Dreizehntes Kapitel Die nächsten Schritte

Die Heimkehr der umfangreichen Rettungsflottille und die Ankunft der Schiffbrüchigen gestaltete sich zu einem kleinen Volksfest. Auf der Seebrücke, an den Hafenkais und sogar in den Zugangsstraßen standen die Einheimischen und die Kurgäste dichtgedrängt und winkten. Es war um die Mittagszeit.

Und in etwa zwanzig Küchen brannte mittlerweile das Essen an.

Kapitän Schmauch schickte die Jungen auf einem Umweg ins Strandhotel. Er selber ging mit den Fischern und Schiffern, die bei der Suche geholfen hatten, in den Dorfkrug. Dort spendierte er zwei Faß Bier und zwei Lagen Korn. Nachdem er seinen Freibiergästen Bescheid getan und sich bei ihnen bedankt hatte, stiefelte er stracks ins Strandhotel und bestellte für sich und die Jungens ein herzhaftes Mittagessen.

Sie setzten sich, um unter sich zu sein, ins ,Zimmer für kleine Vereine’ und futterten wie die Scheunendrescher.

Währenddem berichteten sie einander ausführlich, was sie erlebt hatten.

Hans Schmauch saß, obwohl er doch eigentlich im Hotel Pikkolo war, an der Mittagstafel neben den andern und wurde vom Kellner Schmidt, seinem unmittelbaren Vorgesetzten, aufs zuvorkommendste bedient.

Als Nachtisch gab es Schokoladenpudding mit Vanillesauce.

"Ich möchte vorschlagen", sagte der Kapitän, "daß wir über die Robinsonade, die einigen unter euch zugestoßen ist, den Schnabel halten. Morgen kommen eure Erwachsenen aus Dänemark zurück. Sie brauchen von dem kleinen Zwischenfall kein Wort zu erfahren. Sollte sich die Sache nicht verheimlichen lassen, so möchte ich die Anwesenden bitten, alles auf mich zu schieben. Ich bringe es dann schon in Ordnung."

Emil und der Professor sprangen auf.

Der Kapitän winkte ab. "Ich weiß schon, was ihr sagen wollt.

Ihr seid natürlich stolz und wollt eure Schulden selber bezahlen." Er schüttelte den Kopf. "Es genügt, daß ich Bauchschmerzen gekriegt habe! Schont die Erwachsenen! Wir Großen haben schwache Nerven!"

Emil und der Professor setzten sich wieder auf ihre Stühle.

"Na also", sagte der Kapitän freundlich. "So, und jetzt geht Onkel Schmauch Holz verkaufen." Er drehte sich um.

"Herr Ober, zahlen!"

Nach dem Essen rannten die Jungen zum Hafen hinunter.

Nur Hans Schmauch blieb im Hotel. Er zog seine Kluft an und war wieder Pikkolo, als sei nichts gewesen. Die anderen holten aus dem Segelboot ,Kunigunde IV’ den Marktkorb mit den übriggebliebenen Eßwaren heraus und überführten ihn feierlich in die Speisekammer der Villa. Gustav tat sich wichtig.

"Heute hab’ endlich einmal ich Tagesdienst!" rief er. Er legte die Bestandsliste auf den Küchentisch und führte darin, so gut er’s verstand, Buch. (Sehr gut verstand er’s nicht.) Dann schickten sie Jackie Pachulke ins Hotel, damit er seinen Koffer und seine sieben Zwetschgen hole. Sie stellten mittlerweile das unbenutzte Feldbett, von dem Klotilde seinerzeit erzählt hatte, in ihrem Zimmer auf. Denn im Hotel konnte Jackie ja nun nicht länger bleiben.

Als das erledigt war, sagte der Professor: "Eigentlich müßten wir jetzt erst einmal ausführlich schlafen." Er hatte sich auf der Insel, trotz der südlichen Palme, erkältet und sprach gewaltig durch die Nase. "Doch wir müssen das Schlafen bis auf weiteres verschieben und zunächst einmal überlegen, was wir für Jackie tun können. Daß Mister Anders fünfzig Mark ausgespuckt hat, ist zwar ganz schön. Aber sehr alt kann der Junge damit nicht werden. Eltern hat er nicht. Geschwister hat er nicht. Wann er ein neues Engagement kriegt, wissen die Götter.

Was schlagt ihr vor?"

Der kleine Dienstag hob die Hand. "Wir gehen jetzt in den Garten. Wir sind vier Detektive, und der Garten hat vier Ecken.

