Der vierte Engel sprach:
Für diese Aufgabe wurde ich geschaffen.
Diesen Ort zu bewachen vor den Menschen,
Denn durch ihre Schuld haben sie ihn verloren,
Sie haben Seine Gnade verwirkt,
Daher müssen sie all dies meiden
Oder mein Schwert sollen sie umfangen
Und ich selbst werde ihr Feind sein
Und ihr Antlitz mit Flammen verzehren.
Chester-Mysterienspiele,
Die Schöpfung und Adam und Eva, 1461
Dies ist eine wahre Geschichte.
Vor ungefähr zehn Jahren musste ich einen ungewollten Zwischenstopp in Los Angeles einlegen, sehr weit von zu Hause fort. Es war Dezember und in Kalifornien war das Wetter warm und freundlich. England hingegen lag unter dichtem Nebel im Klammergriff heftiger Schneestürme und keine Flugzeuge konnten dort landen. Jeden Tag rief ich am Flughafen an und jeden Tag sagte man mir, ich müsse noch einen Tag warten.
So war es seit etwa einer Woche gegangen.
Ich war fast noch ein Teenager. Wenn ich heute zurückschaue und die Teile meines Lebens betrachte, die aus jener Zeit stammen, fühle ich mich immer unbehaglich, als habe ich von einem Fremden ungebeten ein Geschenk bekommen: ein Haus, eine Frau, Kinder, eine Berufung. Das hat alles nichts mit mir zu tun, könnte ich unschuldig behaupten. Und wenn es stimmt, dass alle sieben Jahre jede Zelle unseres Körpers abgestorben und durch eine neue ersetzt worden ist, dann habe ich mein Leben in der Tat von einem Toten geerbt. Und die Sünden jener Tage sind vergeben und mit seinen Gebeinen begraben.
Ich war in Los Angeles. Ja.
Am sechsten Tag erreichte mich eine Nachricht von einer alten Beinah-Freundin aus Seattle. Sie war ebenfalls in L.A. und hatte durch das Freunde-von-Freunden-Netzwerk erfahren, dass ich hier war. Ob ich mal bei ihr vorbeischauen wolle?
Ich hinterließ eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter: Klar.
Als ich abends aus meiner Absteige kam, trat eine kleine Blondine an mich heran. Es war schon dunkel.
Sie sah mich eindringlich an, als versuche sie, mich mit einer Beschreibung abzugleichen, und sagte dann zögernd meinen Namen.
»Ja, genau. Du bist Tinks Freundin?«
»Stimmt. Wagen steht da hinten. Komm. Sie freut sich schon mächtig, dich wiederzusehen.«
Ihr Auto war einer von diesen riesigen alten Schlitten, die man irgendwie nur in Kalifornien zu sehen kriegt. Es roch nach aufgeplatzten, abblätternden Lederpolstern. Wir fuhren von wo immer wir waren nach wo immer es auch hingehen sollte.
Los Angeles war damals ein absolutes Mysterium für mich und ich kann nicht behaupten, dass ich es heute wesentlich besser verstehe. Ich begreife London und New York und Paris. Dort kann man einen Vormittag herumlaufen und dann weiß man, was sich wo befindet, und kann vielleicht die UBahn benutzen. Aber in Los Angeles dreht sich alles um Autos. Damals hatte ich noch gar keinen Führerschein und selbst heute fahre ich nicht Auto in Amerika. Meine Erinnerungen an Los Angeles sind durch Fahrten in anderer Leute Wagen verkettet ohne das geringste Gespür für die Form der Stadt, die Beziehungen zwischen den Leuten und den Orten. Die Symmetrie der Straßen, die Wiederholung von Struktur und Form bedeutet, dass, wann immer ich versuche, es mir als Gesamtheit vorzustellen, ich mich nur an die Unzahl winziger Lichter erinnere, die ich bei meinem ersten Besuch in der Stadt einmal nachts von dem Hügel im Griffith Park aus gesehen habe. Es war eins der schönsten Dinge, die ich je gesehen habe, aus der Entfernung.
»Siehst du das Haus da?«, fragte meine blonde Chauffeurin, Tinks Freundin. Es war ein Art-Déco-Bauwerk aus rotem Backstein, niedlich und doch ziemlich hässlich.
»Ja.«
»Das wurde in den Dreißigerjahren gebaut«, sagte sie voller Respekt und Stolz.
Ich machte irgendeine höfliche Bemerkung und versuchte, eine Stadt zu begreifen, in der fünfzig Jahre als eine lange Zeit galten.
»Tink ist ganz aus dem Häuschen. Seit sie gehört hat, dass du in der Stadt bist. Ganz aufgeregt.«
»Ich freu mich auch, sie wiederzusehen.«
Tinks voller Name war Tinkerbell Richmond. Echt wahr. Tinkerbell, wie die Fee in Peter Pan.
Sie wohnte bei Freunden in einem kleinen Apartmenthaus, ungefähr eine Autostunde von Downtown L.A. entfernt.
Was Sie über Tink wissen sollten, ist dies: Sie war zehn Jahre älter als ich, Anfang dreißig. Sie hatte glänzend schwarze Haare und rote, fragende Lippen und sehr weiße Haut wie Schneewittchen im Märchen. Als ich ihr zum ersten Mal begegnet war, glaubte ich, sie sei die schönste Frau der Welt.
Irgendwann war Tink mal eine Weile verheiratet gewesen und sie hatte eine fünfjährige Tochter namens Susan. Ich hatte Susan nie kennen gelernt. Als Tink in England gewesen war, war Susan bei ihrem Vater in Seattle geblieben.
Leute namens Tinkerbell nennen ihre Töchter Susan.
Die Erinnerung ist eine große Betrügerin. Vielleicht gibt es Individuen, deren Erinnerung wie ein Videorecorder funktioniert und vollständige, detaillierte Aufzeichnungen eines jeden Tages in ihrem Leben anfertigt, aber dazu zähle ich nicht. Meine Erinnerung ist ein Flickwerk aus Begebenheiten, unzusammenhängende Ereignisse, die mehr schlecht als recht zusammengeschustert sind. Die Teile, an die ich mich entsinne, habe ich präzise im Kopf, während andere Abschnitte komplett verschwunden zu sein scheinen.
Ich erinnere mich nicht mehr an meine Ankunft in Tinks Wohnung oder daran, wohin ihre Mitbewohnerin verschwand.
Ich weiß nur noch, dass ich irgendwann bei gedämpftem Licht mit Tink im Wohnzimmer auf dem Sofa saß.
Wir machten Smalltalk. Es war vielleicht ein Jahr her, seit wir uns zuletzt gesehen hatten. Doch ein einundzwanzigjähriger Bengel hat einer zweiunddreißigjährigen Frau wenig zu sagen. Und weil es sonst nichts gab, das uns verband, zog ich sie bald in meine Arme.
Fast mit einem Seufzer kuschelte sie sich an mich und präsentierte mir ihre Lippen. Sie wirkten schwarz im Halbdunkel. Wir küssten uns ein Weilchen auf der Couch und ich streichelte ihre Brüste durch die Bluse und dann sagte sie:
»Wir können nicht ficken. Ich hab meine Periode.«
»In Ordnung.«
»Ich kann dir einen blasen, wenn du willst.«
Ich nickte und sie öffnete den Reissverschluss meiner Jeans und vergrub den Kopf in meinem Schoß.
Nachdem ich gekommen war, stand sie auf und rannte in die Küche. Ich hörte sie in die Spüle spucken und Wasser laufen. Ich weiß noch, dass ich mich fragte, warum sie es getan hatte, wenn sie den Geschmack so verabscheute.
Dann kam sie zurück und wir saßen wieder nebeneinander auf dem Sofa.
»Susan ist oben und schläft«, sagte Tink. »Sie ist das Wichtigste in meinem Leben. Willst du sie sehen?«
»Von mir aus.«
Wir gingen nach oben. Tink führte mich in ein abgedunkeltes Schlafzimmer. Die Wände waren mit Kinderbildern bepflastert: Wachsmalstiftzeichnungen von geflügelten Feen und kleinen Palästen. Ein kleines blondes Mädchen lag im Bett und schlief.
»Sie ist wunderschön«, sagte Tink und küsste mich. Ihre Lippen waren immer noch ein bisschen klebrig. »Sie kommt nach ihrem Vater.«
Wir gingen wieder nach unten. Wir wussten nichts mehr zu sagen, nichts mehr zu tun. Tink schaltete das Deckenlicht ein. Zum ersten Mal sah ich die winzigen Krähenfüße um ihre Augen. Sie wirkten unpassend in ihrem perfekten Barbie-Gesicht.
»Ich liebe dich«, sagte sie.
»Danke.«
»Soll ich dich zurückfahren?«
»Wenn es dir nichts ausmacht, Susan allein zu lassen …?«
Sie zuckte mit den Schultern und ich zog sie ein letztes Mal an mich.
Nachts besteht Los Angeles nur aus Lichtern. Und Schatten.
An der Stelle folgt ein Loch in meiner Erinnerung. Ich weiß einfach nicht mehr, was als Nächstes passierte. Sie muss mich zu meiner Absteige zurückgefahren haben – wie sonst wäre ich dorthin gekommen? Ich erinnere mich nicht mal, sie zum Abschied geküsst zu haben. Vielleicht stand ich einfach auf dem Gehweg und sah ihr nach, als sie wegfuhr.
Vielleicht.
Ich weiß aber noch, als ich zu meiner Absteige kam, stand ich einfach da, unfähig, reinzugehen, mich zu waschen und schlafen zu legen, unwillig, irgendwas anderes zu tun.
