Nur mal wieder das Ende der Welt



Es war ein schlechter Tag. Ein Magenkrampf weckte mich. Ich lag in meinem Bett, nackt, und fühlte mich ziemlich schauderhaft. Irgendetwas an der Beschaffenheit des Lichts, langgezogen und metallisch, wie die Tönung einer Migräne, sagte mir, dass es Nachmittag war.

Das Zimmer war im wahrsten Sinn des Wortes eiskalt. Die Innenseite des Fensters war mit einer dünnen Eiskruste überzogen. Die Laken waren zerknüllt und wiesen lange Risse auf. Das Bett war voller Tierhaare. Es juckte.

Ich erwog, die ganze nächste Woche im Bett zu bleiben. Nach einer Verwandlung bin ich immer müde. Doch eine Welle der Übelkeit zwang mich, die zerfetzte Decke wegzustrampeln und hastig in das winzige Bad meiner Behausung zu stolpern.

Der Krampf setze wieder ein, als ich die Badezimmertür erreichte. Ich hielt mich am Türrahmen fest, während mir der Schweiß ausbrach. Vielleicht hatte ich Fieber. Ich hoffte nur, ich hatte mir nicht irgendwas eingefangen.

Der Krampf war ein scharfer Schmerz in meinen Eingeweiden und mir wurde schwindelig. Zusammengekrümmt fiel ich zu Boden und ehe ich den Kopf auf Toilettenhöhe heben konnte, fing ich an zu spucken.

Ich erbrach eine übel riechende, dünne gelbe Flüssigkeit. Darin fanden sich eine Hundepfote – ich tippte auf Dobermann, aber ich versteh mich nicht besonders auf Hunde –, ein Stück Tomatenhaut, gewürfelte Karotten, Mais, einige halb zerkaute rohe Fleischbrocken und ein paar Finger. Es waren ziemlich kleine, bleiche Finger, offenbar die eines Kindes.

»Scheiße.«

Die Krämpfe ließen nach und die Übelkeit verebbte. Ich lag auf dem Boden, stinkender Geifer lief mir aus Mund und Nase und die Tränen, die man weint, wenn man sich übergeben muss, trockneten auf meinen Wangen.

Als ich mich ein wenig besser fühlte, las ich die Pfote und die Finger aus der unappetitlichen Pfütze, warf sie in die Toilette und betätigte die Spülung.

Ich drehte den Wasserhahn auf, spülte mir mit dem salzigen Innsmouth-Wasser den Mund und spuckte es aus. Dann wischte ich das restliche Erbrochene so gut ich konnte mit Waschlappen und Toilettenpapier auf. Schließlich stellte ich das Wasser der Dusche an und stand in der Wanne wie ein Zombie, während das heiße Wasser an mir herablief.

Ich seifte mich ein, sowohl Körper als auch Haare. Der mickrige Schaum wurde grau, ich muss vollkommen verdreckt gewesen sein. Mein Haar war mit etwas verklebt, das sich wie getrocknetes Blut anfühlte, und ich bearbeitete es mit der Seife, bis alles weg war. Ich blieb unter der Dusche stehen, bis das Wasser eisig wurde.

Unter der Tür lag eine Nachricht von meiner Wirtin. Sie besagte, ich schulde ihr seit zwei Wochen die Miete. Sie besagte weiter, alle Antworten stünden im Buch der Offenbarung. Und ich habe ziemlichen Lärm gemacht, als ich in den frühen Morgenstunden heimgekommen sei. Sie wäre mir ausgesprochen dankbar, wenn ich in Zukunft etwas leiser sein könnte. Und sie besagte, wenn die Älteren Götter aus dem Meer aufstiegen, dann würden alle Ungläubigen, aller Abschaum dieser Erde, all das menschliche Treibgut, alle Taugenichtse und Schmarotzer hinweggefegt und die Welt werde gereinigt mit Eis und tiefem Wasser. Und schließlich wolle sie mich daran erinnern, dass sie mir bei meinem Einzug ein Fach im Kühlschrank zugewiesen habe, auf das ich mich in Zukunft doch bitte beschränken möge.

Ich zerknüllte den Zettel und warf ihn zu Boden. Er landete zwischen einer Big-Mac-Schachtel, einem leeren Pizzakarton und einem vertrockneten, schrumpeligen Stück Pizza.

Es wurde Zeit, zur Arbeit zu gehen.

Ich war seit zwei Wochen in Innsmouth und ich konnte es nicht leiden. Es roch fischig. Man fühlte sich eingepfercht in dieser kleinen Stadt: ein Sumpfgebiet im Osten, Klippen im Westen und in der Mitte ein Hafen mit ein paar halb verrotteten Fischerbooten. Nicht einmal bei Sonnenuntergang war es hier malerisch. Trotzdem waren die Yuppies in den Achtzigern nach Innsmouth gekommen und hatten die pittoresken Fischerhäuschen mit Blick auf den Hafen erworben. Seit ein paar Jahren waren die Yuppies verschwunden und die Häuschen an der Bucht lagen verlassen und verfielen.

Die Einwohner von Innsmouth lebten hier und da über die Stadt verteilt und in den Caravansiedlungen, die sie umringten; Reihe um Reihe vergammelter Wohnwagen, die niemals irgendwohin fuhren.