Jeder Detektiv setzt sich in eine Ecke und denkt angestrengt nach. Nach fünf Minuten treffen wir uns am Gartentisch wieder. Und dann berichtet jeder, was ihm in seiner Ecke eingefallen ist."

Der Vorschlag wurde angenommen. Sie rannten in den Garten hinaus. Jeder in eine andere Ecke. Dort dachten sie nach.

Das Wetter war beängstigend schön. Die Grillen spielten Mandoline. Die Heuschrecken sprangen von Grashalm zu Grashalm. Vom Erlenbruch her hörte man einen Pirol pfeifen.

Fünf Minuten später trafen sie sich verabredetermaßen an dem großen runden Gartentisch und nahmen, ernst wie Schöffen, Platz. Emil sah sich um und sagte: "Ich habe das dumpfe Gefühl, daß einer fehlt."

"Gustav", stellte Dienstag fest.

Sie rannten in Gustavs Ecke. Der Motorradmeister lag längelang im Gras und schlief.

Der Professor rüttelte ihn kräftig. "He, junger Mann!"

Gustav öffnete mühselig die Augen. "Was’n los?"

"Du solltest doch nachdenken", sagte der kleine Dienstag streng.

Gustav setzte sich auf. "Wie soll man denn nachdenken können, wenn ihr einen stört ?"

"Ach so!" rief Emil. "Du hast nachgedacht! Und was ist dir eingefallen?"

"Nichts, ihr Feuertüten!"

Sie lachten. Dann zogen sie ihn hoch und trabten zu dem Tisch zurück.

"Die Sitzung ist eröffnet", erklärte der Professor. "Emil hat das Wort."

Emil stand auf. "Werte Zuhörer! Am Freitag, das ist übermorgen, wird hier in Korlsbüttel, in den Leuchtturmlichtspielen, der Film ,Emil und die Detektive’ aufgeführt. Wir hatten uns vorgenommen, uns nicht zu erkennen zu geben und uns den Film als ganz harmlose Zuschauer anzusehen. Wir können nun aber, glaube ich, Jackie helfen, wenn wir das Geheimnis lüften und dem Kinobesitzer mitteilen, wer wir sind. Es widerspricht zwar unseren Prinzipien und geht uns gegen den Strich.

Aber in der Not frißt der Teufel Fliegen. Der Kinobesitzer kann dann zum Beispiel eine Anzeige in der Zeitung erscheinen lassen. Oder er kann über das Plakat, das an den Anschlagsäulen hängt, einen Zettel kleben lassen, auf dem steht, daß die Detektive bei einigen Aufführungen persönlich anwesend sein werden. Dann kommen vielleicht mehr Kinder in sein Kino als sonst.

Und dafür, daß er durch uns mehr verdient, kann er dem Jackie die Einnahmen der ersten Vorstellung schenken." Emil setzte sich.

Die andern nickten nachdenklich.

»Erhebt sich kein Widerspruch?" fragte der Professor.

"Der Vorschlag ist ungewöhnlich ausgezeichnet. Wir werden uns, um Jackie helfen zu können, zu erkennen geben müssen." Er machte eine Pause. "Emils Vorschlag ist einstimmig angenommen. Es bleibt uns nichts andres übrig. So. Und nun erteile ich mir das Wort. Ich schlage vor, daß einer von uns zu der Redaktion der ,Bäder- Zeitung’ geht und mit dem Redakteur redet.

Dieser Mann muß sofort einen Artikel abdrucken, den einer von uns schreibt und in dem anschaulich erzählt wird, wie Jackie von seinem Mister Anders verlassen worden ist, und daß es für alle Kinder in Korlsbüttel und den benachbarten Bädern Pflicht ist, für Jackie geradezustehen und Geld zu sammeln. Und in ein paar Tagen wird dann mitgeteilt werden, wieviel Geld zusammengekommen ist." Er setzte sich.

"Prima!" rief Gustav. "Erhebt sich kein Widerspruch?

Nein.

Der Vorschlag des Professors ist angenommen! Ich erteile Dienstag das Wort."

Der kleine Dienstag stand auf. "Ich wollte vorschlagen, daß Gustav und vielleicht noch einer von uns heute nachmittag auf dem Motorrad durch alle Badeorte sausen und überall den Kindern am Strand berichten, was passiert ist, und daß man Jackie dringend helfen muß. Vielleicht kann man in jedem Ort am Strand ein Schild anbringen, auf dem alles draufsteht.

Dann können es alle lesen und weitererzählen." Er setzte sich.

"Sehr gut!" riefen die andern.

Und Gustav sagte: "Ein Glück, daß mir nichts eingefallen ist!

