Der nächste Tag war ein Dienstag. Als Emil, der den Tagesdienst hatte, frühzeitig die Haustür öffnete, um Milch und Brötchen hereinzuholen, blieb er wie angewurzelt stehen.
Draußen, mitten im Gras, saß Hans Schmauch, der Pikkolo, und wünschte lachend guten Morgen. "Ich habe doch heute meinen freien Tag.
Den muß man ausnutzen."
"Warum hast du denn nicht geklingelt ?"
"Bloß nicht! Als Hotelangestellter weiß man, wie ekelhaft es ist, aus dem Bett geklingelt zu werden. Und hier im Gras war es sehr schön und friedlich. Das Barometer steigt."
Sie gingen in die Küche und kochten Kaffee.
Währenddem setzte Emil dem andern den Plan auseinander, den die Detektive am Abend vorher geschmiedet hatten, und sagte, als er damit fertig war: "Ich wiederhole noch einmal die Hauptpunkte. Wir Detektive steigen schon in Graal auf den Dampfer. Byron und Mackie hier in Korlsbüttel. Du erst in Heidekrug. Und Gustav steht mit dem Motorrad in Warnemünde an der Anlegestelle.
Wenn sich Byron sträubt, holt Gustav die Polizei. Wir ändern halten den Artisten solange fest."
Hans Schmauch fand den Plan ausgezeichnet. Sie deckten den Frühstückstisch und weckten die Freunde. Den kleinen Dienstag nannten sie, weil er in Ponys Bett geschlafen hatte, in einem fort Dgnädiges Fräulein’.
Der Pikkolo klemmte sich eine Serviette unter den Arm und bediente sie mustergültig.
"Schon wie’n richtiger Ober", bemerkte Gustav anerkennend.
"Bitte, noch ein Glas Milch, Kellner."
"Sofort, mein Herr", sagte Hans Schmauch. Er sauste in die Küche, brachte ein Glas Milch, das er auf einem Tablett kunstvoll balancierte, setzte es vor Gustav hin und fragte: "Werden der Herr längere Zeit hierbleiben? Das Wetter verspricht schön zu werden. Und unser Hotel ist ein erstklassig geführtes Haus.
Sie werden sich bei uns bestimmt wohl fühlen."
"Tut mir leid", meinte Gustav. "Ich muß sofort wieder nach Berlin zurück. Ich habe nämlich meine Frau und meine Kinder gestern in den Kleiderschrank gesperrt und versehentlich den Schlüssel mitgenommen."
"Schade", sagte Hans Schmauch. "Sonst hätten Sie am Freitag in unserm Kino den Film ,Emil und die Detektive’ sehen können."
"Was?" schrien die Jungens und sprangen auf.
Der Pikkolo holte ein Zeitungsblatt aus der Tasche und klemmte es an einem Bilderrahmen fest. Auf der Inseratenseite war eine große Anzeige, und diese hatte folgenden Wortlaut:
Emil und die Detektive
Ein Film mit zweihundert Kindern
Ein Film nach einer wahren Begebenheit
Ein spannender Film aus dem Alltag
Ein Film, der im Berlin von Heute spielt
Ein Film für Kinder zwischen 8 und 80 Jahren
Ab Freitag in den Leuchtturm-Lichtspielen
Sie lasen die Anzeige immer und immer wieder. Gustav stolzierte auf und ab und rief: "Hereinspaziert, meine Herrschaften!
Hier sehen Sie die bedeutendsten Knaben der Gegenwart!
Treten Sie hinein! Sie werden sich in der ersten Hälfte krank und in der zweiten Hälfte wieder gesund lachen!"
Der Professor meinte: "Ich habe Lampenfieber. Obwohl es nur ein Film ist. Und obwohl wir selber gar nicht mitgefilmt haben."
"Es wird ja kein Mensch wissen, daß wir unter den Zuschauern sitzen", tröstete Emil. "Oder, Hans, hast du etwa geklatscht?"
"Keine Silbe!" versicherte der Pikkolo. "Ihr seid völlig inkognito."
"Dein Glück!" sagte Gustav. "Wir haben nämlich keine Lust, wie die Pfingstochsen angegafft zu werden."