Ich war nicht hungrig. Ich wollte keinen Alkohol. Ich wollte auch nicht lesen oder reden. Ich hatte Angst, zu weit wegzugehen, falls ich mich verirrte, von den sich wiederholenden Motiven der Stadt verhext, im Kreise gedreht und verschluckt zu werden, sodass ich nie wieder heimfinden würde. Central Los Angeles schien mir manchmal nichts weiter zu sein als ein Muster, ein sich ewig wiederholender Satz von Blocks: eine Tankstelle, ein paar Wohnhäuser, eine Mini-Passage (Doughnuts, Fotoladen, Waschsalon, Fastfood), die sich aneinander reihen, bis man hypnotisiert ist. Und die winzigen Variationen in den Mini-Passagen und Wohnhäusern dienen nur dazu, die Struktur zu verstärken.
Ich dachte an Tinks Lippen. Dann kramte ich in meiner Jackentasche und zog schließlich eine Packung Zigaretten hervor.
Ich steckte mir eine an, inhalierte und blies blauen Rauch in die warme Nachtluft.
Eine verkrüppelte Palme wuchs vor meiner Absteige und ich beschloss, ein Stück zu laufen und den Baum dabei im Blick zu behalten, meine Zigarette zu rauchen, vielleicht sogar ein bisschen nachzudenken, aber ich fühlte mich zu ausgelaugt, um nachzudenken. Ich fühlte mich vollkommen geschlechtslos und sehr allein.
Einen Block oder so die Straße runter stand eine Bank. Als ich hinkam, setzte ich mich. Ich warf meine Kippe hart auf den Gehweg und sah die orangefarbenen Funken in alle Richtungen spritzen.
Jemand sagte: »Ich kauf Ihnen eine Zigarette ab, Freund. Hier.«
Eine Hand vor meinem Gesicht, die einen Vierteldollar hielt. Ich sah auf.
Er wirkte nicht alt, obwohl ich nicht hätte sagen können, wie alt er sein mochte. Ende dreißig vielleicht. Oder Mitte vierzig. Er trug einen langen, schäbigen Mantel, farblos im Licht der Straßenlaterne, und seine Augen waren dunkel.
»Hier. Ein Quarter. Das ist ein guter Preis.«
Ich schüttelte den Kopf, zog mein Päckchen Marlboros aus der Tasche und hielt es ihm hin. »Behalten Sie Ihr Geld. Die kostet nichts. Bitte.«
Er nahm eine Zigarette. Ich gab ihm ein Streichholzbriefchen (eine Werbung für Telefonsex war darauf, das weiß ich noch) und er zündete seine Zigarette an. Er wollte mir die Streichhölzer zurückgeben, aber ich schüttelte den Kopf. »Behalten Sie die. Irgendwie sammel ich immer Unmengen von Streichholzbriefchen, wenn ich in Amerika bin.«
»Hm.« Er setzte sich neben mich und rauchte. Als die Zigarette zur Hälfte abgebrannt war, streifte er die Spitze am Asphalt ab, drückte die Glut aus und steckte sich den Stummel hinters Ohr.
»Ich rauche nicht viel«, sagte er. »Aber es wäre schade, die Hälfte einfach wegzuwerfen.«
Ein Auto raste die Straße entlang, fuhr in Schlangenlinie von einer Seite zur anderen. Vier junge Männer saßen darin, die zwei vorne zerrten beide am Lenkrad und lachten. Die Fenster waren offen und ich hörte ihr Lachen und die zwei auf dem Rücksitz (»Gary, du Arschloch! Was machst du denn, Mann?«) und den pulsierenden Rhythmus eines Rocksongs. Kein Song, den ich kannte. Der Wagen schleuderte um die Ecke und war verschwunden.
Bald verhallten auch die Geräusche.
»Ich schulde Ihnen was«, sagte der Mann auf der Bank.
»Bitte?«
»Ich bin Ihnen was schuldig. Für die Zigarette. Und die Streichhölzer. Sie wollten kein Geld. Jetzt bin ich Ihnen was schuldig.«
Ich zuckte verlegen die Schultern. »Ach, es war doch nur eine Zigarette. Ich denk mir immer, wenn ich mal keine hab, dann gibt mir vielleicht auch mal jemand eine aus.« Ich lachte, um zu zeigen, dass ich das nicht ernst meinte, obwohl ich es doch tat. »Vergessen Sie’s.«
»Tja. Möchten Sie eine Geschichte hören? Geschichten waren früher immer eine willkommene Bezahlung. Heutzutage …« – er hob viel sagend die Schultern – »… nicht mehr so.«
Ich lehnte mich auf der Bank zurück und die Nacht war warm und ich sah auf meine Uhr. Beinah ein Uhr morgens. In England hatte schon ein eisiger neuer Tag begonnen, ein Arbeitstag für diejenigen, die es schafften, den Schnee zu überwinden und zur Arbeit zu kommen, und wieder einmal waren vermutlich eine Handvoll alter Leute und Obdachloser in der Nacht erfroren.
»Sicher«, sagte ich zu dem Mann. »Nur zu, erzählen Sie mir eine Geschichte.«
Er hustete und grinste, wobei seine Zähne in der Finsternis aufblitzten, ehe er begann:
»Das Erste, woran ich mich entsinne, war das Wort. Und das Wort war Gott. Manchmal, wenn ich wirklich niedergeschlagen bin, dann erinnere ich mich an den Klang des Wortes in meinem Kopf, wie er mich formte, gestaltete, mir Leben gab.
Das Wort gab mir einen Leib, gab mir Augen. Und ich öffnete meine Augen und erblickte das Licht der Silbernen Stadt.
Ich war in einem Raum – einem silbernen Raum – und nichts und niemand außer mir war dort. Vor mir war ein Fenster, das vom Boden bis zur Decke reichte, und ich konnte die Türme der Stadt und den Himmel sehen und am Rande der Stadt die Finsternis.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort wartete. Aber ich war nicht ungeduldig oder so. Das weiß ich noch genau. Es war, als warte ich einfach, bis ich gerufen würde, und ich wusste, irgendwann würde ich gerufen werden. Und wenn ich bis zum Ende aller Dinge warten müsste und niemals gerufen würde, dann war es auch in Ordnung. Aber man würde mich rufen, da war ich sicher. Und dann würde ich meinen Namen und meinen Zweck erfahren.
Durch das Fenster sah ich die silbernen Türme und in vielen dieser Türme waren wiederum Fenster und hinter den Fenstern sah ich andere wie mich. Daher erfuhr ich, wie ich aussah.
Wenn Sie mich heute ansehen, werden Sie’s kaum glauben können, aber damals war ich schön. Seither ist es in der Welt allerdings ein gutes Stück abwärts mit mir gegangen.
Ich war größer und ich hatte Flügel.
Es waren riesige, kraftvolle Flügel mit perlmuttfarbenem Gefieder. Sie wuchsen einfach zwischen meinen Schulterblättern. Sie waren so wunderbar. Meine Flügel.
Manchmal sah ich andere wie mich, die ihre Räume schon verlassen hatten und bereits ihren Pflichten nachgingen. Ich sah sie von Turm zu Turm schweben und Aufgaben erfüllen, die ich mir kaum ausmalen konnte.
Der Himmel über der Stadt war etwas Wundervolles. Er war immer hell, obwohl von keiner Sonne beschienen, sondern vielleicht von der Stadt selbst. Doch die Schattierung des Lichts wandelte sich ständig. Mal hatte das Licht einen Zinnton, dann sah es aus wie Messing, dann wieder wie ein sanftes Gold oder es schimmerte weich und ruhiger wie ein Amethyst …«
Der Mann verstummte. Er sah mich an, den Kopf leicht zur Seite geneigt. In seinen Augen lag ein Glanz, der mir Angst machte. »Wissen Sie, was ein Amethyst ist? Eine Art purpurner Stein?«
Ich nickte.
Ich verspürte ein unangenehmes Gefühl in der Lendengegend.
Mir kam der Gedanke, dass der Mann vielleicht nicht verrückt war, und das fand ich weitaus beunruhigender als die Alternative.
Er begann wieder zu reden. »Ich weiß nicht, wie lange ich in meinem Raum wartete. Aber Zeit hatte keine Bedeutung. Damals nicht. Wir hatten alle Zeit der Welt.
Das Nächste, was geschah, war, dass der Engel Luzifer in meiner Zelle erschien. Er war größer als ich und seine Flügel waren höchst imposant, das Federkleid perfekt. Seine Haut hatte die Farbe von feinem Nebel auf See, sein Haar war silbrig und gelockt, die Augen ein wunderbares Grau …
Ich sage er, aber Sie müssen wissen, dass keiner von uns ein Geschlecht hatte, kein nennenswertes.« Er wies auf seinen Schoß. »Glatt und leer. Da ist nichts. Verstehen Sie?
Luzifer leuchtete. Ich meine das wörtlich, er strahlte von innen. Das tun alle Engel. Sie sind von innen her erleuchtet und der Engel Luzifer strahlte in meiner Zelle wie ein Blitzgewitter.
Er sah mich an. Und er gab mir meinen Namen.
›Du bist Raguel‹, sagte er. ›Die Rache des Herrn.‹
Ich senkte den Kopf, denn ich wusste, es war die Wahrheit. Das war mein Name. Und das war mein Zweck.
›Es hat sich etwas … Falsches ereignet‹, fuhr er fort. ›Zum ersten Mal ist etwas Derartiges geschehen. Du wirst gebraucht.‹
Er wandte sich ab und ließ sich ins Nichts fallen. Ich folgte ihm, flog hinter ihm über die Silberne Stadt bis zu den Außenbezirken, wo die Stadt endet und die Finsternis beginnt, und dort landeten wir im Schatten eines gewaltigen silbernen Turmes und ich entdeckte den toten Engel.
