Siebentes Kapitel Varieté in Korlsbüttel

Die Kapelle spielte einen Tusch. Auf der Bühne erschien ein schick angezogener, etwas zu geschniegelter Herr und begrüßte die so zahlreich Erschienenen im Namen der Hoteldirektion. Er versprach ihnen einen gelungenen Abend und machte anschließend ein paar Kalauer, über die er nur selber lachte. Das verdroß ihn, und er kündigte geschwind die erste Darbietung an. Und zwar Ferdinand Badstübner, den Caruso zur Laute.

Caruso Badstübner war ein dicker grauhaariger Herr mit Baßlaute und einer kleinen Studentenmütze. Die Laute hatte er in der Hand, die bunte Mütze hingegen auf dem Kopfe.

Er griff in die Saiten und schmetterte einige Lieder, die vorwiegend von Heidelberg, von einem Feinsliebchen, von schönen Wirtstöchtern und von ziemlich vielen Weinfässern und Bierkrügen handelten. Seine Stimme klang nicht mehr ganz neu. Als er am Ende war, schwenkte er sein Mützchen. Und dann fiel der Vorhang.

»Zum Studium blieb damals wohl gar keine Zeit übrig?"

fragte der Professor seinen Vater.

»Die Lieder übertreiben", erklärte der Justizrat. "Wenn wir gar nicht studiert hätten, dann hätten wir ja auch gar nichts gelernt."

Klotilde wollte auch etwas wissen. "Wieso ist der alte Mann, der eben gesungen hat, eigentlich noch Student? Und wenn er Student ist, wieso singt er hier Lautenlieder vor?"

Die andern sahen einander an. Schließlich sagte die Großmutter: "Es ist wahrscheinlich ein Werkstudent."

"Aha", meinte Klotilde Seelenbinder. "Dann freilich."

Und als die andern lachten, wußte sie nicht einmal weshalb.

Gustav sagte: "Ich werde überhaupt nicht studieren. Ich werde Autorennfahrer oder Kunstflieger." Er wendete sich an Emil. "Wirst du studieren?"

Emil schloß einen Moment die Augen. Er dachte an Oberwachtmeister Jeschke und an die Unterhaltung mit ihm.

- "Nein", antwortete er. "Ich studiere nicht. Ich will so rasch wie möglich Geld verdienen und selbständig werden."

Die Großmutter blickte ihn von der Seite an. Aber sie schwieg.

Die nächste Darbietung bestand aus einer akrobatischen Tänzerin. Sie wirbelte so schnell um ihre eigene Achse, daß man manchmal denken konnte, sie habe die Augen auf dem Rücken und den Hinterkopf im Gesicht.

Der Kapitän klatschte mit seinen Riesenfäusten so laut, daß es klang, als zerschlüge er prall mit Luft gefüllte Tüten.

Er beugte sich vor und fragte Klotilde: "Können Sie auch so tanzen?"

Da kam er aber an die falsche Adresse. "Ich würde mich schämen", erwiderte sie, "mich vor fremden Leuten derartig zu verrenken!"

"Na, aber zu Hause kannst du’s uns ja einmal zeigen", meinte der Professor. Und die Jungens grinsten bei dem Gedanken, daß Fräulein Seelenbinder, auch Schlips genannt, in der Veranda der Villa Seeseite den Handstand vorführen könnte, statt das Mittagessen zu kochen.

Dann spielte die Kapelle zum Tanz auf. Einige Gäste tanzten.

Auch der Kapitän Schmauch. Mit Klotilde. Und der Justizrat mit seiner Frau. Die Großmutter wiegte den Kopf zur Musik und war guter Laune.

Plötzlich machte ein junger Mann vor Pony Hütchen einen Diener und fragte: "Gnädiges Fräulein, darf ich um diesen Tanz bitten?"

Emil blickte den jungen Mann an und lachte: "Das gnädige Fräulein kann noch gar nicht tanzen."

Pony stand auf. "Hast du eine Ahnung, mein Junge", sagte sie. "Ha!" Und dann tanzte sie mit dem jungen Mann, als hätte sie nie etwas anderes getan.

"Nun guckt euch bloß unser gnädiges Fräulein an!" rief der Professor. "Sie geht doch aber noch gar nicht in die Tanzstunde!"

Die Großmutter erklärte: "Uns jungen Mädchen ist das Tanzen angeboren."

