Kalte Farben




I.

Um neun Uhr früh vom Briefträger geweckt,

der, wie sich herausstellt, nicht der Briefträger, sondern ein Handlungsreisender in Tauben ist

und ruft:

»Fette Tauben, zarte Tauben, schneeweiß, steingrau,

lebende, atmende Tauben,

nicht dieser reanimierte Abfall, Sir.«

Tauben habe ich mehr als genug und das sage ich ihm.

Er erklärt, er sei neu im Geschäft,

vormals für eine recht erfolgreiche Firma

im Bereich Finanzsicherheitsanalyse tätig gewesen,

eh er entlassen wurde, ersetzt durch einen mit einer Kristallkugel verkabelten Rechner.

»Aber ich will nicht klagen, eine Tür öffnet sich, die andere schlägt zu,

man muss mit der Zeit gehen, Sir, man muss mit der Zeit gehen.«

Er schenkt mir die Taube.

(Um Sie als Kunden zu werben, Sir.

Wenn sie unsere Tauben probiert haben, schauen Sie keine andere mehr an.)

Steigt die Treppe hinab und singt:

»Fideralala, fideralala.«

Zehn Uhr, nach Bad und Rasur.

(Salben für ewige Jugend und eine gewisse erotische Ausstrahlung kommen aus Plastikbehältern.)

Ich trag die Taube ins Arbeitszimmer;

ich erneuere den Kreidekreis um meinen alten Dell 310,

häng Amulette in die vier Ecken des Monitors

und tu, was getan werden muss, mit der Taube.

Dann schalte ich den Computer ein: er rattert und summt,

der Ventilator im Innern bläst wie die Winde auf alten Meeren,

bereit, arme Kauffahrer zu ertränken.

Nach der Autoexec piepst er:

Ich will, ich will, ich will …





II.

Zwei Uhr und ich streife durch mein vertrautes London

– oder das, was mein vertrautes London war, ehe der Cursor gewisse Gewissheiten löschte.

Ich sehe einen Krawattenträger,

der den Psion Organizer in seiner Brusttasche säugt,

das serielle Interface sucht an seiner Brust nach Nahrung,

vertrautes Gefühl, und mein Atem formt Dampfwolken in der Luft.

Kalt wie ein Todeshauch diese Tage in London,

man soll nicht denken, dass erst November ist,

und unter der Erde hört man das Rumpeln von Zügen.

Seltsam: UBahnen sind beinah Legende heutzutage,

halten nur noch für Jungfrauen und jene, die reinen Herzens sind;

nächster Halt Avalon, Lyonesse oder die Inseln der Seligen. Vielleicht

kriegst du eine Postkarte, vielleicht auch nicht.

Wie dem auch sei, ein Blick in den Abgrund beweist:

unter London ist kein Platz mehr für Züge;

Ich wärme mir die Hände über einem Schlund.

Flammen züngeln herauf.

Dort unten ist ein grinsender Dämon, er sieht mich, winkt, formt Worte,

überdeutlich, als sei ich taub, weit fort oder Ausländer.

Seine Verkaufsveranstaltung ist perfekt: Er mimt einen Dwarror Clone,

mimt Software jenseits meiner Vorstellungskraft,

Albertuns Magnus ARChived auf drei Disketten,

Claviculae Solomon für VGA, CGA, Vierfarb oder Monochrome,

mimt

und mimt

und mimt.

Die Touristen lehnen sich über die Balustraden der Hölle,

begaffen die Verdammten

(vielleicht das Schlimmste an der Verdammnis;

ewige Qualen kann man in würdevollem Schweigen ertragen, allein,

doch ein Publikum, das Chips und Pommes und Maronen frisst,

ein Publikum, das nur mäßig interessiert ist …

Sie müssen sich vorkommen wie Tiere im Zoo,

die Verdammten).

Tauben flattern in der Hölle umher, segeln mit dem aufsteigenden Luftstrom,

ihr kollektives Gedächtnis sagt ihnen vielleicht,

dass hier irgendwo vier Löwen sein sollten,

ungefrorenes Wasser, ein Steinmann darüber;

umringt von Touristen.

Einer macht ein Geschäft mit dem Dämon: ein Zehnerpack Blankodisketten für seine Seele.

Eine hat einen Verwandten in den Flammen entdeckt und winkt:

»Huhu! Huhu! Onkel Joseph! Guck mal, Nerissa, dein Großonkel Joe,

der gestorben ist, eh du zur Welt kamst,

das ist er da unten im Modder, bis zu den Augen im kochenden Schleim

und Würmer kriechen ihm übers Gesicht.

So ein netter Mann.

Wir haben alle geweint bei seiner Beerdigung.

Wink deinem Onkel, Nerissa, wink deinem Onkel.«

Der Taubenmann stellt seine Fallen auf dem rissigen Gehweg

streut Brotkrumen aus und wartet.

Er lüpft seinen Hut vor mir.