Der Leichnam lag verdreht und zerbrochen auf dem silbernen Gehweg. Seine Flügel waren unter ihm zerdrückt worden; ein paar lose Federn schon in die silberne Gosse geweht.
Der Leichnam war beinah dunkel. Dann und wann flackerte noch ein Licht in seinem Innern auf, ein gelegentliches Flimmern von kaltem Feuer in seiner Brust oder den Augen oder dem geschlechtslosen Schoß, während die letzten Reste seines Lebenslichts ihn für immer verließen.
Blutstropfen wie Rubine benetzten seine Brust und befleckten die weißen Federn seiner Flügel leuchtend rot. Er war sehr schön, selbst noch im Tod.
Hätten Sie ihn gesehen, es hätte Ihnen das Herz gebrochen.
Da sprach Luzifer zu mir: ›Du musst herausfinden, wer hierfür verantwortlich ist und wie es dazu kam, und du musst die Rache des Namens üben an dem, der dies verursacht hat.‹
Er hätte es im Grunde nicht sagen müssen. Ich wusste das schon. Die Jagd und die Vergeltung. Dafür war ich geschaffen worden am Anfang, das war es, was ich war.
›Ich muss mich um meine Arbeit kümmern‹, sagte der Engel Luzifer.
Er schlug einmal kräftig mit den Flügeln und stieg auf, der Luftzug wehte die losen Federn des toten Engels quer über die Straße.
Ich beugte mich über den Leichnam, um ihn zu untersuchen. Alles Leuchten war jetzt verschwunden. Er war ein dunkles Etwas, die Parodie eines Engels. Er hatte ein perfektes, geschlechtsloses Gesicht, umrahmt von silbernem Haar. Ein Lid war geöffnet und enthüllte ein sanftes graues Auge, das andere war geschlossen. Er hatte keine Brustwarzen und zwischen seinen Beinen war nur Glätte.
Ich hob den Oberkörper an. Die Flügel waren gebrochen und verdreht, der Hinterkopf eingedellt und eine gewisse Schlaffheit des Körpers schien darauf hinzudeuten, dass auch die Wirbelsäule gebrochen war. Der Rücken des Engels war voller Blut.
Vorne in der Brustgegend sah ich nur ein wenig Blut. Ich untersuchte sie mit dem Zeigefinger, der mühelos in den toten Körper eindrang.
Er ist gefallen, dachte ich. Doch er war schon tot, ehe er fiel.
Und ich sah zu den Fenstern auf beiden Seiten der Straße hinauf. Ich starrte zur Stadt hinüber. Du hast dies getan, dachte ich. Ich werde dich finden, wer auch immer du bist, und ich werde die Rache des Herrn an dir nehmen.«
Der Mann zog den Zigarettenstummel hinter dem Ohr hervor und zündete ihn an. Für einen kurzen Moment hatte ich einen beißenden, unschönen kalten Rauchgeruch in der Nase, dann nahm er einen tiefen Zug, sodass der unverbrannte Tabak zu glimmen begann, und er blies blauen Rauch in die Nachtluft.
»Der Engel, der die Leiche entdeckt hatte, hieß Phanuel.
Ich sprach mit ihm in der Halle des Seins. Das war der Turm, neben dem der tote Engel lag. In der Halle hingen die … die Pläne, könnte man vielleicht sagen, für das, was werden sollte … all dies.« Er gestikulierte mit der Hand, die den Zigarettenstummel hielt, wies auf den Nachthimmel und die geparkten Autos und die Welt. »Sie wissen schon. Das Universum.
Phanuel war der Chefgestalter. Unter ihm arbeitete eine Vielzahl von Engeln, die sich mit den Details der Schöpfung herumplagten. Ich beobachtete ihn vom Boden der Halle aus. Er hing in der Luft unter dem Plan und verschiedene Engel kamen zu ihm herabgeschwebt, warteten höflich, bis sie an der Reihe waren, und stellten ihm Fragen, baten ihn um Rat oder seine Meinung bezüglich ihrer Arbeit. Schließlich verließ er sie und kam zu mir herab.
›Du bist Raguel‹, sagte er. Seine Stimme klang hoch und hektisch. ›Was wünschst du von mir?‹
›Du hast die Leiche entdeckt?‹
›Den armen Carasel? Allerdings. Ich verließ die Halle … es gibt eine Reihe von Begriffen und Vorstellungen, die wir gerade konstruieren, und über eine davon wollte ich ihn Ruhe nachdenken – sie heißt übrigens Bedauern. Ich hatte die Absicht, ein wenig Distanz zur Stadt zu bekommen – hoch darüber zu fliegen, meine ich natürlich, nicht in die Finsternis dort draußen zu gehen, das würde ich nie tun, obwohl es in gewissen Kreisen allerhand dummes Gerede gegeben hat … Nun ja. Ich wollte emporsteigen und nachsinnen.
Ich verließ die Halle und dann …‹ Er brach ab. Für einen Engel war er recht klein. Sein Licht war gedämpft, doch die Augen lebhaft und strahlend. Ich meine, wirklich hell strahlend. ›Der arme Carasel. Wie konnte er sich das nur antun? Wie konnte er nur?‹
›Du glaubst, seine Vernichtung war selbst verschuldet?‹
Er schien verwirrt, überrascht, dass man eine andere Erklärung überhaupt in Betracht ziehen konnte. ›Aber natürlich. Carasel hat für mich gearbeitet und eine Reihe von Gegebenheiten entwickelt, die von wesentlicher Bedeutung für das Universum sein werden, wenn Sein Name Gesprochen wird. Seine Abteilung hat ganz großartige Arbeit bei der Entwicklung einiger Grundlagen geleistet. Dimension war eins ihrer Projekte, Schlaf ein weiteres. Und es gab noch andere.
Großartige Arbeit. Einige seiner Vorschläge bezüglich des Gebrauchs individueller Sichtweisen zur Definition von Dimensionen waren wahrhaft genial.
Wie dem auch sei. Er hatte ein neues Projekt begonnen. Es ist eins der ganz großen, die ich normalerweise selbst ausführe oder sogar Zephkiel.‹ Sein Blick glitt aufwärts. ›Aber Carasel hatte so fabelhafte Leistungen erbracht. Und sein letztes Projekt war so bemerkenswert … Etwas, das auf den ersten Blick eher belanglos erscheint, doch er und Saraquael haben es erhöht zu …‹ Er zuckte die Schultern. ›Aber das ist unwichtig. Es war dieses Projekt, das ihn in die Nonexistenz getrieben hat. Doch keiner von uns hätte vorhersehen können …‹
›Was war sein aktuelles Projekt?‹
Phanuel sah mich unverwandt an. ›Ich bin nicht sicher, ob ich dir das sagen darf. Alle neuen Entwürfe gelten als ausgesprochen sensible Angelegenheiten, bis wir sie in die endgültige Form bringen, in der sie schließlich Gesprochen werden sollen.‹
Ich spürte, wie ich mich verwandelte. Ich weiß nicht so recht, wie ich Ihnen das erklären soll, aber plötzlich war ich nicht mehr ich … Ich war etwas Größeres, Gewaltigeres geworden. In einer Art Transfiguration wurde ich zur Personifizierung meines Zwecks.
Phanuel konnte meinem Blick nicht standhalten.
›Ich bin Raguel, welcher ist die Rache des Herrn‹, sagte ich. ›Ich diene dem Namen unmittelbar. Es ist meine Mission, die Umstände dieser Tat zu enthüllen, und die Rache des Namens an den Verantwortlichen zu nehmen. Meine Fragen sind rückhaltlos zu beantworten!‹
Der kleine Engel bebte und er sprach hastig.
›Carasel und sein Partner recherchierten für den Themenkomplex Tod. Das Aufhören von Leben. Das Ende der physischen, beseelten Existenz. Sie waren dabei, alle Aspekte zusammenstellen. Aber Carasel ging immer zu weit mit seinem Engagement für seine Aufgabe. Wir hatten allerhand auszuhalten mit ihm, als er Erschütterung ausgearbeitet hat. Das war, als er Emotionen entwarf …‹
›Du meinst, Carasel sei gestorben, um … um das Phänomen zu erforschen?‹
›Oder weil es seine Neugierde erweckt hat. Oder weil er seine Recherche zu weit getrieben hat, ja.‹ Phanuel streckte die Finger aus und ballte sie wieder zu losen Fäusten. Mit seinen strahlenden Augen starrte er mich an. ›Ich gehe davon aus, dass du nichts von all dem vor unbefugten Personen wiederholst, Raguel.‹
›Was hast du gemacht, als du die Leiche gefunden hattest?‹
›Ich kam aus der Halle, wie ich schon sagte, und da lag Carasel auf dem Gehweg und starrte in den Himmel. Ich fragte ihn, was er da machte und er gab keine Antwort. Dann bemerkte ich das Austreten innerer Flüssigkeiten und erkannte, dass Carasel nicht unwillig, sondern unfähig war, mir zu antworten.
Ich fürchtete mich. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Plötzlich stand der Engel Luzifer hinter mir. Er fragte, ob es irgendein Problem gäbe. Ich hab es ihm erzählt, ihm den Leichnam gezeigt. Und dann … dann kam seine Wahre Erscheinung über ihn und er kommunizierte mit dem Namen. Er leuchtete so strahlend hell.
Dann sagte er, er müsse denjenigen holen, dessen Zweck auch solche Ereignisse hier umfasse, und er ging fort. Um dich zu suchen, nehme ich an.
Da man sich nun von offizieller Seite um Carasels Hinscheiden kümmerte und alles Weitere mich eigentlich nichts anging, begab ich mich wieder an die Arbeit, nachdem ich ein neues – und ich nehme an, höchst wertvolles – Verständnis des Phänomens Bedauern gewonnen hatte.