Ich zog mich an, stieg in meine Stiefel, streifte den Mantel über und verließ das Zimmer. Meine Wirtin war nirgends zu sehen. Sie war eine kleine, glupschäugige Frau, die wenig sprach, obwohl sie ausführliche schriftliche Mitteilungen für mich verfasste und an die Tür oder sonstwohin pappte, wo ich sie finden würde. Ständig war das Haus vom Geruch nach kochenden Meeresfrüchten erfüllt, denn riesige Töpfe köchelten unablässig auf ihrem Herd, gefüllt mit irgendwelchen Dingern, die zu viele Beine hatten, oder anderen, die überhaupt keine Beine hatten.

Es gab weitere Zimmer im Haus, aber niemand außer mir hatte eines gemietet. Niemand bei klarem Verstand würde im Winter nach Innsmouth kommen.

Vor dem Haus roch es nicht viel besser, doch wenigstens war es kälter. Mein Atem dampfte in der Seeluft. Der Schnee auf der Straße war verharscht und verdreckt und die Wolken verhießen weitere Schneefälle.

Ein kalter, salziger Wind wehte von der Bucht herüber. Die Möwen schrien kläglich. Ich fühlte mich beschissen. In meinem Büro war es sicher auch eiskalt. An der Ecke Marsh Street und Leng Avenue war eine Bar, The Opener, ein gedrungenes Bauwerk mit winzigen, dunklen Fenstern, an dem ich in den letzten vierzehn Tagen zwei Dutzend Mal vorbeigekommen war. Ich hatte es noch nie betreten, aber ich brauchte wirklich was zu trinken und vielleicht war es da ja wärmer. Ich drückte die Tür auf.

In der Bar war es tatsächlich warm. Ich stampfte, bis der Schnee von meinen Stiefeln fiel, dann trat ich ein. Der Schankraum war fast leer und roch nach alten Aschenbechern und schalem Bier. Zwei ältere Männer saßen an der Theke und spielten Schach. Der Barkeeper las eine alte, zerfledderte, in goldenes und grünes Leder gebundene Ausgabe der Gedichte von Alfred Lord Tennyson.

»Hey. Kann ich einen Jack Daniel’s bekommen? Pur, ohne Eis.«

»Sicher. Sie sind neu in der Stadt«, verkündete er, legte sein Buch aufgeschlagen auf die Theke und schenkte ein.

»Sieht man das?«

Er lächelte und reichte mir meinen Jack Daniel’s. Das Glas war schmutzig, hatte einen schmierigen Daumenabdruck an der Seite, aber ich zuckte die Schultern und kippte meinen Whiskey. Ich schmeckte so gut wie nichts.

»Ist das Ihr Katerfrühstück?«, fragte der Barkeeper, dessen fuchsrote Haare mit Pomade zurückgekämmt waren.

»Wenn Sie so wollen.«

»Manche Leute glauben, man könne einem Lykanthropen seine natürliche Gestalt zurückgeben, indem man ihm dankt, während er in Wolfsgestalt ist, oder ihn beim Namen ruft.«

»Ehrlich? Tja, vielen Dank.«

Ungebeten schenkte er mir nach. Er sah ein bisschen wie Peter Lorre aus, aber die meisten Leute in Innsmouth sehen ein bisschen wie Peter Lorre aus, meine Wirtin eingeschlossen.

Ich leerte mein Glas. Dieses Mal spürte ich den Whiskey bis in den Magen hinab brennen, so wie es sein sollte.

»So sagt man. Das heiß nicht, dass ich das glaube.«

»Was glauben sie denn?«

»Den Gürtel verbrennen.«

»Wie bitte?«

»Lykanthropen haben Gürtel aus menschlicher Haut, den sie bei ihrer ersten Transformation von ihren Herren in der Hölle bekommen. Man muss den Gürtel verbrennen.«

Einer der alten Schachspieler wandte sich zu mir um, seine riesigen Augen waren blind und hervorquellend. »Wenn man aus dem Pfotenabdruck eines Wargs Regenwasser trinkt, verwandelt man sich bei Vollmond in einen Wolf«, sagte er. »Das Einzige, was man tun kann, ist, den Wolf zu jagen, der den Abdruck hinterlassen hat, und seinen Kopf mit einer Klinge aus gediegenem Silber abtrennen.«

»Gediegen, ja?« Ich lächelte.

Sein Schachpartner, kahl und runzelig, schüttelte den Kopf und gab einen Quaklaut von sich. Dann bewegte er seine Königin und quakte noch einmal.

Leute wie ihn findet man überall in Innsmouth.

Ich bezahlte meine Drinks und ließ einen Dollar Trinkgeld auf der Theke liegen. Der Barkeeper las wieder in seinem Buch und würdigte den Schein keines Blickes.

Draußen fielen dicke weiße Schneeflocken, landeten wie nasse Küsse auf dem Gesicht und verklebten mir die Haare und Wimpern. Ich hasse Schnee. Ich hasse Neuengland. Ich hasse Innsmouth, es ist kein Ort, um allein zu sein. Aber wenn es überhaupt einen guten Ort gibt, um allein zu sein, habe ich ihn noch nicht gefunden. Wie dem auch sei, die Geschäfte zwangen mich seit mehr Monden, als ich zurückdenken wollte, in Bewegung zu bleiben. Geschäfte und andere Dinge.

Ich ging zwei Blocks die Marsh Street hinunter – wie ganz Innsmouth eine unansehnliche Mixtur aus amerikanischer Gotik des achtzehnten Jahrhunderts, hässlichen Sandsteinhäusern aus dem späten neunzehnten und grauen Fertigbaukästen des späten zwanzigsten Jahrhunderts – bis ich zu einer ehemaligen Hähnchenbude mit verbarrikadierten Fenstern gelangte. Ich ging die Steintreppe neben dem Laden hinauf und öffnete die rostende Sicherheitstür.

