Der bleiche Albinoprinz hob sein Schwert in die Höhe. »Dies ist Sturmbringer«, sagte er. »Und es wird dir die Seele aus dem Leib saugen.«
Die Prinzessin seufzte. »Also bitte«, sagte sie. »Wenn es das ist, was du brauchst, um die nötige Energie für den Kampf gegen die Drachenkrieger zu bekommen, dann musst du mich töten und dein Schwert sich an meiner Seele nähren.«
»Ich will das nicht tun«, sagte er ihr.
»Es ist schon in Ordnung«, versicherte die Prinzessin und mit diesen Worten zerriss sie ihr fließendes Gewand und entblößte ihre Brust. »Da ist mein Herz«, sagte sie und zeigte mit dem Finger. »Dort musst du zustoßen.«
Weiter als bis zu dieser Stelle war er nie gekommen. Das war an dem Tag, da man ihm gesagt hatte, er sei eine Klasse hochgestuft worden, und danach hatte es nicht mehr viel Sinn gehabt. Er hatte gelernt, niemals zu versuchen, eine Geschichte von einem Jahr ins nächste mitzunehmen. Inzwischen war er zwölf.
Aber es war ein Jammer.
Das Aufsatzthema lautete: »Eine Begegnung mit meiner literarischen Lieblingsfigur«, und er hatte Elric gewählt. Er hatte auch Corum, Jerry Cornelius und sogar Conan den Barbaren erwogen, doch Elric von Melniboné gewann mühelos, wie er es immer tat.
Zum ersten Mal hatte Richard Sturmbringer vor drei Jahren gelesen, als er neun war. Er hatte sein Taschengeld gespart, um sich Die singende Zitadelle zu kaufen (was in gewisser Weise eine Mogelpackung war, entschied er, als er es ausgelesen hatte, denn es enthielt nur eine Elric-Geschichte). Dann hatte er sich Geld von seinem Vater geborgt, um Die schlafende Magierin zu kaufen, wo Elric Erikose und Corum begegnet, zwei weitere Facetten des Ewigen Helden, und sie hatten sich zusammengetan.
Was bedeutete, erkannte er während der Lektüre, dass die Corum-Bücher, die Erikose-Bücher und im Grunde sogar die Dorian-Hawkmoon-Bücher eigentlich auch Elric-Bücher waren, also kaufte er sie. Und es machte ihm Spaß, sie zu lesen.
Doch sie waren nicht so gut wie Elric. Elric war einfach der Beste.
Manchmal saß er da und zeichnete Elric, versuchte, ihn genau zu treffen. Keins der Bilder auf den Buchcovern sah je so aus wie der Elric, der in Richards Kopf lebte. Er zeichnete seine Elrics mit Füller in leere Schulhefte, die er mit betrügerischen Methoden erworben hatte. Vorne drauf schrieb er seinen Namen: Richard Grey. Nicht stehlen.
Manchmal dachte er, er sollte sich seine Elric-Geschichte noch einmal vornehmen und sie zu Ende schreiben. Vielleicht konnte er sie sogar an eine Zeitschrift verkaufen. Aber was, wenn Moorcock das rausbekam? Was, wenn er Ärger bekäme?
Das Klassenzimmer war riesig und stand voller Holzpulte. Jedes Pult war von seinem Besitzer beschnitzt, verschmiert und mit Tintenflecken verziert, ein äußerst wichtiger Prozess. An der Wand hing eine Tafel mit einem Kreidebild: eine einigermaßen naturgetreue Darstellung eines Penis’, der sich auf ein yförmiges Ding zubewegte, das wohl die weiblichen Genitalien darstellen sollte.
Unten schlug die Tür zu und jemand kam die Treppe heraufgerannt.
»Grey, du Spasti, was treibst du hier oben? Wir müssten längst unten auf dem Lower Acre sein. Du bist heute zum Fußballspielen eingeteilt.«
»Wirklich?«
»Es wurde heute Morgen bei den Ankündigungen vorgelesen. Und die Liste hängt am Schwarzen Brett.« J.B.C. MacBride war flachsblond, bebrillt und nur unwesentlich praktischer oder lebenstüchtiger als Richard Grey. Es gab allerdings zwei J. MacBrides, darum führte er seine Initialen vollzählig.
»Oh.«
Grey hob das Buch auf (Tarzan am Mittelpunkt der Erde) und folgte ihm hinaus. Dunkelgraue Wolken bedeckten den Himmel und versprachen Regen und Schnee.