Wir wüßten gar nicht, wohin mit den Einfällen."

Sie redeten noch eine Weile hin und her. Dann rannten sie in die Veranda und malten mit Buntstiften acht Schilder.

Eins für Korlsbüttel. Eins für Graal. Eins für Müritz. Eins für Heidekrug. Eins für Warnemünde. Eins für Heiligendamm.

Eins für Ahrenshoop. Und eins für Brunshaupten.

Dann holte Gustav seine Maschine aus dem Pavillon und schob sie auf die Straße. Dienstag setzte sich mit den acht Schildern auf den Gepäckrost. Und los ging’s! Emil und der Professor winkten hinter den beiden Freunden her.

Als Jackie mit seinem Gepäck eingetroffen war, übertrugen sie ihm die Hausbewachung. Dann ließen sie ihn als □ Aufsichts-Rat’ allein und rannten in den Ort.

Warum sie’s so eilig hatten, erzählten sie ihm allerdings nicht.

Als Emil in das Büro der Leuchtturm-Lichtspiele trat, sagte der Kinobesitzer, Herr Bartelmann: "Keine Zeit!

Andermal!"

Fünf Minuten später blickte er, weil der Junge nicht gegangen war, vom Schreibtisch hoch. "Noch immer da? Worum handelt sich’s?"

"Ich bin Emil Tischbein."

Herr Bartelmann lehnte sich im Sessel zurück. "Wieso?"

"Ich bin Emil Tischbein, nach dessen Erlebnis der Film gedreht worden ist, den Sie übermorgen aufführen."

"Sehr erfreut", sagte der Kinobesitzer. "Freue mich wirklich.

Und?"

Emil setzte ihm den Plan der Detektive auseinander.

Herr Bartelmann kniff die Augen ein. Anders konnte er nicht nachdenken. Dann schnalzte er mit der Zunge. Wie ein Pferdehändler, wenn ein neues Pferd auf dem Hof vorgeführt wird.

Herr Bartelmann witterte ein gutes Geschäft. "Ihr kriegt die Einnahmen der ersten Vorstellung für euren Schützling unter einer Bedingung! Ihr müßt euch verpflichten, eine Woche lang nach jeder Vorstellung auf der Bühne zu erscheinen!"

"Eine ganze Woche lang?" rief Emil. "Nach jeder Vorstellung? Es ist uns schon unangenehm, ein einziges Mal bei Ihnen aufzutreten! Wir sind doch keine Clowns!"

"Umsonst ist der Tod!" behauptete der Kinobesitzer.

Der Junge überlegte. "Gut", sagte er dann. "Es bleibt uns nichts anderes übrig. Aber wenn wir uns dazu verpflichten, verlangen wir die Einnahmen des ganzen ersten Tages. Also der ersten drei Vorstellungen."

Herr Bartelmann kniff die Augen ein. "Tüchtiger Geschäftsmann, wie?" Er nickte. "Einverstanden!" Dann tippte er einen Vertrag in die Schreibmaschine. Mit einem Durchschlag.

Sie unterzeichneten die zwei Exemplare, und jeder bekam eins davon.

"Perfekt", sagte Bartelmann. "Freitag nicht zu spät."

Emil ging. Der Vertrag knisterte in seiner Tasche.

Der Kinobesitzer hängte sich sofort ans Telephon und setzte sich mit dem Anzeigenchef der ,Bäder-Zeitung’ in Verbindung.

Er gab eine neue große Anzeige auf. Dann telephonierte Herr Bartelmann mit der ,Plakat GmbH’ Er bestellte für jedes der in Korlsbüttel und in den anderen Bädern hängenden Plakate einen roten Querstreifen. Darauf solle groß zu lesen sein: "Emil und die Detektive sind eine Woche lang in jeder Vorstellung persönlich anwesend!"

Währenddem saß der Professor in einem Zimmer der ,Bäder-Zeitung’ und schrieb, wie er’s mit dem Schriftleiter besprochen hatte, einen ,Aufruf an sämtliche Bäderkinder’. Er beschrieb Jackies Unglück und Notlage und forderte alle auf, die nächste Zukunft des kleinen Artisten durch Geldspenden einigermaßen sicherzustellen. Er unterschrieb: ,Für Emil und die Detektive, im besonderen Auftrage, Theodor Haberland, genannt der Professor.’ Er brachte den Text dem Redakteur ins Nebenzimmer.