Auf der anderen Straßenseite war ein Spirituosenladen, eine Wahrsagerin residierte im ersten Stock darüber.

Jemand hatte mit schwarzem Marker Graffiti auf die Metalltür geschmiert: Krepier doch, stand da. Wenn das so einfach wäre.

Die Treppe war aus nacktem Holz, der fleckige Putz blätterte von den Wänden. Am oberen Treppenabsatz lag mein Büro, das nur aus einem einzigen Raum bestand.

Ich bleibe nie irgendwo lange genug, um meinen Namen in Messing an irgendwelchen Glastüren anzubringen; handgeschriebene Blockbuchstaben auf einem Stück Pappe an der Tür reichen völlig.


LAWRENCE TALBOT


REGULATOR

Ich schloss die Tür auf und trat ein.

Ich inspizierte mein Büro und Worte wie schäbig, runtergekommen und verwahrlost gingen mir durch den Kopf und gaben dann auf, weil sie hoffnungslos unzureichend waren. Es war wirklich nicht besonders einnehmend: ein Schreibtisch, ein Bürostuhl, ein leerer Aktenschrank, ein Fenster mit einem atemberaubenden Ausblick auf den Spirituosenladen und die verlassene Residenz der Wahrsagerin. Der Geruch nach altem Bratfett stieg von unten auf. Ich fragte mich, wie lange die Hähnchenbude wohl schon verrammelt war, und stellte mir ein Heer schwarzer Kakerlaken vor, das in der Dunkelheit unter mir herrschte.

»Dieses Bild, an das Sie da denken, beschreibt den Zustand der Welt«, sagte eine tiefe Stimme, so tief, dass ich sie in der Magengrube spürte.

In einer Ecke des Büros stand ein alter Sessel. Die Überreste eines Musters waren unter der Patina aus Alter und Fettschmiere schwach erkennbar. Der Sessel hatte die Farbe von Staub.

Der fette Mann, der mit fest geschlossenen Augen in dem Sessel saß, fuhr fort: »Voller Verwirrung betrachten wir unsere Welt, mit einem Gefühl der Unruhe. Wir halten uns für Gelehrte geheimer Liturgien, einzelne Männer gefangen in einer Welt, die sich unserem Einwirken entzieht. Doch die Wahrheit ist viel simpler: Es gibt Wesen in der Finsternis unter uns, die uns Übles wünschen.«

Sein Kopf fiel auf die Rückenlehne und seine Zungenspitze erschien in seinem Mundwinkel.

»Lesen Sie meine Gedanken?«

Der Mann im Sessel atmete tief und langsam. Es rasselte hinten in seiner Kehle. Er war wirklich unglaublich fett, hatte Stummelfinger wie farblose Würste. Er trug einen dicken alten Mantel, der wohl einmal schwarz gewesen, jetzt aber zu einem unbestimmten Grau verschossen war. Der Schnee an seinen Stiefeln war noch nicht ganz geschmolzen.

»Vielleicht. Das Ende der Welt ist ein seltsamer Begriff. Die Welt endet immerzu und immerzu wird das Ende abgewendet. Durch Liebe oder Trotteligkeit oder schlicht und einfach durch Glück.

Na ja. Jetzt ist es zu spät. Die Älteren Götter haben ihre Gefäße erkoren. Wenn der Mond aufgeht …«

Ein dünner Speichelfaden lief ihm aus dem Mund und rann silbrig zum Kragen hinab. Irgendetwas huschte aus dem Kragen in die Schattenwelt unter dem Mantel.

»Ja? Was passiert, wenn der Mond aufgeht?«

Der Mann im Sessel regte sich, öffnete zwei kleine Äuglein, rot und verquollen. Er blinzelte verschlafen.

»Ich habe geträumt, ich hätte eine Unzahl von Mündern«, sagte er, seine neue Stimme seltsam dünn und brüchig für einen so voluminösen Mann. »Ich träumte, jeder dieser Münder öffnete und schloss sich unabhängig von den anderen. Manche sprachen, manche flüsterten, andere aßen, wieder andere warteten schweigend.«

Er sah sich um, wischte den Speichel von seinen Lippen, setzte sich auf und blinzelte verwirrt. »Wer sind Sie?«

»Ich bin der Mann, der dieses Büro gemietet hat«, sagte ich ihm.

Er rülpste plötzlich laut. »Entschuldigung«, sagte er mit seinem dünnen Stimmchen und erhob sich schwerfällig aus dem Sessel. Im Stehen war er ein Stück kleiner als ich. Immer noch schlaftrunken sah er an mir hinab. »Silberkugeln«, verkündete er nach einem kurzen Schweigen. »Altmodische, aber verlässliche Methode.«

»Sicher. Das ist so was von offensichtlich … Vermutlich bin ich deswegen nicht drauf gekommen. Verdammt, ich könnt mich treten, ehrlich.«

»Sie machen sich über einen alten Mann lustig«, beklagte er sich.

»Nein, eigentlich nicht. Tut mir Leid. Und jetzt raus hier. Es gibt Leute, die haben zu arbeiten.«

Er schlurfte hinaus. Ich setzte mich auf den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch und fand nach ein paar Minuten durch mehrfachen Selbstversuch heraus, dass man mitsamt der Sitzfläche zu Boden polterte, wenn man sich nach links drehte.

Also saß ich still und wartete, dass das staubige schwarze Telefon auf dem Schreibtisch klingelte, während das Licht am Winterhimmel langsam schwand.