Ich erwäge, Carasels und Saraquaels Gruppe die Aufgabe Tod zu entziehen. Vielleicht übertrage ich sie Zephkiel, meinem Seniorpartner, wenn er sich ihrer annehmen will. Er ist unübertrefflich bei diesen kontemplativen Projekten.‹
Inzwischen wartete schon eine ganze Schlange von Engeln darauf, mit Phanuel zu reden. Ich hatte das Gefühl, dass ich beinah alles gehört hatte, was hier zu erfahren war.
›Mit wem hat Carasel zusammengearbeitet? Wer hat ihn als Letzter lebend gesehen?‹
›Am besten sprichst du mit Saraquael. Er war schließlich sein Partner. Und wenn du mich jetzt bitte entschuldigst …‹
Er wandte sich dem Schwarm seiner Helfer zu, beriet, korrigierte, schlug vor oder untersagte.«
Der Mann schwieg.
Auf der Straße herrschte jetzt Stille. Ich entsinne mich an das gedämpfte Flüstern seiner Stimme, das Zirpen einer Grille irgendwo in der Nähe. Ein kleines Tier – eine Katze vielleicht oder irgendetwas Exotischeres, ein Waschbär oder gar ein Schakal – huschte von Schatten zu Schatten zwischen den geparkten Autos auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
»Saraquael befand sich in der höchsten der offenen Galerien, die die Halle des Seins umgaben. Wie gesagt, das Universum war im Zentrum der Halle und es glitzerte und leuchtete und strahlte. Und es war ziemlich hoch …«
Ich unterbrach zum ersten Mal. »Dieses Universum, von dem Sie sprechen, war eine Art Diagramm oder so?«
»Eigentlich nicht. Ungefähr. So was Ähnliches. Es war ein Entwurf, aber in Originalgröße und es hing da in der Halle und all diese Engel machten sich die ganze Zeit irgendwie daran zu schaffen. Machten Geschichten wie Schwerkraft und Musik und Licht und so weiter. Es war eigentlich nicht das Universum, noch nicht. Das sollte es werden, wenn es fertig war und die Zeit kam, da es seinen rechten Namen erhalten sollte.«
»Aber …« Ich suchte nach Worten, um meine Verwirrung auszudrücken. Der Mann kam mir zuvor.
»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber. Stellen Sie es sich als Modell vor, wenn es das für Sie leichter macht. Oder einen Plan. Oder … wie heißt was Wort? Prototyp. Genau. Ein ModelT Ford Universum.« Er grinste. »Sie müssen begreifen, dass ich vieles von dem, das ich Ihnen erzähle, schon übersetze, versuche, es in Worte zu fassen, die Sie begreifen können. Sonst könnte ich Ihnen die Geschichte überhaupt nicht erzählen. Wollen Sie sie hören?«
»Ja.« Mir war gleich, ob sie wahr oder erfunden war. Es war eine Geschichte, die ich unbedingt bis zum Ende hören musste.
»Gut. Dann halten Sie den Mund und hören Sie zu.
Ich fand also Saraquael auf der obersten Galerie. Es war niemand in der Nähe, er war ganz allein dort mit ein paar Unterlagen und kleinen, leuchtenden Modellen.
›Ich bin wegen Carasel hier‹, sagte ich.
Er sah mich an. ›Carasel ist im Augenblick nicht da. Ich erwarte ihn aber bald zurück.‹
Ich schüttelte den Kopf.
›Carasel kommt nicht mehr zurück. Er hat als spirituelles Wesen aufgehört zu existieren‹, erklärte ich ihm.
Sein Licht verblasste und er riss die Augen weit auf. ›Er ist tot?‹
›Das sagte ich, ja. Hast du irgendeine Vorstellung, wie es passiert sein könnte?‹
›Ich … Das kommt so plötzlich. Ich meine, er hat davon geredet … aber ich hatte doch keine Ahnung … hätte nie gedacht, dass er …‹
›Immer mit der Ruhe.‹
Saraquael nickte.
Er stand auf und trat ans Fenster. Man hatte keinen Ausblick auf die Silberne Stadt von seinem Fenster. Es zeigte nur einen Widerschein vom Leuchten der Stadt und des Himmels, der hinter uns in der Luft hing, und jenseits davon die Finsternis. Der Wind, der aus der Finsternis kam, zerzauste Saraquael sanft die Haare, als er wieder zu sprechen begann. Ich starrte auf seinen Rücken.
›Carasel ist … nein, war. Das ist doch richtig, oder? War. Er war immer so engagiert. Und so kreativ. Doch das war ihm nie genug. Er wollte immer alles verstehen, wollte selbst erfahren, woran er gerade arbeitete. Er war nie damit zufrieden, es einfach zu schaffen, es intellektuell zu begreifen. Er wollte es ganz. Er wollte alles.
Das war früher nicht weiter schlimm, als wir an materiellen Dingen gearbeitet haben. Doch als wir anfingen, einige der Benannten Emotionen zu entwerfen … hatte er nicht mehr genug Distanz zu seiner Arbeit.
Und unser letztes Projekt war Tod. Es ist eins der ganz schwierigen, ich vermute, auch eins der ganz großen. Möglicherweise wird es gar das Attribut werden, das die Schöpfung für die Geschöpfe definiert: Ohne den Tod wären sie zufrieden, einfach nur zu existieren, doch durch den Tod, na ja, wird ihr Leben eine Bedeutung bekommen – eine Grenze, die die Lebenden nicht überschreiten können …‹
›Du meinst also, er hat sich selbst getötet?‹
›Ich weiß es‹, antwortete Saraquael. Ich trat ans Fenster und sah hinaus. Weit, sehr weit unten sah ich einen winzigen weißen Punkt. Das war Carasels Leichnam. Ich musste veranlassen, dass irgendwer sich darum kümmerte. Ich fragte mich, was wir wohl mit der Leiche tun würden, aber es gab gewiss jemanden, der es wusste, dessen Zweck die Beseitigung unerwünschter Dinge war. Das war nicht mein Zweck. Das wusste ich.
›Woher?‹
Er zuckte die Schultern. ›Ich weiß es einfach. In letzter Zeit stellte er ständig Fragen. Fragen über den Tod. Wie wir denn wissen sollten, ob es Recht oder Unrecht sei, diese Dinge zu schaffen und Regeln aufzustellen, wenn wir nicht selbst die Erfahrung machten. Er fing immer wieder davon an.‹
›Hat dich das nicht beunruhigt?‹
Saraquael wandte sich um und sah mich zum ersten Mal an. ›Nein. Das ist unser Zweck. Zu diskutieren, zu improvisieren, die Schöpfung und die Geschöpfe zu entwickeln. Wir machen all das gründlich, damit, wenn alles Beginnt, es wie am Schnürchen läuft. Derzeit bearbeiten wir den Tod. Also ist es selbstverständlich, dass wir uns damit befassen. Mit dem physischen Aspekt, dem emotionalen Aspekt, dem philosophischen Aspekt … Und mit den Mustern. Carasel hat immer geglaubt, dass das, was wir hier in der Halle des Seins tun, bestimmte Muster schafft. Dass es Strukturen und Formen gibt, die bestimmten Wesen oder Ereignissen angemessen sind, die, einmal begonnen, fortgesetzt werden müssen, bis sie zum Ende kommen. Für uns vielleicht ebenso wie für sie. Es wäre denkbar, dass er das Gefühl hatte, auch dies sei eins seiner Muster.‹
›Kanntest du Carasel gut?‹
›So gut man sich eben kennt, wenn man zusammen arbeitet. Wir waren hier meistens Seite an Seite. Manchmal zog ich mich in meine Zelle am andere Ende der Stadt zurück, manchmal tat er das Gleiche.‹
›Wie denkst du über Phanuel?‹
Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. ›Er ist sehr beflissen. Aber er tut im Grund nicht viel. Er delegiert alle Aufgaben und streicht die Lorbeeren für sich ein.‹ Er senkte die Stimme, obwohl sich niemand außer uns auf der Galerie befand. ›Wenn man ihn reden hört, könnte man meinen, Liebe sei sein Werk gewesen. Aber eins muss man ihm lassen: Er sorgt dafür, dass die Arbeit erledigt wird. Zephkiel ist der eigentliche Denker der beiden Chefgestalter, aber er kommt nie hierher. Er bleibt in seiner Zelle in der Stadt und brütet, findet die Lösungen für Probleme aus der Ferne. Wenn du mit Zephkiel sprechen musst, geh zu Phanuel, Phanuel wird deine Frage dann an Zephkiel weiterleiten …‹
›Was ist mit Luzifer?‹, unterbrach ich ihn. ›Erzähl mir, was du über ihn weißt.‹
›Luzifer? Der Befehlshaber der Heerscharen? Er arbeitet nicht hier … Er hat die Halle allerdings zweimal besucht, um die Schöpfung zu inspizieren. Es wird gemunkelt, er untersteht Dem Namen unmittelbar. Ich hab noch nie mit ihm gesprochen.‹
›Kannte er Carasel?‹
›Das bezweifle ich. Wie gesagt, er war nur zweimal hier. Ich habe ihn aber hin und wieder da draußen gesehen.‹ Er wies mit der Flügelspitze auf die Welt vor dem Fenster. ›Im Flug.‹
›Wohin?‹
Saraquael schien etwas sagen zu wollen, änderte dann aber seine Meinung. ›Ich weiß es nicht.‹
Ich sah aus dem Fenster auf die Finsternis jenseits der Silbernen Stadt.
›Ich werde später vielleicht noch einige Fragen an dich haben‹, sagte ich Saraquael.
›Natürlich.‹
Ich wandte mich ab.