Richard verpasste ständig irgendwelche Ankündigungen. Andauernd fand er sich in leeren Klassenzimmern, verpasste angesetzte Sportveranstaltungen und kam an Tagen zur Schule, wo alle anderen zu Hause blieben. Manchmal hatte er das Gefühl, er lebe in einer völlig anderen Welt als die anderen Menschen.
Als er aufs Fußballfeld hinauskam, steckte Tarzan am Mittelpunkt der Erde hinten in seinen kratzigen blauen Fußballshorts.
Er hasste die Duschen und Bäder. Er konnte nie begreifen, warum sie beide benutzen mussten, aber so war es nun einmal.
Er fror erbärmlich und er machte keine gute Figur auf dem Platz. Inzwischen betrachtete er es mit einem perversen Stolz, dass er in all den Jahren an der Schule bislang nicht ein einziges Tor geschossen oder einen einzigen Punkt beim Kricket gemacht oder überhaupt irgendetwas getan hatte, außer herumzustehen und immer der Letzte zu sein, der ins Team gewählt wurde.
Elric, stolzer, bleicher Prinz der Melnibonéer, hätte niemals mitten im Winter auf dem Rasen herumstehen und das Ende des Spiels herbeisehnen müssen.
Dampf quoll aus dem Duschraum und die Innenseiten von Richards Oberschenkeln waren ganz wund und gerötet. Nackt und schlotternd standen die Jungen in einer Reihe und warteten darauf, dass sie erst in den Duschen und dann im Bad an die Reihe kamen.
Mr. Murchinson mit seinem wilden Blick, dem ledrigen, runzeligen Gesicht und dem fast kahlen Schädel, stand mitten im Umkleideraum und dirigierte nackte Jungen unter die Duschen, raus aus der Dusche und ins Bad. »He, du, Junge! Du kleiner Dummkopf. Jamieson. Unter die Dusche, Jamieson. Atkinson, du Waschlappen, stell dich ganz drunter. Smiggins, ins Bad. Goring, du nimmst seinen Platz unter der Dusche …«
Die Duschen waren zu heiß. Das Badewasser war eisig kalt und trüb vor Dreck.
Sobald Mr. Murchinson ihnen den Rücken kehrte, gingen die Jungen mit Handtüchern aufeinander los, lachten über die Penisse der anderen oder darüber, wer Schamhaare hatte und wer nicht.
»Sei doch kein Idiot«, zischte jemand in Richards Nähe. »Was, wenn Murch zurückkommt? Der bringt dich um.« Ein nervöses Kichern erhob sich.
Richard drehte sich um. Ein älterer Junge hatte eine Erektion, hatte die Hand darumgelegt und bewegte sie auf und ab, führte sein Prachtstück voller Stolz den anderen vor.
Richard wandte sich ab.
Das Fälschen war wirklich zu einfach.
Richard brachte beispielsweise eine passable Imitation von Mr. Murchinsons Unterschrift zustande, und auf die Handschrift und Unterschrift seines Hauslehrers verstand er sich ganz besonders gut. Sein Hauslehrer war ein großer, kahler, trockener Mann namens Trellis. Sie verabscheuten einander seit Jahren.
Richard missbrauchte seine Unterschrift, um sich Schulhefte aus dem Schreibwarenbüro zu ergaunern. Dort bekam man Papier, Bleistifte, Kulis oder Lineale, wenn man eine von einem Lehrer unterzeichnete Notiz vorlegte.
Richard schrieb Geschichten und Gedichte und malte Bilder in die Hefte.
Nach dem Bad rubbelte Richard sich ab und zog sich hastig an, denn sein Buch und die verlorene Welt darin warteten auf ihn.
Langsam verließ er das Gebäude. Die Krawatte hing auf Halbmast und das Hemd aus der Hose. Er las über Lord Greystoke und fragte sich, ob es wirklich eine Welt im Innern der Welt gab, wo Dinosaurier lebten und es niemals Nacht wurde.
Das Tageslicht begann zu schwinden, aber es waren noch einige Jungen draußen, die vor der Schule mit Tennisbällen spielten, eine andere Gruppe hatte sich nahe der Bank zusammengeschart und spielte Kastanienzertrümmern. Richard lehnte an der roten Backsteinmauer und las, die Welt um ihn herum ausgesperrt, die Entwürdigungen des Umkleideraums vergessen.