Klingeling.

Eine Männerstimme: Hatte ich schon mal an Aluminiumblech gedacht? Ich legte auf.

Es gab keine Heizung im Büro. Ich fragte mich, wie lange der fette Mann wohl im Sessel geschlafen hatte.

Zwanzig Minuten später klingelte das Telefon erneut. Eine weinende Frau flehte mich an, ihr zu helfen, ihre fünfjährige Tochter zu finden, die seit vergangener Nacht vermisst wurde, offenbar aus ihrem Bettchen geraubt worden war. Der Hund der Familie war ebenfalls verschwunden.

Vermisste Kinder mache ich nicht, sagte ich ihr. Tut mir Leid, zu viele schlechte Erinnerungen. Ich hängte ein. Mir war wieder übel.

Es wurde jetzt dunkel und zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Innsmouth flammte das Neonschild am Haus gegenüber auf und klärte mich auf, dass MADAME EZEKIEL dort residiere und TAROT UND HANDLESEN praktiziere.

Rotes Neonlicht ließ den rieselnden Schnee in der Farbe frischen Blutes schimmern.

Armageddon wird durch bedeutungslos erscheinende Taten abgewendet. So ist es eben. So war es immer schon.

Das Telefon läutete zum dritten Mal. Ich erkannte die Stimme; es war wieder der Aluminiumblechmann. »Wissen Sie«, begann er im Plauderton. »Transformation von Mensch zu Tier und wieder zurück ist per definitionem unmöglich. Also müssen wir nach anderen Erklärungen suchen. Depersonalisierung vermutlich. Und gleichzeitig eine Art Projektion. Hirnschaden? Vielleicht. Pseudoneurotische Schizophrenie? Lachhaft. Einige Fälle sind mit intravenöser Verabreichung von Thioridazinhydrochlorid behandelt worden.«

»Erfolgreich?«

Er kicherte. »Das gefällt mir. Ein Mann mit Humor. Ich bin sicher, wir können ins Geschäft kommen.«

»Ich sagte Ihnen schon, ich brauche kein Aluminiumblech.«

»Unsere Geschäfte erstrecken sich auf weit bemerkenswertere und bedeutungsvollere Bereiche. Sie sind neu in der Stadt, Mr. Talbot. Es wäre doch bedauerlich, wenn wir, wie soll ich sagen, uns in die Haare gerieten?«

»Sie können sagen, was immer Sie wollen, Kumpel. Für mich sind Sie nichts als eine weitere Regulierung, die darauf wartet, vorgenommen zu werden.«

»Wir bringen die Welt zu einem Ende, Mr. Talbot. Die Wesen der Tiefe werden aus ihrem feuchten Meeresgrab emporsteigen und den Mond verschlingen wie eine reife Pflaume.«

»Dann brauch ich mir ja nie wieder Sorgen um den Vollmond zu machen.«

»Kommen Sie uns ja nicht in die Quere«, drohte er, aber ich knurrte ihn an und das verschlug ihm die Sprache.

Draußen schneite es nach wie vor.

Am Fenster gegenüber stand im rubinroten Schimmer ihres Neonschilds die schönste Frau, die ich je gesehen hatte, und starrte mich an.

Sie winkte mit einem Finger.

Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag beendete ich ein Telefonat mit dem Aluminiumblechmann, indem ich rüde auflegte, ging nach unten und überquerte die Straße fast im Laufschritt. Aber ich sah nach links und rechts, ehe ich auf die Straße trat.

Sie war ganz in Seide gekleidet. Der Raum war nur von Kerzen erleuchtet und es stank nach Weihrauch und Patchouli.

Sie lächelte mich an, als ich eintrat, und bedeutete mir, neben ihr am Fenster Platz zu nehmen. Sie spielte eine Art Patience mit ihren Tarotkarten. Als ich näher trat, fegte eine elegante Hand die Karten zusammen, schlug sie in ein Seidentuch und bettete sie liebevoll in ein Holzkästchen.

Vom schweren Duft im Raum setzte ein Hämmern in meinem Kopf ein. Ich hatte heute noch nichts gegessen, ging mir auf, vielleicht war das der Grund, warum mir ein wenig schwindelig wurde. Ich setzte mich ihr gegenüber an den Tisch und sah sie im schummrigen Kerzenlicht an.

Sie streckte die Hand aus und ergriff eine von meinen.

Sie sah auf die Handfläche hinab, berührte sie behutsam mit dem Zeigefinger.

»Haare?« Sie schien verwirrt.

»Tja. Ich bin ziemlich viel allein.« Ich grinste. Ich hatte gehofft, es wäre ein freundliches Grinsen, aber sie zog missbilligend eine Braue in die Höhe.

»Wenn ich Sie anschaue, ist es dies, was ich sehe«, begann Madame Ezekiel. »Ich sehe das Auge eines Mannes. Und ich sehe das Auge eines Wolfs. Im Auge des Mannes stehen Ehrlichkeit, Anständigkeit, Unschuld. Ich sehe einen aufrechten, rechtschaffenen Mann. Im Auge des Wolfs sehe ich Knurren und Drohen, nächtliches Heulen und Schreie, ich sehe ein Ungeheuer, das in der Finsternis, die die Stadt umgibt, jagt und blutiger Speichel fliegt von seinem Maul.«

»Wie können Sie Knurren und Schreie sehen?«

Sie lächelte. »Das ist nicht schwierig«, sagte sie. Ihr Akzent war nicht amerikanisch. Vielleicht russisch oder maltesisch oder ägyptisch. »Mit dem geistigen Auge sehen wir viele Dinge.«

Madame Ezekiel schloss die grünen Augen. Sie hatte erstaunlich lange Wimpern. Ihre Haut war blass und ihr schwarzes Haar war niemals still, es bewegte sich sacht um ihren Kopf in den seidenen Gewändern, als treibe es auf fernen Wellen.

