Schreiben ist wie Fliegen im Traum.
Wenn man sich erinnert. Wenn man kann. Wenn es klappt.
So einfach ist das.
NOTIZEN DES AUTORS, FEBRUAR 1992
Sie verwenden Spiegel. Das ist natürlich ein Klischee, aber es ist auch wahr. Zauberer benutzen Spiegel, meist in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel, seit die Viktorianer vor weit über hundert Jahren anfingen, verlässliche, klare Spiegel als Massenware herzustellen. John Nevil Maskelyne tat es 1862 als Erster mit einem Kleiderschrank, der, dank eines geschickt angebrachten Spiegels, mehr verbarg, als er zeigte.
Spiegel sind etwas Wunderbares. Sie scheinen die Wahrheit zu sagen, eine Reflexion des Lebens zu zeigen, doch wenn man einen Spiegel richtig einsetzt, kann er so überzeugend lügen, dass man glaubt, ein Gegenstand habe sich in Luft aufgelöst, dass eine Kiste voller Tauben und Fähnchen und Spinnen leer sei, dass die Leute hinter der Kulisse oder im Parkett schwebende Geister auf der Bühne seien. Bringt man ihn in den richtigen Winkel, wird ein Spiegel zum magischen Fenster und zeigt dir alles, was du dir nur vorstellen kannst. Und vielleicht auch ein paar Dinge, die du dir nicht vorstellen kannst.
(Der Rauch lässt die Umrisse verschwimmen.)
Geschichten sind auf die eine oder andere Weise nichts anderes als Spiegel. Wir verwenden sie, um uns zu erklären, wie die Welt funktioniert oder eben auch nicht funktioniert. Genau wie ein Spiegel bereiten Geschichten uns auf den neuen Tag vor. Lenken uns von den Dingen ab, die im Dunkeln liegen.
Fantasy – und jede Fiktion ist in gewisser Weise Fantasy – ist ein Spiegel. Ein Zerrspiegel, zugegeben, der Dinge verbirgt, der in einem Fünfundvierziggradwinkel zur Realität steht, aber ein Spiegel nichtsdestotrotz und wenn wir hineinschauen, kann er uns Dinge erzählen, die wir sonst vielleicht nie sehen würden. (Märchen sind mehr als wahr, hat G.K. Chesterton einmal gesagt. Nicht weil sie uns erzählen, dass es Drachen gibt, sondern weil sie uns erzählen, dass man Drachen besiegen kann.)
Heute hat der Winter begonnen. Der Himmel wurde grau, dann fing es an zu schneien und hörte bis lange nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf. Ich habe im Dunkeln gesessen und den Schnee fallen sehen. Glitzernd und schimmernd wirbelten die Flocken ins Licht und verschwanden wieder. Und ich habe darüber nachgedacht, woher Geschichten kommen.
Das ist eins von den Dingen, über die man so nachdenkt, wenn man davon lebt, sich irgendwelches Zeug auszudenken. Ich bin immer noch nicht sicher, ob das eine geeignete Beschäftigung für einen erwachsenen Menschen ist, aber jetzt ist es zu spät: Es sieht so aus, als hätte ich einen Beruf gefunden, der mir Spaß macht und für den ich morgens nicht zu früh aufstehen muss. (Als ich ein Kind war, haben die Erwachsenen immer gesagt, ich dürfe mir nicht ständig solche Sachen ausdenken, und sie haben mich davor gewarnt, was mir passieren könnte, wenn ich es doch täte. Soweit ich bislang feststellen kann, sind die Folgen jedoch durchaus erträglich: viele Reisen in fremde Länder und ich muss morgens nicht allzu früh aus den Federn.)
Die meisten Geschichten in diesem Buch wurden geschrieben, um die verschiedenen Lektoren und Herausgeber zu unterhalten, die mich um Beiträge für bestimmte Anthologien gebeten hatten (»Es ist für eine Geschichtensammlung über den Heiligen Gral«, »… über Sex«, »… Märchen, für Erwachsene neu erzählt«, »… Sex und Horror«, »… Rachegeschichten«, »… über Aberglauben«, »… noch mehr Sex«). Ein paar wurden auch geschrieben, um mich selbst zu unterhalten, oder genauer gesagt, um eine Idee oder ein Bild aus meinem Kopf zu kriegen und sicher auf Papier zu fixieren, was meiner Meinung nach keineswegs der schlechteste Grund fürs Schreiben ist: die Dämonen freisetzen, sie davonfliegen lassen. Manche der Geschichten begannen als müßige Gedanken – Fantasien und Kuriositäten, die einfach außer Kontrolle gerieten.
Ich habe mir einmal eine Geschichte als Hochzeitsgeschenk für ein befreundetes Paar ausgedacht. Sie handelte von einem Brautpaar, das eine Geschichte als Hochzeitsgeschenk bekam. Es war eine eher beunruhigende Geschichte. Nachdem ich sie mir ausgedacht hatte, kam ich zu dem Schluss, dass diese Freunde sich über einen Toaster vermutlich mehr freuen würden. Also habe ich ihnen einen Toaster gekauft und die Geschichte bis zum heutigen Tag nicht aufgeschrieben. Bis zum heutigen Tag sitzt sie in meinem Hinterkopf fest und wartet darauf, dass endlich zwei Leute heiraten, die sie zu schätzen wüssten.
Und gerade wird mir klar (während ich diese Einführung mit schwarzblauer Füllertinte in ein Notizbuch mit schwarzen Umschlag schreibe, nur für den Fall, dass dich das interessiert), dass die meisten Geschichten in diesem Buch zwar auf die eine oder andere Weise von Liebe handeln, dass es aber nicht genug schöne Geschichten enthält, Geschichten, in denen die Liebe angemessen belohnt wird, die einen Ausgleich schaffen könnten, ein Gegengewicht zu den anderen Formen der Liebe, die sich in diesem Buch finden. Darüber hinaus wird mir gerade klar, dass es Leute gibt, die überhaupt keine Einführungen lesen. Und außerdem könnte es doch sein, dass der eine oder andere von euch da draußen eines Tages doch heiratet. Also für all jene unter euch, die Einführungen lesen: Hier ist die Geschichte, die ich nie geschrieben habe. (Und sollte sie mir nicht gefallen, wenn ich sie zu Papier gebracht habe, kann ich diesen Absatz immer noch streichen und ihr werdet nie erfahren, dass ich aufgehört habe, diese Einführung zu schreiben, um stattdessen eine Geschichte zu beginnen.)
Das Hochzeitsgeschenk
Nach den Freuden und all den Aufregungen der Hochzeit, nach dem ganzen Irrsinn und dem Zauber (ganz zu schweigen von der Peinlichkeit, als Belindas Vater nach dem Essen seine Rede hielt, komplett mit Familiendias), nachdem die Flitterwochen vorüber waren (selbst wenn sie, metaphorisch gesprochen, noch lange andauerten) und ehe ihre Sonnenbräune im englischen Herbstwetter verblassen konnte, machten Belinda und Gordon sich daran, die Hochzeitsgeschenke auszupacken und Danksagungen zu schreiben – zahllose Danksagungen, um jedes Handtuch und jeden Toaster abzudecken, den Entsafter, den Brotbackautomaten, das Besteck und Geschirr, die Teemaschine und die Vorhänge.
»Na bitte«, sagte Gordon. »Alle größeren Teile abgearbeitet. Was haben wir sonst noch?«
»Die Geschenke in Umschlägen«, erwiderte Belinda. »Schecks, will ich hoffen.«
Die Umschläge enthielten tatsächlich einige Schecks und eine Reihe Geschenkgutscheine, sogar einen Büchergutschein über zehn Pfund von Gordons Tante Marie, die, so erklärte Gordon Belinda, arm wie eine Kirchenmaus sei, aber ein richtiger Schatz. Solange er zurückdenken konnte, hatte sie ihm zu jedem Geburtstag einen Büchergutschein geschickt. Und als sie den Stapel abgearbeitet hatten, fanden sie ganz unten einen braunen Umschlag, der eher geschäftlich aussah.
»Was ist das?«, fragte Belinda.
Gordon riss ihn auf und zog einen Bogen Papier heraus. Er hatte die Farbe von zwei Tage alter Sahne, die Ränder oben und unten waren gezackt, wie abgerissen, und eine Seite war beschrieben. Das Schriftbild war das einer mechanischen Schreibmaschine; so etwas hatte Gordon seit Jahren nicht mehr gesehen. Langsam las er den Text.
»Was ist es?«, wollte Belinda wissen. »Und von wem?«
»Keine Ahnung«, sagte Gordon. »Von irgendwem, der noch eine Schreibmaschine besitzt. Es ist nicht unterschrieben.«
»Ist es ein Brief?«
»Eigentlich nicht.« Er kratzte sich am Nasenflügel und las es noch einmal.