»Du bist der reinste Schandfleck, Grey.«
Ich?
»Sieh dich doch mal an. Deine Krawatte sitzt völlig schief. Du bist eine Schande für die Schule, genau das bist du.«
Der Junge hieß Lindfield. Er war zwei Klassen über Richard, aber schon so groß wie ein Erwachsener. »Schau dir die Krawatte an. Ich meine, schau sie dir doch mal an.« Lindfield zerrte an Richards grüner Krawatte und zog sie zu einem kleinen, engen Knoten fest. »Jämmerlich.«
Lindfield und seine Freunde schlenderten davon.
Elric von Melniboné stand an der roten Backsteinmauer des Schulgebäudes und starrte ihn an. Richard zog an dem Krawattenknoten und versuchte, ihn zu lockern. Er schnürte ihm die Kehle zu.
Seine Hände tasteten über seinen Hals.
Er konnte nicht atmen, aber atmen war nicht sein größtes Problem. Es war das Stehen, das ihm Sorgen bereitete. Richard hatte plötzlich vergessen, wie man stand. Es war eine Erleichterung festzustellen, wie weich der gepflasterte Weg war, auf dem er gestanden hatte und der jetzt langsam emporschwebte, um ihn zu umfangen.
Sie standen zusammen unter einem Nachthimmel, der von tausenden riesiger Sterne übersät war. Vor ihnen erhob sich eine Ruine, die vielleicht vor langer Zeit einmal ein Tempel gewesen war.
Elrics Rubinaugen starrten auf ihn hinab. Sie sahen aus wie die Augen eines besonders gemeinen weißen Kaninchens, das Richard einmal besessen hatte, ehe es den Maschendraht seines Käfigs durchgebissen hatte und ins ländliche Sussex geflüchtet war, um unschuldige Füchse in Angst und Schrecken zu versetzen. Seine Haut war vollkommen weiß, seine verzierte, elegante Rüstung mit dem verschnörkelten Muster vollkommen schwarz. Das feine weiße Haar umwehte seine Schultern, dabei war es völlig windstill.
Du möchtest also ein Gefährte der Helden sein? fragte er. Seine Stimme klang sanfter, als Richard sie sich vorgestellt hatte.
Der Junge nickte.
Elric legte einen Finger unter Richards Kinn und zwang seinen Kopf hoch. Blutaugen, dachte Richard. Blutaugen.
Du bist kein Gefährte, Junge, sagte er in der Hochsprache von Melniboné.
Richard hatte immer gewusst, dass er die Hochsprache verstehen würde, wenn er sie je hören sollte, obwohl er in Latein und Französisch eher schwach war.
Aber was bin ich dann? fragte er. Bitte, sag es mir. Bitte.
Elric gab keine Antwort. Er ließ Richard stehen und ging davon, betrat den verfallenen Tempel.
Richard lief ihm nach.
Im Innern des Tempels fand Richard ein Leben, das auf ihn wartete, bereit, gelebt und getragen zu werden, und im Innern dieses Lebens verbarg sich wieder eines. Jedes Leben, das er anprobierte, verschlang ihn, zog ihn tiefer hinein, weiter fort von der Welt, aus der er gekommen war. Eines nach dem anderen, Existenz folgte Existenz, Traumflüsse und Sternenfelder, ein Falke, der einen Sperling in den Klauen hält, fliegt tief über dem Gras und dort warten kleine, komplizierte Geschöpfte darauf, dass er ihre Köpfe mit Leben füllt und tausende von Jahren vergehen und er hat eine seltsame Aufgabe von großer Wichtigkeit und klarer Schönheit zu erfüllen und er wird geliebt, er wird geehrt und dann ein Ziehen, ein energisches Zerren und es ist …
… es war, als tauche man vom Boden am tiefen Ende des Schwimmbeckens auf. Sterne erschienen über ihm und verblassten und lösten sich in Blau- und Grüntöne auf und mit einer Empfindung bitterer Enttäuschung wurde er wieder Richard Grey und kam zu sich, erfüllt von einem unbekannten Gefühl. Es war ein ganz bestimmtes Gefühl, so bestimmt, dass es ihn später überraschte, als er feststellte, dass es keinen eigenen Namen hatte: eine Mischung aus Verärgerung und Bedauern darüber, zu etwas zurückkehren zu müssen, das man für längst abgeschlossen und erledigt und vergessen und tot gehalten hat.