»Es gibt eine traditionelle Lösung«, sagte sie mir. »Einen Weg, die böse Form abzuwaschen. Stellen Sie sich unter fließendes Wasser, klares Quellwasser und essen Sie weiße Rosenblätter dabei.«

»Und dann?«

»Die Form der Finsternis wird von Ihnen abgespült.«

»Beim nächsten Vollmond kommt sie wieder«, erklärte ich ihr.

»Darum müssen Sie, sobald das Böse von ihnen abgespült ist, unter dem fließenden Wasser ihre Pulsadern öffnen. Es wird natürlich furchtbar brennen. Doch der Fluss wird das Blut fortschwemmen.«

Sie war in Seide gehüllt, in Schals und Tücher in hundert verschiedenen Farben und alle waren selbst im dämmrigen Kerzenschein leuchtend und lebhaft.

Sie öffnete die Augen.

»Und jetzt das Tarot.« Sie wickelte die Karten aus dem schwarzen Seidenschal und gab sie mir. Ich fächerte sie, hob ab, mischte sie.

»Langsam. Nicht so schnell«, mahnte sie. »Geben Sie ihnen Zeit, sich an Sie zu gewöhnen. Sie sollen Sie lieben, wie … wie eine Frau Sie lieben würde.«

Ich umschloss die Karten fest mit der Hand, dann reichte ich sie ihr.

Sie deckte die erste Karte auf. Sie hieß Der Werwolf. Man sah Dunkelheit und Bernsteinaugen, ein weiß-rotes Lächeln.

Ihre grünen Augen zeigten Verwirrung. Die Farbe erinnerte an Smaragde. »Die Karte gehört nicht zu diesem Satz«, sagte sie und drehte die nächste um. »Was haben Sie mit meinen Karten gemacht?«

»Gar nichts, Ma’am. Ich habe sie nur gehalten. Das war alles.«

Die Karte, die sie aufgedeckt hatte, war Die Wesen der Tiefe. Sie zeigte etwas Grünes, Oktopusähnliches. Die Mäuler der Kreatur – wenn es denn wirklich Mäuler waren, keine Tentakel – fingen an, sich auf dem Bild zu regen und zu schlängeln, während ich hinschaute.

Sie verdeckte sie mit einer weiteren Karte, dann noch eine und noch eine. Sie waren alle blanko – völlig leer.

»Haben Sie das getan?« Es klang, als sei sie den Tränen nahe.

»Nein.«

»Gehen Sie.«

»Aber …«

»Gehen Sie.« Sie hielt den Blick gesenkt, als wolle sie sich einreden, dass ich nicht mehr existierte.

Ich stand auf, durchschritt den Raum, der nach Weihrauch und Kerzenwachs roch, und sah aus dem Fenster auf das Haus gegenüber. Ein Licht schimmerte kurz hinter meinem Bürofenster auf. Zwei Männer mit Taschenlampen gingen umher. Sie öffneten den leeren Aktenschrank, stöberten ein bisschen herum und bezogen dann Stellung, einer im Sessel, einer hinter der Tür, und erwarteten meine Rückkehr. Ich lächelte. Es war kalt und unwirtlich in meinem Büro und mit ein bisschen Glück würden sie stundenlang dort warten, bis ihnen aufging, dass ich nicht zurückkam.

Also verließ ich Madame Ezekiel, die am Tisch saß und jede einzelne ihrer Karten aufdeckte. Sie starrte darauf hinab, als könne sie die Bilder so zurückholen. Ich stieg die Treppe hinunter und ging die Marsh Street entlang, bis ich zur Bar zurückkam.

Jetzt waren keine Gäste mehr dort. Der Barkeeper rauchte eine Zigarette, die er ausdrückte, als ich eintrat.

»Wo sind die Schachfreunde?«

»Heute ist ihr großer Abend. Sie werden unten an der Bucht sein. Wie war das gleich wieder, Jack Daniel’s, richtig?«

»Klingt gut.«

Er schenkte mir ein. Ich erkannte den Daumenabdruck auf dem Glas vom letzten Mal wieder. Ich nahm den Band mit Tennyson-Gedichten von der Theke.

»Gutes Buch?«

Der fuchshaarige Barkeeper nahm mir den Band aus der Hand, schlug ihn auf und las:

»Jenseits der Wogen in oberer Tiefe

Weit unten im Abgrund der tosenden See

Weilt traumlos und doch so, als ob er schliefe

der Krake …«

Ich hatte ausgetrunken. »Und? Worauf wollen Sie hinaus?«

Er kam hinter der Bar hervor und führte mich zum Fenster: »Sehen Sie? Da draußen?«

Er zeigte nach Westen, auf die Klippen am Ortsrand. Während ich hinübersah, flammte oben auf den Felsen ein Feuer auf, leuchtete hell und brannte mit kupfergrünen Flammen.

»Sie werden die Wesen der Tiefe aufwecken«, sagte der Barkeeper. »Die Sterne und Planeten und der Mond sind alle in der richtigen Position. Es ist Zeit. Das trockene Land wird versinken, das Meer wird sich erheben …«

»Denn die Welt soll gereinigt werden durch Eis und Fluten und ich wäre dankbar, wenn Sie sich auf Ihr Fach im Kühlschrank beschränken«, fügte ich an.