›Weißt du, ob man mir einen neuen Partner zuteilen wird?‹, fragte er. ›Für Tod.‹
›Nein, tut mir Leid, das weiß ich nicht.‹
Im Zentrum der Silbernen Stadt war ein Park – ein Ort der Erholung und der Ruhe. Ich fand den Engel Luzifer dort am Ufer eines Flusses. Er stand einfach nur da und sah aufs Wasser.
›Luzifer?‹
Er neigte den Kopf. ›Raguel. Irgendwelche Fortschritte?‹
›Ich weiß es nicht. Vielleicht. Ich müsste dir ein paar Fragen stellen. Macht es dir etwas aus?‹
›Keineswegs.‹
›Wie kam es, dass du den Leichnam entdecktest?‹
›Das habe ich eigentlich nicht. Ich sah Phanuel auf der Straße stehen. Er wirkte verstört. Ich habe ihn gefragt, ob etwas nicht in Ordnung sei, und da zeigte er mir den toten Engel. Daraufhin habe ich dich geholt.‹
›Verstehe.‹
Er beugte sich vor und steckte die Hand ins kalte Wasser des Flusses. Es plätscherte und sprudelte um das Hindernis. ›Ist das alles?‹, fragte Luzifer.
›Nicht ganz. Was hattest du in dem Teil der Stadt zu suchen?‹
›Ich wüsste nicht, was dich das angeht.‹
›Es geht mich etwas an, Luzifer. Was hast du dort gemacht?‹
›Ich bin … gewandelt. Manchmal tue ich das. Ich wandele umher und denke nach. Und versuche zu begreifen.‹ Er zuckte mit den Schultern.
›Du wandelst am Rand der Stadt?‹
Ein kurzes Zögern. Dann: ›Ja.‹
›Das war alles, was ich wissen wollte. Fürs Erste.‹
›Mit wem sonst hast du gesprochen?‹
›Mit Carasels Boss und mit seinem Partner. Sie glauben beide, dass er sich selbst getötet hat.‹
›Und wen wirst du noch befragen?‹
Ich sah auf. Die Türme der Stadt der Engel ragten über uns auf. ›Vielleicht alle.‹
›Sie alle?‹
›Wenn es nötig ist. Das ist mein Zweck. Ich kann nicht rasten, ehe ich weiß, was passiert ist, ehe ich die Rache des Namens geübt habe an dem, der hierfür verantwortlich ist. Aber es gibt eine Tatsache, an der ich keinen Zweifel habe.‹
›Und zwar?‹ Wassertropfen fielen wie Diamanten von den makellosen Fingern des Engels Luzifer.
›Carasel hat sich nicht selbst getötet.‹
›Woher weißt du das?‹
›Ich bin die Rache‹, erinnerte ich den Befehlshaber der Heerscharen. ›Wäre Carasel von eigener Hand gestorben, wäre ich nicht gerufen worden. Richtig?‹
Er gab keine Antwort.
Ich stieg auf ins Licht des ewigen Morgens.
Haben Sie vielleicht noch eine Zigarette?«
Ich kramte das rot-weiße Päckchen hervor und gab ihm eine Zigarette.
»Vielen Dank.
Zephkiels Zelle war größer als meine.
Es war kein Ort des Wartens. Es war ein Ort zum Leben, zum Arbeiten, zum Sein. Die Wände waren mit langen Reihen von Büchern, Schriftrollen und Papieren bedeckt und grafische Darstellungen hingen dort. Bilder. Ich hatte nie zuvor ein Bild gesehen.
In der Raummitte stand ein ausladender Sessel und Zephkiel saß darin, die Augen geschlossen, den Kopf zurückgelehnt.
Als ich näher trat, schlug er die Lider auf.
Seine Augen strahlten nicht heller als die aller anderen Engel, denen ich begegnet war, aber irgendwie schienen sie mehr gesehen zu haben. Es war etwas in der Art, wie er schaute. Ich bin nicht sicher, ob ich es erklären kann. Und er hatte keine Flügel.
›Willkommen, Raguel‹, sagte er. Er klang erschöpft.
›Du bist Zephkiel?‹ Ich weiß nicht, warum ich ihn das fragte. Ich meine, ich wusste, wer die Leute waren. Es ist Bestandteil meines Zwecks, nehme ich an. Erkennen. Ich weiß, wer Sie sind.
›Ganz recht. Du gaffst, Raguel. Es ist wahr, ich habe keine Flügel, aber mein Zweck erfordert es nicht, dass ich diese Zelle verlasse. Ich bleibe hier und denke. Phanuel erstattet mir Bericht, bringt mir die neuen Vorschläge und erfragt meine Meinung. Er trägt mir die Probleme vor und ich denke über sie nach und manchmal mache ich mich mit ein paar kleinen Vorschlägen nützlich. Das ist mein Zweck. So wie die Rache der deine ist.‹
›Ja.‹
›Du bist hier wegen Carasels Tod?‹
›Ja.‹
›Ich habe ihn nicht getötet.‹
Als er es sagte, wusste ich, dass es die Wahrheit war.
›Weißt du, wer es getan hat?‹
›Das ist dein Zweck, oder? Zu enthüllen, wer das arme Wesen umgebracht hat, und die Rache des Namens zu üben.‹
›Ja.‹
Er nickte.
›Was möchtest du wissen?‹
Ich zögerte und überdachte, was ich bislang in Erfahrung gebracht hatte. ›Weißt du, was Luzifer in jenem Teil der Stadt tat, ehe der Leichnam gefunden wurde?‹
Der alte Engel sah mich unverwandt an. ›Ich denke, ich kann es erraten.‹
›Und zwar?‹
›Er ist in der Finsternis gewandelt.‹
Ich nickte. Vor meinem geistigen Auge sah ich jetzt eine Form. Etwas, das ich beinah greifen konnte. Ich stellte meine letzte Frage:
›Was kannst du mir über die Liebe sagen?‹
Und er erklärte es mir. Danach war ich sicher, alle Fakten beisammen zu haben.
Ich kehrte zu der Stelle zurück, wo Carasels Leichnam gelegen hatte. Alle Spuren waren beseitigt, das Blut war von der Straße gewaschen, die Federn eingesammelt und fortgebracht worden. Nichts auf dem silbernen Gehweg wies darauf hin, dass der Leichnam je dort gelegen hatte. Doch ich wusste es besser.
Ich schwang mich empor, bis ich beinah die Turmspitze der Halle des Seins erreicht hatte. Dort war ein Fenster, durch welches ich eintrat.
Saraquael war dort bei der Arbeit. Er legte eine flügellose Puppe in eine kleine Kiste. Auf einer Seite der Kiste war die Abbildung einer kleinen braunen Kreatur mit acht Beinen. An der anderen Seite war die Abbildung einer weißen Blüte.
›Saraquael?‹
›Hm? O, du bist es. Hallo. Sieh dir das hier mal an. Wenn du sterben solltest und, sagen wir mal, in einer Kiste in die Erde gelegt würdest, was möchtest du lieber auf deine Kiste gelegt bekommen? Eine Spinne – hier, oder eine Lilie – hier?‹
›Ich schätze, die Lilie.‹
›Ja, das meine ich auch. Aber warum? Ich wünschte …‹ Er legte die Hand ans Kinn, sah auf die beiden Modelle hinab, legte erst das eine versuchsweise auf den Deckel der Kiste, dann das andere. ›Es gibt so furchtbar viel zu tun, Raguel. So vieles, das gelingen muss. Und wir kriegen nur diese eine Chance, weißt du. Es wird nur dieses eine Universum geben – wir können nicht immer von neuem anfangen, bis es wirklich gut wird. Ich wünschte nur, ich könnte begreifen, warum Ihm all das so wichtig ist …‹
›Weißt du, wo Zephkiels Zelle ist?‹, fragte ich ihn.
›Ja. Ich meine, ich war noch nie dort, aber ich weiß, wo sie liegt.‹
›Gut. Begib dich dorthin. Er erwartet dich. Ich werde dir später dorthin folgen.‹
Er schüttelte den Kopf. ›Ich muss mich um meine Arbeit kümmern. Ich kann nicht einfach …‹
Ich spürte, wie mein Zweck über mich kam. Ich sah auf ihn hinab und sagte: ›Du wirst dorthin gehen. Jetzt gleich.‹
Er sagte nichts. Er wich vor mir zurück bis zum Fenster, wandte sich um, schlug mit den Flügeln und ich war allein.
Ich ging zur Mitte der offenen Halle und ließ mich fallen, trudelte abwärts durch das Modell des Universums. Es funkelte um mich herum, unbekannte Farben und Formen rauschten vorbei, bedeutungslos.
Als ich mich der Erde näherte, schlug ich mit den Flügeln, verlangsamte meinen Sturzflug und landete sacht auf dem Silberboden. Phanuel stand zwischen zwei Engeln, die gleichzeitig seine Aufmerksamkeit beanspruchten.
›Mir ist egal, wie ansprechend es deinem ästhetischen Empfinden erscheint‹, erklärte er gerade einem der beiden. ›Wir können sie nicht ins Zentrum verlegen. Die Hintergrundstrahlung würde verhindern, dass mögliche Lebensformen auch nur eine Chance bekämen. Und außerdem ist es zu instabil.‹
Er wandte sich an den anderen. »Also, lass mal sehen. Hmm. Das wäre dann Grün, ja? Es ist nicht genau das, was ich mir vorgestellt hatte, aber … Hm. Lass es mir erst einmal hier. Ich komme drauf zurück.‹ Er nahm dem Engel ein Blatt Papier aus der Hand und faltete es entschlossen.
Dann drehte er sich zu mir um. ›Ja?‹ Es klang brüsk; er wollte mich loswerden.
