Fremdkörper



Die Geschlechtskrankheit ist ein Leiden, welches man sich in Folge unreinen Verkehres zuzieht. Die fürchterlichen Folgen, die aus dieser Erkrankung resultieren können – Folgen, die den Verstand auf Jahre hinaus mit Angstzuständen heimsuchen können, die die Wurzeln der Gesundheit angreifen und selbst das junge Blut unschuldiger Nachkommenschaft verunreinigen mögen – sind in der Tat grauenvoll sich vorzustellen, so grauenvoll, dass man nicht zögern darf, diese Krankheit als eine derjenigen einzustufen, die umgehender ärztlicher Behandlung bedarf.

– Dr. med. Spencer Thomas, Lizentiat des Royal College of Science, Edinburgh

Lexikon der Hausmedizin und heimischen Krankenpflege, 1882



Simon Powers hatte nicht viel für Sex übrig.

Er mochte es nicht, mit jemand anderem zusammen im selben Bett zu liegen, und er fürchtete immer, zu früh zu kommen. Außerdem hatte er jedes Mal das unangenehme Gefühl, dass seine Leistung irgendwie bewertet würde, wie bei der Fahrprüfung oder einem Examen.

Während der Zeit auf dem College hatte er ein paar Mal mit Mädchen geschlafen und einmal, vor drei Jahren, nach einer Silvesterparty im Büro. Aber das war alles gewesen und wenn es nach Simon ging, konnte es gern dabei bleiben.

Irgendwann, als er mal im Büro saß und nichts zu tun hatte, war ihm der Gedanke gekommen, dass er gern in den Tagen von Königin Victoria gelebt hätte, als gut erzogene Frauen im Schlafzimmer nur passive, duldsame Puppen gewesen waren: Sie schnürten ihr Korsett auf und rafften die Röcke (wobei sie rosa-weißes Fleisch enthüllten), lagen dann still und ließen die Entwürdigungen des Aktes über sich ergehen – ohne dass sie je im Traum auf den Gedanken gekommen wären, dass diese Entwürdigung ihnen eigentlich Freude bereiten sollte.

Er merkte sich das für später; eine neue Masturbationsfantasie.

Simon masturbierte sehr häufig. Jeden Abend, mehr als einmal, wenn er nicht einschlafen konnte. Er konnte so schnell oder langsam zum Höhepunkt kommen, wie er wollte. Und in seinen Gedanken hatte er sie alle gehabt: Film- und Fernsehstars, Frauen aus dem Büro, Schulmädchen, die nackten Models, die ihn von den Fotos der eselsohrigen Fiesta! anschmollten, gesichtslose Sklavinnen in Ketten, braun gebrannte Jünglinge mit Körpern wie die griechischer Götter …

Nacht für Nacht zogen sie in einer langen Parade vor ihm einher.

So war es sicherer.

In seinen Gedanken.

Und anschließend schlief er ein, entspannt und geborgen in einer Welt, die er selbst kontrollierte, und er schlief traumlos. Oder zumindest erinnerte er sich morgens nie an irgendwelche Träume.

Am Morgen, als es anfing, weckte ihn das Radio (»… zweihundert Tote und zahllose Verletzte und jetzt gebe ich ab an Jack für den Wetterbericht und die Verkehrsnachrichten …«). Seine Blase schmerzte. Er quälte sich aus dem Bett und stolperte ins Bad.

Er klappte den Toilettendeckel hoch und urinierte. Es fühlte sich an, als pinkelte er Nadeln.

Nach dem Frühstück musste er nochmals urinieren – weniger schmerzhaft, da der Druck nicht so groß war – und noch dreimal vor der Mittagspause.

Es tat jedes Mal weh.

Er sagte sich, dass es unmöglich eine Geschlechtskrankheit sein könne. Das war etwas, das andere Leute sich holten, etwas (er dachte an seinen letzten sexuellen Fremdkontakt vor drei Jahren), das man nur von anderen Leuten bekam. Man konnte sich doch nicht wirklich an Toilettenbrillen anstecken, oder? War das nicht nur ein Märchen?

Simon Powers war sechsundzwanzig und arbeitete bei einer großen Londoner Bank in der Abteilung Kreditsicherheiten. Er hatte wenige Freunde bei der Arbeit. Sein einziger echter Freund, Nick Lawrence, ein einsamer Kanadier, war kürzlich in eine andere Filiale versetzt worden und so saß Simon allein in der Kantine, starrte auf das Legoland der Docklands hinab und stocherte in einem welken grünen Salat herum.

Jemand tippte ihm auf die Schulter.