Gustav schüttelte den Kopf. "So ‘ne Göre! Ist nicht älter als ich und spielt hier das gnädige Fräulein."

Der nächste Tanz war ein Walzer. "Das ist was für uns junges Volk", sagte der Kapitän zu Pony. Und dann walzte er mit der Kleinen durch den Saal, daß sich gar niemand andres zu tanzen traute. Manchmal schwenkte er Pony hoch durch die Luft. Es ging großartig. Hinterher applaudierten alle Gäste. Und sogar die Kellner. Der Kapitän ließ Pony einen Knicks machen.

Und er selber machte auch einen!

Später erschien der geschniegelte Herr wieder auf der Bühne.

Es sei ihm ein besonderes Vergnügen, meinte er, einen Vortragskünstier anzukündigen, der in allen berühmten Kabaretts des Reiches mit wahren Beifallsstürmen überschüttet worden sei.

»Da bin ich aber neugierig", erklärte Kapitän Schmauch.

"Wenn einer solchen Erfolg hat, kommt er hinterher ausgerechnet zu uns nach Korlsbüttel?" Sie warteten also, daß der Vorhang wieder aufginge.

Und als er das tat und der berühmte Künstler zum Vorschein kam, sagte Emil ganz laut: "Ach, du liebes Bißchen!"

Denn der große Künstler war niemand anders als der Ansager selber. Er hatte sich nur mit einem Zylinder, einem Spazierstock und einem Monokel ausgerüstet.

"Da bin ich", behauptete er. "Als erstes bringe ich Ihnen einen seriösen Vortrag. Und zwar ein Chanson mit dem Titel ,Das Leben ist nun einmal so’. Theobald, hau ‘rein!" (Mit ,Theobald’ meinte er den Klavierspieler. Und mit ,Hau ‘rein!’ das Klavier.) Als er fertig war, erklärte die Großmutter: "Wenn dieser Klapsmann in großen Kabaretts aufgetreten ist, bin ich die Großherzogin von Lichterfelde- Ost."

Der Vortragskünstler ließ zwei lustige Lieder folgen, die genau so traurig waren. Und dann kündigte er eine Pause von zehn Minuten an.

Die Jungens traten aus dem Hotel hinaus auf die Düne und betrachteten das Meer. Es lag glatt und bleifarben da. Nur der Widerschein des Mondes lief wie eine schmale silberne Straße über das dunkle Wasser.

Die Wellen klatschten in regelmäßigen Abständen ans Ufer.

Die Silhouetten der vielen Strandkörbe hoben sich vom Himmel ab wie Kornpuppen auf einem nächtlichen Feld.

Es war ein klein wenig unheimlich unter dem von glitzernden Sternen übersäten Himmel.

Der Professor flüsterte: "Mir ist kalt."

Da gingen sie in den Saal zurück und setzten sich wieder zu Pony und den Erwachsenen.

Nach der Pause trat die akrobatische Tänzerin noch einmal auf. Dann zeigte ein Zauberer phantastische Kartenkunststücke.

Und dann endlich kam die Glanznummer des Abends, ,The three Byrons’!

Was Mister Byron mit seinen beiden Zwillingen zuwege brachte, war geradezu unfaßbar. Die Zuschauer saßen steif auf ihren Stühlen und wagten kaum zu atmen. Am großartigsten wurde es, als sich Mister Byron rücklings auf ein Taburett legte und die Arme hochreckte. Jackie Byron, der größere Zwilling, machte in der rechten Handfläche seines Vaters den Kopfstand, und Mackie Byron in der linken Hand. Erst hielten sie sich noch mit ihren Händen an Mister Byrons Armen fest. Aber dann ließen sie seine Arme los und legten ihre Hände stramm an die Hosennaht! So standen sie auf dem Kopf, wie kleine umgekehrte Soldaten. Hinterher sprangen sie wieder auf die Füße und lächelten, als sei gar nichts gewesen.

Mister Byron blieb auf seinem Taburett liegen, zog die Knie an den Leib und streckte die Füße hoch. Mackie legte sich bäuchlings auf die väterlichen Fußsohlen. Mister Byron bewegte jetzt die Füße, fast wie ein Radfahrer, und Mackie drehte sich auf den Sohlen seines Vaters um die eigene Längsachse wie eine rasende Spindel. Dann flog er plötzlich in die Luft, wirbelte um sich selber, fiel wieder auf Byrons Füße, wurde wieder hochgeworfen, drehte sich in der Luft um neunzig Grad und fiel, - nein, er fiel nicht, sondern stand auf einmal mit seinen Füßen auf den Füßen Mister Byrons!