›Ich muss mit dir reden.‹
›Wie? Na schön, aber mach’s kurz. Ich bin sehr beschäftigt. Wenn es um Carasels Tod geht – ich habe dir alles gesagt, was ich weiß.‹
›Es geht in der Tat um Carasels Tod. Aber ich werde nicht jetzt mit dir reden. Und nicht hier. Begib dich zu Zephkiels Zelle. Er erwartet dich. Ich komme auch hin.‹
Er schien etwas sagen zu wollen, nickte aber nur und ging zur Tür.
Ich wollte mich ebenfalls abwenden, als mir ein Gedanke kam. Ich hielt den Engel zurück, der das Grün gemacht hatte. ›Verrat mir etwas.‹
›Wenn ich kann, sicher.‹
›Dieses Ding.‹ Ich wies auf das Universum. ›Wozu soll es gut sein?‹
›Gut sein? Nun ja, es ist das Universum.‹
›Ich weiß, wie es heißt. Aber welchem Zweck soll es dienen?‹
Er runzelte die Stirn. ›Es ist Teil des Plans. Der Name wünscht es. Er verlangt dieses und jenes in diesen Dimensionen und mit jenen Eigenarten und Zutaten. Unsere Aufgabe ist es, es nach Seinen Wünschen zu schaffen. Ich bin sicher, Er weiß, wozu, aber mich hat Er es nicht wissen lassen.‹ Ein leiser Vorwurf lag in seinem Tonfall.
Ich nickte und verließ die Halle.
Hoch über der Stadt flog eine Phalanx von Engeln in exakter Formation. Ein jeder hielt ein Flammenschwert, das einen blendenden Schweif aus Helligkeit hinter sich herzog. Absolut synchron bewegten sie sich durch den lachsfarbenen Himmel. Sie waren wunderschön. Es war … Sie haben doch bestimmt schon mal an einem Sommerabend einen Vogelschwarm beobachtet? Sie ziehen ihre Kreise und Bahnen, bilden Formationen und lösen sie wieder auf und gerade, wenn Sie meinen, Sie haben das System durchschaut, stellen Sie fest, dass Sie sich geirrt haben, dass Sie es nie begreifen werden. Das war so ähnlich, nur noch viel besser.
Über mir spannte sich der Himmel. Unter mir lag die leuchtende Stadt. Meine Heimat. Und außerhalb der Stadt, die Finsternis.
Luzifer schwebte ein Stück unterhalb der Heerscharen und beobachtete ihre Manöver.
›Luzifer?‹
›Ja, Raguel? Hast du den Übeltäter gefunden?‹
›Ich denke schon. Würdest du mich zu Zephkiels Zelle begleiten? Einige andere erwarten uns schon dort und ich werde alles erklären.‹
Er zögerte. Dann: ›Gewiss.‹
Er hob sein perfektes Gesicht zu den Engeln, die gerade eine Kreisformation am Himmel bildeten. Ein jeder bewegte sich im perfekten Gleichklang zum Nächsten durch die Luft, ohne dass sie sich je berührten. ›Azazel!‹
Ein Engel scherte aus dem Kreis aus und die anderen stellten sich beinah unmerklich darauf ein und schlossen die Lücke, sodass man nicht mehr sehen konnte, wo er gewesen war.
›Ich muss fort. Du hast das Kommando, Azazel. Lass sie weiter exerzieren. Sie sind noch lange nicht perfekt genug.‹
›Wird gemacht.‹
Azazel nahm Luzifers Platz ein und sah zu der Engelschar auf, während Luzifer und ich geradewegs zur Stadt hinunterflogen.
›Er ist mein Stellvertreter‹, erklärte Luzifer. ›Sehr intelligent. Engagiert. Azazel würde einem überallhin folgen.‹
›Wofür trainierst du sie?‹
›Krieg.‹
›Gegen wen?‹
›Wie meinst du das?‹
›Gegen wen sollt ihr kämpfen? Wen sonst gibt es denn überhaupt?‹
Er sah mich an, seine Augen waren klar und ehrlich. ›Ich weiß es nicht. Doch Er hat uns Seine Armee Genannt. Also werden wir perfekt. Für Ihn. Der Name ist unfehlbar, gerecht und allwissend, Raguel. Es kann nicht anders sein, ganz gleich was …‹ Er unterbrach sich und wandte den Blick ab.
›Was wolltest du sagen?‹
›Es ist ohne Belang.‹
›Ah.‹
Wir sprachen nicht mehr, bis wir zu Zephkiels Zelle kamen.«
Ich sah auf die Uhr. Es war beinah drei Uhr. Eine kühle Brise hatte sich erhoben und blies durch die nächtliche Straße in L.A. Ich fröstelte. Das entging dem Mann nicht und er unterbrach seine Geschichte. »Alles In Ordnung?«, fragte er.
»Mir geht’s bestens. Bitte fahren Sie fort. Die Geschichte ist faszinierend.«
Er nickte.
»Sie erwarteten uns in Zephkiels Zelle. Phanuel, Saraquael und Zephkiel. Zephkiel saß in seinem Sessel. Luzifer stellte sich nahe ans Fenster.
Ich trat in die Raummitte und begann:
›Ich danke euch allen, dass ihr hergekommen seid. Ihr wisst, wer ich bin, was mein Zweck ist. Ich bin die Rache des Namens, der Arm des Herrn. Ich bin Raguel.
Der Engel Carasel ist tot. Mir kam es zu herauszufinden, warum er starb und wer ihn getötet hat. Das habe ich getan. Nun denn. Der Engel Carasel war Gestalter in der Halle des Seins. Er war sehr gut oder das hat man mir zumindest gesagt …
Luzifer. Sage mir, was du getan hast, ehe du auf Phanuel und den Leichnam trafst.‹
›Ich bin gewandelt, wie du bereits weißt.‹
›Wo bist du gewandelt?‹
›Ich wüsste nicht, was dich das kümmern sollte.‹
›Sag es mir.‹
Er schwieg. Er war größer als jeder andere von uns. Groß und stolz. ›Meinetwegen. Ich bin in der Finsternis gewandelt. Ich wandele schon seit längerem in der Finsternis. Es hilft mir, die Stadt klarer zu sehen, wenn ich mich außerhalb befinde. Ich sehe, wie schön sie ist. Wie perfekt. Es gibt nichts Bezaubernderes als unser Heim. Nichts Vollständigeres. Keinen anderen Ort, wo irgendwer weilen wollte.‹
›Und was tust du in der Finsternis, Luzifer?‹
Er sah mich unverwandt an. ›Ich wandele. Und … es gibt Stimmen in der Finsternis. Ich lausche den Stimmen. Sie machen mir Versprechungen, stellen mir Fragen, sie flüstern und betteln. Und ich ignoriere sie. Ich stähle mich und blicke auf die Stadt. Es ist die einzige Möglichkeit, die ich habe, um mich zu prüfen, mich irgendwie auf die Probe zu stellen. Ich bin der Befehlshaber der Heerscharen. Ich bin der Erste unter den Engeln und ich muss mich beweisen.‹
Ich nickte. ›Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?‹
Er senkte den Blick. ›Weil ich der einzige Engel bin, der in der Finsternis wandelt. Weil ich nicht will, dass andere sich in die Finsternis begeben. Ich bin stark genug, die Stimmen herauszufordern, mich selbst zu prüfen. Andere sind weniger stark. Andere könnten straucheln. Oder auch fallen.‹
›Ich danke dir, Luzifer. Das wäre alles im Moment.‹ Ich wandte mich an den nächsten Engel. ›Phanuel. Wie lange schon hast du Carasels Arbeit als die deine ausgegeben?‹
Sein Mund öffnete sich, aber kein Laut kam heraus.
›Ich höre.‹
›Ich … ich würde mich niemals mit fremden Federn schmücken.‹
›Aber hast du nicht die Liebe als dein Werk ausgegeben?‹
Er blinzelte. ›Ja. Das stimmt.‹
›Würdest du uns freundlicherweise erklären, worum es sich bei der Liebe handelt?‹, bat ich.
Er sah sich unbehaglich um. ›Es ist ein Gefühl tiefer Zuneigung und Anziehung für ein anderes Wesen, oft gepaart mit Leidenschaft und Sehnen – dem Bedürfnis, beisammen zu sein.‹ Er sprach emotionslos, schulmeisterlich, als zitiere er eine mathematische Formel. ›Das Gefühl, welches wir für den Namen empfinden, unseren Schöpfer. Das ist Liebe. Eine ihrer Erscheinungsformen. Die Liebe wird ein Impuls sein, der im gleichen Maß inspiriert wie zerstört. Wir sind …‹ Er brach ab, sprach dann weiter: ›Wir sind sehr stolz darauf.‹
Es war ein tonloses Wispern. Er schien keine Hoffnung mehr zu hegen, dass wir ihm glauben würden.
›Wer hat den Großteil der Arbeit für das Projekt Liebe geleistet? Nein, sag nichts. Lass mich zuerst die anderen befragen. Zephkiel? Als Phanuel dir die Detailpläne für die Liebe zur Genehmigung vorgelegt hat, wen hat er als Hauptverantwortlichen genannt?‹
Der flügellose Engel lächelte milde. ›Er sagte mir, es sei sein Projekt.‹
›Vielen Dank. Und was sagst du, Saraquael? Wer hat die Liebe gemacht?‹
›Ich. Ich und Carasel. Vielleicht er in höherem Maß als ich, aber wir haben es zusammen erarbeitet.‹
›Wusstet ihr, dass Phanuel es als sein Werk ausgab?‹
›… Ja.‹
›Und das habt ihr zugelassen?‹
›Er … er versprach, dass er uns als Nächstes ein gutes eigenes Projekt übertragen würde. Er versprach, wenn wir nichts verrieten, würden wir in Zukunft mehr große Projekte bekommen. Und er hat Wort gehalten. Wir haben Tod bekommen.‹
Ich wandte mich wieder an Phanuel. ›Also?‹
›Es ist wahr, dass ich behauptet habe, die Liebe sei mein Werk.‹
›Doch sie war Carasels. Und Saraquaels.‹
›Ja.‹
›Ihr letztes Projekt vor Tod?‹
›Ja.‹
›Das ist alles.‹
Ich trat ans Fenster, sah auf die silbernen Türme und die Finsternis hinaus. Dann begann ich zu sprechen.
