Fünftes Kapitel Ein Wiedersehen in der Ostsee

Als Klotilde am nächsten Morgen an die Tür klopfen wollte, hinter der die Jungen schliefen, hörte sie Gekicher. "Ihr seid schon wach?" fragte sie und legte ein Ohr an die Tür.

"Wach ist gar kein Ausdruck", rief der Professor und lachte.

"Wer spricht?" fragte Gustav streng. "Wer redet mit uns, ohne sich vorzustellen?"

Das Dienstmädchen rief: "Ich bin’s! Die Klotilde!"

"Aha", sagte Emil, "das Fräulein Selbstbinder."

"Seelenbinder", verbesserte Klotilde ärgerlich.

"Nein, nein", meinte Gustav. "Selbstbinder gefällt uns besser.

Wir werden Sie von jetzt ab Selbstbinder nennen. Und wenn Ihnen das nicht paßt, nennen wir Sie Schlips!

Verstanden, Fräulein Klotilde Schlips?"

"Eine hervorragende Bezeichnung", erklärte der Professor.

(Er hatte noch immer die Angewohnheit, Zensuren zu verteilen.) "Klotilde, du heißt von jetzt ab Schlips!"

"Mit mir könnt ihr’s machen", sagte das alte Dienstmädchen düster. "Ach so, ihr sollt frühstücken kommen! Die andern sind schon im Garten. Und jetzt geh’ ich."

"Auf Wiedersehen, Schlips!" riefen die drei. Dann spazierten sie im Gänsemarsch durch die Verandatür in den Garten hinterm Haus. Mitten auf dem Rasen war ein großer runder Tisch gedeckt. Die Eltern des Professors, Pony Hütchen und die Großmutter hatten bereits Platz genommen. Der Justizrat las die Zeitung. Die andern aber blickten dem Aufzug der Jungen reichlich fassungslos entgegen. Frau Haberland klopfte ihrem Mann leise auf die Schulter. Der Justizrat fragte: "Was gibt’s denn?"

Und ließ die Zeitung sinken. Dann schloß er sich dem allgemeinen Staunen an.

Der Professor und Gustav kamen im Badeanzug, Emil in seiner roten Badehose. Doch das war nicht das Auffällige.

Sondern: Der Professor hatte den Panamahut seines Vaters auf dem Kopf und schwenkte einen dicken Spazierstock.

Emil hatte Ponys Sommermäntelchen umgehängt, trug ihren gelben Strohhut mit den roten Lackkirschen und hatte einen buntgestreiften Sonnenschirm aufgespannt, den er, wie eine leicht verrückte Dame, hochnäsig über den Rasen balancierte.

Gustav sah am abnormsten aus. Er hatte das Kapotthütchen von Emils Großmutter aufgesetzt und es mit den schwarzseidenen Kreuzbändern unterm Kinn festgebunden. So fest, daß er den Mund kaum aufkriegte. Vor den Augen trug er seine Motorradbrille.

In der einen Hand schwenkte er zierlich Ponys Handtäschchen.

In der anderen schleppte er einen Koffer.

Die drei Jungen verzogen keine Miene und setzten sich wortlos in ihre Korbstühle. Dann schlug der Professor mit dem Kaffeelöffel an seine Tasse. Und wie aus einem Munde riefen sie plötzlich: "Guten Abend, die Herrschaften!"

"Die armen Kleinen haben den Sonnenstich", sagte der Justizrat. "Und das am zweiten Ferientag. Welch ein Jammer!"

Dann griff er wieder zu seiner Zeitung.

"Man sollte den Arzt holen", meinte Pony. "Wehe euch,

wenn ihr meine Handtasche dreckig macht!"

Gustav drehte sich um und rief: "Kellner! Bedienung! Ist das nun eine Kneipe, oder ist das nun keine Kneipe?" Dann band er rasch die Hutbänder auf. Er wäre fast erstickt. "Den nächsten Kompotthut kauf’ ich bei einer andern Schneiderin", knurrte er.

"Das Biest sitzt ja an keiner Ecke und Kante!"

Klotilde kam aus der Villa und brachte frischen Kaffee.

Da haben wir’s", sagte der Professor. "Natürlich wieder Fräulein Klotilde Schlips. Immer dieselben, immer dieselben!"

Das Dienstmädchen goß Kaffee ein, setzte die Kanne auf den Tisch und fragte weinerlich: "Muß ich mir eigentlich gefallen lassen, daß man mich Schlips nennt?"

"Wieso denn Schlips?" erkundigte sich Frau Haberland.

"Unter Seelenbinder können wir uns nichts vorstellen", meinte Emil.

"Darum wollten wir sie Selbstbinder nennen", erklärte der Professor. "Aber das war ihr nicht fein genug."

