Viertes Kapitel Villa Seeseite

Korlsbüttel ist keiner von den großen Badeorten. Noch vor zehn Jahren hatte Korlsbüttel nicht einmal einen Bahnhof. Damals mußte man auf der Strecke Lübeck­Stralsund in einem kleinen Nest aus dem Zug steigen, das, wenn ich nicht irre, Stubbenhagen hieß. Dort stand, wenn man besonderes Glück hatte, irgendein altmodisches Fuhrwerk, das mit einem schweren mecklenburgischen Gaul bespannt war, und zockelte die Badegäste nach Korlsbüttel hinüber. Auf zerfahrenen, sandigen Waldwegen. Links und rechts dehnte sich die Heide. Die Wacholderbüsche standen wie grüne Zwerge zwischen den hundertjährigen Eichen und Buchen. Und manchmal fegte ein Rudel Rehe durch die Stille. Und von den Kohlenmeilern, die auf den Waldwiesen lagen, stieg blauer, beizender Rauch in die Sommerluft empor. Es war wie in Grimms Märchen.

Heute ist das anders. Heute fährt man, ohne umzusteigen, bis Korlsbüttel, stiefelt vornehm aus dem Bahnhof, gibt seinen Koffer einem Gepäckträger und ist in drei Minuten im Hotel und in zehn Minuten am Meer. Ich glaube, daß es früher schöner war.

Damals war es mit Schwierigkeiten verbunden, ans Meer zu kommen. Und man soll Schwierigkeiten, die einem Ziel im Wege stehen, nicht unterschätzen. Sie haben ihr Gutes.

Halb Korlsbüttel war am Bahnhof, um den Ferienzug zu empfangen. Der Bahnhofsplatz stand voller Leiterwagen, Kutschen, Dreiräder, Tafelwagen und Karren. Man erwartete viele Gäste und noch mehr Gepäck.

Fräulein Klotilde Seelenbinder, Haberlands altes Dienstmädchen, lehnte an der Sperre und winkte, als sie den Justizrat erblickte, mit beiden Händen. Er überragte die aus dem Zug strömenden Menschen um Haupteslänge. "Hier bin ich!" rief sie.

"Herr Justizrat! Herr Justizrat!"

"Schreien Sie nicht so, Klotilde", sagte er und schüttelte ihr die Hand. "Lange nicht gesehen, was?"

Sie lachte. "Es waren doch nur zwei Tage."

"Ist alles in Ordnung?"

"Das will ich meinen. Guten Tag, gnädige Frau. Wie geht’s?

Ein Glück, daß ich vorausgefahren bin. So ein Haus macht Arbeit. Guten Tag, Theo! Du bist blaß, mein Liebling. Fehlt dir was? Und das ist sicher dein Freund Emil. Stimmt’s?

Guten Tag, Emil. Ich habe schon viel von dir gehört. Die Betten sind überzogen. Heute abend gibt’s Beefsteak mit Mischgemüse. Das Fleisch ist billiger als in Berlin. Ach, und das ist Pony Hütchen, Emils Kusine. Das sieht man sofort. Diese Ähnlichkeit!

Hast du dein Fahrrad mitgebracht? Nein?"

Emils Großmutter hielt sich die Ohren zu. "Machen Sie ‘ne Pause!" bat sie. "Machen Sie ‘ne Pause, Fräulein. Sie reden einem ja Plissee in die Ohrläppchen. Ich bin Emils Großmutter.

Guten Tag, meine Liebe."

"Nein, diese Ähnlichkeit!" meinte Haberlands Dienstmädchen. Dann verneigte sie sich und sagte: "Klotilde Seelenbinder."

"Ist das ein neuer Beruf?" fragte die Großmutter.

"Nein. Ich heiße so."

"Sie Ärmste!" rief die Großmutter. "Gehen Sie doch mal zum Arzt. Vielleicht verschreibt Ihnen der einen anderen Namen."

"Ist das Ihr Ernst?" fragte Klotilde.

"Nein", erwiderte die Großmutter. "Nein, Sie kluges Geschöpf. Ich bin fast nie ernst. Es lohnt sich zu selten."

Dann wurden die Koffer und Taschen auf einen Tafelwagen geladen. Den Wagen hatte Klotilde vom Fuhrhalter Kroger geliehen, und ein Knecht zog ihn. Emil und der Professor schoben.

So ging’s die Blücherstraße entlang. Die Erwachsenen und Pony spazierten hinterdrein.

Plötzlich hupte es laut. Aus einem Seitenweg bog, in voller Fahrt, ein Motorrad. Das Motorrad bremste. Krögers Knecht hielt den Wagen an und fluchte, daß die Fensterscheiben der Umgegend zitterten. Glücklicherweise fluchte er plattdeutsch.

"Nu treten Sie sich bloß nicht auf den Schlips!" rief der Motorradfahrer. "Is ja alles halb so wichtig."

Emil und der Professor guckten erstaunt hinter den Koffern vor und brüllten begeistert: "Gustav!" Sie rannten um Krögers Wagen herum und begrüßten den alten Freund.