»Simon, ich hab heut einen ziemlich guten Witz gehört. Soll ich?« Jim Jones war der Büroclown, ein dunkelhaariger, quirliger junger Mann, der behauptete, er habe eine Extratasche für Kondome in seinen Boxershorts.

»Ähm … klar.«

»Also: Was sagte die Frau mit dem Sperma auf der Brille?«

»Keine Ahnung.«

»›Ich hab’s kommen sehen!‹«

Simons Gesicht verriet wohl sein Unverständnis, denn Jim seufzte und sagte: »Meine Güte, hast du ’ne lange Leitung …« Dann entdeckte er eine Gruppe junger Frauen an einem Tisch am anderen Ende des Raums, rückte seine Krawatte zurecht und trug sein Tablett zu ihnen herüber.

Er hörte Jim seinen Witz den Frauen erzählen.

Sie alle kapierten auf Anhieb.

Simon ließ seinen Salat stehen und ging zurück an die Arbeit.

An diesem Abend saß er in einem Sessel in seiner Einzimmerwohnung vor dem ausgeschalteten Fernseher und versuchte, sich an alles zu erinnern, was er über Geschlechtskrankheiten wusste.

Da gab es Syphilis, die das Gesicht vernarbte und die Könige von England in den Wahnsinn trieb; Gonorrhö – Tripper – grüner Schleim und noch mal Wahnsinn; Sackratten, kleine Filzläuse, die in der Schambehaarung nisteten und juckten (er inspizierte seine Schamhaare mit einer Lupe, aber nichts bewegte sich); AIDS, der Fluch der Achtziger, der den Ruf nach sauberen Nadeln und sicherem Sex hatte laut werden lassen (aber was konnte sicherer sein, als sich allein und sauber einen abzuwichsen und in eine Handvoll weißer Papiertücher zu spritzen?); Herpes, der irgendetwas mit Lippenbläschen zu tun hatte (er untersuchte seinen Mund vor dem Spiegel, aber da war nichts zu entdecken). Das war alles, was er wusste.

Er ging zu Bett, sorgte sich in den Schlaf und wagte nicht zu masturbieren.

In dieser Nacht träumte er von winzigen Frauen mit leeren Gesichtern, die wie eine Ameisenarmee in endlosen Reihen zwischen gewaltigen Bürotürmen entlangmarschierten.

Zwei Tage lang unternahm Simon nichts wegen der Schmerzen. Er hoffte, sie würden von selbst verschwinden. Doch stattdessen wurden sie schlimmer. Bis zu einer Stunde nach dem Urinieren hielt der Schmerz an und sein Penis fühlte sich innen wund und gereizt an.

Am dritten Tag rief er in der Praxis seines Hausarztes an, um einen Termin zu erbitten. Ihm graute davor, der Sprechstundenhilfe sein Problem schildern zu müssen, doch zu seiner Erleichterung (und gleichzeitigen Enttäuschung) gab sie ihm ohne weitere Nachfragen einen Termin für den folgenden Tag.

Er sagte seiner Chefin bei der Bank, er habe eine Halsentzündung und müsse damit zum Arzt. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss, als er das sagte, doch sie gab keinen Kommentar dazu ab, antwortete lediglich, das sei in Ordnung.

Als er ihr Büro verließ, stellte er fest, dass er zitterte.

Es war ein grauer, nasser Tag, als er zum Arzt kam. Niemand war im Wartezimmer und so wurde er gleich hereingerufen. Es war nicht sein Hausarzt, der ihn empfing, stellte er erleichtert fest, sondern ein junger Pakistani in Simons Alter, der seine gestammelte Beschreibung der Symptome mit der Frage unterbrach:

»Und urinieren wir mehr als gewöhnlich?«

Simon nickte.

»Ausfluss?«

Simon schüttelte den Kopf.

»Okay. Lassen Sie doch mal die Hosen runter, wenn’s Ihnen nichts ausmacht.«

Simon ließ sie auf die Knöchel hinabrutschen und der Doktor besah sich seinen Penis. »Sie haben doch Ausfluss, wissen Sie«, sagte er.

Simon zog sich wieder an.

»Nun sagen Sie mir, Mr. Powers, halten Sie es für denkbar, dass Sie sich bei irgendwem mit einer … ähm, Geschlechtskrankheit infiziert haben könnten?«

Simon schüttelte emsig den Kopf. »Ich hatte seit fast drei Jahren keinen Sex.« Mit jemand anderem, hätte er beinah gesagt.

»Nein?« Offensichtlich glaubte der Arzt ihm nicht. Er roch nach exotischen Gewürzen und hatte die weißesten Zähne, die Simon je gesehen hatte. »Nun, Sie haben entweder Gonorrhö oder USU. Vermutlich USU: Unspezifische Urethritis. Die ist weniger berühmt und weniger schmerzhaft als Gonorrhö, aber es kann schwierig sein, sie wieder loszuwerden. Gonorrhö behandelt man mit einer ordentlichen Ladung Antibiotika und alles ist vergessen. Tötet die kleinen Bastarde ab …« Er klatschte zweimal in die Hände, »einfach so«.