»Wie bitte?«

»Gar nichts. Wie komme ich denn am schnellsten auf die Klippe?«

»Die Marsh Street hinauf. Dann halten Sie sich links hinter der Church of Dagon, bis Sie zum Manuxet Way kommen. Dann immer geradeaus.« Er holte seinen Mantel vom Haken hinter der Tür und zog ihn über. »Kommen Sie. Ich bring Sie hin. Den Spaß möchte ich um nichts in der Welt versäumen.«

»Sind Sie sicher?«

»Heute Abend wird sowieso niemand zum Trinken herkommen.« Wir traten ins Freie und er sperrte die Tür ab.

Es war kalt in den Straßen. Der frisch gefallene Schnee wurde in kleinen weißen Nebelbänken über den Boden geweht. Von der Straße aus konnte ich nicht erkennen, ob Madame Ezekiel noch in ihrem Salon über dem Neonschild weilte oder ob meine Besucher immer noch im Büro warteten.

Wir senkten die Köpfe gegen den Wind und stiefelten los.

Trotz des Brausens des Windes hörte ich den Barkeeper vor sich hin murmeln.

»Schlingt mit schleimigen Armen von nassem Grün«, zitierte er.

»Dort tobt er und wird ewig weiter toben

schlägt alles Seegetier, obgleich er schliefe,

bis einst die Glut des Weltgerichts versengt die Tiefe

Dann sollen Engel wie auch Sterbliche ihn sehen,

wenn er emporsteigt …«

Er brach ab und schweigend gingen wir weiter, während der aufgewirbelte Schnee uns wie Nadelstiche ins Gesicht traf.

Und elend verendet droben, dachte ich, sprach es aber nicht aus.

Nach zwanzig Minuten Fußweg hatten wir Innsmouth hinter uns gelassen. Als wir die Stadtgrenze passierten, hörte der Manuxet Way plötzlich auf und wurde zu einem schmalen Trampelpfad, teilweise mit Eis und Schnee bedeckt, und schlitternd und rutschend kämpften wir uns in der Dunkelheit die Anhöhe hinauf.

Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber die Sterne kamen schon zum Vorschein. Es waren so viele. Wie Diamantstaub und zerstoßene Saphire waren sie über den Nachthimmel gestreut. Man sieht so unglaublich viele Sterne am Meer, viel mehr als irgendwo in der Stadt.

Oben auf der Klippe standen zwei Gestalten hinter dem Feuer, die eine riesig und fett, die zweite viel kleiner. Der Barkeeper ging hinüber und stellte sich neben sie, mir gegenüber.

»Sehet«, sagte er. »Der Opferwolf.« Plötzlich hatte seine Stimme etwas seltsam Vertrautes.

Ich sagte nichts. Das Feuer züngelte mit grünen Flammen und strahlte die drei von unten an; klassische Spukbeleuchtung.

»Wissen Sie, warum ich Sie hier heraufgebracht habe?«, fragte der Barkeeper und mir wurde klar, warum die Stimme mir bekannt vorkam. Es war die Stimme des Mannes, der versucht hatte, mir Aluminiumblech zu verkaufen.

»Um das Ende der Welt abzuwenden?«

Er lachte mich aus.

Die zweite Figur war der dicke Mann, den ich schlafend in meinem Büro angetroffen hatte. »Nun, wenn Sie es eschatologisch betrachten wollen …«, murmelte er mit einer so tiefen Stimme, dass sie Mauern zum Einsturz hätte bringen können. Seine Augen waren geschlossen. Er schlief fest.

Die dritte Gestalt war in Seide gehüllt und roch nach Patchouli. Sie hielt ein Messer in der Hand und schwieg.

»Heute Nacht«, begann der Barkeeper, »ist der Mond der Mond der Wesen der Tiefe. Heute Nacht stehen die Sterne in den Formen und Mustern der finsteren alten Tage. Heute Nacht werden sie kommen, wenn wir sie rufen. Wenn unser Opfer würdig ist. Wenn unser Rufen erhört wird.«

Der Mond ging auf der anderen Seite der Bucht auf, riesig, bernsteinfarben und prall und mit ihm erhob sich weit unter uns aus dem Meer ein Chor leise quakender Stimmen.

Mondlicht auf Schnee und Eis ist nicht so hell wie Tageslicht, aber hell genug. Außerdem wurden meine Augen mit dem Mondaufgang schärfer: In der eisigen See schwammen Männer, die wie Frösche aussahen, tauchten auf und unter in einem langsamen Wassertanz. Froschartige Männer. Und Frauen ebenfalls. Ich glaubte, meine Wirtin dort unten auszumachen, die sich mit all den anderen quakend im Wasser der Bucht wand.

Es war zu früh für eine erneute Verwandlung, ich war von der vergangenen Nacht noch völlig erledigt. Aber im Licht des Bernsteinmondes überkam mich ein eigentümliches Gefühl.

»Armer Wolfsmann«, flüsterte es aus den seidenen Schleiern. »All seine Träume enden hier: ein einsamer Tod auf einer fernen Klippe.«

Ich werde träumen, wenn ich will, sagte ich, und mein Tod ist allein meine Angelegenheit. Aber ich wusste nicht, ob ich es laut ausgesprochen hatte.

Die Sinne schärfen sich im Mondlicht. Ich hörte immer noch das Rauschen der See, doch deutlicher vernahm ich das Aufschäumen und Brechen jeder einzelnen Welle. Ich hörte das Platschen der Froschmenschen, das Knarren der grünen Wracks weit unter dem Meer.