Richard lag auf der Erde und Lindfield zerrte an dem kleinen Krawattenknoten. Andere Jungen umstanden sie und die Gesichter, die auf ihn hinabstarrten, waren besorgt, bekümmert und angstvoll.
Lindfield löste den Knoten. Richard rang um Atem, sog begierig Luft in seine Lungen.
»Wir dachten, du markierst nur. Du bist einfach so umgefallen«, sagte irgendwer.
»Halt die Klappe«, fuhr Lindfield auf. »Alles in Ordnung? Es tut mir Leid. Es tut mir wirklich Leid. Lieber Himmel. Es tut mir so Leid.«
Einen Moment glaubte Richard, er entschuldige sich dafür, dass er ihn aus der Welt jenseits des Tempels zurückgerufen hatte.
Lindfield war furchtbar erschrocken, besorgt und völlig verängstigt. Während er Richard zum Büro der Hausmutter führte, erklärte er, als er von dem kleinen Laden auf dem Schulgelände zurückgekommen sei, habe er Richard besinnungslos auf dem Weg liegen sehen, umringt von einer Schar neugieriger Jungen, und sofort erkannt, was los war. Richard ruhte sich im Büro der Hausmutter ein bisschen aus und sie gab ihm eine bittere Aspirin-Tablette aus einem riesigen Glas, die sie in einem Plastikbecher mit Wasser auflöste. Anschließend wurde er zum Direktor bestellt.
»Gott, du siehst aber wirklich verlottert aus, Grey«, sagte der Schuldirektor und sog verstimmt an seiner Pfeife. »Man kann dem jungen Lindfield wirklich keinen Vorwurf machen. Außerdem hat er dir das Leben gerettet. Ich will kein weiteres Wort über die Angelegenheit hören.«
»Es tut mir Leid«, sagte Grey.
»Das ist alles«, sagte der Direktor und hüllte sich in eine Wolke aus wohlriechendem Rauch.
»Hast du dich inzwischen für eine Religion entschieden?«, fragte der Schulkaplan, Mr. Aliquid.
Richard schüttelte den Kopf. »Die Auswahl ist ziemlich groß«, gestand er.
Der Schulkaplan war auch Richards Biologielehrer. Vor kurzem hatte er Richards Biologiekurs, fünfzehn dreizehnjährige Jungen und Richard, gerade zwölf, mit zu sich nach Hause genommen. Er wohnte in einem kleinen Haus gegenüber der Schule. In seinem Garten hatte Mr. Aliquid mit einem kleinen scharfen Messer ein Kaninchen getötet, gehäutet und ausgenommen. Dann hatte er die Kaninchenblase mit einer Tretpumpe aufgeblasen wie einen Luftballon, bis sie schließlich platzte und die Jungen mit Blut bespritzte. Richard hatte sich übergeben, aber er war der Einzige.
»Hm«, sagte der Kaplan.
Die Wände seines Büros waren mit Büchern bedeckt. Es war eins der wenigen Lehrerzimmer, das auch nur halbwegs behaglich wirkte.
»Wie steht es mit Masturbation? Masturbierst du unverhältnismäßig viel?« Mr. Aliquids Augen leuchteten.
»Was verstehen Sie unter unverhältnismäßig viel?«
»Tja. Mehr als drei- oder viermal täglich, schätze ich.«
»Nein«, antwortete Richard. »Nicht unverhältnismäßig.«
Er war ein Jahr jünger als die anderen in seiner Klasse, viele Leute schienen das ständig zu vergessen.
Jedes Wochenende fuhr er nach Nord London zu seinen Cousins, mit denen er gemeinsam bar-mizwa-Unterricht erhielt. Ihr Lehrer war ein dürrer, asketischer Rabbiner, frummer als frum, Kabbalist und Hüter der verborgenen Mysterien, zu denen man ihn mit strategisch platzierten Fragen ablenken konnte. Richard war Experte im strategischen Platzieren von Fragen.
Frum bedeutete orthodox, strenggläubig jüdisch. Niemals Milch zusammen mit Fleisch verzehren und getrennte Spülmaschinen für das jeweils Milch und Fleisch zugeordnete Geschirr und Besteck.
Du sollst das Böcklein nicht kochen in der Milch seiner Mutter
Auch Richards Cousins in Nord London waren frum, doch heimlich kauften sie sich nach der Schule Cheeseburger und brüsteten sich voreinander dieser großen Heldentaten.