Der las ihn langsam durch, rief einen Boten herein und sagte: "Gehen Sie in die Druckerei. Dieser Artikel soll sofort in Satz gegeben und auf der ersten Seite nachgeschoben werden. Ich komme dann selbst hinüber." Der Bote verschwand.

Das Telephon klingelte. Der Redakteur nahm den Hörer ab.

"Gespräch aus Graal?" meinte er. "Wer ist dort?

Dienstag? Ach so! Ja, er ist gerade bei mir."

Er gab den Hörer seinem Besuch. "Was Neues?" fragte der Professor ins Sprachrohr hinein. "So, so. Sehr gut. Ja, der Text auf den Schildern kann so bleiben. Unser Aufruf erscheint morgen in der Zeitung. Müde bist du? Ich auch. Macht’s gut!

Parole Emil!" Er hängte ein.

"Was sind das für Schilder?" fragte der Schriftleiter.

Der Professor erzählte es ihm.

"Das ist ja ein Musterbeispiel für durchorganisierte Nächstenliebe!" rief der Herr anerkennend. "Der Text, den du geschrieben hast, ist übrigens ausgezeichnet. Was willst du denn einmal werden?"

"Ich weiß es nicht", erwiderte der Professor. "Als kleiner Junge wollte ich Baumeister werden. Jetzt aber nicht mehr.

Jetzt interessiere ich mich am meisten für die Zerspaltung der Elemente, für die Atomtheorie und für die positiven und negativen Elektronen. Alles verstehe ich noch nicht. Aber es ist sicher ein enormer Beruf. So, und jetzt muß ich wieder zu meinen Freunden." Er stand auf und bedankte sich.

"Gerne geschehen", sagte der Redakteur und brachte seinen Besucher bis zur Tür.

Zur gleichen Zeit standen Gustav und Dienstag am Strand in Graal. Das Motorrad und sieben Schilder lehnten an der Seebrücke. Das achte Schild befestigte Gustav gerade mit Reißzwecken am schwarzen Brett, an dem die Bekanntmachungen der Kurverwaltung hingen.

Ein paar Kinder blieben neugierig stehen.

Gustav drückte auf seine Hupe.

Die Zahl der Kinder wuchs. Nun blieben auch schon Erwachsene stehen. Alle wollten das Schild sehen.

Dienstag sagte zu Gustav: "Wir müssen ein paar passende Worte sprechen, nicht? Nimm mich mal huckepack!"

Gustav ging in Kniebeuge. Dienstag kletterte auf die Schultern des Freundes. Dann hob er die Hand.

Es wurde still.

"Sehr geehrte Anwesende!" rief Dienstag. "Wir sind gekommen, um euch um Hilfe zu bitten. Natürlich nicht für uns selber.

Sondern für einen Jungen, dem es dreckig geht. Ein paar Einzelheiten haben wir auf das Schild geschrieben, das hier am Brett hängt. Näheres findet ihr morgen in der ,Bäder-Zeitung’.

Wer noch nicht lesen kann, läßt sich’s vorlesen. Wir fahren heute nachmittag durch acht Seebäder und hoffen, daß uns die Kinder nicht im Stich lassen werden. Meine Freunde und ich sind Emil und die Detektive. Ich erzähle das nur, damit ihr nicht denkt, wir wollen euch bemogeln. Vielleicht habt ihr schon von uns gehört.

Der Junge, auf dem ich sitze, ist Gustav mit der Hupe."

Gustav verbeugte sich, und Dienstag wäre dabei fast vornüber in den Sand gefallen.

"Und du bist sicher der kleine Dienstag!" rief ein Mädchen.

"Stimmt’s?"

"Jawohl. Aber das ist ja alles nicht so wichtig!

Hauptsache, daß die Sammlung klappt! Und nun wollen wir rasch weiter.

Gustav, laß mich herunter!"

"Moment!" knurrte Gustav. "Ich habe eine Idee. Ganz gegen meine Gewohnheit. Hört mal zu!" rief er. "Ihr könntet das Geld, das ihr sammelt, eigentlich in einem Sparkassenbuch anlegen!"

Dann hob er Dienstag herunter. Die beiden Detektive setzten sich mit ihren sieben Schildern auf das Motorrad.

"Auf Wiedersehn am Freitag!" rief Dienstag. "In den Leuchtturm-Lichtspielen! Parole Emil!"

"Parole Emil!" schrien die Kinder von Graal.

Das Motorrad stuckerte über den Waldweg, der in den Ort hineinführt. Gustav hupte. Die Propagandafahrt für Jackie Byron alias Paulchen Pachulke nahm ihren Fortgang.

"Sehr geehrte Anwesende!" rief Dienstag.

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