Auch der Geruchssinn verfeinert sich. Der Aluminiumblechmann war menschlich, während der Fettwanst anderes Blut in den Adern hatte.

Und die seidenverschleierte Person …

Ich hatte ihr Parfüm gerochen, als ich in Menschengestalt wandelte. Jetzt nahm ich noch etwas anderes, weniger Betörendes darunter wahr. Einen Geruch nach Verwesung, nach faulendem Fleisch.

Die Seide flatterte. Die Gestalt bewegte sich auf mich zu. Sie hielt ein Messer.

»Madame Ezekiel?« Meine Stimme wurde rauer und heiser. Bald würde sie ganz verschwunden sein. Ich verstand nicht, was vorging, doch der Mond stieg höher und höher, verlor seine Bernsteinfarbe und füllte mein Bewusstsein mit seinem bleichen Licht.

»Madame Ezekiel?«

»Du hast es verdient zu sterben«, sagte sie, ihre Stimme leise und kalt. »Und sei es nur für das, was du mit meinen Karten getan hast. Sie waren alt.«

»Ich kann nicht sterben«, erklärte ich ihr. »›Selbst ein Mann, der reinen Herzens ist und abends seine Gebete spricht.‹ Erinnern Sie sich?«

»Das ist doch Scheiße«, sagte sie. »Kennst du die älteste Methode, einen Werwolffluch zu beenden?«

»Nein.«

Das Feuer brannte jetzt heller, brannte in dem Grün der Welt unter dem Meer, dem Grün der Algen und sich langsam wiegenden Seegrases, brannte mit der Farbe von Smaragden.

»Man wartet einfach, bis der Wolf wieder menschlicher Gestalt ist, einen ganzen Monat von seiner nächsten Verwandlung entfernt, dann nimmt man das Opfermesser und tötet ihn damit. Das ist alles.«

Ich wandte mich ab, um zu fliehen, aber der Barkeeper war hinter mir, packte meine Handgelenke und drehte mir die Arme auf den Rücken. Das Messer hatte einen bleichen Silberschimmer im Mondlicht. Madame Ezekiel lächelte.

Sie schlitzte mir die Kehle auf.

Blut schoss aus der Wunde und begann zu fließen. Dann verlangsamte sich der Strom und versiegte …



… Das Pochen in meiner Stirn, der Druck im Rücken. Alles ist schäumende Verwandlung kochende pochende Verwandlung eine rote Wand rast aus der Nacht auf mich zu

… Ich schmeckte Sterne aufgelöst in Lake perlend und fern und salzig

… meine Finger prickelten Flammenzungen peitschten meine Haut meine Augen waren Topase ich konnte die Nacht schmecken



Mein Atem dampfte in der eisigen Luft.

Ich knurrte ungewollt, tief in der Kehle. Meine Vorderpfoten standen im Schnee.

Ich wich zurück, spannte die Muskeln, sprang sie an.

Ein Hauch von Verfall hing in der Luft wie ein Nebel, hüllte mich ein. Am höchsten Punkt meines Sprungs schien ich zu verharren und etwas zerplatzte wie eine Seifenblase …



Ich sank tief, tief in die Dunkelheit unter dem Meer, stand mit allen vier Pfoten auf einem schleimigen Felsenboden am Eingang einer Zitadelle, die aus gewaltigen, grob behauenen Steinen errichtet war. Die Steine gaben ein bleiches, phosphoreszierendes Licht ab, ein geisterhafter Schimmer, wie die Zeiger einer Uhr.

Eine Wolke aus schwarzem Blut umringte meinen Hals.

Sie stand vor mir in der Toröffnung, war jetzt an die zwei Meter groß. Fleischfetzen hingen an ihrem Skelett, zerfressen und angenagt und die Seidengewänder waren jetzt aus Tang, der sacht im kalten Wasser wogte, dort unten in den traumlosen Tiefen. Der Tang verhüllte ihr Gesicht wie ein grüner Schleier.

Muscheln wuchsen an der Oberfläche ihrer Arme und dem Fleisch, das an ihren Rippen hing.

Ich fühlte mich, als würde ich zerquetscht. Ich konnte nicht mehr denken.

Sie kam auf mich zu. Der Tang um ihren Kopf bewegte sich. Ihr Gesicht sah aus wie das unappetitliche Zeug im Sushi-Laden: ein Gewirr aus Saugnäpfen und Stacheln und Tentakel und irgendwo zwischen all diesem Zeug erahnte ich ihr Lächeln.

Ich drückte mich mit den Hinterläufen ab. Dort in der Tiefe trafen wir aufeinander und rangen. Ich schlug meine Fänge in ihr Gesicht und spürte etwas nachgeben und zerreißen.

Es war fast wie ein Kuss, dort unten im tiefen Abgrund …



Ich landete weich im Schnee, einen Seidenschal im Maul. Die übrigen seidenen Gewänder flatterten zu Boden. Madame Ezekiel war nirgends zu sehen.

Das Silbermesser lag ebenfalls im Schnee. Ich wartete auf allen vieren im Mondschein, völlig durchnässt. Ich schüttelte mich und ein kleiner Salzwasserschauer ging nieder. Ich hörte es zischen, als er aufs Feuer traf.

Ich fühlte mich schwindelig und schwach, sog die Luft tief in meine Lungen.

Weit unten in der Bucht sah ich die Froschmenschen wie Kadaver auf der Wasseroberfläche treiben. Ein paar Sekunden trieben sie mit den Wellen vor und zurück, dann wirbelten sie plötzlich umher und sprangen und einer nach dem anderen verschwand mit einem Plopp unter Wasser.