Richard hatte den Verdacht, dass sein Leib sowieso schon hoffnungslos vergiftet war. Allerdings gab es Speisen, wo auch er eine Grenze zog. Kaninchen, zum Beispiel. Er hatte jahrelang Kaninchen gegessen und verabscheut, ehe er dahinterkam, was es war. Jeden Donnerstag gab es zum Mittagessen in der Schule etwas, das er immer für miserables Hühnerfrikassee gehalten hatte. Als er aber eines Donnerstags eine Kaninchenpfote in der Pampe auf seinem Teller fand, fiel der Groschen. Seither aß er sich donnerstags an Brot und Butter satt.
Wenn er mit der UBahn nach Nord-London fuhr, ließ er den Blick immer über die Gesichter der anderen Fahrgäste schweifen und fragte sich, ob einer von ihnen wohl Michael Moorcock sei.
Wenn er Moorcock je traf, würde er ihn fragen, wie er zu der Tempelruine zurückgelangen konnte.
Wenn er Moorcock je traf, wäre er vermutlich viel zu verlegen, um zu sprechen.
Wenn seine Eltern abends nicht daheim waren, versuchte er manchmal, Michael Moorcock anzurufen.
Genauer gesagt rief er die Auskunft an und fragte nach Moorcocks Nummer.
»Die kann ich dir leider nicht geben, Kleiner. Das ist eine Geheimnummer.«
Er hatte gebettelt und jede bekannte Überredungstechnik versucht, doch zu seiner Erleichterung immer erfolglos. Er hätte nicht gewusst, was er Moorcock hätte sagen sollen.
Auf der ersten Seite seiner Moorcock-Bücher gab es immer eine Liste: »Von diesem Autor bereits erschienen«, und er machte Häkchen an die Titel, die er schon gelesen hatte.
In diesem Jahr schien es jede Woche einen neuen Moorcock zu geben. Er kaufte sie im Zeitungsladen an der Victoria-Station auf dem Weg zum bar-mizwa-Unterricht.
Doch ein paar konnte er einfach nicht finden – Der Seelendieb und Frühstück in den Ruinen – und schließlich bestellte er sie bei der Adresse, die hinten in den Büchern angegeben war, auch wenn ihn das ein wenig nervös machte. Er überredete seinen Vater, ihm den Scheck auszustellen, den man beifügen musste.
Als die Bücher kamen, lag eine Rechnung über 25 Pence bei; der Preis der Bücher war inzwischen wohl gestiegen. Doch er besaß jetzt Der Seelendieb und Frühstück in den Ruinen.
Im Klappentext von Frühstück in den Ruinen war eine Biografie von Moorcock, die besagte, er sei im vergangenen Jahr an Lungenkrebs gestorben.
Richard brauchte Wochen, um sich von dem Schock zu erholen. Es bedeutete, dass es keine weiteren Bücher mehr geben würde. Nie mehr.
Diese beschissene Biografie. Kurz nachdem sie erschienen war, war ich auf einem Hawkwind-Konzert, breit wie Kuckuck, und die ganze Zeit kamen irgendwelche Leute zu mir und ich dachte, ich wäre tot. Sie sagten fortwährend: »Du bist tot, du bist tot.« Später ging mir auf, dass sie in Wirklichkeit gesagt hatten: »Wir dachten, du bist tot.«
– Michael Moorcock im Gespräch, Notting Hill 1976
Es gab den Ewigen Helden und es gab den Gefährten des Helden. Moonglum war Elrics Gefährte, immer fröhlich, der perfekte Gegenpart zu dem bleichen Prinzen, der zu düsteren Stimmungen und Depressionen neigte.
Dort draußen gab es ein Multiversum, glitzernd und magisch. Es gab die Kräfte des Ausgleichs, die Götter des Chaos und die Herren der Ordnung. Es gab das ältere Volk, groß, blass und elfenhaft, und es gab die jüngeren Königreiche voller Menschen wie er selbst. Blöde, langweilige, normale Menschen.
Manchmal hoffte er, Elric könne sein schwarzes Schwert endgültig beiseite legen und Frieden finden. Aber so kam es nie. Sie gehörten untrennbar zusammen: der weiße Prinz und das schwarze Schwert.
Fuhr das Schwert einmal aus der Scheide, dann dürstete es auch nach Blut, wollte in zuckendes Fleisch stoßen. Und dann saugte es dem Opfer die Seele aus dem Leib und übertrug seine Lebenskraft in Elrics geschwächten Körper.