Gustav kaute und brummte: "Deswegen haben wir sie Schlips getauft. Andre Leute wären froh, wenn sie Schlips hießen. Mein Sportlehrer heißt Philipp Ochse. Wenn der irgendwo eingeladen ist und seinen Namen sagt, kann er gleich wieder abhauen. Die Leute lachen ja doch bloß."

"Wie so ein Ochse sich freute, wenn er Schlips hieße", behauptete Emil.

Klotilde Seelenbinder sagte gar nichts mehr, sondern kehrte stumm ins Haus zurück.

Pony sah zur Großmutter hinüber. "Was fehlt denn den Jungens? Ist es was Schlimmes?"

"Bewahre", sagte die Großmutter. "Eine ganz normale Krankheit. Man nennt sie die Flegeljahre."

Der Justizrat nickte. "Ich kenne die Krankheit aus Erfahrung. Ich habe sie früher auch einmal gehabt."

Nach dem Frühstück erschien Dienstag auf der Bildfläche und holte sie zum Baden ab. Der Justizrat und seine Frau blieben zu Hause. Aber alle anderen, die Großmutter Inbegriffen, pilgerten zum Strand. Die Jungen beschlossen, barfuß zu gehen. Das sei gesund.

Droben auf der Düne machten sie halt. Die Ostsee sah ganz anders aus als am Abend vorher. Grünlich und blau glänzte sie.

Und manchmal, wenn Wind aufkam, schillerte sie golden, daß man die Augen schließen mußte. Die Großmutter setzte eine Sonnenbrille auf, die ihr Fräulein Klotilde Seelenbinder geliehen hatte.

Unten am Strand wimmelte es, soweit man sehen konnte, von Strandkörben, Sandburgen, Fähnchen, Wimpeln und Menschen.

Manchmal liefen Wellen über den Meeresspiegel. Und Pony bemerkte: "Das sieht aus, als ob ein unsichtbarer Verkäufer auf einem unendlichen Ladentisch schillernde Seide aufrollt."

Die vier Jungens schauten einander vielsagend an und schwiegen. Nur der kleine Dienstag konnte sich nicht beherrschen und platzte laut heraus.

"Blöde Bande", sagte Pony und schlug den Strandweg ein.

Emil und die Großmutter folgten ihr lächelnd. Als sie eine Weile gegangen waren, drehte sich Emil nach den Freunden um. Die standen in einiger Entfernung still und machten keine Anstalten weiterzulaufen.

"Wo bleibt ihr denn?" rief Emil.

Sie setzten sich langsam in Bewegung. Aber schon nach ein paar Metern streikten sie von neuem. Gustav hüpfte auf einem Bein und schimpfte schrecklich.

Die Großmutter lachte. "Deine Berliner sind das Barfußlaufen nicht gewöhnt. Der Kiesweg stört sie."

Emil lief zurück. Gustav zog ein schiefes Gesicht und knurrte: "Mensch, das soll gesund sein ?"

Und der Professor erklärte: "Ich danke für Obst. Meine Fußsohlen sind doch nicht aus Rindsleder!"

"Nie wieder barfuß!" schwor Dienstag und versuchte den nächsten Schritt. Er stieg wie ein Hahn auf den Mist.

Gustav ging vom Weg herunter und wollte im Gras weitergehen. Es war aber gar kein Gras, sondern Strandhafer.

Und der schnitt ihm so in die Waden, daß er wütend "Aua!" schrie und auf den Kies zurückkam.

Emil erklärte: "Der Strandhafer enthält viel Kieselsäure."

Gustav sagte: "Ich hätte nie gedacht, daß Kieselsäure so spitz ist. Da kann man genau so gut zwischen Rasiermessern herumlaufen."

Emil erzählte noch einiges vom Aufbau der Pflanzenzellen und von der Beschaffenheit der Sand- und Strandgewächse im besonderen.

Doch der Professor meinte: "Alles ganz schön und gut.

Du magst zwar ein enormer Botaniker sein. Aber ich renne rasch in meine Villa zurück und hole meine Turnschuhe."

Das tat er denn auch. Gustav und Dienstag rannten hinter ihm her.

Emil ging zu seiner Großmutter. Sie setzten sich auf eine Bank und betrachteten das Meer. An der Brücke lag gerade ein kleiner weißer Küstendampfer. Der Junge suchte Pony. Sie war schon weit voraus.

Die Großmutter schob ihre geborgte Sonnenbrille auf die faltige Stirn. "Endlich sind wir einmal eine Minute unter uns. Wie geht’s dir denn eigentlich, mein Junge? Und wie geht’s deiner Mutter?"

"Danke, danke. Ausgezeichnet."

Die alte Frau legte den Kopf etwas schief. "Sehr gesprächig bist du nicht grade. Erzähle noch ein bißchen mehr. Na los, junger Mann!"