Ein Schrei erhob sich. Es war der fuchshaarige Barkeeper. Der glupschäugige Aluminiumblechverkäufer starrte zum Nachthimmel auf, zu den heranziehenden Wolken, die die Sterne verschluckten, und er kreischte. Zorn und Frustration schwangen in diesem Schrei mit und er machte mir Angst.

Er hob das Messer vom Boden auf, wischte mit den Fingern den Schnee vom Griff und an seinem Mantel das Blut von der Klinge. Dann sah er zu mir herüber. Er weinte. »Du Bastard«, sagte er. »Was hast du ihr angetan?«

Ich hätte ihm gerne gesagt, dass ich ihr überhaupt nichts getan hatte, dass sie immer noch weit unter dem Meer wachte, aber ich konnte nicht mehr sprechen, nur noch knurren und jaulen und heulen.

Er weinte immer noch. Er stank nach Wahnsinn und Enttäuschung. Mit erhobenem Messer kam er auf mich zugerannt und ich wich zur Seite.

Manche Leute können sich nicht einmal auf kleinste Veränderungen einstellen. Der Barkeeper taumelte an mir vorbei über die Klippe ins Nichts.

Im Mondlicht ist Blut schwarz, nicht rot, und die Flecken, die er bei jedem Aufprall auf den Felsen hinterließ, waren schwarz und dunkelgrau. Dann lag er schließlich still auf den eisverkrusteten Felsen am Fuß der Klippe, bis ein Arm aus dem Meer auftauchte und ihn mit einer Langsamkeit, die anzusehen beinah schmerzhaft war, in die Tiefe zog.

Eine Hand kraulte mir den Hinterkopf. Ein gutes Gefühl.

»Was war sie schon? Nur eine Verkörperung der Wesen der Tiefe, Sir. Ein Eidolon, eine Manifestation, wenn Sie so wollen, aus den unvorstellbarsten Tiefen zu uns heraufgesandt, um die Welt zum Untergang zu bringen.«

Mein Fell sträubte sich.

»Nein, es ist vorbei. Für dieses Mal. Sie haben ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht, Sir. Das vorschriftsmäßige Ritual ist genau festgelegt: Drei von uns müssen zusammenkommen und die geheiligten Namen rufen, während unschuldiges Blut sich zu unseren Füßen ergießt.«

Ich sah zu dem fetten Mann auf und jaulte eine Frage. Er strich mir schläfrig über den Nacken.

»Natürlich liebt sie Sie nicht, mein Junge. Sie existiert ja kaum auf dieser Ebene. Jedenfalls in keinem materiellen Sinn.«

Es begann wieder zu schneien. Das Feuer erstarb.

»Übrigens, Ihre Verwandlung heute Nacht … Ich würde meinen, sie war das direkte Ergebnis exakt derselben himmlischen Konstellationen und Mondeinflüsse, die diese Nacht zum perfekten Zeitpunkt machten, um meine alten Freunde aus der Tiefe zurückzurufen …«

Er fuhr fort mit dieser tiefen Stimme zu sprechen und vielleicht sagte er mir wichtige Dinge. Ich weiß es nicht, denn der Appetit war in mir erwacht, und seine Worte hatten jede Bedeutung verloren. Ich hatte keinerlei Interesse mehr an der Klippe oder dem fetten Mann.

Im Wald jenseits der Wiesen lief Rotwild. Ich konnte es in der winterlichen Nachtluft riechen.

Und vor allen anderen Dingen war ich hungrig.



Ich war nackt, als ich früh am nächsten Morgen wieder zu mir kam. Ein halb gefressener Hirsch lag neben mir im Schnee. Eine Fliege kroch über sein Auge und die Zunge hing aus seinem toten Maul, ließ ihn lächerlich und auf beklemmende Weise komisch wirken, wie ein Tier in einem Zeitungscartoon.

Dort wo der Leib des Hirsches aufgerissen war, bedeckten leuchtend rote Flecken den Schnee.

Mein Gesicht und meine Brust waren klebrig und rot von dem Zeug. Meine Kehle fühlte sich wund und rau an und schmerzte. Doch beim nächsten Vollmond würde sie wieder völlig geheilt sein.

Die Sonne schien unendlich weit weg, klein und gelb, doch der Himmel war blau und wolkenlos. Kein Windhauch regte sich. In der Ferne hörte ich das Donnern der See.

Ich war durchfroren, nackt, voller Blut und allein. Na ja, dachte ich, das passiert uns wohl allen am Anfang. Und es kommt ja nur einmal im Monat.

Ich war zu Tode erschöpft, aber ich musste durchhalten, bis ich eine Höhle oder verlassene Scheune fand, und dann wollte ich zwei Wochen lang schlafen.

Ein Falke flog niedrig über dem verschneiten Boden auf mich zu. Etwas baumelte in seinen Klauen. Für die Dauer eines Herzschlages hing er reglos über mir in der Luft, dann ließ er einen kleinen grauen Tintenfisch zu meinen Füßen fallen und schwang sich in die Lüfte. Schlaff und reglos lag das kleine vielarmige Ding da im blutbesudelten Schnee.

Ich nahm es als Omen, doch ob es ein gutes oder schlechtes war, konnte ich nicht sagen. Es spielte auch keine große Rolle mehr. Ich kehrte dem Meer und dem finsteren Dorf Innsmouth den Rücken und machte mich auf den Weg zurück in die Stadt.




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