»Also?«, drängte sie, ihre Stimme klang aufgebracht. (Aber das war sie nicht; sie war glücklich. Wenn sie morgens aufwachte, eruierte sie immer als Erstes, ob sie noch genauso glücklich war wie beim Einschlafen oder als Gordon sich mitten in der Nacht an sie geschmiegt und sie geweckt hatte oder als sie ihn geweckt hatte. Und das war sie.) »Also? Was ist es denn?«
»Es scheint eine Beschreibung unserer Hochzeit zu sein«, antwortete er. »Sehr nett geschrieben. Hier.« Und er reichte ihr das Blatt.
Sie überflog es.
Es war ein kühler Tag Anfang Oktober, als Gordon Robert Johnson und Belinda Karen Abingdon gelobten, einander zu lieben und zu halten und zu ehren, bis dass der Tod sie scheide. Die Braut sah hinreißend aus und strahlte vor Glück, der Bräutigam war nervös, aber unverkennbar stolz und ebenso unverkennbar zufrieden.
So fing es an. Dann folgte eine Beschreibung der Trauung und der anschließenden Feier, in klaren, schlichten Worten und amüsant formuliert.
»Das ist ja goldig«, sagte sie. »Was steht auf dem Umschlag?«
»›Gordons und Belindas Hochzeit‹«, las er vor.
»Kein Name? Kein Hinweis darauf, wer es geschickt hat?«
»Nichts.«
»Na ja, jedenfalls ist es schön und eine wirklich originelle Idee«, sagte sie. »Ganz gleich, von wem es ist.«
Sie spähte in den Umschlag, um festzustellen, ob vielleicht noch irgendetwas darinsteckte, das sie übersehen hatten, ein Zettelchen von demjenigen ihrer Freunde (oder seiner oder ihrer gemeinsamen), der oder die das hier geschrieben hatte, aber sie fand nichts. Eine Danksagung weniger, dachte sie flüchtig und ein bisschen erleichtert, steckte das cremefarbene Blatt zurück in den Umschlag, den sie zusammen mit einer der Menükarten vom Hochzeitsessen, einer Einladungskarte, den Kontaktabzügen der Hochzeitsfotos und einer weißen Rose aus ihrem Brautstrauß in eine Pappschachtel legte.
Gordon war Architekt, Belinda Tierärztin. Für beide war Berufung, was sie taten, nicht einfach nur Broterwerb. Sie waren Anfang zwanzig. Keiner von beiden war zuvor verheiratet gewesen oder hatte auch nur eine feste Beziehung gehabt. Sie hatten sich kennen gelernt, als Gordon seinen dreizehnjährigen, halb gelähmten und ergrauten Golden Retriever Goldie zum Einschläfern in Belindas Praxis gebracht hatte. Er hatte Goldie bekommen, als er noch ein Junge war, und bestand darauf, bis zum Ende bei ihr zu bleiben. Belinda hatte seine Hand gehalten, als er weinte, und dann, ganz plötzlich und unprofessionell, hatte sie ihn in die Arme genommen, ganz fest, als könne sie den Schmerz, den Verlust und die Trauer aus ihm herauspressen. Einer von beiden fragte, ob sie abends zusammen im nahen Pub ein Bier trinken wollten, und nachher wussten sie beide nicht mehr genau, wer es vorgeschlagen hatte.
Das Wichtigste, das es über die ersten beiden Jahre ihrer Ehe zu sagen gibt, ist das: Sie waren relativ glücklich. Hin und wieder gab es Reibereien und gelegentlich hatten sie auch schon mal einen mordsmäßigen Krach über nichts Besonderes, der regelmäßig in tränenreicher Versöhnung endete, und dann liebten sie sich, küssten die Tränen des anderen weg und baten sich flüsternd, in tiefster Aufrichtigkeit um Verzeihung. Gegen Ende des zweiten Jahres, sechs Monate nachdem sie die Pille abgesetzt hatte, wurde Belinda schwanger.
Gordon kaufte ihr eine Kette mit winzigen Rubinen und machte aus dem Gäste- ein Kinderzimmer. Er tapezierte es selbst. Die Tapete war mit Figuren aus Kindergedichten bedruckt, Little Bo Peep und Humpty Dumpty und Little Miss Muffet in endloser Wiederholung.
Als Belinda die kleine Melanie aus dem Krankenhaus nach Hause brachte, kam Belindas Mutter sie für eine Woche besuchen und schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa.
Am dritten Tag holte Belinda die Pappschachtel hervor, um ihrer Mutter die Hochzeitsandenken zu zeigen und sich zu erinnern. Es schien alles schon so lange her zu sein. Sie lächelten über das vertrocknete, braune Ding, das einmal eine weiße Rose gewesen war, und lasen noch einmal die Menükarte und die Einladung. Ganz unten lag der große braune Umschlag.
»Gordons und Belindas Ehe«, las Belindas Mutter vor.
»Es ist eine Beschreibung unserer Hochzeit«, erklärte Belinda. »Wirklich schön. Sogar das mit Daddys Dias kommt vor.«
Belinda öffnete den Umschlag und zog das cremefarbene Blatt heraus. Sie las den maschinengeschriebenen Text und verzog dann das Gesicht. Schließlich legte sie es ohne ein weiteres Wort wieder weg.
»Darf ich es nicht lesen, Liebes?«, fragte ihre Mutter.
»Ich glaube, Gordon wollte mir einen Streich spielen«, sagte Belinda. »Keinen besonders geschmackvollen.«
Als Belinda an diesem Abend im Bett saß und Melanie stillte, sagte sie zu Gordon, der seine Frau und Tochter mit einem dümmlichen Lächeln bewunderte: »Warum hast du das geschrieben, Liebling?«
»Was denn?«
»In dem Brief. Dieses Hochzeitsding. Du weißt schon.«
»Nein, keine Ahnung.«
»Das war nicht komisch.«
Er seufzte. »Wovon redest du?«
Belinda wies auf die Schachtel, die sie nach oben gebracht und auf ihre Frisierkommode gelegt hatte. Gordon öffnete den Deckel und nahm den Umschlag heraus. »Hat das hier immer schon auf dem Umschlag gestanden?«, fragte er. »Ich dachte, es war irgendwas von unserer Hochzeit.« Dann nahm er den Bogen mit den ungleichmäßigen Rändern, las und runzelte die Stirn. »Das habe ich nicht geschrieben.« Er drehte das Blatt um und starrte auf die leere Rückseite, als erwarte er, dort noch mehr Text zu finden.
»Du warst es nicht?«, fragte sie. »Ganz ehrlich?« Gordon schüttelte den Kopf. Belinda wischte dem Baby ein kleines Milchrinnsal vom Kinn. »Ich glaube dir«, sagte sie. »Ich dachte, du hättest es geschrieben, aber das stimmt nicht.«
»Nein.«
»Lass es mich noch mal sehen«, bat sie. Er gab ihr das Blatt. »Das ist wirklich merkwürdig. Ich meine, das ist nicht witzig und wahr ist es auch nicht.«
Säuberlich getippt stand auf dem Blatt ein kurzer Abriss der vergangenen zwei Jahre in der Geschichte von Gordon und Belinda. Es waren keine guten Jahre gewesen, wollte man dem Text glauben. Sechs Monate nach der Hochzeit hatte ein Pekinese Belinda in die Wange gebissen. Die Bisswunde war so groß, dass sie genäht werden musste, was eine hässliche Narbe hinterlassen hatten. Damit nicht genug, waren auch Nerven verletzt worden und sie hatte angefangen zu trinken, vielleicht um den Schmerz zu betäuben. Sie hatte den Verdacht, dass ihr entstelltes Gesicht Gordon abstieß, und das Baby, stand dort, war ein verzweifelter Versuch, ihre Ehe zu kitten.
»Warum schreiben die so was?«
»Die?«
»Wer immer dieses scheußliche Ding verfasst hat.« Sie fuhr sich mit dem Finger über die Wange: sie war makellos und unversehrt. Belinda war eine sehr schöne junge Frau, auch wenn sie jetzt erschöpft und zerbrechlich aussah.
»Und woher willst du wissen, dass mehr als eine Person dahinter steckt?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie und legte das Baby an die linke Brust. »Es sieht einfach so aus. Das Ding zu schreiben und gegen das alte zu vertauschen und zu warten, bis einer von uns es liest … Hier, Melanie, ja, so ist es recht, du bist ja so ein gutes Mädchen …«
»Soll ich es wegwerfen?«
»Ja. Nein. Ich weiß nicht. Ich glaube …« Sie streichelte dem Baby die Stirn. »Lass es uns lieber aufbewahren. Vielleicht brauchen wir es als Beweis. Ich frage mich, ob Al das ausgeheckt hat.« Al war Gordons jüngster Bruder.
Gordon steckte das Blatt zurück in den Umschlag, den Umschlag wieder in die Schachtel, die unters Bett geschoben wurde und mehr oder minder in Vergessenheit geriet.
Sie bekamen beide nicht viel Schlaf in den folgenden Monaten. Melanie musste nachts gestillt werden und weinte viel, denn sie litt an Koliken. Die Schachtel blieb unter dem Bett. Dann bot man Gordon einen Job in Preston an, ein paar hundert Meilen weiter nördlich. Da Belinda Erziehungsurlaub hatte und in absehbarer Zeit nicht wieder arbeiten wollte, gefiel ihr die Idee recht gut. Also zogen sie um.