»Also Sie wissen es nicht?«

»Was von beiden es ist? Lieber Gott, nein. Ich werd nicht mal versuchen, es rauszufinden. Ich schicke Sie in eine Spezialklinik, die sich mit solchen Sachen befasst. Ich schreibe Ihnen eine Überweisung.« Er holte ein Formular aus der Schreibtischschublade. »Was machen Sie beruflich, Mr. Powers?«

»Ich arbeite bei einer Bank.«

»Kassierer?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Sachbearbeiter in der Kreditsicherheitenabteilung.« Ihm kam ein Gedanke. »Bei der Bank muss doch keiner hiervon wissen, oder?«

Der Arzt wirkte entsetzt. »Um Himmels willen, nein.«

In einer säuberlichen, runden Handschrift stellte er die Überweisung aus, die besagte, dass Simon Powers, sechsundzwanzig Jahre alt, vermutlich an USU leide. Er habe Ausfluss. Habe angegeben, seit drei Jahren keinen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Man möge ihn bitte über die Untersuchungsergebnisse in Kenntnis setzen. Er unterschrieb mit einem Schnörkel. Dann gab er Simon eine Karte mit Anschrift und Telefonnummer der Spezialklinik. »Hier. Da gehen Sie hin. Und machen Sie sich keine Gedanken, so was passiert vielen Leuten. Sehen Sie den Stapel Karten hier? Also, keine Sorge, bald sind Sie wieder ganz auf dem Posten. Rufen Sie dort an, wenn Sie nach Hause kommen, und machen einen Termin.«

Simon nahm die Karte und stand auf, um zu gehen.

»Keine Bange«, sagte der Doktor. »Es wird sicher nicht schwierig zu behandeln sein.«

Simon nickte und versuchte zu lächeln.

Er öffnete die Tür, um zu gehen.

»Und auf jeden Fall ist es nichts wirklich Tückisches, wie etwa Syphilis«, sagte der Arzt noch.

Zwei ältere Damen, die jetzt im Wartebereich im Korridor saßen, sahen hingerissen auf, als sie das hörten, und starrten Simon gierig an, der eilig zum Ausgang schritt.

Er wünschte, er wäre tot.

Als er draußen stand und auf seinen Bus wartete, dachte Simon: Ich habe eine Geschlechtskrankheit. Ich habe eine Geschlechtskrankheit. Ich habe eine Geschlechtskrankheit. Wieder und wieder, als sei es ein Mantra.

Fehlte nur noch, dass er im Gehen eine Glocke läutete.

Im Bus bemühte er sich, den anderen Fahrgästen nicht zu nahe zu kommen. Er war überzeugt, sie wussten es (sahen sie denn nicht das Pestzeichen auf seiner Stirn?), und gleichzeitig schämte er sich, dass er es vor ihnen geheim halten musste.

Als er nach Hause kam, ging er umgehend ins Bad. Er rechnete damit, ein halb verwestes Horrorfilmgesicht im Spiegel zu sehen, einen verrotteten, mit bläulichem Schimmelflaum überzogenen Totenschädel. Stattdessen erwiderte ein Bankangestellter mit rosa Wangen seinen Blick, Mitte zwanzig, blond, perfekte Haut.

Er holte seinen Penis aus der Hose und begutachtete ihn eingehend. Er war weder eitrig grün noch leprös weiß, sondern wirkte vollkommen normal bis auf die leicht geschwollene Eichel und den klaren Ausfluss, der die Öffnung benetzte. Er stellte fest, dass die Flüssigkeit seine weiße Unterhose befleckt hatte.

Simon spürte Wut in sich aufsteigen; Wut auf sich selbst, aber mehr noch auf Gott, weil er ihm einen (sag es) (Tripper verpasst hatte), der offenbar für jemand anderen gedacht gewesen war.

An diesem Abend masturbierte er zum ersten Mal seit vier Tagen.

Er stellte sich ein Schulmädchen in blauen Baumwollhöschen vor, das sich in eine Polizistin verwandelte, dann zwei Polizistinnen, dann drei.

Es tat überhaupt nicht weh bis zum Höhepunkt. Da fühlte es sich plötzlich an, als habe ihm jemand ein Springmesser in seinen Schwanz gestoßen. Als ejakuliere er ein Nadelkissen.

Da begann er zu weinen in der Dunkelheit, aber ob vor Schmerz oder aus anderen, schwieriger zu umreißenden Gründen, wusste nicht einmal Simon selbst.