Er sah aufs Meer. "Aber Großmutter, das weißt du doch schon alles aus unsern Briefen! Muttchen hat viel zu tun.

Aber ohne Arbeit würde ihr das Leben keinen Spaß machen.

Na und ich, ich bin noch immer der Beste in der Klasse."

"So, so", erklärte die alte Frau. "So, so. Das klingt ja hocherfreulich." Dann rüttelte sie ihn liebevoll an der Schulter.

"Willst du gleich mit der Sprache herausrücken, du Halunke!

Da stimmt doch was nicht. Da stimmt doch was nicht!

Emil, ich kenne doch dein Gesicht wie meine Handtasche!"

"Was soll denn nicht stimmen, Großmutter? Es ist alles in schönster Ordnung. Glaub’s nur!"

Sie stand auf und sagte: "Das kannst du deiner Großmutter erzählen!"

Schließlich landeten alle miteinander im Familienbad.

Die Großmutter setzte sich in den Sand, zog die Schuhe und Strümpfe aus und ließ die Füße von der Sonne bescheinen. Außerdem behütete sie die Badetücher, die man mitgebracht hatte.

Die Jungens nahmen Pony in die Mitte, faßten einander bei den Händen und rannten mit Gebrüll in die Wellen hinein. Eine dicke Dame, die nicht weit vom Ufer im Meer saß und still vor sich hindöste, schluckte bei dieser Gelegenheit Wasser und schimpfte wie am Spieß.

Die Großmutter schürzte den Rock, ging ein paar Schritte ins Wasser und fragte höflich: "Waren Sie auch einmal jung, meine Dame?"

"Natürlich", war die Antwort.

"Na also", meinte die Großmutter. "Na also." Und ohne ausführlicher zu werden, setzte sie sich wieder in den warmen Sand und blickte fröhlich hinter den jauchzenden Kindern her.

Jetzt sah man nur noch die Köpfe. Und auch die nicht immer.

Gustav schwamm am schnellsten. Und als erster kletterte er auf das große Sonnenbrett, das draußen verankert lag und auf dem sich die Schwimmer ausruhten. Pony und Emil schwammen gleich schnell und halfen einander beim □Landen’.

Dienstag und der Professor kamen wesentlich später.

"Wie macht ihr das bloß?" fragte Dienstag, als er neben den Freunden auf den Planken saß. "Warum schwimmt ihr denn schneller als Theo und ich?"

Der Professor lachte. "Mach dir nichts draus. Wir sind eben Geistesarbeiter."

Gustav sagte: "Mit dem Kopf hat das nur insofern zu tun, als ihr ihn zu hoch übers Wasser haltet. Ihr müßt kraulen lernen!"

Er ließ sich von der Planke herunterrollen, plumpste in die Ostsee und zeigte ihnen, wie man krault.

Pony fragte ihn: "Was verlangst du für die Stunde?"

Er holte tief Atem, tauchte lange, kam prustend wieder zum Vorschein und meinte: "Sechzig Minuten!"

Dann schwammen sie alle wieder zurück. Gustav kraulte ihnen etwas vor. Sie versuchten es nachzumachen. Dabei stieß der Professor mit einem Herrn zusammen, der sich auf den Rücken gelegt hatte und gemächlich hinausschwamm. "Paß besser auf!" rief der Herr. "Wo hast du denn deine Augen?"

"Unter Wasser", antwortete der Junge und kraulte wie eine Schiffsschraube hinter den Freunden her.

Die waren schon im Gebiet für Nichtschwimmer angekommen und standen vor einer riesigen Zahnpastatube aus Gummi. (Es handelte sich um eine Reklame.) Alle versuchten hinaufzuklettern. Aber kaum war man oben, drehte sich die Tube, und man purzelte ins Wasser zurück. Das Geschrei war groß.

Die Freunde blickten zum Strand hinüber. Dort standen Turngeräte. Am Hochreck schwebte ein Mann, machte eine Schwungstemme, eine Welle vorwärts, schloß, im Vorwärtsschwingen, eine großartige Riesenfelge an, steckte plötzlich die Beine zwischen den Armen durch und kam mit Hilfe einer Kippe oben auf der Stange in den Sitz. Dann machte er eine Sitzwelle rückwärts, breitete beide Arme aus, schwang nach vorne, ließ das Reck auch mit den Knien los, schwebte durch die Luft, sprang in den Sand und beendete die Übung mit einer eleganten Kniebeuge.

"Donnerwetter!" sagte Gustav. "Das kann nicht einmal ich!"

Als der Turner beiseite gegangen war, stellten sich zwei kleine Jungen unter das Reck. Sie sprangen hoch, hingen still, holten Schwung und wiederholten beide gleichzeitig und nebeneinander dieselbe schwierige Übung, die eben der Mann vorgeführt hatte.