Richard war mehr und mehr von Sex besessen. Er hatte sogar einen Traum gehabt, wo er Sex mit einem Mädchen hatte. Kurz vor dem Aufwachen hatte er geträumt, wie es sein musste, einen Orgasmus zu haben – es war ein intensives, magisches Gefühl von Liebe, das vom Herzen auszugehen schien. So war das, jedenfalls in seinem Traum.
Ein Gefühl tiefer, transzendenter, spiritueller Glückseligkeit.
Keine Erfahrung, die er je machte, kam diesem Traum gleich.
Nichts kam ihm auch nur nahe.
Der Karl Glogauer in Sehet den Mann war nicht mehr derselbe wie in Frühstück in den Ruinen, fand Richard, aber trotzdem bereitete es ihm ein eigenartiges, blasphemisches Vergnügen, Frühstück in den Ruinen morgens im Chorgestühl der Schulkapelle zu lesen. Solange er diskret war, schien es niemanden zu stören.
Er war der Junge mit dem Buch. Immer und überall.
Sein Kopf war so vollgestopft mit religiösen Themen, dass ihm ganz schwindelig davon wurde. An den Wochenenden beschäftigte er sich jetzt mit den komplexen Zusammenhängen und der Sprache des Judaismus, an jedem Morgen der Woche fand er sich dem Holzduft, dem von Kirchenfenstern so seltsam gebrochenen Licht und der ernsten Feierlichkeit der anglikanischen Kirche ausgesetzt und die Nächte gehörten seiner eigenen Religion, die er für sich erfand, ein seltsames, vielfarbiges Pantheon, wo die Lords des Chaos (Arioch, Xiombarg und die anderen) Seite an Seite existierten mit dem Fremden Phantom der DC Comics und Sam, dem Zauberer-Buddha aus Zelaznys Herr des Lichts, und mit Vampiren und sprechenden Katzen und Unholden und all den Wesen aus Langs kolorierten Märchenbüchern, wo alle Mythologien in einer grandiosen Anarchie des Glaubens nebeneinander existierten.
Richard hatte allerdings (nicht ganz ohne Bedauern, musste er zugeben) den Glauben an Narnia aufgegeben. Seit seinem sechsten Lebensjahr – also sein halbes Leben – hatte er felsenfest an alles Narnianische geglaubt, bis ihm letztes Jahr, als er Die Reise des Morgenrothändlers etwa zum hundertsten Mal las, plötzlich die Erkenntnis gekommen war, dass die Verwandlung dieses unangenehmen Eustace Scrub in einen Drachen und seine anschließende Bekehrung zum Glauben an Aslan den Löwen eine erschreckende Ähnlichkeit mit Paulus’ Bekehrung auf dem Weg nach Damaskus hatte, wenn man seine Blindheit mit dem Drachen gleichsetzte …
Und nachdem ihm das einmal aufgegangen war, fand er überall Parallelen, zu viele, als dass es bloßer Zufall hätte sein können.
Richard legte die Narnia-Bücher beiseite. Die Erkenntnis, dass sie nichts weiter als Allegorie waren, bekümmerte ihn ebenso wie der Verdacht, dass ein Autor (dem er vertraut hatte) versucht hatte, ihm etwas unterzujubeln. Die gleiche Enttäuschung erlebte er mit den Professor-Challenger-Geschichten, als der hartgesottene alte Professor zum Spiritualismus konvertierte. Nicht dass Richard Probleme mit dem Glauben an Geister hatte – Richard glaubte grundsätzlich an alles, ohne dass etwaige Widersprüche ihm je Probleme bereiteten –, aber Conan Doyle wollte einem hier etwas aufschwatzen; seine Predigt schimmerte durch die Worte hindurch. Richard war jung und auf seine Art unschuldig: er war der Ansicht, dass man Schriftstellern vertrauen können müsse, dass unter der Oberfläche einer Geschichte nichts verborgen sein dürfe.
Wenigstens die Elric-Geschichten waren ehrlich. Da passierte nichts unter der Oberfläche. Elric war der Letzte einer ausgestorbenen Art, ein Prinz, geschwächt und erfüllt von Selbstmitleid klammerte er sich an Sturmbringer, sein geschwärztes Schwert – eine Klinge, die nach Leben sang, die menschliche Seelen fraß und deren Lebensenergie an den gezeichneten und entkräfteten Albino übertrug.