Das war das letzte Mal, dass er masturbierte.



Ein finsteres viktorianisches Krankenhaus in Central London beherbergte die Klinik. Ein weiß bekittelter junger Mann inspizierte Simons Karte, nahm ihm die Überweisung ab und hieß ihn Platz nehmen.

Simon setzte sich auf einen orangefarbenen Plastikstuhl, der mit braunen Brandflecken übersät war.

Ein paar Minuten lang starrte er zu Boden. Als dessen Unterhaltungswert sich erschöpft hatte, glotzte er die Wände an und schließlich, als ihm nichts anderes mehr übrig blieb, die anderen Leute.

Sie waren alle männlichen Geschlechts, Gott sei Dank – Frauen waren eine Etage weiter oben – und es waren mehr als ein Dutzend.

Ganz entspannt schienen die Bauarbeitertypen, Machos, die zum siebzehnten oder siebzigsten Mal hier waren und sehr zufrieden mit sich wirkten, als sei, was immer sie sich eingefangen hatten, ein Beweis ihrer Potenz. Es gab auch ein paar Managertypen in Anzug und Krawatte. Einer war völlig gelassen. Er hatte ein Handy. Ein anderer versteckte seinen hoch roten Kopf hinter dem Daily Telegraph, offenbar sehr verlegen, dass er hier sein musste. Dann gab es ein paar kleine Männer mit dünnen Schnurrbärten und schäbigen Regenmänteln, Zeitungsverkäufer vielleicht oder Lehrer im Ruhestand; einen rundlichen malaiischen Herrn, Kettenraucher filterloser Zigaretten, der die nächste Zigarette immer mit dem Stummel der letzten anzündete, sodass die Flamme nie erlosch, sondern immer weitergetragen wurde. In einer Ecke saß ein verängstigtes schwules Paar. Keiner von beiden wirkte älter als achtzehn. Sie hatten offenbar heute auch ihren ersten Termin hier, so, wie sie sich verstohlen umblickten. Sie hielten diskret Händchen, die Knöchel schneeweiß. Sie hatten Todesangst.

Simon fühlte sich getröstet. Nicht mehr so allein.

»Mister Powers, bitte«, sagte der Mann an der Anmeldung. Simon stand auf. Ihm war nur zu bewusst, dass alle ihn anstarrten, dass er vor diesen Menschen beim Namen genannt und identifiziert worden war. Ein fröhlicher, rothaariger Arzt im weißen Kittel erwartete ihn.

»Folgen Sie mir.«

Sie gingen ein paar Flure entlang, durch eine Tür (auf einem weißen Papierschild, das mit Tesafilm befestigt war, stand mit schwarzem Filzstift geschrieben: Dr. J. Benham) ins Besprechungszimmer des Arztes.

»Ich bin Doktor Benham«, sagte er, ohne die Hand auszustrecken. »Sie haben eine Überweisung Ihres Hausarztes?«

»Die hab ich dem Mann an der Anmeldung gegeben.«

»Oh.« Dr. Benham öffnete den Aktendeckel auf dem Schreibtisch vor ihm. Ein computerbedruckter Aufkleber besagte:

Erstbehandl.: 2.7.1990. Männlich. 90/00666.L

Powers, Simon

geb.: 12.10.1963. Ledig

Benham las die Überweisung, besah sich Simons Penis und gab ihm ein blaues Blatt Papier aus der Akte. Es hatte den gleichen Aufkleber in der oberen Ecke.

»Nehmen Sie draußen auf dem Gang Platz«, wies er ihn an. »Eine Schwester wird Sie aufrufen.«

Simon wartete im Flur.

»Sie sind sehr empfindlich«, sagte ein sonnengebräunter Mann, der neben ihm saß, dem Akzent nach aus Südafrika oder vielleicht aus Simbabwe. Kolonialer Akzent jedenfalls.

»Wie bitte?«

»Sehr empfindlich. Geschlechtskrankheiten. Denken Sie mal drüber nach. Eine Erkältung oder Grippe können Sie kriegen, nur weil Sie in einem Raum mit jemandem zusammen sind, der es hat. Geschlechtskrankheiten hingegen brauchen Wärme und Feuchtigkeit und Intimkontakt.«

Meine nicht, dachte Simon, sagte aber nichts.

»Wissen Sie, wovor mir graut?«, fragte dann der Südafrikaner.

Simon schüttelte den Kopf.

»Es meiner Frau zu sagen«, sagte der Mann und danach schwieg er.

Eine Schwester kam und führte Simon fort. Sie war jung und hübsch und er folgte ihr in einen mit Vorhängen abgeteilten kleinen Raum. Sie nahm ihm das blaue Papier ab.