Als sie zum Schluß aus dem Kniehang graziös in die Luft schwebten und die Übung mit eleganten Kniebeugen im Sand beendeten, klatschte das ganze Familienbad Beifall.

"Ich werde verrückt", behauptete Gustav. "So etwas habe ich, noch dazu von solchen Knirpsen, noch nie gesehen!"

Ein Junge, der neben ihnen im Wasser stand, sagte: "Das sind die ‘Three Byrons’. Eine Artistenfamilie. Ein Vater mit Zwillingen. Abends treten sie im Strandhotel auf."

"Das müssen wir uns mal ansehen", erklärte Pony Hütchen.

"Das Programm beginnt abends acht Uhr", berichtete der fremde Junge. "Die anderen Nummern sind auch Weltklasse. Ich kann das Programm dringend empfehlen."

"Kriegt man bestimmt Platz?" fragte Dienstag.

"Ich kann euch ja auch einen Tisch reservieren", meinte der Junge.

"Bist du auch ein Akrobat?" fragte Emil.

Der andere schüttelte den Kopf. "Nein. Ich kann zwar auch gut turnen. Aber von Beruf bin ich der Pikkolo vom Strandhotel."

Gustav lachte. "Pikkolos sterben früh."

"Wieso?" fragte Dienstag.

"Na, hast du schon einmal einen alten Pikkolo gesehen?"

Pony rümpfte die Nase: "Laß deine ollen Witze!"

Der fremde Junge sagte: "Seit ich Gustav zum letzten Male Der fremde Junge sagte: "Seit ich Gustav zum letzten Male gesehen habe, ist er nur größer geworden."

gesehen habe, ist er nur größer geworden. Sonst hat er sich überhaupt nicht verändert."

Die Freunde sahen einander verdutzt an.

"Woher kennst du mich denn?" fragte Gustav verblüfft.

"Ich kenne euch alle", versicherte der badende Pikkolo.

"Und Gustav hat sogar einmal einen Anzug von mir angehabt."

Gustav sperrte den Mund auf. "So ein Quatsch! Ich habe noch nie im Leben fremde Anzüge angehabt!"

"Doch, doch", sagte der Pikkolo.

Die anderen wußten nicht, was sie denken sollten.

Pony fragte: "Wie heißt du denn?"

"Hans Schmauch."

"Keine Ahnung", sagte Gustav. "Kenne keine Schmauchs."

"Meinen Vater kennst du auch", behauptete Hans Schmauch.

"Und auch Emil kennt ihn."

"Das wird ja immer schleierhafter", erklärte Emil.

Gustav stapfte durchs Wasser, rückte dem Pikkolo auf die Pelle und sagte: "Nun aber raus mit der Sprache, Kleiner!

Sonst tauche ich dich so lange, daß du niemals Kellner wirst."

Hans Schmauch lachte. "Ich war früher Liftboy in Berlin.

Im Hotel Kreid am Nollendorfplatz. Parole Emil!"

Das schlug dem Faß den Boden aus. Sie tanzten wie irrsinnig gewordene Indianer um den kleinen Schmauch herum.

Das Salzwasser spritzte meterhoch. Und dann schüttelten sie dem Jungen die Hand, daß seine Knochen knackten.

"Nein, so eine Freude", meinte Emil. "Dein Vater, der Portier, war damals so nett zu mir. Zehn Mark hat er mir geborgt.

Na, und Gustav und ich haben ja sogar in einer Hotelkammer bei euch übernachtet."

"Freilich", sagte der Pikkolo. "Das war ‘ne aufregende Geschichte, was? Daran werde ich mein Leben lang denken, und wenn ich Hotelbesitzer werden sollte. Übrigens, wenn ich frei habe, können wir einmal miteinander segeln. Mein Onkel wohnt nämlich hier in Korlsbüttel. Er hat einen großen Handelsdampfer."

"Kann man denn mit einem Handelsdampfer segeln?" fragte Dienstag.

"Das nun gerade nicht", sagte der Pikkolo. "Aber mein Onkel hat auch noch ein feines Segelboot. Er ist ein famoser alter Knabe."

Darüber freuten sie sich, und dann trabten sie an Land und stellten den kleinen Schmauch der Großmutter vor. Die freute sich mit ihnen. Aber erst, nachdem sich alle gut abgetrocknet hatten.

Gustav blickte den Pikkolo vergnügt an und sagte, während er sich mächtig frottierte: "Ich verstehe nur eins nicht."

"Was denn?" fragte Hans Schmauch und schaute zu dem großen Gustav hinauf.

Gustav blickte kopfschüttelnd zu ihm hinunter und meinte: "Ich verstehe nur nicht, daß mir früher einmal deine Anzüge gepaßt haben sollen."

Загрузка...