Richard las die Elric-Geschichten wieder und wieder und er empfand jedes Mal Freude, wenn Sturmbringer sich in die Brust des Feindes bohrte, spürte eine Art stellvertretende Genugtuung, wenn Elric Kraft aus dem Seelenschwert zog wie ein Heroinsüchtiger aus einem Druck.
Richard war sicher, dass die Leute von Mayflower Books eines Tages die 25 Pence einfordern würden. Er wagte nie wieder, Bücher per Post zu bestellen.
J.B.C. MacBride hatte ein Geheimnis.
»Du darfst es niemandem erzählen.«
»Okay.«
Richard hatte kein Problem damit, Geheimnisse zu hüten. In späteren Jahren kam ihm die Erkenntnis, dass er ein wandelnder Schrein voll alter Geheimnisse war, Geheimnisse, die diejenigen, die sie ihm anvertraut hatten, sicher längst vergessen hatten.
Sie hatten einander einen Arm um die Schultern gelegt und gingen hinauf in das Wäldchen hinter der Schule.
Richard war in diesem Wald bereits zum unfreiwilligen Mitwisser eines anderen Geheimnisses geworden: Hier trafen sich drei von Richards Schulfreunden regelmäßig mit Mädchen aus dem Dorf. Und bei diesen Treffen, hatte man ihm anvertraut, zeigten sie sich gegenseitig ihre Genitalien.
»Ich kann dir nicht sagen, von wem ich das habe.«
»Okay«, sagte Richard.
»Ich meine, es ist wirklich wahr. Und ein absolutes Geheimnis.«
»In Ordnung.«
MacBride hatte in den letzten Monaten viel Zeit mit Mr. Aliquid, dem Schulkaplan, verbracht.
»Also: Jeder Mensch hat zwei Engel. Gott gibt ihnen einen und Satan gibt ihnen einen. Wenn man hypnotisiert wird, übernimmt Satans Engel die Kontrolle. So funktionieren auch diese Ouija-Bretter. Satans Engel bewegt sie. Du kannst deinen Engel von Gott anflehen, durch dich zu sprechen. Aber wahre Erleuchtung kommt nur, wenn du mit deinem Engel reden kannst, denn er verrät dir Geheimnisse.«
Es war das erste Mal, dass Grey der Gedanke kam, die anglikanische Kirche könne ihre eigene Esoterik, eine eigene Kabbala haben.
Der andere Junge blinzelte, als habe er in die Sonne geschaut. »Du darfst es niemandem verraten. Ich kriege Schwierigkeiten, wenn sie erfahren, dass ich es dir verraten habe.«
»In Ordnung.«
Es herrschte ein kurzes Schweigen.
Schließlich fragte MacBride: »Hast du schon mal einem Erwachsenen einen runtergeholt?«
»Nein.« Richards eigenes Geheimnis war, dass er noch nicht angefangen hatte zu masturbieren. All seine Freunde masturbierten, andauernd, allein, zu zweit oder in Gruppen. Er war ein Jahr jünger als sie und verstand nicht, was die ganze Aufregung sollte. Das ganze Thema bereitete ihm Unbehagen.
»Alles voller Sperma. Es ist dickflüssig und zäh. Sie wollen dich immer dazu kriegen, dass du ihren Schwanz in den Mund nimmst, wenn sie abspritzen.«
»Iihh.«
»Ist gar nicht so schlimm.« Er unterbrach sich kurz. »Weißt du, Mr. Aliquid meint, du bist sehr klug. Wenn du dich seiner privaten religiösen Diskussionsgruppe anschließen wolltest, wäre er bestimmt einverstanden.«
Diese private Diskussionsgruppe traf sich zweimal pro Woche in Mr. Aliquids kleinem Junggesellenhaus gegenüber der Schule, abends nach den Hausaufgaben.
»Ich bin kein Christ.«
»Na und? Du bist trotzdem Klassenbester im Religionsunterricht, Judenbengel.«
»Trotzdem, nein, danke. Hey, ich hab einen neuen Moorcock. Einen, den du noch nicht gelesen hast. Ein Elric-Buch.«
»Das kann nicht sein. Es gibt keine neuen.«
»Doch. Es heißt Die Augen des Jademannes. Es ist in grüner Schrift. Ich hab’s in einem Buchladen in Brighton gefunden.«
»Leihst du’s mir, wenn du es ausgelesen hast?«
»’türlich.«
Es wurde kalt und sie gingen zurück, Arm in Arm. Wie Elric und Moonglum, dachte Richard bei sich und das war nicht mehr oder weniger unsinnig als MacBrides Engel.