›Carasel war ein bemerkenswerter Gestalter. Wenn er einen Fehler hatte, dann war es der, dass er gar zu sehr in seiner Arbeit aufging.‹ Ich wandte mich ihnen wieder zu. Der Engel Saraquael zitterte und Lichter flackerten unter seiner Haut. ›Saraquael? Wen hat Carasel geliebt? Wer war sein Geliebter?‹
Er starrte zu Boden. Dann sah er auf, stolz und trotzig. Und er lächelte.
›Ich.‹
›Willst du mir davon erzählen?‹
›Nein.‹ Ein Achselzucken. ›Aber ich schätze, das muss ich wohl. Also schön.
Wir haben zusammen gearbeitet. Und als wir mit der Arbeit an der Liebe begannen, wurden wir Liebende. Es war seine Idee. Wir sind zu seiner Zelle gegangen, wann immer wir die Zeit finden konnten. Dort berührten wir einander, hielten uns, flüsterten uns Liebkosungen zu und Schwüre ewiger Treue. Sein Wohlergehen wurde mir wichtiger als meines. Ich existierte nur für ihn. Wenn ich allein war, murmelte ich seinen Namen vor mich hin und dachte an nichts als nur an ihn. Wenn ich mit ihm zusammen war …‹ Er schwieg einen Moment und sah zu Boden. ›Dann war alles andere gleichgültig.‹
Ich trat zu Saraquael, hob mit einer Hand sein Kinn und starrte in die grauen Augen. ›Warum hast du ihn dann getötet?‹
›Weil er mich nicht mehr lieben wollte. Als wir mit der Arbeit für Tod begannen, da … verlor er das Interesse. Er gehörte mir nicht mehr. Er gehörte dem Tod. Und wenn ich ihn nicht mehr haben konnte, dann war er seinem neuen Liebsten von Herzen gegönnt. Ich konnte seine Gegenwart nicht mehr ertragen. Ich konnte es nicht aushalten, in seiner Nähe zu sein und zu wissen, dass er nichts für mich empfand. Das war es, was am meisten wehgetan hat. Ich dachte … ich hoffte … wenn er fort wäre, könnte ich meine Gefühle wieder beherrschen. Und der Schmerz würde aufhören.
Also habe ich ihn getötet. Ich habe ihn erstochen und dann aus unserem Fenster in der Halle des Seins geworfen. Aber der Schmerz hat nicht aufgehört.‹ Es war fast ein Aufschrei.
Saraquael hob die Hand und befreite sein Kinn aus meinem Griff. ›Und jetzt?‹
Ich fühlte, wie meine wahre Erscheinung über mich kam, spürte, wie mein Zweck von mir Besitz ergriff. Ich war kein Individuum mehr. Ich war die Rache des Herrn.
Ich trat näher an Saraquael heran und umarmte ihn. Dann presste ich meine Lippen auf seine und zwang meine Zunge in seinen Mund. Wir küssten uns. Er schloss die Augen.
Ich spürte etwas in mir aufwallen, ein Brennen, ein Leuchten. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Luzifer und Phanuel die Gesichter von meinem Licht abwandten. Ich spürte Zephkiels unverwandten Blick. Und mein Licht strahlte heller und heller, bis es hervorbrach. Aus den Augen, der Brust, den Fingern und den Lippen: ein weißes, alles versengendes Feuer.
Die weißen Flammen verzehrten Saraquael langsam und er klammerte sich an mich, während er brannte.
Kurz darauf war nichts von ihm übrig. Überhaupt nichts.
Ich spürte, wie die Flamme mich verließ. Ich wurde wieder ich selbst.
Phanuel schluchzte. Luzifer war bleich. Zephkiel saß in seinem Sessel und betrachtete mich gelassen.
Ich wandte mich an Phanuel und Luzifer. ›Ihr wart Zeuge der Rache des Herrn‹, sagte ich. ›Lasst es euch eine Warnung sein.‹
Phanuel nickte. ›Das war es. O, das war es. Ich … ich mache mich auf den Weg. Ich würde gern an meine Arbeit zurückkehren. Wenn du erlaubst?‹
›Geh.‹
Er stolperte zum Fenster und warf sich ins Licht, während er heftig mit den Flügeln schlug.
Luzifer trat zu der Stelle, wo Saraquael gestanden hatte. Er kniete sich hin und starrte auf den Silberboden hinab, so als suche er verzweifelt nach irgendwelchen Überresten des Engels, den ich vernichtet hatte, ein Ascheflöckchen, einen Knochen oder eine verkohlte Feder, aber es gab nichts zu finden. Dann blickte er zu mir auf.
›Das war nicht richtig‹, sagte er. ›Nicht gerecht.‹ Er weinte. Tränen rannen über sein Gesicht. Vielleicht war Saraquael der Erste, der liebte, doch Luzifer war der Erste, der Tränen vergoss. Das werde ich niemals vergessen.
Ich erwiderte seinen Blick unbewegt. ›Es war Gerechtigkeit. Er hatte einen anderen getötet. Darum musste er getötet werden. Du hast mich aufgefordert, meine Aufgabe zu erfüllen, und das habe ich getan.‹
›Aber … er hat geliebt. Er hätte Vergebung finden müssen. Und Hilfe. Er hätte nicht einfach so vernichtet werden dürfen. Das war unrecht.‹
›Es war Sein Wille.‹
Luzifer erhob sich. ›Dann ist es vielleicht Sein Wille, der unrecht ist. Vielleicht haben die Stimmen in der Finsternis doch Recht. Wie kann dies hier recht sein?‹
›Es ist recht. Es ist Sein Wille. Ich habe nur meinen Zweck erfüllt.‹
Er wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. ›Nein‹, sagte er entschieden. Er schüttelte den Kopf, nachdrücklich und langsam. ›Ich muss darüber nachdenken. Ich werde jetzt gehen.‹
Er ging zum Fenster, trat in den Himmel hinaus und war verschwunden.
Zephkiel und ich blieben allein in seiner Zelle zurück. Ich ging zu seinem Sessel hinüber. Er nickte mir zu. ›Du hast deine Aufgabe gut gemacht, Raguel. Solltest du jetzt nicht zu deiner Zelle zurückkehren und warten, bis du das nächste Mal gerufen wirst?‹«
Der Mann auf der Bank wandte sich mir zu und suchte meinen Blick. Bisher hatte ich den Eindruck gehabt, er sei sich meiner Anwesenheit kaum bewusst. Er hatte vor sich hin gestarrt und seine Geschichte in einer Art monotonem Flüstern erzählt. Jetzt war es plötzlich, als habe er mich entdeckt und spreche zu mir allein, nicht zur Nacht oder der Stadt der Engel. Und er sagte:
»Ich wusste, dass er Recht hatte. Aber ich hätte in dem Moment nicht gehen können, selbst wenn ich gewollt hätte. Meine Erscheinung war noch nicht vollständig abgeklungen, mein Zweck noch nicht ganz erfüllt. Dann erkannte ich plötzlich die Wahrheit und alles ergab einen Sinn. Und genau wie Luzifer fiel ich auf die Knie, berührte den Silberboden mit der Stirn. ›Nein, Herr‹, sagte ich. ›Noch nicht.‹
Zephkiel erhob sich aus seinem Sessel. ›Steh auf. Es ist unpassend für einen Engel, sich einem anderen gegenüber so zu verhalten. Nicht recht. Steh auf!‹
Ich schüttelte den Kopf. ›Vater, Du bist kein Engel‹, flüsterte ich.