»Ziehen Sie das Jackett aus und krempeln Sie den rechten Ärmel auf.«

»Mein Jackett?«

Sie seufzte. »Für die Blutabnahme.«

»Oh.«

Die Blutabnahme war geradezu angenehm, verglichen mit dem, was folgte.

»Ziehen Sie die Hose aus«, wies sie ihn an. Sie hatte einen deutlichen australischen Akzent. Sein Penis war geschrumpft, hatte sich ganz in sich zurückgezogen. Er sah grau und runzelig aus. Simon verspürte den Drang, ihr zu sagen, dass er für gewöhnlich viel größer sei, doch dann nahm sie ein Metallinstrument mit einer Drahtschlinge am Ende in die Hand und er wünschte, sein Penis wäre noch viel kleiner. »Drücken Sie den Penis am Ansatz und schieben ein paar Mal aufwärts.« Das tat er. Sie steckte die Schlinge in die Öffnung und drehte sie hin und her. Er zuckte vor Schmerz zusammen. Sie streifte den Abstrich auf ein Glasplättchen. Dann wies sie auf ein Glasgefäß auf einem Regal. »Ich brauche eine Urinprobe. Können Sie mir das vollmachen, bitte?«

»Von hier aus?«

Sie verzog den Mund. Simon vermutete, dass sie den Scherz jeden Tag dreißigmal hörte, seit sie hier angefangen hatte.

Sie ging aus dem Behandlungszimmer und ließ ihn zum Pinkeln allein.

Auch unter günstigeren Bedingungen fand Simon es meist schwierig zu pinkeln und musste oft warten, bis alle Leute verschwunden waren. Er beneidete die Männer, die ganz locker in eine Herrentoilette spaziert kamen, den Reißverschluss aufzogen und sich fröhlich mit ihrem Nachbarn am nächsten Becken unterhielten, während ihr gelber Strahl auf weiße Keramik plätscherte. Oft konnte er gar nicht.

Er konnte auch jetzt nicht.

Die Schwester kam zurück. »Klappt’s nicht? Ist nicht schlimm. Nehmen Sie noch mal im Wartezimmer Platz, der Doktor ruft Sie gleich auf.«

»Nun«, sagte Dr. Benham. »Sie haben USU. Unspezifische Urethritis.«

Simon nickte und fragte dann: »Was bedeutet das?«

»Es bedeutet, dass Sie keine Gonorrhö haben, Mister Powers.«

»Aber ich hatte seit Ewigkeiten keinen Sex mit jemand anders, nicht seit …«

»Oh, das hat nichts zu bedeuten. Es kann ganz spontan auftreten, auch ohne dass Sie sich vorher … was Besonderes gegönnt haben.« Benham öffnete seinen Schreibtisch und holte ein Fläschchen mit Tabletten heraus. »Nehmen Sie viermal täglich eine hiervon vor den Mahlzeiten. Kein Alkohol, kein Sex und trinken sie zwei Stunden nach Einnahme der Tabletten keine Milch. Alles klar?«

Simon grinste nervös.

»Kommen Sie nächste Woche wieder. Unten wird man Ihnen einen Termin geben.«

Unten bekam er ein rotes Kärtchen mit seinem Namen und dem neuen Termin. Außerdem trug es die Nummer 90/00666.L.

Simon ging durch den Regen nach Hause. Am Schaufenster eines Reisebüros blieb er stehen. Das Poster zeigte einen sonnenbeschienenen Strand und drei braun gebrannte Frauen in Bikinis mit Longdrinks in den Händen.

Simon war noch nie im Ausland gewesen.

Die Vorstellung flößte ihm Angst ein.

Im Laufe der Woche klangen die Schmerzen ab und nach vier Tagen konnte Simon urinieren, ohne zusammenzuzucken.

Doch dafür passierte etwas anderes.

Es begann als winziger Samen, der in seinem Kopf keimte und zu wachsen begann. Beim nächsten Termin erzählte er Dr. Benham davon.

Der Arzt schien verwirrt.

»Sie sagen, Sie haben das Gefühl, Ihr Penis sei nicht mehr Ihrer, Mister Powers?«

»So ist es, Doktor.«

»Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht ganz folgen. Haben Sie dort ein Taubheitsgefühl? Hat die Sinneswahrnehmung der Haut nachgelassen?«

Simon konnte seinen Penis in der Hose fühlen, spürte Stoff auf Fleisch. In der Dunkelheit fing er an, sich zu regen.

