Zwölftes Kapitel Die Rückkehr des Kapitäns

Am Mittwoch, zeitig in der Frühe, landete Kapitän Schmauch wieder in Korlsbüttel. Die Hafenarbeiter, welche die Ladung löschen sollten, standen schon am Kai. Der Kapitän erledigte die üblichen Formalitäten mit dem Zollbeamten. Dann ging er an Land. Ihm war kühl, und er spazierte zum Strandhotel hinauf, um einen heißen Kaffee zu trinken.

Kaum war der Kellner verschwunden, erschien der Wirt hastig, begrüßte den Kapitän und fragte: "Haben Sie eine Ahnung, wo Ihr Neffe steckt ?"

Der Kapitän lachte sehr: "Immer gut aufgelegt, was?

Schicken Sie mir den Bengel einmal her. Ich möchte ihm guten Morgen wünschen."

"Aber er ist doch nicht hier! Er hatte gestern seinen freien Tag und ist seitdem nicht wiedergekommen. Seit gestern abend sind übrigens auch Mister Byron und einer seiner Zwillinge spurlos verschwunden. Nichts wie Scherereien hat man!"

Der Kapitän sprang auf. "Bestellen Sie den Kaffee ab!" rief er. Dann rannte er, so schnell ihn seine alten Seemannsbeine trugen, zum Jachthafen. Sein Segelboot lag nicht da! Ihm wurden die Knie schwach. Er blickte sich hilfesuchend um.

Da sah er an einem der Anlegepflöcke einen Zettel hängen.

Er kniete hin, riß den Zettel ab und las ihn durch. Es war Emils Notiz vom vorigen Abend.

Der Kapitän erhob sich mühsam und lief schwer atmend in den Ort hinein. Endlich stand er vor der Villa Seeseite. Er riß das Gartentor auf und klinkte an der Haustür. Sie war verschlossen. Er rannte um das Haus herum und blickte durch das Verandafenster.

In einem Stuhl am Tisch saß Emil Tischbein. Er hatte die Arme und den Kopf auf die Tischplatte gelegt und schlief.

Auf dem Sofa an der Wand lag der kleine Dienstag und schlief auch. Er war in eine Kamelhaardecke eingewickelt, und aus dem Sofakissen schaute nur der Schöpf heraus.

Die Verandatür war auch verschlossen. Der Kapitän trommelte mit den Fingern gegen die Scheibe. Erst leise. Aber die Jungen wachten nicht auf. Er klopfte stärker und immer stärker.

Schließlich blickte Emil hoch. Erst ganz verschlafen.

Doch plötzlich kam Leben in seine Augen. Er sah sich erstaunt in der Veranda um, schien sich an vieles zu erinnern, fuhr sich durch das verstrubbelte Haar, sprang hoch und schloß die Tür auf.

"Wo ist Hans?" rief der Kapitän.

Emil erzählte schnell alles, was er wußte. Zum Schluß sagte er: "Wir kamen erst mitten in der Nacht aus Warnemünde zurück. Dienstag wachte überhaupt nicht auf. Ich hob ihn von dem Fuhrwerk herunter, schleppte ihn hierher auf das Sofa und deckte ihn zu. Ich setzte mich in den Stuhl und wollte warten, bis der Morgen käme. Dann wollte ich die Hafenpolizei alarmieren. Und dann wollte ich Jackie auf das, was geschehen ist, vorbereiten und ihm als ersten Trost die fünfzig Mark geben.

Und wenn das Segelboot nicht gefunden würde, wollte ich nach Kopenhagen telegraphieren. Ins Hotel d’Angleterre." Er zuckte die Achseln. "Aber ich muß dann plötzlich eingeschlafen sein.

Entschuldigen Sie vielmals, Herr Kapitän. Was werden Sie jetzt tun?"

Der alte Kapitän Schmauch ging zur Tür. "Ich werde alle Motorboote auf treiben, die verfügbar sind! Wir müssen die See absuchen. Wecke deinen Freund! Und kommt zum Hafen hinunter!" Er lief eilig davon.

Emil trat ans Sofa und rüttelte Dienstag wach. Sie putzten sich rasch die Zähne, wuschen sich flüchtig, schnürten das Stullenpaket auf, das Dienstag den ganzen vorigen Tag mit sich herumgeschleppt hatte, und rannten kauend aus dem Haus.

An der Wegkreuzung blieb Emil stehen. "Kleiner, laufe zum Hafen hinunter! Vielleicht kannst du dem Kapitän nützlich sein.

Ich wecke Jackie und bringe ihn mit." Er trabte zur Düne.