"Bloß nicht!" rief Dienstag. "Wir sind Jungens und keine Filmfatzken!"
Plötzlich schlug sich Hans Schmauch mit der Hand vor die Stirn. "So etwas von Vergeßlichkeit! Ich wollte euch doch zum Segeln abholen! Deswegen bin ich ja so früh aufgestanden. Wißt ihr was? Wir machen eine richtige große Segelpartie mit Picknick und allen Schikanen. Nachmittags sind wir wieder zurück."
"Ich bleibe hier", erklärte Emil. "Ich habe Tagesdienst."
"So was Blödes", meinte Gustav. "Die Villa trägt keiner fort.
Komm mit, du Feuertüte!"
"Wir haben reichlich Platz im Boot", sagte der Pikkolo.
"Eine Kajüte ist auch da."
Emil blieb bei seinem Entschluß.
"Ich kann übrigens auch nicht mitkommen", erklärte Dienstag. "Ich muß mit meinen Eltern zu Mittag essen. Sonst qualmt’s. Wenn ich nicht zum Essen komme, verbieten sie nur todsicher, nachts hier zu schlafen. Und dann könnte ich die Jagd auf Mister Byron nicht mitmachen. Ich war schon einmal nicht dabei. Damals, als ich am Telephon bleiben mußte.
Diesmal muß ich dabei sein. Sonst geht die Welt unter."
Gustav sagte: "Na schön, dann segeln eben nur drei der Herren. Ich bediene den Motor, wenn wir ihn brauchen. Vom Segeln habe ich allerdings keinen Schimmer."
"Aber ich!" erwiderte Hans Schmauch. "Ihr braucht nur zu tun, was ich anordne."
Dann rannten sie in die Küche. Und der Professor gab Fourage aus. Fürs Picknick. Sie packten alles in einen alten Marktkorb: Äpfel, Konserven, Wurst, Brot, Butter, Messer, Gabeln, Teller und Servietten.
Emil, der Tagesdienst, notierte alles genau auf der Bestandsliste.
Gustav übernahm den gefüllten Marktkorb. "Das Zeug trage ich. Mit Eßwaren muß man sorgfältig umgehen."
"Is ja alles halb so wichtig", sagte Emil und lachte.
"Für Eßwaren gilt diese Redensart nicht", meinte Gustav ernst. "Ehre, wem Ehre gebührt."
Dann gingen sie zum Hafen.
"Seid pünktlich zurück!" rief Emil, als der Motor zu tacken begann. "Wir haben heute noch viel vor." .,Ahoi!" brüllte Gustav. Er setzte sich neben die Ruderpinne.
"Er frißt schon wieder einen Apfel", sagte Dienstag zu Emil.
Dann rief auch er: "Ahoi!"
Die Jolle schob sich aus dem Hafen hinaus. Hans Schmauch stand am Mast und heißte das Großsegel vor.
Der Professor setzte seine Baskenmütze auf und winkte zurück. Das Boot glitt am Brückenkopf vorüber. Ins offene Meer hinaus. Es wehte ein leichter Wind.
"Jetzt haben sie den Motor abgestellt", sagte Dienstag.
Emil nickte, hielt die Hand über die Augen und blickte hinter den Freunden her.
Hans Schmauch setzte das Focksegel. Das Boot glitt nach Nordwesten.
Um die gleiche Zeit saßen unsere Dänemark-Touristen in Kopenhagen auf der Terrasse eines Restaurants, das ,Frascati’ hieß. Sie frühstückten und freuten sich über das wunderschöne Glockenspiel des Rathausturms. Außerdem bestaunten sie den Appetit ihrer Nachbarn.
"Je kleiner das Land, um so größer der Appetit seiner Bewohner", erklärte Justizrat Haberland.
Emils Großmutter betrachtete das dänische Ehepaar, das am Nebentisch saß, und sagte: "Es ist ein Wunder. Wenn man bedenkt, was die beiden Leute gefuttert haben, seit wir hier sitzen, so müßten sie eigentlich längst zerplatzt sein."