»Keineswegs. Ich kann alles spüren so wie immer. Er fühlt sich nur … na ja, anders an, schätze ich. So als wäre er nicht mehr Teil von mir. Als ob …« Er unterbrach sich kurz. »Als gehörte er jemand anderem.«

Dr. Benham schüttelte den Kopf. »Um Ihre Fragen zu beantworten, Mister Powers: Das ist kein Symptom von USU, doch es ist eine vollkommen nachvollziehbare psychologische Reaktion für jemanden, der sich USU zugezogen hat. Eine Art, ähm, Ekel vor sich selbst, vielleicht, den Sie als Ablehnung ihrer Geschlechtsorgane externalisieren.«

Das klingt ungefähr richtig, dachte Dr. Benham. Er hoffte, er hatte das Fachchinesisch richtig hinbekommen. Er hatte psychologischen Vorlesungen und Lehrbüchern nie viel Aufmerksamkeit geschenkt, was vielleicht der Grund war, behauptete seine Frau, warum es ihn in eine Londoner Klinik für Geschlechtskrankheiten verschlagen hatte.

Powers schien halbwegs beruhigt.

»Ich hab mir nur Gedanken gemacht, Doktor.« Er kaute auf seiner Unterlippe. »Ähm, was genau ist eigentlich USU?«

Benham lächelte beruhigend. »Es könnte alles Mögliche sein. USU ist einfach unser Ausdruck dafür, dass wir nicht genau wissen, was Sie sich zugezogen haben. Es ist nicht Gonorrhö. Es ist auch kein Schanker. ›Unspezifisch‹ eben, verstehen Sie? Es ist eine Infektion und sie spricht auf Antibiotika an. Da fällt mir ein …« Er öffnete die Schreibtischschublade und entnahm eine neue Wochenration.

»Machen Sie unten einen neuen Termin für nächste Woche. Kein Sex. Kein Alkohol.«

Kein Sex? dachte Simon. Todsicher nicht.

Doch als er auf dem Gang an der hübschen australischen Schwester vorbeikam, spürte er wieder, wie sein Glied sich regte, wie es warm und hart wurde.



Die Untersuchung eine Woche später ergab, das Simon die Krankheit immer noch hatte.

Benham zuckte die Schultern.

»Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass sie so hartnäckig ist. Sie sagen, Sie haben keine Beschwerden mehr?«

»Nein. Überhaupt keine. Und ich habe auch keinen Ausfluss mehr festgestellt.«

Benham war müde und ein dumpfer Schmerz pochte hinter seinem linken Auge. Er sah auf das Testergebnis in der Akte vor sich hinab. »Aber Sie haben es immer noch, fürchte ich.«

Simon Powers rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er hatte riesengroße, wasserblaue Augen und ein bleiches, unglückliches Gesicht. »Was ist mit dieser anderen Sache, Doktor?«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Welche andere Sache?«

»Das hab ich Ihnen doch erzählt. Letzte Woche. Ich hab’s Ihnen erzählt. Dieses Gefühl, dass mein Penis, na ja, mein Penis irgendwie nicht mehr meiner ist.«

Ach so, dachte Benham. Der Patient ist das. Er konnte sich in dieser Prozession aus Namen, Gesichtern und Penissen unmöglich jeden Einzelnen merken mit all der Verlegenheit, der Aufschneiderei, den schwitzigen Gerüchen und den traurigen kleinen Krankheiten.

»Hm. Wie steht es damit?«

»Es breitet sich aus, Doktor. Die ganze untere Hälfte meines Körpers fühlt sich jetzt an, als gehöre sie jemand anderem. Meine Beine und so weiter. Ich kann sie zwar fühlen und sie gehen, wohin ich will, aber manchmal hab ich das Gefühl, wenn sie woanders hingehen wollten – wenn sie einfach so in die Welt rausmarschieren wollten –, dann könnten sie das und dann würden sie mich einfach mitnehmen.

Ich könnte nichts tun, um sie aufzuhalten.«

Benham schüttelte den Kopf. Er hatte nicht richtig zugehört. »Wir versuchen es mit einem anderen Antibiotikum. Wenn das alte es nicht geschafft hat, Ihnen diese Krankheit auszutreiben, dann das neue aber ganz sicher. Vermutlich wird es auch diese anderen Symptome beseitigen – wahrscheinlich sind sie nur eine Nebenwirkung des Antibiotikums.«

Der junge Mann starrte ihn einfach nur an.

Benham hatte das Gefühl, er müsse noch etwas sagen. »Vielleicht sollten Sie versuchen, mehr vor die Tür zu kommen«, regte er an.

Der junge Mann erhob sich.

»Nächste Woche, selbe Zeit. Kein Sex, kein Schnaps, keine Milch nach den Tabletten«, leierte der Doktor herunter.

Der junge Mann ging hinaus. Benham beobachtete ihn eingehend, aber er konnte nichts Auffälliges an seinem Gang feststellen.