Eine halbe Stunde später verließen zweiundzwanzig Fischkutter, fünf Segeljachten und sieben Motorboote den Korlsbüttler Hafen. Hinter dem Brückenkopf fuhren sie in Fächerform auseinander. Es war vereinbart worden, daß die benachbarten Fahrzeuge einander nicht aus den Augen verlieren sollten. Dadurch hoffte man, nichts, was irgendwie auffällig wäre, zu übersehen.

Kapitän Schmauch stand am Ruder des Motorbootes ,Argus’.

Der Besitzer, ein Fabrikant, hatte es ihm zur Verfügung gestellt. Emil, Dienstag und Jackie knieten auf den Bänken und blickten aufmerksam über die Wellen. Manchmal lag das Boot so schief, daß den Jungen das Salzwasser ins Gesicht klatschte.

Jackie sagte: "Ich glaube fast, ich habe mich noch gar nicht bei euch bedankt. Das lag am Schreck. Der erste Schreck ist immer der beste. Also, habt heißen Dank. Auch für das Geld."

Er drückte ihnen die Hand. "So, und nun will ich mich mal um den alten Onkel kümmern. Dem ist viel mulmiger zumute als mir."

Er trat neben den Kapitän und nickte ihm munter zu.

"Machen Sie sich keine Sorgen, Käpten", meinte er. "Es ist bestimmt nichts Schlimmes passiert. So etwas fühle ich. Ich habe nämlich die vierte Dimension."

Der Kapitän blickte steif geradeaus.

Eine halbe Stunde später verließen zweiundzwanzig Fischkutter, fünf Segeljachten und sieben Motorboote den Hafen.

Jackie sah sich um. Links draußen stampfte ein dunkler Fischkutter durch die Wellen, und ganz rechts eine schlohweiße Jacht.

"Eine Frage, Käpten. Gibt’s hier irgendwo Sandbänke?

Oder kleine Inseln oder so was Ähnliches?"

Der alte Seemann ließ für eine Sekunde das Ruder los.

Sie trudelten wie ein Kreisel durch die Wellen. Dann griff der Kapitän wieder fester zu. Noch fester als früher. "Junge!" rief er außer sich. "Das ist eine Idee! Wenn du recht hättest!"

Mehr sagte er nicht.

Aber er änderte den Kurs.

Die drei Robinsöne waren sehr, sehr zeitig aufgewacht.

Sie hatten wie die Schneider gefroren, waren aus der Kajüte geklettert und hatten Freiübungen gemacht, bis die Sonne höher stieg.

Dann hatten sie ein paar Schluck Wasser getrunken und Konserven gefrühstückt. Nun standen die geleerten Konservenbüchsen mit offenen Mäulern im Sand und warteten auf Regenwasser. Doch es regnete nicht. Im Gegenteil. Der Himmel war blau wie seit Tagen nicht.

"Ich hätte nie für möglich gehalten", erklärte Gustav, "daß mich schönes Wetter so maßlos ärgern könnte. Man lernt nie aus."

Der Professor war böse. "Wenn wir keine Konservenbüchsen hätten, regnete es jetzt in Strömen. Das ist immer so."

"Trotzdem hat alles sein Gutes", entgegnete Gustav.

"Stell dir vor, du hättest deinen Aufsatz über das interessanteste Ferienerlebnis neulich schon geschrieben! Nicht auszudenken!

Du könntest das Heft glatt ins Feuer schmeißen."

"Es erscheint mir fraglich, ob wir in unserm Leben überhaupt noch einmal Aufsätze schreiben werden", sagte der Professor melancholisch.

Gustav rief: "Wenn’s weiter nichts wäre! Das könnte ich notfalls verschmerzen. Aber der Gedanke, daß ich mein Motorrad nicht wiedersehen soll, könnte mich weich stimmen." Er pfiff vor sich hin.

Hans Schmauch zog sein weißes Hemd aus und hißte es an der Flaggleine hoch. "Vielleicht findet man uns dann leichter", meinte er.

Später versuchten sie es noch einmal, die □ Kunigunde’ flottzukriegen. Sie wankte und wich nicht.

"Das Luder hat über Nacht Wurzel geschlagen", sagte der Pikkolo. "Es hat keinen Zweck." Als sie wieder im Sand hockten, erklärte er: "Jetzt hört mich einmal an! Ich bin an dem Malheur schuld. Das Trinkwasser reicht bis morgen früh. Wenn wir bis heute nachmittag nicht aufgestöbert werden, schnalle ich mir eine der Schwimmwesten um, die im Bootskasten liegen, und versuche hinüberzuschwimmen. Vielleicht erwische ich schon unterwegs ein Fischerboot oder einen Dampfer."