Manchmal malte Richard sich aus, dass er Michael Moorcock entführte und ihn zwang, Richard sein Geheimnis zu verraten.
Wenn man ihn gefragt hätte, hätte Richard gar nicht sagen können, was genau dieses Geheimnis denn eigentlich sein sollte. Es hatte etwas mit Schreiben zu tun. Und mit Göttern.
Richard fragte sich, woher Moorcock seine Ideen bekam.
Vermutlich aus dem verfallenen Tempel, entschied er schließlich, auch wenn er sich nicht mehr entsinnen konnte, wie der Tempel ausgesehen hatte. Er erinnerte sich an einen Schatten, an Sterne und an die Empfindung von Schmerz bei der Rückkehr zu etwas, das er für längst abgeschlossen gehalten hatte.
Er fragte sich, ob alle Schriftsteller ihre Ideen von dort bekamen oder nur Michael Moorcock.
Wenn man ihm gesagt hätte, dass sie sich das alles einfach nur ausdachten, in ihren Köpfen ersponnen, hätte er es niemals geglaubt. Es musste doch einen Ort geben, woher die Magie kam.
Oder nicht?
Vor ein paar Tagen ruft mich abends dieser Typ aus Amerika an und sagt zu mir: »Hör’n Sie mal, Mann, ich muss mit Ihnen über Ihre Religion reden.« Ich sage: »Ich hab keine Ahnung, wovon Sie da faseln, ich hab keine scheiß Religion.«
– Michael Moorcock im Gespräch, Notting Hill 1976
Sechs Monate waren vergangen. Die bar-mizwa lag hinter Richard und er sollte bald die Schule wechseln. Er saß zusammen mit J.B.C. MacBride am frühen Abend auf dem Rasen vor der Schule. Sie lasen. Richards Eltern wollten ihn von der Schule abholen, aber sie hatten sich verspätet.
Richard las Der englische Attentäter. MacBride war in Der Teufel zieht aus vertieft.
Richard stellte fest, dass er das Buch immer dichter vor die Augen hielt. Es war noch nicht ganz dunkel, aber er konnte nicht mehr lesen. Alles verwandelte sich in Grautöne.
»Mac? Was willst du werden, wenn du erwachsen bist?«
Der Abend war lau, das Gras trocken und weich.
»Ich weiß noch nicht. Schriftsteller vielleicht. Wie Michael Moorcock. Oder T.H. White. Was ist mit dir?«
Richard überlegte. Der Himmel war jetzt grau-violett. Hoch oben stand ein hauchdünner Fingernagelmond, wie der Splitter eines Traums. Er riss einen Grashalm aus und zerpflückte ihn langsam in kleine Schnipsel, Stück um Stück. Er konnte jetzt nicht auch »Schriftsteller« sagen. Es würde aussehen, als wolle er ihn nachahmen. Und er wollte auch eigentlich gar kein Schriftsteller werden. Es gab andere Dinge, die man werden konnte.
»Wenn ich groß bin«, sagte er schließlich versonnen, »möchte ich ein Wolf werden.«
»Das gibt es nicht«, entgegnete MacBride.
»Vielleicht nicht«, sagte Richard. »Wir werden sehen.«
Hinter den Fenstern der Schule flammten nach und nach die Lampen auf und ließen den violetten Himmel dunkler erscheinen als zuvor. Der Sommerabend war mild und still. Um diese Jahreszeit dauern die Tage ewig und es wird niemals wirklich Nacht.
»Ich wäre gern ein Wolf. Nicht immer. Nur manchmal. Im Dunkeln. Nachts möchte ich wie ein Wolf durch den Wald laufen«, sagte Richard mehr zu sich selbst. »Ich würde nie jemandem was tun. Nicht so ein Wolf. Ich würde einfach weiter und immer weiter rennen im Mondlicht unter den Bäumen und niemals müde werden oder außer Atem sein und nie anhalten müssen. Das möchte ich werden, wenn ich erwachsen bin …«
Er riss noch einen Grashalm aus, schälte die Blätter geschickt ab und kaute dann langsam den Stängel.
Und die beiden Kinder saßen allein im grauen Zwielicht, Seite an Seite, und warteten auf den Anbruch der Zukunft.