In einer malerischen Kopfsteinpflasterstraße fanden sie ein Haus: hoch und alt und tief. Belinda half gelegentlich in der örtlichen Tierarztpraxis aus, wo sie Klein- und Haustiere behandelte. Als Melanie achtzehn Monate alt war, brachte Belinda einen Sohn zur Welt. Sie nannten ihn Kevin, nach Gordons verstorbenem Großvater.
Gordon wurde Teilhaber des Architektenbüros. Als Kevin in den Kindergarten kam, fing Belinda wieder an zu arbeiten.
Die Schachtel war nie verloren gegangen. Sie lag in einem der unbewohnten Zimmer unter einem windschiefen Stapel von The Architect’s Journal und Architectural Review. Gelegentlich dachte Belinda an die Schachtel und deren Inhalt und eines Abends, als Gordon in Schottland war, um die Inhaber eines alten Familienschlosses über Modernisierungsmaßnahmen zu beraten, ließ sie ihren Gedanken Taten folgen.
Beide Kinder schliefen. Belinda stieg die Treppe hinauf in den unbewohnten, nicht tapezierten Teil des Hauses. Sie räumte die Zeitschriften beiseite und öffnete die Schachtel. Wo der Deckel nicht mit Zeitschriften bedeckt gewesen war, lag eine zwei Jahre alte, unberührte Staubschicht. Auf dem Umschlag stand nach wie vor Gordons und Belindas Ehe und Belinda war sich ehrlich nicht mehr sicher, ob da je etwas anderes gestanden hatte.
Sie nahm das Blatt aus dem Umschlag und las. Und dann legte sie es beiseite und saß dort oben im Dachgeschoss ihres Hauses und fühlte sich erschüttert und elend.
Der säuberlich getippte Text besagte, Kevin, ihr zweites Kind, sei nie geboren worden; sie habe im fünften Monat eine Fehlgeburt gehabt. Seither leide Belinda unter häufigen Anfällen düsterer Depressionen. Gordon sei selten zu Hause, stand da, denn er hatte eine ziemlich erbärmliche Affäre mit der Seniorpartnerin seiner Firma, einer gut aussehenden, aber unsicheren Frau, die zehn Jahre älter war als er. Belinda trank immer mehr und sie trug hohe Rollkragen und Schals, um die spinnennetzartige Narbe auf der Wange zu verstecken. Sie und Gordon sprachen nicht viel miteinander, es sei denn, sie trugen die belanglosen, kleinlichen Streitereien aus, hinter denen man sich versteckt, wenn man die ernste Auseinandersetzung fürchtet. Sie wussten, dass die einzigen Dinge, die sie einander noch zu sagen hatten, zu gewaltig waren, um sie auszusprechen, ohne ihrer beider Leben zu zerstören.
Belinda erzählte Gordon nichts über diese neue Version von Gordons und Belindas Ehe. Aber er las sie selbst, oder jedenfalls etwas, das große Ähnlichkeit damit hatte, als Belindas Mutter einige Monate später krank wurde und Belinda für eine Woche nach Hause fuhr, um sie zu pflegen.
Auf dem Blatt Papier, das Gordon aus dem Umschlag zog, stand die Beschreibung einer Ehe, vergleichbar mit der, die Belinda gelesen hatte, doch jetzt hatte die Affäre mit seiner Chefin ein böses Ende genommen und es sah so aus, als solle er seinen Job verlieren.
Gordon mochte seine Chefin gern, aber er konnte sich wirklich nicht vorstellen, sich je auf irgendwelche romantischen Verwicklungen mit ihr einzulassen. Sein Job machte ihm Spaß, auch wenn er eigentlich eine größere Herausforderung suchte.
Belindas Mutter erholte sich und Belinda kam noch vor Ende der Woche zurück. Ihr Mann und ihre Kinder waren erleichtert und selig, sie wiederzusehen.
Erst am Heiligen Abend brachte Gordon den Umschlag zur Sprache.
»Du hast es auch angeschaut, stimmt’s?« Kurz zuvor waren sie in die Kinderzimmer geschlichen und hatten die Weihnachtsstrümpfe gefüllt, die die Kinder aufgehängt hatten. Gordon hatte ein Gefühl von Euphorie verspürt, als er durch sein Haus ging und an den Betten der Kinder stand, doch die Euphorie vermischte sich mit tiefer Schwermut bei der Erkenntnis, dass solche Momente vollkommener Glückseligkeit nicht von Dauer sein konnten, dass es unmöglich war, die Zeit anzuhalten.
Belinda wusste sofort, wovon er sprach. »Ja«, sagte sie. »Ich habe es gelesen.«
»Was denkst du?«
»Na ja, ich meine, das ist kein Scherz mehr. Nicht einmal ein kranker Scherz.«
»Hm«, machte Gordon. »Aber was ist es dann?«
Sie saßen im Wohnzimmer auf der Vorderseite des Hauses. Die Lampen waren abgedimmt, ein Holzscheit brannte auf einer Lage Kohlen und tauchte den Raum in flackerndes, orangegelbes Licht.
»Ich glaube, es ist wirklich ein Hochzeitsgeschenk«, sagte sie. »Es beschreibt die Ehe, die wir nicht führen. Die schlimmen Dinge passieren dort auf dem Papier, nicht hier in unserem Leben. Statt es zu erleben, lesen wir es und erkennen, dass es so hätte kommen können. Aber ist es eben nicht.«
»Du willst also sagen, es ist so was wie Zauberei?« Er hätte das Wort unter normalen Umständen nicht ausgesprochen, aber heute war Heilig Abend und das Licht war gedämpft.
»Ich glaube nicht an Zauberei«, entgegnete sie kategorisch. »Es ist ein Hochzeitsgeschenk. Und ich meine, wir sollten es an einem sicheren Ort aufbewahren.«
Am zweiten Weihnachtstag nahm sie den Umschlag aus der Schachtel und legte ihn stattdessen in ihre verschließbare Schmuckschublade und dort verschwand er unter ihren Ketten und Ringen, Armbändern und Broschen.
Dem Frühling folgte der Sommer. Dem Winter folgte der Frühling.
Gordon war erschöpft. Tagsüber arbeitete er für seine Kunden, erstellte Entwürfe und führte die Bauaufsicht und abends saß er oft bis tief in die Nacht am Schreibtisch und arbeitete für sich selbst, entwarf Museen und Galerien und öffentliche Gebäude für Wettbewerbe. Hin und wieder fanden seine Konzepte lobende Erwähnung und wurden in Architekturzeitschriften abgebildet.
Belinda behandelte zunehmend Großtiere, was ihr viel Freude machte. Sie fuhr zu den Farmern hinaus, untersuchte und behandelte Pferde, Schafe und Kühe. Manchmal nahm sie die Kinder mit.
Sie stand gerade auf einer Weide, um eine trächtige Ziege zu untersuchen, die, wie sich zeigte, nicht die Absicht hatte, sich einfangen, geschweige denn untersuchen zu lassen, als das Handy klingelte. Belinda trat den Rückzug an und klappte das Telefon auf, während die Ziege sie vom anderen Ende der Wiese böse anstierte. »Ja?«
»Rate.«
»Hallo, Liebling. Ähm … Du hast im Lotto gewonnen?«
»Nein. Aber fast. Mein Entwurf für das British Heritage Museum ist in der engeren Wahl. Ein paar harte Konkurrenten stehen auch noch zur Debatte, aber er ist in der engeren Wahl.«
»Das ist fantastisch!«
»Ich habe Mrs. Fulbright angerufen, sie schickt Sonja heute Abend zum Babysitten herüber. Wir gehen feiern.«
»Wunderbar. Ich liebe dich«, sagte sie. »Aber jetzt muss ich zurück zu meiner Ziege.«
Sie nahmen ein angemessenes Festmahl ein und tranken zu viel Champagner. Als sie später im Schlafzimmer waren und Belinda ihre Ohrringe auszog, fragte sie: »Sollen wir nachschauen, was das Hochzeitsgeschenk sagt?«
Vom Bett aus sah er sie ernst an. Er trug nur noch Socken. »Nein, lieber nicht. Heute ist ein besonderer Abend. Warum ihn verderben?«
Sie legte die Ohrringe in die Schmucklade und verschloss sie. Dann zog sie die Strümpfe aus. »Du hast vermutlich Recht. Ich kann mir sowieso vorstellen, was drinsteht: Ich bin ständig betrunken und depressiv und du ein jämmerlicher Versager. Und derweil sind wir … na ja, ich bin tatsächlich ein bisschen beschwipst, aber das ist es nicht, was ich meine. Es liegt da ganz unten in seiner Schublade versteckt wie das Porträt auf dem Dachboden in Das Bildnis des Dorian Gray.«
»›Erst als sie die Ringe untersuchten, erkannten sie, wer es war.‹ Ja. Ich erinnere mich. Wir haben es in der Schule gelesen.«
»Das ist es, was mir Angst macht«, gestand sie und zog ein Baumwollnachthemd über. »Dass die Geschichte auf dem Blatt das wahre Porträt unserer Ehe ist und dass das, was wir erleben, nur ein hübsches Bild ist. Dass es wirklich ist und wir nicht. Ich meine …« Sie sprach jetzt eindringlich, mit dem großen Ernst der leicht Angetrunkenen. »Ist dir noch nie der Gedanke gekommen, dass all dies zu schön ist, um wahr zu sein?«
Er nickte. »Manchmal. Heute Abend ganz bestimmt.«
Sie fröstelte. »Vielleicht bin ich ja wirklich trunksüchtig und habe eine Narbe auf der Wange und du fickst alles, was einen Rock anhat, und Kevin ist nie geboren worden … und all die anderen schrecklichen Dinge.«
Er stand auf, kam zu ihr herüber und nahm sie in die Arme. »Aber es ist nicht wahr«, entgegnete er. »Das hier ist real. Du bist real. Ich bin real. Das Hochzeitsding ist nur eine Geschichte. Nur Wörter.« Und er küsste sie und hielt sie fest und in dieser Nacht wurde nicht mehr viel gesprochen.