Das dänische Ehepaar ließ sich nicht stören. Der Kellner servierte gerade den nächsten Gang.
"Hier müssen ja die Köchinnen zu tun haben", vermutete Fräulein Klotilde Seelenbinder. "Da hab’ ich’s bei Ihnen besser, gnädige Frau."
Frau Haberland lächelte dem alten Mädchen zu. "Fein, daß wir beide so zufrieden miteinander sind."
Klotilde wurde rot und schwieg. Denn sie betete Frau Haberland an.
Pony Hütchen hockte über einem Notizbuch, das sie vorsorglich mitgenommen hatte, und trug ein, was sie auf der Reise seit ihrer Ankunft in Kopenhagen erlebt hatte. Es waren natürlich nur Stichwörter. ,Gedser’ stand da. Und □Feuerschiff’.
Vivel, prima Abendbrot. Tivoli, ein riesiger Rummelplatz.
Amalienborg. Christiansborg. Alte Börse, prachtvolle Giebelreihe. Ausländische Kriegsschiffe, sogar japanische. Lange Linie, Strandbummel am Hafen. Thorwaldsenmuseum.
"Wie mag es jetzt den Jungen gehen?" fragte Klotilde.
Der Justizrat sagte: "Die sind froh, daß sie uns los sind." Klotilde Schlips wollte es nicht glauben.
Aber der Justizrat erklärte: "Das weiß ich nun besser, meine Liebe. Ich war ja selber einmal so’n Flegel."
Pony blickte ihn ungläubig an.
Er lachte. "Doch, doch, Pony!" meinte er. "Es ist zwar schon lange her. Aber manchmal ist mir zumute, als sei’s gestern gewesen." Dann rief er den Kellner, zahlte und trieb zum Aufbruch.
Auf der Westerbroegade stiegen sie in einen ÜberlandAutobus und fuhren gemeinsam mit reisenden Engländern, Dänen und Franzosen durch die Insel Seeland. Die Straße führte nordwärts. Immer an sauberen Häusern und Gärten vorbei.
Und überall blühten rote Kletterrosen. Ein Ort, der besonders hübsch war, hieß Klampenborg. Pony schrieb den Namen rasch in ihr Notizbuch.
Manchmal sahen sie zur Rechten das Meer. Es war aber kein Meer, sondern eine Meerenge, die der Sund heißt.
Überseedampfer fuhren auf dem Sund. Mit Musikkapellen.
Und mit einemmal entdeckte Pony auf der andern Seite des Sundes Land. Sie kam sich vor wie Columbus, zupfte den Justizrat aufgeregt am Ärmel und fragte: "Was ist das dort drüben?"
"Das ist Schweden", sagte Justizrat Haberland.
"Aha", meinte Pony. Und dann zückte sie ihr Notizbuch und trug ein: Schwedische Küste gesehen. Justizrat H. ein furchtbar netter Mann.
Das Segelboot ,Kunigunde IV’ war seit vielen Stunden auf dem Wasser. Noch immer wehte eine leichte Brise. Der Pikkolo hatte dem Professor und Gustav gezeigt, wie man die Segel fiert.
Sie hockten auf der Luvseite und gondelten vergnügt durch die Ostsee. Das Picknick hatten sie schon intus. Es war alles in schönster Ordnung. Die Sonne schien freigebig. Der Wind streichelte die braungebrannten Gesichter, als meine er’s gut mit der Jugend.
Gustav legte sich in der kleinen Kajüte auf eins der Ruhebetten und träumte, er rase mit seinem Motorrad übers Wasser.
Der Professor saß neben dem Pikkolo, der die Ruderpinne bediente, und schaute ins Meer. Manchmal sah er eine bunt schillernde Qualle vorbeischwimmen. Manchmal einen Fisch.
Plötzlich rief Hans Schmauch: "Was ist denn das ?" und zeigte geradeaus.
Vor ihnen lag eine Insel. Sie hielten auf sie zu.
Der Pikkolo meinte: "Das müssen wir uns aus der Nähe betrachten!"
Der Professor sagte: "Es scheint sich um einen Sandhaufen zu handeln. Mit etwas Gras drauf."