Zephkiel schwieg. Einen Augenblick war mein Herz von bösen Ahnungen erfüllt, ich fürchtete mich. ›Vater, mir wurde aufgegeben herauszufinden, wer für Carasels Tod verantwortlich ist. Und ich weiß, wer verantwortlich ist.‹
›Du hast deine Rache geübt, Raguel.‹
›Deine Rache, Herr.‹
Und dann seufzte er und setzte sich wieder. ›Ach, kleiner Raguel. Das Problem mit den Dingen, die man erschafft, ist, dass sie so viel besser funktionieren, als man je geplant hat. Darf ich fragen, wie du mich erkannt hast?‹
›Ich … ich bin nicht sicher, Herr. Du hast keine Flügel. Du wartest im Zentrum der Stadt und überwachst die Schöpfung unmittelbar. Als ich Saraquael vernichtet habe, hast Du den Blick nicht abgewandt. Du weißt zu viele Dinge. Du …‹ Ich unterbrach mich und überlegte einen Moment. ›Nein, ich weiß nicht, wieso ich es weiß. Wie Du sagtest, Du hast mich so erschaffen, dass ich gut funktioniere. Aber ich habe erst begriffen, wer Du bist und welche Bedeutung dieses Drama hier hatte, als Luzifer ging.‹
›Was hast du begriffen, Kind?‹
›Wer Carasel getötet hat. Oder wer zumindest die Fäden in der Hand hatte und aus dem Hintergrund manipulierte. Wer hat beispielsweise veranlasst, dass Carasel und Saraquael zusammen an Liebe gearbeitet haben, obwohl doch Carasels Neigung, sich in übertriebener Weise auf ein Thema einzulassen, bekannt war?‹
Er sprach sanft mit mir, fast spöttelnd, wie ein Erwachsener, der vorgibt, eine ernste Unterhaltung mit einem kleinen Kind zu führen. ›Warum sollte irgendwer aus dem Hintergrund manipuliert haben, Raguel?‹
›Weil nichts ohne Grund geschieht und Du bist alle Gründe. Du hast Saraquael in die Falle gelockt. Ja, er hat Carasel getötet. Aber er hat Carasel getötet, damit ich ihn vernichten konnte.‹
›Und war es Unrecht von dir, ihn zu vernichten?‹
Ich sah in seine uralten Augen. ›Es war meine Aufgabe. Aber ich glaube nicht, dass es recht war. Ich vermute, es war notwendig, dass ich Saraquael vernichte, um Luzifer die Ungerechtigkeit des Herrn zu demonstrieren.‹
Da lächelte er. ›Und welchen Grund sollte ich dafür wohl haben?‹
›Ich … ich weiß nicht. Ich verstehe es nicht. Genauso wenig wie ich verstehe, warum Du die Finsternis oder die Stimmen in der Finsternis geschaffen hast. Doch das hast Du. Und Du hast veranlasst, dass all dies geschah.‹
Er nickte. ›Ja, das habe ich. Luzifer muss über die Ungerechtigkeit von Saraquaels Schicksal grübeln. Und unter anderem wird es dies sein, was ihn zu bestimmten Handlungen treibt. Mein armer, guter Luzifer. Von all meinen Kindern wird er den schwersten Weg haben, denn er hat eine Rolle zu spielen in dem Drama, das kommen wird. Und es ist eine grandiose Rolle.‹
Ich kniete wortlos vor dem Schöpfer Aller Dinge.
›Was wirst du jetzt tun, Raguel?‹, fragte er mich.
›Ich muss in meine Zelle zurückkehren. Meine Aufgabe ist nun erfüllt. Ich habe Rache geübt und ich habe den Täter entlarvt. Das ist genug. Aber … Herr?‹
›Ja, mein Kind.‹
›Ich fühle mich schmutzig. Unrein. Ich fühle mich besudelt. Vielleicht ist es wahr, dass alles, was geschieht, Dein Wille und darum gut ist. Doch manchmal hinterlässt Du Blut an Deinen Werkzeugen.‹
Er nickte, als stimme er mir zu. ›Wenn du möchtest, kannst du all dies vergessen, Raguel. Alles, was heute geschehen ist.‹ Dann fügte er hinzu. ›Du wirst jedoch nie einem anderen Engel hiervon erzählen können, ganz gleich ob du Vergessen oder Erinnerung wählst.‹
›Ich wähle Erinnerung.‹
›Die Entscheidung liegt ganz bei dir. Aber du wirst feststellen, dass es manchmal einfacher ist, sich nicht zu erinnern. Vergessen kann eine Art Freiheit bedeuten. Und wenn du mich nun entschuldigen willst.‹ Er nahm eine Mappe von dem Stapel am Boden. ›Ich habe zu arbeiten.‹
Ich stand auf und ging zum Fenster. Ich hoffte, Er werde mich zurückrufen, mir Seinen Plan in allen Einzelheiten erklären, es irgendwie besser machen. Doch Er sagte nichts mehr und ich verließ Ihn, ohne zurückzuschauen.«
Dann schwieg der Mann. Er war so lange vollkommen still – ich konnte ihn nicht einmal mehr atmen hören –, dass ich schließlich unruhig wurde und schon fürchtete, er sei eingeschlafen oder gestorben.
Dann erhob er sich.
»Das war’s, Kumpel. Deine Geschichte. Meinst du, sie war zwei Zigaretten und ein Streichholzbriefchen wert?« Er fragte ohne Ironie, so als liege ihm tatsächlich etwas an der Antwort.
»Ja«, versicherte ich. »Allerdings. Aber was passierte danach? Wie bist du … Ich meine, wenn …« Ich brach ab.
Es war jetzt finster auf der Straße, kurz vor Tagesanbruch. Die Straßenlaternen waren nach und nach flackernd verloschen und ich sah ihn als Schattenriss vor dem ersten Schimmer am Himmel. Er vergrub die Hände in den Taschen. »Was passiert ist? Ich bin von daheim weggegangen und hab mich verlaufen und heute bin ich sehr weit weg von zu Hause. Manchmal tut man Dinge, die man bedauert, aber man kann sie nicht ungeschehen machen. Die Zeiten ändern sich. Türen schlagen hinter einem zu und man zieht weiter. Verstehst du?
Schließlich bin ich hier gelandet. Es heißt immer, niemand ist je gebürtig aus L.A. Absolut wahr in meinem Fall. Teuflisch wahr.«
Und ehe ich noch ganz begriff, was er tat, beugte er sich zu mir runter und küsste mich sanft auf die Wange. Seine Bartstoppeln kratzten, aber sein Atem, war erstaunlich angenehm. Er flüsterte mir ins Ohr: »Ich bin nie gefallen. Sie können sagen, was sie wollen. Ich mache immer noch meinen Job, so wie ich ihn verstehe.«
Meine Wange brannte, wo die Lippen sie berührt hatten.
Er richtete sich auf. »Aber trotzdem ginge ich gern wieder nach Hause.«
Der Mann ging die dunkle Straße hinab und ich saß auf der Bank und schaute ihm nach. Ich hatte das Gefühl, als habe er mir irgendetwas genommen, aber ich konnte mich nicht mehr entsinnen, was es war. Und ebenso spürte ich, dass er mir stattdessen etwas gegeben hatte. Absolution vielleicht. Oder Unschuld. Eine Art Lossprechung, aber von was, konnte ich nicht mehr sagen.
Plötzlich kam ein Bild in meinen Kopf: eine gekritzelte Zeichnung von zwei Engeln im Flug über einer vollkommenen Stadt und über dem Bild der vollkommene Handabdruck eines Kindes, der das weiße Papier blutrot befleckt. Es kam mir ungebeten in den Sinn und ich weiß nicht mehr, was es bedeutete.
Ich stand auf.
Es war zu dunkel, um das Zifferblatt meiner Uhr zu erkennen, aber ich wusste, dass ich heute keinen Schlaf finden würde. Ich ging zurück zu meiner Absteige in dem Haus mit der verkrüppelten Palme, um mich zu waschen und zu warten. Ich dachte an Engel und an Tink und ich fragte mich, ob Liebe und Tod Hand in Hand gehen.
Am nächsten Tag gingen endlich wieder Flüge nach England.
Ich fühlte mich seltsam. Der Schlafmangel hatte mich in diesen scheußlichen Zustand versetzt, wo alles belanglos und gleichzeitig bedeutsam erscheint, wo alles egal ist und die Realität dünn und fadenscheinig wirkt. Die Taxifahrt zum Flughafen war ein Albtraum. Mir war heiß, ich war müde und schlecht gelaunt. Ich trug ein TShirt in der kalifornischen Hitze; mein Mantel lag ganz unten in meinem Koffer, wo ich ihn bei meiner Ankunft verstaut hatte.
Das Flugzeug war total ausgebucht, aber das war mir gleich.
Die Stewardess ging mit einem Stapel Zeitungen den Gang entlang: Herald Tribune, USA Today und die L.A. Times. Ich nahm eine Times, aber die Worte verflüchtigten sich aus meinem Kopf, sobald meine Augen sie aufnahmen. Nichts, was ich las, blieb mir im Gedächtnis. Nein, das ist gelogen. Irgendwo auf einer der letzten Seiten stand ein Bericht über einen dreifachen Mord: zwei Frauen und ein kleines Kind. Namen wurden nicht genannt und ich weiß nicht, wieso der Bericht mir in Erinnerung blieb.
Bald schlief ich ein. Ich träumte, dass ich Tink vögelte, während zähflüssiges Blut aus ihren geschlossenen Augen und dem Mund rann. Das Blut war kalt und eklig und nass und ich erwachte mit einem scheußlichen Geschmack im Mund und frierend. Die klimatisierte Luft im Flugzeug war kalt. Ich sah aus dem verkratzten, ovalen Fenster, starrte auf die Wolken hinab und es kam mir (nicht zum ersten Mal) so vor, als seien die Wolken in Wirklichkeit ein Land, ein anderes Land, wo jeder wusste, was er suchte und wie man dahin zurückkam, von wo man aufgebrochen war.
Auf die Wolken hinabzublicken ist eins von den Dingen, die mir am Fliegen immer gefallen haben. Das und die Nähe zum eigenen Tod, die man spürt.
Ich hüllte mich in eine dünne Flugzeugdecke und schlief wieder ein, doch wenn ich irgendetwas geträumt habe, ist es mir jedenfalls nicht in Erinnerung geblieben.
Kurz nach der Landung in England erhob sich ein Schneesturm und verursachte einen Stromausfall im Flughafengebäude. Ich war gerade allein in einem Aufzug. Es wurde dunkel und er blieb zwischen zwei Stockwerken stecken. Ein schwaches Notlicht flackerte auf. Ich drückte den roten Alarmknopf, bis die Batterien leer waren und der Alarmton verstummte. Dann stand ich zitternd in meinem TShirt in einer Ecke meines kleinen silbernen Raums. Ich sah meinen Atem Dampfwolken formen und schlang die Arme um den Oberkörper, um mich zu wärmen.
Nichts und niemand war dort außer mir, trotzdem fühlte ich mich sicher und gut aufgehoben. Bald würde irgendwer kommen und die Tür aufstemmen. Früher oder später würde man mich befreien. Und ich wusste, dass ich bald zu Hause sein würde.