Sechs Monate später fiel endlich die Entscheidung und es wurde bekannt, dass Gordons Entwurf den Architektenwettbewerb für das British Heritage Museum gewonnen hatte, selbst wenn die Times ihn als zu »aggressiv modern« bezeichnete, verschiedene Fachzeitschriften ihn zu altmodisch fanden und einer der Juroren in einem Interview mit dem Sunday Telegraph bekannte, er sei »ein Kompromisskandidat gewesen, die zweite Wahl aller Preisrichter«.
Sie zogen nach London und vermieteten ihr Haus in Preston an einen Künstler und seine Familie, denn Belinda wollte nicht, dass Gordon es verkaufte.
Mit Feuereifer stürzte Gordon sich auf das Museumsprojekt und er arbeitete sehr hart. Kevin war sechs, Melanie acht. London jagte Melanie Angst ein, aber Kevin fand es herrlich. Anfangs waren beide Kinder verstört über die Trennung von ihren Freunden und ihrer Schule. Belinda fand einen Teilzeitjob in einer Tierarztklinik in Camden, wo sie drei Nachmittage pro Woche arbeitete. Sie vermisste ihre Kühe.
Aus den Tagen in London wurden Monate, dann Jahre. Trotz gelegentlicher Etatkürzungen wuchs Gordons Enthusiasmus für sein Museumsprojekt und der Tag des ersten Spatenstichs rückte näher.
Eines Nachts wachte Belinda in den frühen Morgenstunden auf und betrachtete ihren schlafenden Mann im natriumgelben Licht der Straßenlaterne vor dem Schlafzimmerfenster. Sein Haaransatz ging zurück, am Hinterkopf war der Schopf merklich dünner geworden. Belinda überlegte, wie es wohl sein würde, eines Tages mit einem Glatzkopf verheiratet zu sein. Vermutlich so, wie es immer gewesen war, entschied sie. Meistens glücklich. Meistens gut.
Sie fragte sich, wie es ihnen in dem Briefumschlag erging. Sie konnte seine Präsenz spüren, trocken und brütend, dort in der Ecke des Schlafzimmers, sicher unter Verschluss. Plötzlich empfand sie Mitgefühl mit dieser Belinda und diesem Gordon, die in dem Umschlag eingesperrt waren, auf ein Blatt Papier gebannt, und sich und die ganze Welt hassten.
Gordon fing an zu schnarchen. Sie küsste ihn behutsam auf die Wange und sagte: »Schsch.« Er regte sich und war still, wachte aber nicht auf. Sie kuschelte sich an ihn und schlief bald wieder ein.
Am nächsten Tag hatte Gordon nach dem Mittagessen eine Besprechung mit einem Importeur für toskanischen Marmor. Plötzlich zeigte sein Gesicht einen Ausdruck größter Überraschung und er legte die Hand auf die Brust. Er sagte: »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, und dann knickten seine Knie ein und er fiel zu Boden. Man rief einen Rettungswagen, doch Gordon war tot, ehe er eintraf. Er war sechsunddreißig Jahre alt.
Bei der Untersuchung gab der Coroner zu Protokoll, die Autopsie habe ergeben, dass Gordon einen angeborenen Herzfehler gehabt hatte. Es hätte schon viel früher passieren können.
Während der ersten drei Tage nach seinem Tod empfand Belinda überhaupt nichts. Ein allumfassendes, grauenvolles Nichts. Sie tröstete die Kinder, sie sprach mit ihren Freunden und mit Gordons Freunden, mit ihrer Familie und mit Gordons Familie, nahm ihre Beileidsbekundungen würdevoll und dankend entgegen, wie man ein unerwartetes Geschenk annimmt. Sie hörte andere Menschen um Gordon weinen, was sie bislang nicht getan hatte, und fühlte absolut gar nichts.
Melanie, inzwischen elf Jahre alt, schien recht gut damit fertig zu werden. Kevin vergaß seine Bücher und Computerspiele, saß in seinem Zimmer, starrte aus dem Fenster und wollte nicht reden.
Am Tag nach der Beerdigung fuhren ihre Eltern zurück aufs Land und nahmen beide Kinder mit. Belinda weigerte sich mitzukommen. Es gebe zu viel zu tun, sagte sie.
Am vierten Tag nach der Beerdigung, als sie das Doppelbett machte, das sie und Gordon geteilt hatten, fing sie an zu weinen. Schluchzen schüttelte sie in gewaltigen, hässlichen Krämpfen der Trauer. Tränen fielen auf die Tagesdecke, klarer Rotz rann ihr aus der Nase und sie setzte sich abrupt auf den Boden, wie eine Marionette, deren Fäden plötzlich durchschnitten werden, und sie weinte beinah eine Stunde lang, weil sie wusste, dass sie ihn nie wiedersehen würde.
Sie wischte sich übers Gesicht. Dann schloss sie ihre Schmuckschublade auf, nahm den Umschlag heraus und öffnete ihn. Sie zog das cremefarbene Blatt heraus und überflog den säuberlich getippten Text. Jene Belinda da auf dem Blatt hatte betrunken einen Autounfall gebaut und sollte ihren Führerschein verlieren. Seit Tagen hatten sie und Gordon kein Wort mehr miteinander gesprochen. Vor achtzehn Monaten hatte er seinen Job verloren und saß jetzt den ganzen Tag in ihrem Haus in Salford herum. Sie lebten von dem bisschen Geld, das Belindas Job einbrachte. Melanie war völlig außer Kontrolle geraten. Beim Aufräumen in ihrem Zimmer hatte Belinda in einem Versteck ein Bündel Fünf- und Zehnpfundnoten gefunden. Melanie hatte keinerlei Erklärung abgegeben, wie ein elfjähriges Mädchen an all das Geld kam, hatte, als ihre Eltern sie zur Rede stellten, den Rückzug in ihr Zimmer angetreten und sie mit verkniffenem Mund böse angestarrt. Weder Gordon noch Belinda waren der Sache weiter auf den Grund gegangen. Sie fürchteten sich zu sehr davor, was sie möglicherweise herausfinden könnten. Das Haus in Salford war heruntergekommen und so feucht, dass der Putz in großen, zerbröselnden Plakaten von der Decke fiel, und sie litten alle drei an chronischer Bronchitis.
Belinda hatte Mitleid mit ihnen.
Sie steckte das Blatt zurück in den Umschlag. Sie fragte sich, wie es wohl wäre, Gordon zu hassen, von ihm gehasst zu werden. Sie fragte sich, wie es wäre, wenn es Kevin nicht in ihrem Leben gäbe, seine Flugzeugbilder nicht mehr zu sehen, seine sagenhaft unmelodischen Darbietungen aktueller Popsongs nicht mehr zu hören. Sie fragte sich, woher Melanie – die andere Melanie, nicht ihre Melanie, sondern die, die Melanie unter einem weniger glücklichen Stern hätte werden können –, woher sie das Geld hatte, und sie war erleichtert, dass ihre Melanie wenige Interessen neben klassischem Tanz und Enid-Blyton-Büchern zu haben schien.
Sie vermisste Gordon so furchtbar, dass es sich anfühlte, als werde ein scharfer Gegenstand in ihre Brust getrieben, ein Eiszapfen vielleicht oder ein Dorn, geschmiedet aus Kälte und Einsamkeit und der Gewissheit, dass sie ihn in dieser Welt nie wiedersehen würde.
Dann nahm sie den Umschlag mit hinunter ins Wohnzimmer, wo ein Kohlenfeuer im Kamin brannte, denn Gordon hatte immer eine Schwäche für offenes Feuer gehabt. Er sagte, es gebe einem Raum Leben. Sie mochte Kohlenfeuer nicht sonderlich, doch heute Abend hatte sie es aus Routine und Gewohnheit angezündet und weil es nicht anzuzünden bedeutet hätte, dass sie sich unwiderruflich hätte eingestehen müssen, dass er nie mehr nach Hause kommen würde.