Klotilde meinte mit zitternder Stimme: "Ich kann gar nicht mehr hinsehen."

Aber Emil, Gustav und der Professor waren hingerissen.

"Schade, daß der kleine Dienstag nicht mit ist", sagte Gustav.

Dann legte sich Jackie Byron, der eine Zwilling, aufs Taburett, streckte die Arme hoch, ergriff die Hände seines Vaters, und dann machte dieser große schwere Athlet auf Jackies hochgestreckten Armen einen Handstand!

»Daß dem Jackie nicht die Knochen brechen, ist mir rätselhaft", flüsterte Emil.

Gustav nickte. "Daß da nichts passiert, spricht gegen sämtliche physikalischen Gesetze."

Als die drei Byrons mit ihren Künsten zu Ende waren, brach ein unerhörter Beifall los. Die Korlsbüttler Einwohner, die vor dem Hotel standen und durch die Vorhangspalte blickten, klatschten so lange, bis die Fledermäuse aufgeregt umherflatterten. Der Bühnenvorhang mußte zwölfmal aufgezogen werden.

Gustav ergriff sein englisches Wörterbuch und stand, zum äußersten entschlossen, auf. "Los!" sagte er und lief davon. Der Professor und Emil folgten ihm eilig.

Sie erwarteten die Zwillinge im Korridor hinter der Bühne.

"Hallo, boys!" rief der Professor.

Die Zwillinge drehten sich um.

"A moment, please", bat Gustav.

Mackie, der Kleinere, setzte sich in Trab und verschwand in einem Hinterzimmer. Jackie blieb stehen.

"You are wonderful", meinte Emil. "Very nice, indeed.

My compliments, Byron."

Jackie Byron kam auf sie zu. Er sah mächtig müde und verschwitzt aus.

Gustav blätterte im Wörterbuch. "Hallo, dear", stotterte er dann. "We have seen you. It’s the greatest impression in all my life, by Jove! Do you understand?"

Jackie Byron blickte die drei Jungen lange an. Dann sagte er leise: "Nu macht mal keinen Quatsch! Ich verstehe kein einziges Wort Englisch. ‘N Tag, die Herren!"

Die drei Freunde machten verblüffte Gesichter.

Gustav klappte das Wörterbuch zu. "Mich trifft der Schlag.

Ich denke, du bist Engländer?"

"Ach wo", erwiderte Jackie. "Unsere Namen sind Künstler-

Als die drei Byrons mit ihren Künsten zu Ende waren, brach ein unerhörter Beifall los.

namen. Ausländische Namen ziehen mehr. Was glaubt ihr wohl wie ich in Wirklichkeit heiße ?"

Sie zogen Stirnfalten und dachten nach: "Sag’s lieber gleich", empfahl der Professor. "Sonst könnten wir ja das ganze Adreßbuch durchraten."

Jackie hielt einen Finger vor den Mund. "Ihr dürft es natürlich nicht weitererzählen. Ich heiße, nein, ich sag’s doch lieber nicht."

Emil meinte: "Ich heiße Tischbein. Viel schlimmer wirst du auch nicht heißen."

"Doch", sagte Jackie. "Also gut. Ich heiße Paul Pachulke und bin aus Berlin-Teltow."

"Paulchen Pachulke", flüsterte Gustav. "Aus Teltow an der Rübe!" Er staunte. "Na, is ja alles halb so wichtig. Ich heiße Gustav. Und wir wollten dir mitteilen, daß wir schwer begeistert sind. Mensch, ihr seid Sonderklasse."

Jackie freute sich über das Lob. "Sehr angenehm", sagte er.

"Kommt ihr morgen wieder ins Bad?"

Sie nickten.

"Bis morgen also!" rief er und lief in das Zimmer, in dem sein Bruder vorher verschwunden war.

Die drei Freunde standen im Korridor, blickten sich an und mußten schließlich lachen.

Gustav schob sein Wörterbuch verächtlich in die Tasche, hakte sich bei Emil und dem Professor ein und sagte: "Da habt ihr’s.

Dazu lernt der Mensch nun fremde Sprachen!"

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