Der legte vor Schreck sein Motorrad auf die Straße, schob die Schutzbrille hoch und sagte: "Das hätte mir gerade noch gefehlt, Herrschaften! Daß ich meine zwei besten Freunde zerquetscht hätte! Eigentlich wollten wir euch nämlich von der Bahn abholen."

"Gegen sein Schicksal kann keiner an", behauptete eine Stimme aus dem Straßengraben.

Gustav blickte erschrocken auf sein Rad. "Aber wo ist denn der kleine Dienstag?" rief er. "Er saß doch eben noch hinter mir!"

Sie blickten in den Straßengraben. Dort hockte der kleine Dienstag. Passiert war ihm nichts. Er war nur hoch im Bogen ins Gras geflogen. Er lachte den Freunden entgegen und sagte: "Die Ferien fangen ja gut an!" Dann sprang er auf und schrie: "Parole Emil!"

"Parole Emil!" riefen sie alle vier und setzten einträchtig den Weg fort.

Die Erwachsenen folgten weit hinten. Sie hatten überhaupt nichts gemerkt.

"Dort liegt Theos Haus!" sagte Klotilde Seelenbinder stolz und zeigte mit der Hand geradeaus.

Es war ein reizendes, altmodisches Haus. Mitten in einem Garten voller Blumen, Beete und Bäume. □ Villa Seeseite’ stand am Giebel.

Klotilde fuhr fort: "Was Sie links unten sehen, ist eine große gläserne Veranda. Mit Schiebefenstern. Darüber befindet sich ein offner Balkon. Für Sonnenbäder. Das Zimmer, das anschließt, habe ich für Herrn und Frau Justizrat hergerichtet. Es ist Ihnen doch recht, gnädige Frau?"

"Alles, was Sie machen, ist mir recht", sagte die Mutter des Professors freundlich.

Das Dienstmädchen wurde rot. "Das Nebenzimmer gehört Emils Großmutter und Pony Hütchen. Die Jungens werden wir im Erdgeschoß unterbringen. Im Zimmer neben der Veranda.

Im Nebenraum steht noch ein Sofa. Falls noch wer zu Besuch kommen sollte. Und ein zusammenklappbares Feldbett können wir auch noch aufschlagen. Gegessen wird in der Veranda. Bei schönem Wetter kann man natürlich auch im Garten essen. Obwohl im Freien das Essen schneller kalt wird. Aber man kann ja etwas drüberdecken." Sie sah sich um. "Wo sind denn eigentlich die Jungens hin? Sie müssen doch vor uns angekommen sein."

"Sie haben sich zu Bett gelegt", sagte Emils Großmutter.

"Und wenn Sie noch eine Weile so weiterreden, werden die Knaben bald ausgeschlafen haben und wieder aufstehen."

Das Dienstmädchen blickte unsicher zu der kleinen alten Frau hin. "Bei Ihnen weiß man nie, wie Sie’s eigentlich meinen."

"Das ist Übungssache", erklärte Pony. "Mein Vater sagt, Großmutter habe den Schalk im Nacken." Dann öffnete sie das Gartentor und rannte auf das Haus zu. Die Erwachsenen folgten ihr langsam und gaben Krögers Knecht Anweisung, wohin er die einzelnen Koffer und Taschen bringen solle.

Hinterm Haus lag der größere Teil des Gartens. Dort stöberten die vier Jungen herum und suchten eine Garage. Für Gustavs Motorrad. Der Professor saß auf einer Bank, baumelte mit den Beinen und erklärte: "Es gibt offensichtlich zwei Möglichkeiten.

Wir stellen die Maschine entweder ins Treibhaus zu den Tomaten. Oder in den Geräteschuppen."

"Im Treibhaus ist es zu warm", vermutete Dienstag.

Emil dachte nach. "Im Geräteschuppen liegen sicher Messer und andre scharfe Gegenstände rum. Das kann leicht über die Gummireifen gehen."

Gustav lief zu dem Schuppen hinüber, blickte hinein und zuckte die Achseln. "Da ist nicht einmal Platz für einen Roller, geschweige denn für meine schwere Maschine."

Der Professor lachte. "Das nennst du eine schwere Maschine?"

Gustav war beleidigt. "Ohne Führerschein gibt’s keine schwerere. Mir ist sie schwer genug. Und wenn ich vorhin nicht so doll gebremst hätte, wärt ihr jetzt Knochenmehl."

"Wir werden im Treibhaus die Heizung abstellen", schlug Dienstag vor.

Der Professor schüttelte den Kopf. "Da bleiben doch die Tomaten grün!"

"Was glaubst du, wie egal das den Tomaten ist, ob sie grün oder rot sind!" rief Gustav. "Is ja alles halb so wichtig!"

Da kam Pony Hütchen anspaziert.

Emil winkte ihr und fragte: "Weißt du keine Garage für Gustavs Motorrad?"

Sie blieb stehen und sah sich suchend um. Dann zeigte sie ans Ende des Gartens. "Was für ein Gebäude ist denn das dort?"