Eine Zeit lang saß Belinda da und starrte ins Feuer, dachte darüber nach, was sie alles in ihrem Leben hatte, was sie aufgegeben hatte und ob es schlimmer war, jemanden zu lieben, den es nicht mehr gab, oder jemanden nicht zu lieben, der da war.
Und schließlich warf sie den Umschlag fast beiläufig auf die Kohlen, sah zu, wie er sich einrollte und schwarz wurde, schließlich Feuer fing und als gelbe Flamme inmitten der blauen verbrannte.
Bald war das Hochzeitsgeschenk nichts als schwarze Ascheflöckchen, die mit der aufsteigenden Luft hochwirbelten und wie der Brief eines Kindes an den Weihnachtsmann durch den Kamin und in die Nacht hinaus verschwanden.
Belinda ließ sich in den Sessel zurücksinken, schloss die Augen und wartete darauf, dass die Narbe auf ihrer Wange erblühte.
Und das war die Geschichte, die ich für die Hochzeit meiner Freunde nicht geschrieben habe. Allerdings ist es genau genommen natürlich nicht die Geschichte, die ich nicht geschrieben habe, nicht einmal die Geschichte, die zu schreiben ich vor ein paar Seiten begonnen habe. Die Geschichte, die ich anzufangen glaubte, war wesentlich kürzer, märchenhafter und sie hatte einen anderen Schluss. (Ich weiß nicht mehr, wie sie enden sollte. Es gab einen Schluss, aber als die Geschichte sich zu entwickeln begann, wurde der wirkliche Schluss unvermeidlich.)
Das haben die meisten Geschichten in diesem Band gemeinsam: Der Ort, an dem sie letztlich auskommen, war nie der, den ich am Beginn der Reise als Ziel ins Auge gefasst hatte. Manchmal merke ich nur daran, dass eine Geschichte zu Ende ist, dass ich keine Worte mehr niederzuschreiben habe.
Deutung der Eingeweide: Ein Rondeau
Lektoren oder Herausgeber, die mich um eine Geschichte bitten – »… egal worüber. Ehrlich. Was immer Sie wollen. Schreiben Sie einfach die Geschichte, die Sie immer schon schreiben wollten …«, bekommen meistens überhaupt nichts.
In diesem Fall erhielt ich einen Brief von Lawrence Schimel. Er bat um ein Gedicht als Einführung zu seiner Anthologie über Wahrsagerei. Er wollte eine Versform mit repetierenden Zeilen wie eine Villanelle oder ein Pantun, um die Unausweichlichkeit der Zukunft auszudrücken.
Also schrieb ich ihm ein Rondeau über die Freuden und die Gefahren des Wahrsagens und stellte ihm den wohl finstersten Scherz aus Alice hinter den Spiegeln voran. Irgendwie schien mir das ein guter Ausgangspunkt für dieses Buch.
Ohne Furcht und Tadel
Es war eine miserable Woche. Das Skript, das ich schreiben sollte, wollte sich einfach nicht einstellen. Seit Tagen hatte ich auf den leeren Bildschirm gestarrt, schrieb hin und wieder ein Wort wie das, starrte es eine Stunde lang an und dann löschte ich es langsam wieder, Buchstaben für Buchstaben und schrieb stattdessen und oder aber. Dann löschte ich das ganze ohne Speicherbefehl. Ed Kramer rief an und erinnerte mich daran, dass ich ihm noch eine Geschichte für eine Anthologie über den Heiligen Gral schulde, die er mit dem allgegenwärtigen Marty Greenberg zusammen herausgab. Und weil sich nichts anderes tat und ich diese Geschichte sowieso im Hinterkopf hatte, sagte ich zu.
Ich schrieb sie an einem Wochenende nieder, ein Geschenk der Götter, es ging vollkommen leicht und glatt. Plötzlich war ich wie verwandelt: Ich konnte der Gefahr ins Gesicht lachen, der Schreibblockade auf die Schuhe spucken. Danach saß ich wieder eine Woche vor dem leeren Bildschirm, denn die Götter haben Humor.
Vor ein paar Jahren gab mir jemand bei einer Signierstunde einen wissenschaftlichen Aufsatz über feministische Sprachkritik, der »Ohne Furcht und Tadel«, Tennysons »Die Lady von Shalott« und einen Madonna-Song verglich. Eines Tages hoffe ich, eine Geschichte mit dem Titel »Mrs. Whitakers Werwolf« zu schreiben, und frage mich, welche wissenschaftlichen Aufsätze sie nach sich ziehen wird.
Bei Lesungen fange ich meistens mit dieser Geschichte an. Es ist eine ausgesprochen freundliche Geschichte und es macht mir Spaß, sie vorzulesen.
Nikolaus war …
Jedes Jahr bekomme ich Weihnachtskarten von Künstlern. Sie malen oder zeichnen sie selbst. Es sind Werke wahrer Schönheit, Monumente inspirierter Kreativität.
Jedes Jahr zu Weihnachten bin ich verlegen, komme mir unbedeutend und untalentiert vor.
Also habe ich diese Geschichte in einem Jahr rechtzeitig vor Weihnachten geschrieben. Dave McKean hat sie in eleganter Kalligrafie niedergeschrieben und ich habe sie an jeden verschickt, der mir nur einfiel. Meine Karte.
Die Geschichte ist exakt 100 Wörter lang (102 mit dem Titel) und wurde zuerst in Drabble II veröffentlicht, einer Sammlung von 100-Wörter-Geschichten. Ich nehme mir immer wieder vor, eine neue Weihnachtskartengeschichte zu schreiben, aber es fällt mir immer erst am 15. Dezember ein, also verschiebe ich es aufs nächste Jahr.
Der Preis
Meine Agentin, Ms. Merrilee Heifetz aus New York, ist einer der coolsten Menschen auf der Welt und sie hat mir, soweit ich mich entsinnen kann, nur ein einziges Mal vorgeschlagen, worüber ich ein Buch schreiben soll. »Hör mal«, hat sie gesagt. »Engel sind im Moment in und die Leute lesen immer gern Bücher über Katzen. Also hab ich mir gedacht, wäre es nicht cool, wenn mal jemand ein Buch über eine Katze schreibt, die ein Engel ist, oder über einen Engel, der eine Katze ist oder so was in der Art?«
Und ich stimmte zu, dass das eine kommerzielle Idee mit Hand und Fuß sei, und versprach, darüber nachzudenken. Als dieser Denkprozess endlich abgeschlossen war, waren Bücher über Engel leider schon Schnee von vorgestern. Aber die Idee war geboren und eines Tages schrieb ich diese Geschichte.
(Für die Neugierigen: Eine junge Dame verliebte sich schließlich in den Schwarzen Kater und er zog zu ihr. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hatte er die Größe eines sehr kleinen Berglöwen erreicht und soweit ich weiß, wächst er immer noch. Zwei Wochen nachdem der Schwarze Kater fort war, erschien ein braun getigerter Kater und zog auf der Veranda ein. Während ich dies schreibe, schläft er nur ein paar Meter entfernt auf der Rückenlehne des Sofas).
Und bei der Gelegenheit möchte ich meiner Familie danken, dass sie mir erlaubt haben, sie in dieser Geschichte zu porträtieren und, was noch wichtiger ist, mich in Ruhe ließen, um zu schreiben, manchmal aber auch darauf bestanden, dass ich rauskomme und spiele.
Die Trollbrücke
Diese Geschichte wurde 1994 für den World Fantasy Award nominiert, hat ihn aber nicht gewonnen. Sie wurde für Ellen Datlows und Terri Windlings Snow White, Blood Red geschrieben, eine Anthologie, in der Märchen für Erwachsene nacherzählt wurden. Ich habe das Märchen »Die drei Ziegen« gewählt. Hätte Gene Wolf, einer meiner Lieblingsschriftsteller (und, geht mir gerade auf, auch jemand, der einmal eine Geschichte in einer Einführung versteckt hat), den Titel nicht schon vor Jahren belegt, hätte ich sie »Trip Trap« genannt.
Schachtelmännchen
Lisa Snellings ist eine bemerkenswerte Bildhauerin. Dies hab ich für die erste Skulptur geschrieben, die ich gesehen und in die ich mich sofort verliebt habe: ein dämonischer Springteufel. Sie hat mir eine Nachbildung geschenkt und mir das Original in ihrem Testament vermacht, sagt sie. Jede ihrer Skulpturen ist wie eine Geschichte, gebannt in Holz oder Gips. (Auf meinem Kaminsims steht eine von einem geflügelten Mädchen in einem Käfig, das Passanten eine Feder aus ihren Flügeln anbietet, während ihr Wärter schläft. Ich habe den Verdacht, in dieser Skulptur steckt ein Roman. Wir werden sehen.)
Der Goldfischteich und andere Geschichten
Die Mechanismen des Schreibens faszinieren mich. Diese Geschichte wurde 1991 begonnen. Nach drei Seiten hatte ich das Gefühl, nicht genügend Distanz zur Materie zu haben, also gab ich das Projekt auf. 1994 entschloss ich mich dann, sie doch noch zu Ende zu schreiben, für eine Anthologie, die Janet Berliner und David Copperfield herausgaben. Ich schrieb sie auf einem verbeulten Atari Portfolio Palmtop in Flugzeugen, Autos und Hotelzimmern, alles durcheinander wie Kraut und Rüben, skizzierte Dialoge und Begegnungen, bis ich einigermaßen sicher war, dass ich alles hatte. Dann brachte ich das Material in die richtige Reihenfolge und war verblüfft und selig, dass es klappte.