»Ich hoffe, die Taube entsprach Ihren Wünschen, Sir?«

Ich versich’re, das tat sie, und geb ihm einen Goldschilling

(den er verstohlen an seinen eisernen Handschuh schlägt,

um sich zu vergewissern, dass er auch echt ist).

Dienstags, sag ich ihm. Kommen Sie dienstags.



III.

Vogelbeinige Häuschen und Hütten verstopfen die Straßen der Stadt,

steigen staksend über Taxis, scheißen Asche auf Passanten,

bilden Schlangen hinter den Bussen,

tschacktschacktschacktschacktschurk murmeln sie.

Alte Frauen mit Eisenzähnen schauen aus den Fenstern

eh sie sich wieder den Zauberspiegeln zuwenden

oder der Hausarbeit,

Hoover, die gute Wahl gegen schmutzige Luft.



IV.

Sechzehn Uhr in Old Soho,

diesem Trödelmarkt verlorener Technologie.

Das Knirschen der Federn in alten Zauberkästen, aufgezogen

mit silbernen Uhrwerksschlüsseln,

ertönt schnarrend aus jeder Engel- und

Uhrmacherwerkstatt, den Zaubertrank- und Tabakläden.

Es regnet.

BBS-Kids in Schlapphüten fahren Zuhälterschlitten,

moderne Luden,

Könige im Reich von Signal to Noise,

und all ihre neongepunkteten Pferdchen flirten und drehen sich

unter den Lichtern,

Sukkuben und Inkuben mit Verfallsdatum und Chip-Card-Augen.

Sie sind dein – wenn du deinen PIN-Code weißt,

dein Gültigkeitsdatum und all dieses Zeug.

Eine zwinkerte mir zu

(blinkt an, an-aus, aus-aus-an),

Noise schluckt Signal in Fummelfellatio.

(Ich kreuze die Finger,

ein binärer Schutz gegen Hexen,

wirkt als Supraleiter genauso wie gegen Aberglauben.)

Zwei Poltergeister essen aus Pappschachteln. Old Soho macht mich immer nervös.

Brewer Street: Ein Zischen aus einer Gasse: Mephisto öffnet seinen braunen Mantel,

zeigt mir das Futter (eine Datenbank alter Beschwörungen,

Priester treiben’s mit Geistern – im Diagramm) flucht und fragt mich:

Einen Feind ausschalten?

Eine Ernte vernichten?

Eine Leibesfrucht verdorren?

Eine Unschuld verderben?

Eine Party ruinieren …?

Wie wär’s, Sir? Nein, Sir? Überlegen Sie es sich.

Nur ein Tropfen Ihres Blutes auf diesen Printout geträufelt

und Sie werden stolzer Besitzer eines neuen Voice-Synthesizers. Hören Sie nur …

Er stellt einen tragbaren Zenith auf den alten Koffer, der ihm als Tisch dient,

lockt damit eine Zuschauerschar, verkabelt die Voicebox,

gibt ein

C: GO

und eine klare, reine Stimme zitiert:

Orientis princeps Beelzebub, inferni irredentista menarche et demigorgon, propitiamus vos …

Ich eile weiter, die Straße hinab,

Papiergeister wirbeln umher, alte Computerdrucke,

und immer noch hör ich ihn wie einen Marktschreier:

Nicht zwanzig

nicht achtzehn

nicht fünfzehn

Hat mich zwölf gekostet, Lady, so wahr Satan mir helfe.

Doch weil Sie so hübsch sind und

um Sie aufzumuntern, kriegen Sie es für

Fünf.

Ganz recht.

Fünf

Verkauft an die Dame mit den schönen Augen …



V.

Grünlich grau kauert der Erzbischof, blind in der Dunkelheit auf der Mauer von St. Paul’s,

klein, vogelhaft, leuchtend summt er: Input/Output, Input/Output.

Es ist schon fast sechs und der Stoßverkehr aus gestohlenen Träumen

und erweitertem Speicher verstopft den Gehweg unter uns.

Ich reich dem Mann mein Glas.

Er nimmt es behutsam und schlurft in den lauernden Schatten der Kathedrale.

Als er zurückkommt, ist das Glas wieder voll.

»Garantiert heilig?«, frag ich im Scherz.

Er zieht Buchstaben in den gefrorenen Dreck: wysiwyg

Und lächelt nicht mal.

(Wisiwig. Whiskey weg.)

Er hustet milchig grauen Schleim,

spuckt auf die Stufen.

Was ich in dem Glas sehe, scheint in der Tat heilig, doch man weiß ja nie,

wenn man nicht selbst eine Sirene ist oder ein Geist,

der aus dem Telecom-Mundstück herausflockt, den Piepston reitet,

eine Anrufung, eine ganz Falsche Nummer, dann erkennt man das Unheilige.

Ich hab schon früher Telefone in dem Zeug versenkt,

sah Dinge sich formen

dann zischen und schmelzen, als das Wasser wirkte:

gereinigt, geläutert, die Letzte Segnung.

Eines Nachmittags

hatte ich eine ganze Schlange von ihnen auf meiner Mailbox:

Ich hab sie auf Diskette kopiert und abgelegt.

Wollen Sie?