Sie waren schon ganz nahe.
"Eine Palme!" rief Hans Schmauch. "Mitten in der Ostsee eine Palme! Man sollte es nicht für möglich halten."
"Sie sieht aus, als hätte sie die Grippe", stellte der Professor sachlich fest.
"Es ist eine Fächerpalme."
Und dann gab es plötzlich einen Ruck!
Hans Schmauch und der Professor fielen von ihren Sitzen.
Gustav richtete sich jäh auf und stieß mit dem Kopf an die Kajütendecke. Er fluchte. Dann kroch er aus der Kajüte heraus und fragte: "Gehen wir vielleicht zufällig unter?"
"Nein", sagte Schmauch. "Wir sind gestrandet."
Gustav betrachtete sich die Gegend. "Ihr seid ja Feuertüten!
An diesem Sandhaufen konntet ihr wohl nicht vorbeisteuern, was? Wenn’s wenigstens noch die Insel Rügen wäre!" Er kletterte aus dem Boot. "Aber mitten in der Ostsee, ausgerechnet auf dieser Wochenend-Parzelle aufzulaufen, das ist ja ein tolles Ding!"
"Ich wollte mir bloß die Palme ansehen", sagte Schmauch ziemlich niedergeschlagen.
"Sieh sie dir nur gründlich an!" rief Gustav. Er trat an die seltsame Pflanze heran. "Eine Rarität, Herr Naturforscher! Eine Palme mit Topf. Das wäre etwas für Emil, unsern Botaniker!"
Der Professor sah auf die Uhr. "Trödelt euch aus! Wir müssen nach Korlsbüttel zurück."
Sie stemmten sich also mit vereinten Kräften gegen das Boot und wollten es ins Meer zurückschieben. Sie arbeiteten, bis sie blaurote Köpfe bekamen. Aber das Boot wollte nicht. Es rührte sich nicht von der Stelle. Nicht einen Zentimeter!
Gustav zog Schuhe und Strümpfe aus und stieg ins Wasser.
"Los!" kommandierte er. "Alle Mann, hau ruck! Hau ruck!"
Plötzlich rutschte er auf dem schmierigen Gras und Moos, das unter Wasser wuchs, aus und verschwand für längere Zeit unter dem Meeresspiegel.
Als er wieder auftauchte, spuckte er zunächst einmal einen Liter Salzwasser aus. Dann rief er wütend: "So eine Schweinerei!" Dann zog er den pitschnassen Trainingsanzug aus und hängte ihn ärgerlich zum Trocknen auf den Palmenstrunk.
"Siehst du", sagte der Professor. "Nun ist die Topfpflanze doch noch zu etwas nütze."
Sie machten sich wieder über das Boot her und arbeiteten eine halbe Stunde wie die Möbelräumer, wenn sie Klaviere aufheben.
Aber das Segelboot war kein Klavier. Es blieb unveränderlich liegen, wo es lag.
.,So ein Biest", murmelte der kleine Schmauch. "Los, Leute!
Hau ruck! Hau ruck!"
Umsonst! Alle Liebesmühe war vergeblich. Sie setzten sich müde in den Sand und verschnauften. "Das kann ja heiter werden", sagte Gustav. "Was machen wir bloß, wenn wir unsern Dampfer nicht flottkriegen?"
Schmauch legte sich hintenüber und schloß die Augen.
"Wir holen die Segel ein und werden ein kleines Inselvolk. Ein Glück, daß wir Konserven mitgenommen haben."
Gustav erhob sich und prüfte, ob sein Anzug schon trockner geworden war. Er wrang ihn aus und sagte: "Nun steht ja unsrer selbständigen Entwicklung überhaupt nichts mehr im Wege. Nicht mal ‘n Telephon oder ‘n Briefkasten ist hier.
Die reinsten Robinsöne!"
Der Professor schlug mit der Faust in den Sand. "Wir müssen zurück!" rief er. "Wir müssen! Sonst rückt uns Mister Byron aus!"
Gustav blickte sich um. Es gab nichts als Meer und Wolken.
Er lachte böse: "Wir können ja zu Fuß gehen, Professor!"