Einiges an dieser Geschichte ist wahr.
Triptychon: Gegessen (Szenen eines Kinofilms), Der weiße Weg, Die Messerkönigin
Vor ein paar Jahren schrieb ich über einen Zeitraum von mehreren Monaten drei Erzählgedichte. Jede der Geschichten handelte von Gewalt, von Männern und Frauen, von Liebe. Das erste Gedicht war ein Treatment für einen pornografischen Horrorfilm, in strikten jambischen Pentametern geschrieben, und ich gab ihm den Titel »Gegessen (Szenen eines Kinofilms)«. Es war ziemlich extrem (und wird in diesem Band nicht abgedruckt, fürchte ich). Das zweite war eine Nacherzählung einiger englischer Volksmärchen, das ich »Der weiße Weg« nannte. Es war so extrem wie die Geschichten, auf denen es basierte. Das Letzte war eine Geschichte über meine Großeltern mütterlicherseits und über Zauberkunst. Es war nicht ganz so extrem, aber – so will ich hoffen – ebenso beunruhigend wie die beiden vorangegangenen. Auf alle drei war ich stolz. Doch die eigentümlichen Gesetze der Verlagswelt führten dazu, dass sie in Abständen von mehreren Jahren publiziert wurden, sodass ein jedes Aufnahme in einer »Die Besten des Jahres«-Anthologie fand. (Alle drei erschienen im amerikanischen Year’s Best Fantasy and Horror, eins im britischen Year’s Best Horror und eines wurde für eine internationale Sammlung bester Erotika ausgewählt, was mich ein bisschen überrascht hat).
Der weiße Weg
Es gibt zwei Geschichten, die mich über Jahre verfolgt und heimgesucht, mich angezogen und abgestoßen haben, seit ich ihnen als kleiner Junge zum ersten Mal begegnet bin. Die eine ist die Erzählung von Sweeney Todd, dem »Dämonenbarbier von der Fleet Street«. Die zweite ist die Geschichte von Mr. Fox – in etwa eine englische Version von Blaubart.
Meine Nacherzählung der Erzählung wurde von den Varianten inspiriert, die ich im Penguin Book of English Folktales gefunden habe, das von Neil Philip herausgegeben wurde: »Die Geschichte von Mr. Fox« und die anschließenden Anmerkungen und die mit »Mr. Foster« überschriebene Fassung, wo ich das Motiv des weißen Weges fand und die Art und Weise, wie der angehende Verlobte des Mädchens die Spur zu seinem gruseligen Haus legt.
In der Geschichte von Mr. Fox wird der Refrain »So war es nicht, so ist es nicht und gebe Gott, dass es niemals so sein wird« wie eine Litanei wiederholt, jedes Mal wenn Mr. Fox’ Braut die Schrecken beschreibt, die sie im Traum gesehen haben will. Zuletzt wirft sie einen blutigen Finger oder eine Hand auf den Boden, die sie in seinem Haus gefunden hat, um zu beweisen, dass jedes Wort wahr ist. Und das ist das effektvolle Ende seiner Geschichte.
Auch haben mich diese eigentümlichen chinesischen und japanischen Volksmärchen inspiriert, in denen es letztlich immer um Füchse geht.
Die Messerkönigin
Genau wie mein illustrierter Roman Mr. Punch kommt diese Geschichte der Wahrheit so nahe, dass ich dem einen oder anderen meiner Verwandten gelegentlich versichern musste, dass es nicht wirklich passiert ist. Na ja, jedenfalls nicht so.
Wandel
Lisa Tuttle rief mich eines Tages an und bat mich um eine Shortstory für eine Anthologie zum Thema Geschlechter. Ich habe SF als Medium immer geliebt und als Junge war ich überzeugt, dass ich einmal ein Science-Fiction-Autor werden würde. Das bin ich nie wirklich geworden. Als mir vor beinah zehn Jahren die Idee zu dieser Geschichte kam, schwebte mir ein Zyklus zusammenhängender Kurzgeschichten vor, der einen Roman über die Welt der Geschlechterreflexion ergeben hätte. Aber ich habe nie eine dieser Erzählungen geschrieben. Als Lisa anrief, kam mir in den Sinn, dass ich die Welt, die mir vorschwebte, und ihre Geschichte so erzählen könnte wie Eduardo Galeano die Historie Amerikas in seiner Trilogie Erinnerung an das Feuer.
Als die Erzählung fertig war, habe ich sie einer Freundin gezeigt, die sagte, sie lese sich wie ein Romanentwurf. Mir blieb nichts übrig, als ihr zu ihrem Scharfblick zu gratulieren. Aber Lisa Tuttle mochte die Geschichte und ich mag sie auch.
Tochter der Eulen
John Aubrey, Sammler und Historiker des siebzehnten Jahrhunderts, ist einer meiner Lieblingsschriftsteller. Seine Werke sind eine gelungene Mischung aus Leichtgläubigkeit und Belesenheit, aus Anekdoten, Erinnerungen und Spekulation. Wenn man Aubrey liest, ist es, als höre man eine reale Person aus der Vergangenheit sprechen, und das in einer Art und Weise, die die Jahrhunderte überbrückt: eine unglaublich sympathische, fesselnde Persönlichkeit. Außerdem mag ich seine Art des Schreibens. Ich habe diese Geschichte auf verschiedene Arten zu schreiben versucht und war nie so ganz glücklich. Dann kam mir die Idee, sie wie Aubrey zu schreiben.
Shoggoth’s Old Peculiar
Der Nachtzug von Glasgow nach London erreicht sein Ziel gegen fünf Uhr morgens. Als ich aus diesem Zug stieg, ging ich zum Bahnhofshotel und betrat die Halle. Ich wollte zur Rezeption gehen, mir ein Zimmer nehmen und noch ein paar Stunden schlafen, um dann die nächsten beiden Tage auf dem Science-Fiction-Kongress zu verbringen, der in diesem Hotel stattfand. Offiziell sollte ich für eine Zeitung darüber berichten.
Als ich die Hotelhalle durchquerte, kam ich an der Bar vorbei. Sie war verlassen bis auf einen versonnenen Barkeeper und einen englischen Fan namens John Jarrold, der als Fan-Ehrengast die Bar auf Kosten des Kongresses frequentieren konnte und dieses Privileg nutzte, während andere schliefen.
Also machte ich Halt, um ein paar Worte mit John zu wechseln, und ich kam nie an der Rezeption an. Die nächsten achtundvierzig Stunden redeten wir, erzählten Witze und Geschichten, und als die Bar sich in den frühen Morgenstunden der folgenden Nacht wieder zu leeren begann, verrissen wir enthusiastisch alles, woran wir uns aus Guys and Dolls erinnern konnten. Irgendwann führte ich in dieser Bar eine Unterhaltung mit dem inzwischen verstorbenen Richard Evans, einem englischen SF-Lektor, aus der sich sechs Jahre später Niemalsland entwickeln sollte.
Ich weiß nicht mehr genau, warum John und ich mit den Stimmen von Peter Cook und Dudley Moore über Cthulhu zu reden begannen oder was mich veranlasste, John einen Vortrag über H.P. Lovecrafts Prosastil zu halten. Ich schätze, es hatte etwas mit Schlafmangel zu tun.
Heute ist John Jarrold ein respektabler Lektor und ein Stützpfeiler der englischen Verlagswelt. Der Mittelteil dieser Geschichte erblickte das Licht der Welt in dieser Bar, als John und ich Pete und Dud als Figuren von H.P. Lovecraft imitierten. Mike Ashley war der Herausgeber, der mich überredet hat, diese Geschichte daraus zu machen.
Virus
Dies habe ich für David Barretts Digital Dreams geschrieben, eine Anthologie mit Computergeschichten. Ich spiele nicht mehr viele Computerspiele. Als ich es noch regelmäßig tat, habe ich festgestellt, dass sie ganze Bereiche meines Gehirns belegten. Große Quader fielen oder kleine Männchen rannten und hüpften hinter meinen geschlossenen Lidern, ehe ich abends einschlief. Meistens habe ich verloren, selbst wenn ich nur in meinen Gedanken spielte.
So entstand das hier.
Charlotte
Diese Geschichte war eine Auftragsarbeit für Penthouse zu ihrer zwanzigjährigen Jubiläumsausgabe im Januar 1985. Die letzten zwei Jahre hatte ich mich als junger Journalist auf den Straßen von London damit durchgeschlagen, Prominente für Penthouse und Knave zu interviewen, zwei englische »Fleischzeitschriften«, die weitaus zahmer waren als ihre amerikanischen Namensvettern. Alles in allem war es eine lehrreiche Erfahrung.