Hör’n Sie, für Geld gibt es alles.

Der Priester ist unrasiert und er hat das Zittern.

Sein weinbeflecktes Ornat hält ihn nicht warm.

Ich geb ihm Geld.

(Nicht viel. Immerhin

ist es nur Wasser, manche Leute sind so blöd,

die lösen sich komplett auf,

wenn man sie mit Perrier besprengt,

verflucht noch mal, und heulen dabei:

Durch meine Schuld, durch meine wunderbare Schuld.)

Der alte Priester steckt die Münze ein, schenkt mir

einen Beutel mit Krumen als Bonus,

setzt sich auf die Treppe und schlingt die Arme um sich.

Ich hab das Gefühl, ich muss etwas sagen, ehe ich geh.

Hören Sie, sag ich, es ist ja nicht Ihre Schuld.

Es ist nur das Multi-User-System.

Sie konnten’s nicht ahnen.

Könnte man Gebete ins Netz stellen,

wäre die Saintware nur besser gelaufen,

könnten Sie Ihre Seite so zuverlässig machen wie sie ihre …

»Was Sie sehen«, murmelt er traurig,

»Was Sie sehen, ist, was Sie kriegen.« Er zerbricht eine Hostie

und wirft sie den Tauben hin,

versucht nicht mal, die langsamste zu erwischen.

Kalte Kriege machen schlechte Verlierer.

Ich gehe heim.



VI.

Nachrichten um zehn. Und hier ist Abel Drugger, der sie verliest:





VII.

Im Augenwinkel seh ich flinke, blutlose Bewegungen –

eine Maus?

Nun, jedenfalls irgendwas Peripheres.



VIII.

Zeit fürs Bett. Ich fütt’re die Tauben

und zieh mich aus.

Erwäge, noch einen Sukkubus runterzuladen

oder auch nur einen Kuppler

(gibt’s im freien Bereich, Huren und Viren,

Shareware, nicht nötig, viel Geld zu bezahlen,

selbst kopiergeschütztes Zeug wird kopiert und verteilt,

alles hat einen Preis, jeder von uns).

Dryware, Wetware, Hardware, Software,

Schwarzware, Fluchware,

Nachtware, Nachtmahre …

Einladend blinkt das Modem am Telefon,

rote Augen.

Ich lass es ruh’n …

Heutzutage kann man niemandem trauen.

Wenn man etwas runterlädt, weiß man doch nicht mehr,

wo zur Hölle was herkommt,

wer es als Letzter gehabt hat.

Oder etwa nicht? Fürchtet ihr euch nicht vor Viren?

Selbst die besser geschützten Dateien greifen sie an

und die am besten geschützten zerfressen sie vollends.

In der Küche hör ich die Tauben turteln und gurren,

träumen von linkshändigen Messern,

von Untoten und Spiegeln.

Taubenblut befleckt meinen Fußboden.

Ich schlafe allein. Und ganz allein träume ich.



IX.

Vielleicht wach ich auf in der Nacht mit einer plötzlichen Einsicht,

strecke die Hand aus,

kritzle etwas auf einen alten Umschlag,

meine Offenbarung, mein neues Verständnis,

weiß, dass es am Morgen banal wirken wird,

dass Magie nur der Nacht angehört,

und erinnere mich, wie es war, als noch …

Offenbarung wird zum Klischee: hört zu:

Das Leben war einfacher, bevor wir Computer hatten.





X.

Wach oder träumend hör ich von draußen

wilde Sabbate, schreiende Winde, Tonbandrauschen, scheppernde Musik,

Hexen reiten auf Ghettoblastern, fliegen zum Mond,

landen dann auf der Heide mit nackten, schimmernden Flanken.

Niemand zahlt hier Eintritt, das erledigt man vorher.

Kinderknochen, an denen noch Fett hängt;

das geht per Lastschrift, per Dauerauftrag,

und ich sehe

oder glaube zu sehen

ein bekanntes Gesicht und alle stehen an, um seinen Arsch zu küssen,

lasst uns dem Teufel einen blasen, Jungs, kalter Samen,

und in der Dunkelheit dreht er sich um und sieht mich an:

Eine Tür öffnet sich, die andere schlägt zu,

Ich hoffe, alles war nach Ihren Wünschen?

Man muss tun, was man kann, jeder hat ein Recht, ehrlich sein Brot zu verdienen,

wir sind alle bankrott, Sir,

alle entlassen,

doch wir machen das Beste draus, Augen zu und durch,

nur so kann es gehen. Ein faires Geschäft ist kein Diebstahl.

Also dann, Dienstagmorgen, Sir, wegen der Tauben?

Ich nicke und schließe den Vorhang. Überall Werbepost.

Sie kriegen dich,

so oder anders kriegen sie dich irgendwann.

Ich werd meine UBahn finden unter der Erde und keine Fahrkarte lösen,

nur »Dies ist die Hölle und ich will hier raus«,

und dann werden die Dinge wieder einfach sein.

Wie ein Drache in einem finsteren Tunnel wird es über mich kommen.




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