Der Professor sagte: "Das ist der sogenannte Pavillon."

"Und wozu braucht man denselben?" fragte das Mädchen.

"Keine Ahnung", entgegnete der Professor.

Sie gingen zu dem Pavillon. Gustav schob sein Motorrad hinterher.

Der Pavillon war ein Glashäuschen, in dem ein weißlackierter Tisch stand und eine grüne Gießkanne.

"Großartig!" rief der Professor. "Die geborene Garage!"

Pony Hütchen meinte: "Wenn ich nicht wäre!" Sie öffnete die Tür. Der Schlüssel steckte. Gustav schob das Rad in den Pavillon, schloß die Tür, zog den Schlüssel ab und steckte ihn in die Tasche.

Die andern Jungen gingen zum Haus zurück. Sie hatten Hunger.

Pony Hütchen wollte ihnen folgen.

Gustav fragte: "Wie gefällt dir eigentlich meine Maschine?"

Sie trat noch einmal zum Pavillon, blickte durch die Glaswand und musterte das Rad.

"Na", fragte der Junge, "wie gefällt sie dir?"

"Untermittelprächtig", erklärte sie. Hierauf schritt sie wie eine Königinmutter von dannen.

Gustav schaute ihr verdutzt nach. Dann nickte er seinem kleinen Motorrad freudestrahlend zu, sah beleidigt hinter Pony her und sagte zu sich selber: "Is ja alles halb so wichtig."

Nach dem Abendessen saßen sie noch eine Weile in der Veranda und blickten in den bunt blühenden Garten hinaus.

"Hat’s geschmeckt?" fragte Klotilde schließlich neugierig.

Es herrschte selbstredend nur eine Meinung. Und als Emils Großmutter behauptete, seit ihrer Silbernen Hochzeit kein gelungeneres Beefsteak gegessen zu haben, war Fräulein Seelenbinder geradezu glücklich.

Während sie, von Pony unterstützt, abräumte, schrieb Emil eine Karte an seine Mutter. Gustav entschloß sich ebenfalls dazu, einen Gruß nach Hause zu schicken und seine glückliche Ankunft zu vermelden. Sie gaben ihre Karten dem kleinen Dienstag, der in der Pension ,Sonnenblick’ längst von seinen Eltern erwartet wurde. Er versprach, an der Post vorbeizugehen.

"Aber nicht nur vorbeigehen", bat Emil. "Steck die Karten lieber in den Kasten!"

Dienstag verabschiedete sich allerseits und sagte: "Morgen nicht zu spät!" Dann verschwand er eilig.

Der Justizrat trat in die Verandatür und betrachtete den Himmel. "Die Sonne ist zwar schon untergegangen", meinte er.

"Aber wir müssen dem Meer noch guten Abend sagen, ehe wir in die Klappe gehen."

Sie wanderten also durch den dämmrigen Erlenbruch.

Nur Klotilde blieb zurück. Sie wollte das Geschirr abwaschen.

Als der Erlenbruch zu Ende war und die Steigung begann, die zur Düne hinaufführt, von der aus das Meer zu sehen ist, sagte Justizrat Haberland: "Wer die See noch nicht kennt, der trete vor!"

Emil, Pony und die Großmutter meldeten sich.

"Wir kommen nach", erklärte der Justizrat.

Da hängte sich die Großmutter bei ihren beiden Enkelkindern ein und ging mit ihnen voran. Nach kurzer Zeit standen sie auf dem höchsten Punkt der Düne. Rechts lag das Strandhotel. Vor ihnen erstreckte sich zu beiden Seiten der Strand. Mit all seinen Strandkörben und Wimpeln und Sandburgen.

Und dort, wo der Strand aufhörte, begann das Meer! Es nahm, wohin man auch blickte, kein Ende. Es lag da, als sei es aus flüssigem Quecksilber. Am Horizont, ganz hinten, fuhr ein Schiff in den Abend hinein. Ein paar Lichter blinkten. Und am Himmel, der von der Sonne, die längst untergegangen war, noch immer Die Großmutter und die beiden Kinder standen überwältigt.

rosig widerstrahlte, hing die Mondsichel. Sie sah noch ganz blaß aus. Als ob sie lange krank gewesen wäre. Und über das pastellfarbene Himmelsgewölbe glitten die ersten Lichtstreifen entfernter Leuchttürme. Weit draußen heulte ein Dampfer.

Die Großmutter und die beiden Kinder standen überwältigt.

Sie schwiegen und hatten das Empfinden, als ob sie nie im Leben wieder würden reden können.

Da knirschten hinter ihnen Schritte. Haberlands und Gustav näherten sich behutsam.

Gustav trat neben Emil. "Das ist ein dolles Ding, was?" meinte er.

Emil nickte nur.

Sie standen stumm nebeneinander und blickten unentwegt aufs Meer.

Da sagte die Großmutter leise: "Endlich weiß ich, wozu ich so ‘ne alte Schachtel geworden bin."

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