"Ausgeschlossen!" rief Gustav. "Wenn einer von uns losschwimmt, dann selbstverständlich nur ich!"

"Ich habe die Sache eingerührt", erklärte der Pikkolo.

"Ich löffle sie aus."

"Darauf kommt’s überhaupt nicht an", sagte Gustav.

"Schwimmen wird der, der am besten schwimmt.

Verstanden?"

"Also ich!" meinte der Pikkolo.

"Nein, ich!" entgegnete Gustav.

"Ich schwimme!"

"Nein, ich."

Sie sprangen auf. Sie wollten aufeinander losgehen.

Da warf der Professor jedem eine Handvoll Sand ins Gesicht.

Sie spuckten fürchterlich und wischten sich die Augen sauber.

"Ihr seid wohl vollkommen übergeschnappt?" fragte der Professor ruhig. "Legt euch lieber hin und schlaft ein paar Stunden.

Dann vergeßt ihr Essen und Trinken. Und dann reichen die Vorräte länger."

Sie legten sieh folgsam in den Sand und schlossen die Augen.

Der Professor setzte sich ins Boot, lehnte sich gegen den Mast und überwachte den Horizont.

Das Motorboot ,Argus’ stampfte unbeirrbar durch die Wellen. Manchmal, wenn die Jungen sich festzuhalten vergaßen, purzelten sie von ihrer Bank quer durchs Boot auf die andere Seite. Dienstag hatte bereits eine Beule auf der Stirn.

Kapitän Schmauch stand wie ein Denkmal am Steuer. Sie folgten seinem Blick über die Wasserwüste. "Dort!" rief er plötzlich und zeigte in die Ferne. Aber sie sahen nichts.

"Eine weiße Flagge!" rief er begeistert. "Das sind sie!"

Er nickte Jackie zu. "Deine Frage vorhin war Gold wert, mein Junge."

"Was denn für eine Frage, Käpten?"

"Ob es hier Inseln gäbe", erwiderte er. "Die Kerls sind auf der Insel mit der Palme festgefahren. Na, die können ja was von mir erleben!"

Die Jungen drängten sich um ihn. Jackie meinte: "Ich hab’s ja gleich gewußt, daß nichts Schlimmes passiert ist."

Der Kapitän lachte erleichtert. "Richtig. Du hast ja die vierte Dimension!"

Emil rief: "Jetzt seh’ ich auch etwas Weißes! Und einen Mast!" Jackie schrie: "Ich auch!"

Dienstag sah immer noch nichts. Als ihm Emil beim Suchen helfen wollte, bemerkte er, daß sein Freund weinte. Die Tränen liefen ihm über die braungebrannten Backen.

"Was hast du denn, Kleiner?"

Ich bin so scheußlich froh", flüsterte Dienstag. "Du brauchst es Gustav und dem Professor aber nicht zu erzählen, daß ich ihretwegen geheult habe. Sonst bilden sie sich auch noch was drauf ein, diese blöden Feuertüten!" Er lachte unter Tränen.

Emil versprach zu schweigen.

"Drei Gestalten sind’s!" rief der Kapitän. "Und meine ,Kunigunde’ ist’s auch. Na, wartet nur, ihr Brüder! Wenn ich euch erwische!"

Gustav und der Pikkolo sprangen wie die Buschneger auf der kleinen Insel hin und her. Sie winkten und johlten.

Der Professor rührte sich nicht vom Fleck und zeichnete mit dem Finger Figuren in den Sand. Später erhob er sich, las die leeren Konservenbüchsen auf und warf eine nach der andern nachdenklich ins Wasser.

Der Pikkolo kletterte auf das Segelboot, holte sein Hemd, die weiße Flagge, wieder ein und zog es rasch an.

Da schoß auch schon das Motorboot durch den Gischt.

Der Motor setzte aus. Der Kapitän warf ein Tau durch die Luft.

Hans Schmauch fing es geschickt auf und knotete es am Heck des Segelbootes fest. Nun lagen die zwei Fahrzeuge dicht nebeneinander.

"Hurra, ihr Feuertüten!" rief Gustav.

Kapitän Schmauch sprang als erster vom ,Argus’ auf die ,Kunigunde IV’.

Sein Neffe trat vor ihn hin und sagte: "Onkel, ich bin an allem schuld!"

Der Kapitän gab ihm eine Ohrfeige, daß es nur so knallte, und rief: "Gott sei Dank, daß ihr gesund seid!"

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