem Unsinn«, sagte Mrs. Whitaker und schenkte Tee ein, nachdem sie das allerbeste Porzellan hervorgeholt hatte, das für besondere Gelegenheiten reserviert war.
Schweigend saßen sie zusammen und tranken Tee.
Als sie die Tassen geleert hatten, gingen sie ins Wohnzimmer.
Galahad bekreuzigte sich und nahm den Gral.
Mrs. Whitaker arrangierte Ei und Stein an der Stelle, wo der Gral gestanden hatte. Das Ei fiel immer wieder um, also lehnte sie es gegen das Porzellanhündchen.
»Sie sehen beide wirklich sehr hübsch aus«, sagte Mrs. Whitaker.
»Ja«, stimmte Galahad zu. »Sie sehen hübsch aus.«
»Möchten Sie noch etwas essen, bevor Sie sich auf den Rückweg machen?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Ein Stück Früchtebrot«, schlug sie vor. »Im Moment meinen Sie vielleicht, Sie wollen keins, aber in ein paar Stunden werden Sie froh sein, es zu haben. Und vermutlich sollten Sie noch mal eben verschwinden. Geben Sie ihn mir einstweilen und ich packe ihn für Sie ein.«
Sie führte ihn zu der kleinen Toilette am Ende des Flurs und ging in die Küche, den Gral in Händen. In der Vorratskammer hatte sie noch ein Stück Weihnachtspapier. Darin wickelte sie den Gral ein und verschnürte das Päckchen mit Zwirn. Dann schnitt sie ein großes Stück Früchtebrot ab und packte es in eine braune Papiertüte zusammen mit einer Banane und einem Stück Schmelzkäse in Alufolie.
Galahad kam von der Toilette zurück. Sie gab ihm die Papiertüte und den Heiligen Gral. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihm die Wange.
»Sie sind ein guter Junge«, sagte sie. »Geben Sie gut auf sich Acht.«
Er schloss sie einen Moment in die Arme und dann schob sie ihn aus der Küche und durch die Hintertür, die sie hinter ihm schloss. Sie schenkte sich noch eine Tasse Tee ein und weinte leise in ein Papiertaschentuch, während der Hufschlag auf dem Hawthorne Crescent verhallte.
Mittwoch blieb Mrs. Whitaker den ganzen Tag zu Hause.
Am Donnerstag ging sie zum Postamt, um ihre Rente abzuholen. Auf dem Rückweg stattete sie dem Oxfam-Laden einen Besuch ab.
Die Frau an der Kasse war eine Neue. »Wo ist Marie?«, fragte Mrs. Whitaker.
Die Frau an der Kasse, die blau schimmernde Haare hatte und ein blaues Brillengestell mit Strass verzierten Spitzen trug, schüttelte den Kopf und hob die Schultern. »Sie ist auf und davon mit einem jungen Mann«, sagte sie. »Auf einem Pferd. Tse. Stellen Sie sich das mal vor. Ich sollte heute Nachmittag eigentlich den Laden in Heathfield hüten. Ich musste meinen Johnny bitten, mich herzufahren, während wir jemanden anderen suchen.«
»Oh«, sagte Mrs. Whitaker. »Nun, es ist nett, dass sie einen jungen Mann gefunden hat.«
»Nett für sie vielleicht«, sagte die Dame an der Kasse. »Aber es gibt Leute, die sollten heute Nachmittag in Heathfield sein.«
Auf einem Regal ganz hinten im Laden fand Mrs. Whitaker ein angelaufenes altes Silbergefäß mit einer langen Tülle. Es sollte sechzig Pence kosten, sagte der kleine Aufkleber an der Seite. Es sah in etwa wie eine plattgedrückte, langgezogene Teekanne aus.
Sie fand einen Mills-&-Boon-Roman, den sie noch nicht kannte. Er hieß Ihre einzige Liebe. Buch und Silberkanne brachte sie zu der Frau an der Kasse.
»Fünfundsechzig Pence, bitte«, sagte die Frau, nahm das Silbergefäß in die Hand und betrachtete es. »Komisches altes Ding, oder? Kam heute Morgen rein.« Auf dem Bauch der Silberkanne waren eckige, alte chinesische Zeichen eingraviert und sie hatte einen elegant geschwungenen Griff. »Eine Art Ölkännchen, nehme ich an.«
»Nein, es ist kein Ölkännchen«, sagte Mrs. Whitaker, die ganz genau wusste, was es war. »Es ist eine Lampe.«
Ein kleiner unverzierter Fingerring war mit einem braunen Bindfaden an den Griff der Lampe geknotet.
»Ich hab’s mir überlegt«, sagte Mrs. Whitaker. »Ich nehme doch nur das Buch.«
Sie bezahlte ihre fünf Pence für das Buch und brachte die Lampe dorthin zurück, wo sie sie gefunden hatte, ganz am Ende des Ladens. Denn es war einfach so, überlegte Mrs. Whitaker auf dem Heimweg, dass sie wirklich nirgendwo mehr Platz hatte, um sie aufzustellen.