Samstagabend waren Dr. Jeremy Benham und seine Frau Celia bei einem Kollegen zu einer Dinnerparty eingeladen. Benham saß neben einem fremdem Psychiater.

Über die Hors d’oeuvres kamen sie ins Gespräch.

»Das Schlimme daran, wenn man den Leuten erzählt, man sei Psychiater, ist, dass sie den Rest des Abends versuchen, sich normal zu verhalten«, vertraute der Psychiater ihm mit einem leisen, dreckigen Lachen an. Er war Amerikaner, riesig, hatte einen Kopf wie eine Gewehrkugel und sah alles in allem so aus, als gehöre er zur Handelsmarine.

Benham lachte ebenfalls und da er neben dem Psychiater saß, versuchte er den Rest des Abends, sich normal zu verhalten.

Er trank zu viel Wein beim Essen.

Nach dem Kaffee, als ihm nichts anderes zu sagen mehr einfiel, erzählte er dem Psychiater (der Marshall hieß, obwohl er Benham gesagt hatte, er solle ihn Mike nennen), was ihm von Simon Powers Wahnvorstellung noch im Gedächtnis war.

Mike lachte. »Klingt ja ulkig. Vielleicht ein klein bisschen gruselig. Aber kein Grund zur Sorge. Vermutlich nur eine Halluzination, ausgelöst durch die Antibiotika. Klingt fast wie das Capgras-Syndrom. Haben Sie hier drüben schon davon gehört?«

Benham nickte, besann sich dann und sagte: »Nein.« Er schenkte sich noch ein Glas Wein ein, ignorierte den verkniffenen Mund seiner Frau und ihr fast unmerkliches Kopfschütteln.

Mike sagte: »Tja, also dieses Capgras-Syndrom ist eine völlig verrückte Wahnvorstellung. Langer Artikel darüber im Journal of American Psychiatry vor etwa fünf Jahren. Eine Person glaubt, dass die wichtigen Menschen in ihrem Leben – Familienmitglieder, Kollegen, Eltern, Geliebte, wer auch immer – ausgetauscht worden sind und zwar – das müssen Sie sich vorstellen – gegen ein perfektes Double.

Das betrifft nicht alle, die sie kennen. Nur ausgesuchte Menschen. Oft auch nur einen Menschen in ihrem Leben. Keine anderen Wahnvorstellungen gehen damit einher, nur diese eine Sache. Emotional instabil mit paranoider Tendenz.«

Der Psychiater fummelte sich mit dem Daumennagel in der Nase herum. »Ich hatte selbst mal so einen Patienten vor zwei, drei Jahren.«

»Haben Sie ihn geheilt?«

Der Psychiater warf Benham einen viel sagenden Seitenblick zu und grinste, wobei er sämtliche Zähne bleckte. »In der Psychiatrie, Doktor, gibt es – vielleicht im Gegensatz zu dem Feld der durch Geschlechtsverkehr übertragenen Infektionskrankheiten – so etwas wie Heilung nicht. Alles, was wir erhoffen können, ist, es dem Patienten zu erleichtern, mit seiner Krankheit zu leben und sich mit ihr zu arrangieren.«

Benham trank aus seinem Rotweinglas. Später erkannte er, dass er ohne den Wein nie gesagt hätte, was er als Nächstes sagte. Jedenfalls nicht laut. »Ich nehme nicht an …« Er unterbrach sich kurz und erinnerte sich an einen Film, den er als Teenager gesehen hatte. (Irgendwas mit Körperfressern?) »Ich nehme nicht an, dass sich jemals irgendwer davon überzeugt hat, ob diese Menschen nicht tatsächlich gegen exakte Doubles ausgetauscht worden sind?«

Mike – Marshall – oder wie auch immer warf Benham einen äußerst irritierten Blick zu und wandte sich dann ab, um sich mit seinem Tischnachbarn an der anderen Seite zu unterhalten.

Benham versuchte weiterhin, sich normal zu verhalten (was immer das sein mochte) und scheiterte kläglich. Er ließ sich rettungslos voll laufen, fing an über »das Pack aus den beschissenen Kolonien« vor sich hinzuschimpfen und hatte einen Mordskrach mit seiner Frau, nachdem sie heimgekommen waren. Nichts von dem waren sonderlich normale Vorkommnisse.



Benhams Frau schloss sich nach dem Streit im Schlafzimmer ein.

Er lag unten auf dem Sofa, in eine verknitterte Decke gehüllt, und masturbierte in seine Unterhose, sein Samen landete in einem heißen Strahl auf seinem Bauch.

In den frühen Morgenstunden wachte er auf, weil er in der Lendengegend etwas Kaltes spürte.