Einmal habe ich eins der Models gefragt, ob sie das Gefühl habe, sie werde ausgebeutet. »Ich?«, hat sie gefragt. Ihr Name war Marie. »Ich werde gut dafür bezahlt. Und es ist auf jeden Fall besser, als auf der Nachtschicht in einer Keksfabrik in Bradford zu schuften. Ich sag dir, wer ausgebeutet wird: all diese Typen, die es kaufen. Die sich jeden Monat vor meinem Bild einen abwichsen. Die werden ausgebeutet.« Ich glaube, die Geschichte begann mit dieser Unterhaltung.
Ich war zufrieden mit der Shortstory, als ich sie schrieb: Sie war mein erster fiktionaler Text, der sich nach mir anhörte, nicht so, als imitiere ich jemand anderen. Langsam näherte ich mich einem eigenen Stil. Um für die Geschichte zu recherchieren, habe ich in der Londoner Penthouse-Redaktion in den Docklands gesessen und die Ausgaben von zwanzig Jahren durchgeblättert. Im ersten Penthouse war meine Freundin Dean Smith. Dean machte Make-up für Knave und war, so stellte sich heraus, das erste »Penthouse Pet« des Jahres 1965 gewesen. Für die 1965er Charlotte-Texte habe ich schamlos die Dean-Texte geklaut, inklusive der »aufrührerischen Individualistin«. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass Penthouse versuchte, Dean für ihre Feier zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen ausfindig zu machen. Sie war von der Bildfläche verschwunden. Es stand in sämtlichen Zeitungen.
Während ich zwei Dekaden von Penthouse-Ausgaben durchsah, kam mir der Gedanke, dass Penthouse und andere Zeitschriften dieser Art absolut nichts mit Frauen zu tun haben, dafür aber eine Menge mit Fotografien von Frauen. Und das war nun der zweite Ausgangspunkt für diese Geschichte.
Nur mal wieder das Ende der Welt
Steve Jones und ich sind seit fünfzehn Jahren befreundet. Wir haben sogar zusammen ein Buch mit gemeinen Kindergedichten herausgegeben. Das bedeutet, dass er mich anruft und Dinge sagt wie: »Ich mache eine Anthologie mit Geschichten, die in H.P. Lovecrafts fiktiver Stadt Innsmouth spielen. Lass mal ’ne Geschichte rüberwachsen.«
Diese Geschichte entstand durch eine Verkettung mehrerer Dinge. (So kommen wir Schriftsteller an unsere Ideen, falls du das immer schon mal wissen wolltest.) Eins war das Buch A Night in the Lonesome October des verstorbenen Roger Zelazny, wo die diversen Standardfiguren aus dem Horror- und Fantasygenre auf unglaublich komische Weise Verwendung finden. Roger hatte mir das Buch ein paar Monate bevor ich diese Geschichte schrieb, geschenkt und es hatte mir großen Spaß gemacht. Etwa zur gleichen Zeit las ich einen Bericht über einen Werwolfprozess vor dreihundert Jahren. Als ich eine der Zeugenaussagen las, ging mir auf, dass dieser Prozess Sakis wunderbare Geschichte »Gabriel-Ernest« und ebenso James Branch Cabells Novelle The White Robe inspiriert hatte, dass aber sowohl Saki als auch Cabell eine zu gute Kinderstube hatten, um das Motiv der ausgebrochenen Finger zu verwenden, einer der wichtigsten Beweise im Prozess. Und das hieß, dass es jetzt allein mir gehörte.
Larry Talbot war der Name des originalen Wolfsmenschen, der, der Abbott und Costello traf.
Baywolf
Schon wieder Steve Jones. »Ich will, dass du mir eins von deinen Erzählgedichten schreibst. Es muss eine Detektivgeschichte sein und in der nahen Zukunft spielen. Vielleicht kannst du diesen Larry Talbot aus »Nur mal wieder das Ende der Welt« noch mal verwenden.«
Ich hatte gerade ein Projekt abgeschlossen: als Co-Autor hatte ich eine Drehbuchfassung von Beowulf, diesem altenglischen Heldengedicht, geschrieben und war ein wenig verblüfft, wie viele Leute sich verhörten und offenbar der Meinung waren, ich habe eine Folge für »Baywatch« geschrieben. Also habe ich Beowulf als futuristische »Baywatch«-Episode für eine Krimianthologie neu erzählt. Es schien das einzig Naheliegende.
Hör mal, ich halte dir auch nicht vor, woher du deine Ideen kriegst.
Im Dutzend billiger
Wären die Geschichten dieser Sammlung in chronologischer Anordnung und nicht in dieser merkwürdigen und willkürlichen So-scheint’smir-richtig-Reihenfolge, die ich gewählt habe, wäre diese hier die erste des Buches. 1983 nickte ich eines Abends beim Radiohören ein. Das Letzte, was ich hörte, war ein Bericht über Rabatte im Großhandel, als ich aufwachte, redeten sie über bezahlte Killer. Daher kam diese Geschichte.
Ich hatte eine ganze Reihe von John Colliers Kurzgeschichten gelesen, bevor ich diese hier schrieb. Als ich sie mir vor ein paar Jahren noch mal vornahm, erkannte ich, dass es eine John-Collier-Geschichte war. Nicht so gut und auch nicht so gut geschrieben wie seine, aber trotzdem eine Collier-Geschichte und das war mir nicht aufgefallen, als ich sie verfasste.
Ein Leben durchwoben von Moorcocks Frühwerk
Als man mich bat, eine Geschichte für eine Anthologie zu Michael Moorcocks Elric-Geschichten zu schreiben, beschloss ich, von einem Jungen zu erzählen, der große Ähnlichkeit mit dem Jungen hatte, der ich einmal war, und über seine Beziehung zur Fiktion. Ich bezweifelte, dass ich irgendetwas über Elric sagen könnte, das keine Nachahmung war, doch als ich zwölf war, waren Moorcocks Figuren für mich so real wie alles andere in meinem Leben und weitaus realer als beispielsweise Erdkundeunterricht.
»Von allen Geschichten der Anthologie haben mir Ihre und Tad Williams’ am besten gefallen«, sagte Michael Moorcock, als ich ihm einige Monate nach Abschluss der Geschichte in New Orleans begegnete. »Und die von Tad Williams gefiel mir besser als Ihre, weil Jimi Hendrix darin vorkam.«
Den Titel habe ich von einer Harlan-Ellison-Geschichte gestohlen.
Kalte Farben
Ich habe über die Jahre mit unterschiedlichen Genres gearbeitet. Manchmal werde ich gefragt, woher ich weiß, welche Idee in welches Genre gehört. Meistens kommen die Ideen eben als Comics oder Filme oder Gedichte oder Prosa oder Romane oder Kurzgeschichten oder was auch immer. Man weiß im Voraus, was man schreiben wird.
Aber das hier war einfach nur eine Idee. Ich wollte etwas über diese infernalischen Maschinen, Computer, sagen, über schwarze Magie und über London, wie ich es in den späten Achtzigerjahren erlebt hatte, einer Epoche finanzieller Exzesse und moralischen Bankrotts. Es schien weder eine Kurzgeschichte noch ein Roman zu sein, also versuchte ich es als Gedicht und es klappte.
Für das Time Out Book of London Short Stories habe ich es zum Prosatext umformatiert, was viele Leser sehr irritiert hat.
Der Traumfeger
Dies hier begann mit einer Skulptur von Lisa Snellings: ein Mann, der sich auf einen Besenstil stützt. Offenbar eine Art Hausmeister. Welcher Art, habe ich mich gefragt und so kam es zu dieser Geschichte.
Fremdkörper
Noch eine frühe Geschichte. Ich habe sie 1984 geschrieben und überarbeitete sie 1989 zu ihrer endgültigen Fassung (einmal schnell überstreichen und die schlimmsten Risse beispachteln). 1984 konnte ich sie nicht verkaufen. Die SF-Zeitschriften mochten den Sex nicht, die Sex-Blätter mochten die Krankheit nicht. 1987 wurde ich gefragt, ob ich sie in einer Anthologie mit erotischen SF-Geschichten veröffentlichen wolle, aber ich lehnte ab. 1984 hatte ich eine Geschichte über eine Geschlechtskrankheit verfasst. 1987 schien diese Geschichte ganz andere Dinge zu sagen. Die Geschichte selbst hatte sich vielleicht nicht verändert, die Landschaft, die sie umgab, umso mehr: Ich rede von AIDS und das tut die Geschichte ebenfalls, beabsichtigt oder nicht. Wenn ich die Geschichte neu schreiben wollte, hätte ich AIDS berücksichtigen müssen und das konnte ich nicht. Es war zu groß, zu unbekannt, unmöglich in den Griff zu bekommen. Aber 1989 hatte sich die kulturelle Landschaft wiederum verändert, sodass ich mich zwar vielleicht immer noch nicht wohl, aber auch nicht mehr in solchem Maß unwohl dabei fühlte, die Geschichte aus dem Schrank zu holen, abzustauben, aufzubügeln und in die Welt hinauszuschicken. Als Steve Niles mich also fragte, ob ich nichts Unveröffentlichtes für seine Anthologie Words Without Pictures habe, gab ich ihm das hier.