Er wischte das Zeug mit dem Smokinghemd ab und schlief wieder ein.



Simon war unfähig zu masturbieren.

Er wollte, doch seine Hand bewegte sich nicht. Sie lag neben ihm, gesund und völlig funktionsfähig, doch es war, als habe er vergessen, wie man ihr Befehle erteilte. Das war albern, oder nicht?

Oder nicht?

Er fing an zu schwitzen. Es tropfte von Stirn und Gesicht auf die weißen Baumwolllaken, doch der Rest seines Körpers war trocken.

Zelle um Zelle breitete sich etwas in seinem Körper aus. Es strich zärtlich über sein Gesicht wie der Kuss einer Geliebten, es leckte seinen Hals, er spürte seinen Atem auf der Wange. Es berührte ihn.

Er musste raus aus diesem Bett. Aber er konnte nicht aufstehen.

Er versuchte zu schreien, doch sein Mund öffnete sich nicht. Sein Kehlkopf weigerte sich zu vibrieren.

Simon konnte immer noch die Zimmerdecke sehen, die von den Scheinwerfern vorbeifahrender Auto beleuchtet wurde. Die Decke verschwamm: seine Augen gehörten immer noch ihm selbst und Tränen rannen heraus, liefen sein Gesicht hinab und durchnässten das Kissen.

Sie wissen nicht, was ich habe, dachte er. Sie haben gesagt, es sei das Gleiche, was alle anderen haben. Aber das ist es nicht, was ich mir geholt hab. Ich habe mir was völlig anderes eingefangen.

Oder vielleicht, dachte er noch, ehe sein Blick sich vernebelte und die Dunkelheit auch noch den letzten Rest von Simon Powers verschluckte, vielleicht hat es mich eingefangen.

Wenig später stand Simon auf, wusch sich und inspizierte sich eingehend vor dem Badezimmerspiegel. Dann lächelte er, so als gefiele ihm, was er sah.



Benham lächelte. »Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass sie vollkommen geheilt sind.«

Simon Powers streckte sich lässig auf seinem Stuhl und nickte. »Ich fühl mich toll«, sagte er.

Er sah wirklich gut aus, dachte Benham. Strotzte vor Gesundheit. Er schien irgendwie größer. Ein sehr attraktiver junger Mann, entschied der Arzt. »Und, ähm, keine komischen Gefühle mehr?«

»Gefühle?«

»Diese Empfindungen, von denen Sie mir erzählt haben. Als sei Ihr Körper nicht mehr Ihr eigener.«

Simon machte eine kleine, wedelnde Handbewegung, fächelte sich Luft zu. Das nasskalte Wetter war vorbei und London kochte in einer plötzlichen Hitzewelle. Man konnte kaum glauben, dass das hier noch England sein sollte.

Simon schien amüsiert.

»Dieser ganze Körper gehört mir, Doktor. Da bin ich mir absolut sicher.«

Simon Powers (90/00666.L, ledig, männlich) grinste, als gehöre ihm obendrein auch die ganze Welt.

Der Doktor sah ihm nach, als er das Besprechungszimmer verließ. Er wirkte kräftiger, nicht mehr so zerbrechlich.

Jeremy Benhams nächster Patient war, so sagte der Terminkalender, ein zwanzigjähriger Junge, der HIV-positiv war. Benham musste ihm die Nachricht beibringen. Ich hasse diesen Job, dachte er. Ich bin urlaubsreif.

Er ging den Korridor entlang, um den Jungen hereinzurufen, und kam an Simon Powers vorbei, der sich angeregt mit der hübschen australischen Schwester unterhielt. »Es muss ein wunderbarer Ort sein«, sagte er gerade. »Ich will unbedingt hin. Ich will überall hin. Ich will alles und jeden kennen lernen.« Seine Hand lag auf ihrem Arm und sie machte keine Anstalten, ihn abzuschütteln.

Dr. Benham hielt bei ihnen an und tippte Simon auf die Schulter. »Sie haben hier hinten nichts verloren, junger Mann.«

Simon Powers grinste. »Sie werden mich hier überhaupt nicht wiedersehen, Doktor«, sagte er. »Jedenfalls nicht so. Ich hab meinen Job gekündigt. Ich will durch die Welt reisen.«

Sie schüttelten sich die Hand. Powers’ Hand war warm und angenehm und trocken.

Benham ging weiter, hörte Powers aber immer noch mit der Schwester reden.

»Es wird sagenhaft«, sagte er. Benham fragte sich, ob er von Sex oder seiner Weltreise redete oder vielleicht von beidem.

»Ich werde so viel Spaß haben«, sagte Simon. »Ich bin jetzt schon ganz verrückt danach.«




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