Ich könnte behaupten, es sei keine Geschichte über AIDS, aber es wäre gelogen, jedenfalls teilweise. Und heute scheint AIDS, ob es uns gefällt oder nicht, einfach nur eine weitere Krankheit in Venus’ Arsenal geworden zu sein.
Ich glaube, in Wirklichkeit handelt sie vor allem von Einsamkeit und Identität und vielleicht von den Freuden, seinen eigenen Weg in der Welt zu gehen.
Sestine eines Vampirs
Meine einzige erfolgreiche Sestine (eine Versform, bei der das jeweils letzte Wort der ersten sechs Zeilen in ständig veränderter Folge in den folgenden Strophen und der dreizeiligen Endstrophe wiederkehren). Sie wurde zuerst in Fantasy Tales veröffentlicht, dann in Steve Jones Mammoth Book of Vampires abgedruckt und war jahrelang mein einziges Werk über Vampirismus.
Maus
Diese Geschichte habe ich für das von Pete Crowther herausgegebene Touch Wood geschrieben, eine Anthologie über Aberglauben. Ich wollte immer schon mal eine Raymond-Carver-Kurzgeschichte schreiben, er ließ es so einfach wirken. Diese Geschichte zu schreiben überzeugte mich vom Gegenteil.
Ich fürchte, den erwähnten Radiobetrag habe ich tatsächlich gehört.
Im tiefen Wasser
Dies habe ich in der Dachgeschosswohnung eines kleinen Hauses in Earls Court geschrieben. Lisa Snellings’ Skulptur inspirierte mich ebenso wie die Erinnerung an den Strand von Portsmouth, als ich ein Junge war: das schleifende Rasseln, das die See von sich gibt, wenn die Wellen sich vom Kiesstrand zurückziehen. Ich schrieb gerade den letzten Teil vom Sandmann, der »Der Sturm« hieß, und Anklänge an Shakespeares Drama durchziehen dieses Gedicht so wie damals meine Gedanken.
Als wir einen Ausflug zum Ende der Welt gemacht haben
(von Dawnie Morningdale, 11 1/4 Jahre alt)
Alan Moore (einer der großartigsten Schriftsteller und großartigsten Menschen, die ich kenne) und ich setzten uns eines Tages in Northampton zusammen und redeten darüber, einen Ort zu erschaffen, an dem wir eine Geschichte spielen lassen wollten. Diese Geschichte spielt an diesem Ort. Eines Tages werden die guten Bürger von Northampton Alan wegen Zauberei verbrennen und es wird ein großer Verlust für die Welt sein.
Wüstenwind
Eines Tages schickte mir Robin Anders, bekannt als Drummer von Boiled In Lead, eine Kassette mit der Aufforderung, etwas über eines der Stücke auf dem Band zu schreiben. Das Stück hieß »Desert Wind«. Dies ist, was ich geschrieben habe.
Kostproben
Für diese Geschichte habe ich vier Jahre gebraucht. Nicht weil ich an jedem Adjektiv herumgefeilt und -poliert hätte, sondern weil sie mir peinlich war. Ich schrieb einen Absatz und dann ließ ich sie liegen, bis die Schamesröte aus meinem Gesicht gewichen war. Vier, fünf Monate später nahm ich sie mir wieder vor und schrieb den nächsten Absatz. Ich hatte die Geschichte für Ellen Datlows Off limits: Tales of Alien Sex begonnen, eine erotische SF-Anthologie. Ich verpasste den Abgabetermin und schrieb sie weiter für die Fortsetzung. Schaffte vielleicht eine Seite, ehe auch dieser Abgabetermin verstrichen war. Irgendwann zwischendurch rief ich Ellen Datlow an und erklärte ihr für den Fall meines vorzeitigen Ablebens, dass es auf meiner Festplatte eine halbfertige pornografische Kurzgeschichte unter dem Dateinamen DATLOW gebe und dass es nichts Persönliches sei. Zwei weitere Abgabetermine kamen und gingen und vier Jahre nach dem ersten Absatz schloss ich die Geschichte ab. Ellen Datlow und ihr Komplize Terri Windling nahmen sie für Sirens, eine Sammlung erotischer Fantasy-Geschichten.
Der Auslöser dieser Geschichte war die Frage, warum die Leute in Büchern nie reden, während sie sich lieben oder meinetwegen auch während sie nur Sex haben. Ich finde sie nicht erotisch, aber nachdem die Geschichte endlich fertig war, fand ich sie auch nicht mehr peinlich.
Babynahrung
Eine Fabel, die ich für eine Publikation zugunsten der People for the Ethical Treatment of Animals (PETA) geschrieben habe. Ich glaube, ihre Aussage ist klar. Sie ist das Einzige meiner Werke, das mich beunruhigt. Letztes Jahr kam ich einmal die Treppe herunter und fand meinen Sohn Michael, der sich meine Audio-CD Warning: Contains Language anhörte. »Babynahrung« fing gerade an, als ich dazukam, und ich war überrascht, diesen Text von einer Stimme vorgelesen zu hören, die ich kaum als meine eigene identifizieren konnte.
Fürs Protokoll: Ich trage eine Lederjacke und esse Fleisch, aber ich gehe ziemlich sorgsam mit Babys um.
Mordmysterien
Als mir die Idee zu dieser Geschichte kam, sollte sie »City of Angels« heißen. Aber als ich anfing, sie zu schreiben, kam ein Broadway-Musical mit diesem Titel heraus, also gab ich der fertigen Geschichte einen neuen Namen.
»Mordmysterien« wurde für Jessie Horsting vom Midnight Graffiti Magazine geschrieben, für ihre Taschenbuchanthologie, die zufällig auch Midnight Graffiti hieß. Pete Atkins, dem ich einen Entwurf nach dem anderen faxte, war als Resonanzboden von unschätzbarem Wert und ein Muster an Geduld und Nachsicht.
Was den detektivischen Teil der Geschichte angeht, habe ich versucht, fair zu sein. Es wimmelt nur so von Hinweisen. Sogar im Titel steckt einer.
Schnee, Glas, Äpfel
Auch dies ist eine Geschichte, die durch Neil Philips Penguin Book of English Folktales inspiriert wurde. Ich las es in der Badewanne und hatte mir eine Geschichte ausgesucht, die ich wohl schon tausendmal zuvor gelesen hatte. (Ich besitze immer noch die illustrierte Version der Geschichte, die ich mit drei Jahren bekam.) Aber dieses Tausendunderstemal wirkte der Zauber und ich begann, von hinten nach vorn und ganz verkehrt herum über die Geschichte nachzudenken. Sie spukte mir ein paar Wochen im Kopf herum und schließlich fing ich während eines langen Fluges an, sie handschriftlich aufzuschreiben. Als der Flieger landete, war die Geschichte zu drei Vierteln fertig, also ging ich in mein Hotel, setze mich in eine Ecke des Zimmers und schrieb weiter, bis sie fertig war.
Sie erschien bei DreamHaven Press in einem Büchlein in limitierter Auflage, dessen Erlös dem Comic Book Legal Defense Fund zugute kam (einer Organisation, die die Persönlichkeitsrechte von Comicautoren, -zeichnern, -verlegern und -händlern schützt). Poppy Z. Brite druckte sie in ihrer Anthologie Love in Vein II nach.
Ich betrachte die Geschichte als eine Art Virus. Wenn du sie einmal gelesen hast, bist du danach vielleicht nie wieder in der Lage, die Vorlage so zu lesen wie früher.
Ich möchte Greg Ketter danken, dessen DreamHaven Press einige dieser Geschichten in Angels and Visitations veröffentlicht hat, einer Sammlung von Geschichten, Rezensionen, journalistischen Beiträgen und anderem Zeug, das ich geschrieben habe, und andere in zwei Büchlein zugunsten des Comic Book Legal Defense Fund.
Mein Dank gilt auch all den Herausgebern und Lektoren, die die Geschichten in diesem Buch angenommen, nachgedruckt oder in Auftrag gegeben haben, all den Beta-Testern (die Angesprochenen wissen, wen ich meine), die es geduldig ertragen haben, ständig meine Geschichten per Post, per Fax oder per EMail zu bekommen, die gelesen haben, was ich ihnen schickte, und mir mit oft sehr deutlichen Worten gesagt haben, woran ich noch arbeiten musste. Ihnen allen mein herzlicher Dank. Jennifer Hershey hat dieses Buch mit Geduld, Charme und editorialer Weisheit von der Idee zur Realisierung begleitet. Ich kann ihr gar nicht genug danken.
Jede dieser Geschichten ist eine Reflexion auf oder von irgendetwas und sie alle sind flüchtig wie ein Rauchkringel. Sie sind Botschaften aus dem Spiegelland, Bilder in den dahintreibenden Wolken: Rauch und Spiegel, nichts weiter. Aber es hat mir Freude gemacht, sie zu schreiben, und sie ihrerseits, denke ich mir, schätzen es, gelesen zu werden.
Willkommen.
Neil Gaiman, Dezember 1997